Tagebücher

XXVI

 

6. Januar – 30. März 1921

 

 

 

Niederschönenfeld (Einzelhaft), Donnerstag, d. 6. Januar 1921

Heilige Drei Könige – Mittags 1 Uhr 20. Ich muß mich langsam in die spottmäßige Dürftigkeit meiner neuen Behausung eingewöhnen, ebenso in den Gedanken, daß wir gestern Abgesonderten als Versuchskaninchen einer ungeahnt verschärften Pädagogik der Reaktion ausersehn zu sein scheinen. Am späteren Abend wurde gestern doch noch Seppi Wittmann und außerdem Gnad „abgesondert“, natürlich mit allen denselben Extrabescherungen wie ich. Heute hat sich herausgestellt, daß diese auf dem schriftlichen Strafzettel aufgezählten Bescherungen noch keineswegs alles enthalten, was gegen uns beabsichtigt ist. Die Freunde hatten mir gestern noch allerlei zu essen mit auf die Reise gegeben, darunter ein Stück alten Käse, den ich nicht mochte. Ich wollte es daher heute früh einem der Strafgefangenen geben, die hier Hanseldienst tun, wurde aber vom Aufseher dahin belehrt, daß diesen armen Teufeln hier die Annahme jeder Spende verboten ist. Nicht einmal die Übermittlung durch das Personal ist erlaubt, nur Brot wird angenommen. (Schon zu Weihnachten verbot man uns, den Hanseln ein paar Äpfel oder dergl. zukommen zu lassen. Christen!). Um den Käse loszuwerden, wollte ich ihn dem Seppl schicken. Jetzt kam der Bescheid, daß auch unter uns jeder Austausch verboten sei. Ich bin also gezwungen, Nahrungsmittel, die ich selber nicht essen mag, einfach verfaulen zu lassen. Bei dieser Gelegenheit erfuhr ich auch, daß mir Olschewski keinen Kaffee herunterschicken darf. Ich werde nun also wohl wieder für Wochen ein Leben ohne die wichtigsten Annehmlichkeiten führen müssen: keine Zeitungen, kein Kaffee, keine Cigarren, keine Pfeife, keine Briefabsendung, – und wie es scheint, auch keine frische Luft. Zwar ist Hofentzug nicht verfügt, aber vorhin wars Zeit, und ich wurde aufgefordert, mich für den „Spazierhof“ fertig zu machen, zog mir also die Holzschuhe an und verlangte inzwischen meinen Umhängekragen und meine Mütze. Während man das holte, hörte ich den Seppl draußen mörderlich Krach schlagen, verstand aber nicht, worum es sich handelte. Als ich dann hinausging, erfuhr ich, daß man uns nicht auf den Hof für die Festungsgefangenen läßt, sondern uns zumutet, gleich beim Eingang, wo ein Weißgardist Posten steht, auf dem Hof unsrer verflossenen Holzhacker (die wegen Mangels an Spaltholz aufhören mußten, – man brauchte sie nicht mehr!) auf den Steinfließen spazieren zu gehn. Die andern hätten das abgelehnt, erklärte mir der Aufseher betreten. Ich sagte ganz ruhig „Ich auch“, und kehrte sofort wieder in die Zelle zurück. – Ich habe nicht den geringsten Zweifel, daß diese plötzliche Straffspannung der Zügel zu dem ausdrücklichen Zweck geschieht, die Nerven der Genossen zu überreizen, um durch Prozesse wieder etliche in Gefängnisse oder Zuchthäuser abschieben oder gar um Waffengebrauch gegen uns vorbereiten zu können. Mit dem Wort „Meuterei“ wird neuerdings alles Mögliche bezeichnet. So sollte der Protest Wiedenmanns und Nickls gegen die Anordnung, daß sie ins obere Stockwerk ziehn sollten, schon als Meuterei ausgelegt werden, und in dem gestern angeschlagenen Herzenserguß des Oberstaatsanwalts wurde der anmutige Begriff ebenfalls gehörig geschwenkt. – Die Ruhe und Sicherheit in der Anstalt war der Reaktion unbequem geworden. Sie erließ deswegen eine Verfügung „im Interesse der Ruhe und Ordnung“, die Ruhe und Ordnung notwendig stören mußte, allarmierte überdies die Grünen (es ist nur eine Fehlfarbe von Weiß), um die Nerven umso sicherer aus dem Takt zu bringen und steckte unter völlig nichtigen Vorwänden gleich 7 Mann in Einzelhaft unter beispiellosen Verschärfungen und Extraschikanen. Dazu noch die Androhung von weiteren entehrenden Quälereien (Bettentzug), – das ist die vollständige Aufhebung des Ehrencharakters der Festungsstrafe, das ist die offenkundige Proklamation der Justiz als politische Kriegswaffe, – und das ist für uns das Signal, daß den längst Abgeurteilten von denen, die das Urteil zu vollstrecken haben, nach dem Leben getrachtet wird. Ob, wann und in welcher Form der Generalangriff gegen uns beginnen wird, ist nicht leicht zu prophezeien. Daß aber Entscheidungen bevorstehn, die ebensogut Tod wie Freiheit mit sich führen können, dessen bin ich gewiß.

 

Einzelhaft, Freitag, d. 7. Januar 1921.

Der Grund, weshalb Wittmann und Gnad den Hofspaziergang ablehnten, war noch viel gravierender, als ich bei meiner Solidaritätserklärung annahm. Es wurde ihnen nämlich verboten, miteinander zu sprechen und aufgegeben, „Abstand“ zu halten. Es fehlt also an der Umwandlung unsrer Festungsstrafe in erschwerte Gefängnishaft garnichts mehr: auf Grund falscher Denunziation, ohne Untersuchung, ohne Verhör, ohne Zeitbegrenzung. Ich habe mich vorhin schriftlich zum Vorstand gemeldet. Daß die Unterredung praktisch nichts ändern wird, ist selbstverständlich, aber ich freue mich doch darauf, dem Mann allerlei Vorhaltungen machen zu können, auf die ihm die Antwort schwer fallen wird. Durch das Zeitungsverbot habe ich keine Möglichkeit, die Offensive der Festungsverwaltung gegen ihre Schutzbefohlenen mit bestimmten politischen Ereignissen in Zusammenhang zu bringen. Immerhin bleiben gewisse Vermutungen offen. Es ist möglich, daß man zunächst mal nur uns hier drinnen zeigen will, daß man sich trotz aller Nollet-Noten noch sehr stark fühlt und garkeine Gefahr fürchtet, vielmehr jetzt erst recht zeigen will, wie gänzlich hilflos wir ihrer physischen Gewalt preisgegeben sind. Denkbar ist auch, daß ein Rechtsputsch für die nächsten Tage bevorsteht, bei dem Roth mit seinen Organen beteiligt ist, und daß man uns gern bis dahin zu Unbesonnenheiten provozieren möchte, um Vorwände zu haben, uns bewaffnet angreifen zu lassen. Höchst verdächtig ist, daß vorgestern, also am Tage des heldischen Überfalls auf unsre Sowjetsterne, Übungen beim Rainer Bahndamm beobachtet wurden, mit „Sprung auf – marsch! marsch!“ und ähnlichen Kommandos. Wir wissen, daß die Anstalt hier ein Zentraldepot für Waffenverschiebungen und wahrscheinlich ein für die gegenrevolutionäre Aktion ganz wichtiger strategischer Punkt ist. Von hier aus werden dauernd Waffen – Maschinengewehre, Munition, selbst Artilleriebedarf – in die Ortschaften ringsum ausgeteilt. Daraus erklären sich militärische Übungen hier herum ganz natürlich, umsomehr, als das Gelände außerordentlich geeignet ist für kriegerische Operationen. Kommt hinzu unsre Anwesenheit, die durchaus als Pressionsmittel gewertet wird, da man uns als Geiseln betrachtet. Wird jetzt die Forderung nach Entwaffnung der Einwohnerwehr, der Orgesch, der Sipo etc. akut, so rüstet man eben jetzt zur Abwehr gegen die Alliierten, nämlich die Entente und uns – und geht zunächst mal zum Angriff gegen uns vor. Merkwürdig ist, daß man verschiedene Räume mit uns Abgesonderten bevölkert. Seppl, Gnad und ich sind im Erdgeschoß der Festungsanstalt untergebracht, während man Taubenberger, Regler, Schwab und Günther tatsächlich im Gefängnis einquartiert zu haben scheint. Dafür sind mir die Gründe noch nicht recht klar. Vielleicht sind einem 7 Mann schon zu viel auf einem Haufen, und man meint, uns besser an der Kandare zu haben, wenn man uns getrennt aufbewahrt. Es wird sich wohl bald zeigen, was das Ganze bedeutet. – Als gestorben sind zu bestatten: der 86jährige Defregger, einer, der schon lange, lange tot war, – und Bethmann-Hollweg, der in der Geschichte einen schlechten Platz bekommen wird. Ein guter Durchschnittsverstand von lederner Pedanterie und trauriger Armut an seelischer Beweglichkeit. Einer, der nicht heiß und nicht kalt war, nicht weich und nicht hart. Er sah das Unrecht der andern und gab seinen Namen her, um es geschehn zu lassen. Sein Name steht unter den Kriegserklärungen an Rußland, an Frankreich und der trübsten, an Belgien. Er verwarf die Vergewaltigung Belgiens und Polens und führte sie aus, er verwarf den U-Bootkrieg und erklärte ihn; er erkannte den falschen Kurs des Hohenzollernschiffs und steuerte ihn. Er wollte den Weltkrieg nicht und gab sich her, ihn zu inszenieren. Er hätte groß, oder doch spiegelsauber dastehn können, wäre er mutig genug gewesen, im Juli 1914 vor den Militärs offen zu kapitulieren und seinen Posten zu verlassen. Er hielt es für würdiger, zu bleiben, um vielleicht noch einen Moment zum Bremsen zu erfassen, da doch der Wagen schon sausend in den Abgrund fuhr. Auf seinen Grabstein gehört die Inschrift: Hier ruht der Kanzler faute de mieux. Um nichts wagen zu müssen, wagte er alles, und alles ging ihm schief. Ein Weltverbrecher aus Schwäche und Lauheit. Er wird vor dem Jüngsten Gericht der Geschichte keine gute Figur machen.

 

Abschrift (an Pestalozza). „N’feld, d. 7. Jan. 21. S. g. H. Graf! Meinen Brief vom 5. Januar schätze ich in Ihren Händen. Am selben Abend noch erhielt ich selbst folgende Verfügung: „...“ Am gleichen Abend wurden außer mir und den 4 Ihnen bereits genannten Genossen noch 2 weitere, Josef Wittmann und Martin Gnad, in gleicher Weise gemaßregelt. – Ich stelle fest, daß die Behauptung, ich hätte irgendwem anempfohlen, Hakenkreuze anzulegen, unwahr ist. Ich hatte einfach, da ich nicht auf den Gedanken kommen konnte, daß der Sowjetstern, der bisher im Hause nicht das geringste Unheil angerichtet hatte, im Laufe ganz weniger Stunden zu einer akuten Gefahr für die Sicherheit der Anstalt werden könnte, zunächst – wie ich im Scherz sagte – um die Wirkung zu kompensieren, ein papierenes Hakenkreuz dazugesteckt. Daß keine Verhöhnung oder gar irgendwelche Widersetzlichkeit beabsichtigt war, ergibt sich schon daraus, daß ich beide Zeichen im Laufe des Nachmittags ohne besondere Aufforderung von irgendeiner Seite unauffällig abgelegt habe, da ich mir selbstverständlich sagte, daß meine Gesinnung dieselbe bleibt, wenn sie auch nicht durch ein äußeres Zeichen zur Schau gestellt wird, mir im Gegenteil die Stelle, wo das Zeichen gesteckt hat, nach der erzwungenen Entfernung stets eine kräftigere Erinnerung an seine Bedeutung wecken muß, als es der Stern selbst könnte. – Daß völlig überraschend und ohne daß von irgendwem der geringste Versuch gemacht worden wäre, der Verordnung, die am Tage darauf ohne Zweifel bei fast allen Gefangenen ganz von selbst die erwünschte Wirkung getan hätte, Geltung zu verschaffen, am Abend der Herr Oberstaatsanwalt Menzel von Augsburg, der Anstaltsdirektor und eine starke Abteilung schwer bewaffneter Soldaten anrückten – im oberen Stockwerk wurde das Kommando erteilt: Schußlinie frei! – teilte ich Ihnen schon mit. – Die Maßregelung kam mir vollständig unerwartet. Die Absonderung wird in Formen vollzogen, die selbst für den baierischen Festungs-Strafvollzug absolut neu sind. Rauch- und Zeitungsverbot sowie Sperrung der Kantine ist überhaupt noch nie in Anwendung gekommen. Daß jetzt die Kombination aller dieser mit den übrigen Maßnahmen beliebt wird, ohne daß ich auch nur vor Eintritt der Absonderung gehört worden wäre (deren Begründung, wie gesagt, schon falsche Behauptungen enthält), wurde mir soeben, als ich endlich auf Verlangen dem 2. Vorstand, Herrn Regierungsrat Batum vorgeführt wurde, damit gerechtfertigt, daß es sich nicht um Disziplinierung, sondern nur um Sicherungsmaßnahmen handle (z. B. das Rauchverbot!). – Es zeigt sich aber nun, daß die Sicherung der Anstalt vor uns Abgesonderten noch viel weiter geht, als aus der schriftlichen Anordnung hervorgeht. – Der Abschluß von den übrigen Gefangenen wird so gründlich durchgeführt, daß wir uns von ihnen nicht einmal Lebensmittel herunterschicken lassen dürfen. Ich komme auf die Weise um den gewohnten Kaffee nach Tisch, da ich in meiner Zelle keine Kochgelegenheit habe. Ich bemerke, daß Abgesonderte bisher stets von den übrigen Genossen versorgt werden konnten. – Nahrungsmittel, die ich selbst nicht esse, darf ich weder den Genossen oben; noch den gleich mir abgesonderten Genossen, noch den Strafgefangenen zukommen lassen. Die Verwaltung zwingt mich, sie verfaulen zu lassen. – Den Hofspaziergang haben Abgesonderte bisher stets auf demselben Hof absolvieren können wie die übrigen Festungsgefangenen auch, und zwar, wenn mehrere abgesondert waren, in Gemeinschaft und ohne besondere Beaufsichtigung von Beamten. Uns wird zugemutet, den Spaziergang in einem kleineren Hof unter Bewachung von Aufsehern zu machen, – und zwar mit einigen Schritten Abstand von einander und unter dem Verbot, mit einander zu sprechen. – Damit hat auch die letzte Ähnlichkeit unsrer Einsperrung mit Festungshaft aufgehört. Wir werden – ohne Verhör, auf Grund falscher Denunziationen, ohne Verhandlung und Verurteilung, ohne die Möglichkeit zur Revision oder Verfügung irgendeines aussichtsvollen Rechtswegs – zu ehrlosen Sträflingen degradiert, noch dazu auf unbestimmte Zeit: „bis auf weiteres“. – Herr Rechtsanwalt! Ich bitte Sie dringend, unverzüglich alles Erdenkliche zu unternehmen, um uns hier irgendwelche Rechtssicherheit zu schaffen. Ich habe aufs Stärkste die Empfindung, daß wir zum Äußersten gereizt werden sollen, um uns noch weit Ärgerem auszuliefern. Ein neuer Erlaß kündigt bereits als mögliche Sicherheitsmaßnahmen Kostschmälerung und Bettentzug an (Ehrenhaft!), und der Herr Oberstaatsanwalt Menzel hat uns zur Kenntnis bringen lassen, daß er bei Widersetzlichkeiten „rücksichtslose Anwendung von Waffengewalt“ vorbereitet. Das Eindringen der bewaffneten Macht in unsre Räume hat natürlich unsre Nerven aufs äußerste alteriert, und wir erblicken darin eine Drohung gegen unser Leben. – Ich persönlich habe soeben bei Herrn Regierungsrat Batum Beschwerde gegen die über mich verhängten Maßregeln erhoben und ihm zugleich mitgeteilt, daß ich mir vorbehalte, falls nicht binnen kurzer Zeit die Aufhebung der Quälereien verfügt wird, in den Hungerstreik einzutreten. – Sie kennen mich genügend, Herr Graf, um zu wissen, daß ich mich zu einem so ernsten Entschluß nur schwer und erst bei unerträglicher Peinigung meiner Würde und Ehre verstehn kann. Bleibt mein Protest jedoch ohne Wirkung, so sehe ich den Fall gegeben, und daß ich konsequent bleiben würde, brauche ich nicht zu versichern. Zunächst warte ich noch Ihre Antwort ab. – Sehr lieb wäre es mir, wenn Sie persönlich herkämen, um sich meiner und der sechs Mitbetroffenen anzunehmen. Ich werde alle meine Verbindungen benutzen (allerdings erst nach Aufhebung des Schreibverbots), um die daraus erwachsenden Kosten zu bestreiten. Verzeihen Sie die häufige Belästigung. Mir bleibt keine Wahl. Hochachtungsvoll Ihr ergebener   Erich Mühsam.

 

Einzel-Ehrenhaft, Sonnabend, d. 8. Januar 1921

Eben habe ich die schwierige Arbeit, mein Bett zu überziehn, was mir sonst mein guter Seppl zu tun pflegt, nach langer Anstrengung halbwegs anständig fertig gebracht. Man lernt doch was, wenn man lange genug Sträfling ist. Meine Frage, wann ich zum Baden geholt werde – Freitag ist Badetag, manchmal auch noch der Samstag-Vormittag, – wurde dahin beantwortet, daß ich kein Bad bekomme. Also eine weitere Zugabe: verdrecken muß man auch, damit die Sicherheit der Regierung Kahr nicht gefährdet wird. Ich habe dem Herrn Batum gestern meine Auffassung recht deutlich gesagt: daß der bewaffnete Überfall auf wehrlose Gefangene (diese Definition der Begebenheit gefiel ihm garnicht) nur eine Generalprobe gewesen sei. Wir seien keine Kinder, daß wir uns einreden ließen, eine derartige Machtentfaltung sei nötig gewesen, um ein paar Busennadeln zu entfernen. Ich sei überzeugt, daß man uns nach dem Leben trachte. Die Schinderei der Einzelhaft werde so raffiniert gesteigert, um uns zu Unbesonnenheiten zu provozieren, gegen die man dann Schußwaffen richten möchte. – Das positive Ergebnis war, daß ich Zenzl Mitteilung von dem Schreib- und Besuchsverbot machen konnte, und Pestalozza schreiben durfte. Meine Beschwerde stenographierte Batum, ferner auch meine Erklärung, daß ich das Hakenkreuz der Kompensation wegen unter den Sowjetstern befestigt habe. Ob und wann ich mit dem Hungerstreik beginne, muß ich mir noch gut überlegen. Jedenfalls will ich nicht die Sinnlosigkeit begehn zu hungern, ohne daß das Proletariat unterrichtet wäre. Soll schon verreckt werden aus Demonstration, dann darf die demonstrative Wirkung nicht vernachlässigt werden. Übrigens bin ich garnicht sonderlich lebensmüde, und es wäre mir schon bedeutend lieber, es ginge ohne aktiven Protest. Bei der gegenwärtigen Mentalität der baierischen Gewalthaber glaube ich, daß sie einen Hungerstreik von mir garnicht ungern sähen, indem sie sich sagen: entweder er führt ihn durch und krepiert, dann ist das Scheusal beseitigt, und die kläffenden Hunde der öffentlichen Arbeiter-Meinung beißen ja bekanntlich nicht, – oder er frißt wieder, wenn’s ans Sterben geht, dann können wir dem Mob zeigen, was für Helden seine Heroen sind. Daß der Augsburger Oberstaatsanwalt Menzel, der anscheinend jetzt allein maßgebende Instanz für alle Niederschönenfelder Angelegenheiten ist, nicht sentimental ist, zeigt sich. Allerdings habe ich noch einen besonderen Verdacht. Die vollständige Sinnlosigkeit der Militärattacke (falls nicht wirklich ein tieferer Sinn dahinter steckte, etwa daß den Grünen die Räumlichkeiten gezeigt werden sollten), aus dem gänzlich nichtigen Grunde, ferner die sadistische Strafwut – nachdem der Mann uns doch erst beim Generalrapport zugesichert hatte, Absonderung solle nur noch bei schweren Fällen in Anwendung kommen und allgemein solle der Vollzug rücksichtsvoller gehandhabt werden, – endlich die kolossale Aufregung des Mannes, die allen aufs höchste auffiel, – dies alles legt nur die Frage nahe, ob dem Mann nicht seine Macht zu Kopfe gestiegen sein kann und ob nicht die Berliner Schreckensmänner der 90er Jahre Benedix und Brausewetter, Landgerichtsdirektor und Staatsanwalt der berüchtigten Blutkammer gegen politische Delinquenten im Oberstaatsanwalt Menzel eine Neuauflage erleben. Wie er auf das rote Band in meinem Knopfloch losschoß und den Soldaten befahl: Das muß auch herunter! – machte er mir ganz den Eindruck eines Verfolgungswahnsinnigen. Es wird mich garnicht wundern, wenn wir eines Tages hören sollten, Herr Menzel sei übergeschnappt. Aber inzwischen als Objekt seiner Angstvorstellungen den Flinten ausgesetzt zu sein, die auf sein Kommando unweigerlich losgehn, ist kein besonders reizvoller Gedanke. – Ich gedenke mich auch vorläufig dergleichen Betrachtungen nicht zu eingehend hinzugeben. Das 1. Kapitel meines ersten Romans ist beinah fertig. Damit ist der Stil des Buchs so ziemlich punktiert. Hoffentlich gelingt es mir, das Porträt Jakob Bröschkes so aus meiner Phantasie herauszuhauen, daß es als Denkmal der Sozialdemokratie unsrer Zeit auf unsre Nachfahren kommt. Dann soll auch diese Einzelhaft, die mir den Entschluß zum Anfangen eingab, verziehen sein.

 

Abends ½ 9. Eben kommt folgender amüsanter Schrieb des Vorstands: „An den F. G. Herrn Mühsam. Ihre Erklärung, Sie hätten durch Anlegen eines Hakenkreuzes die Wirkung des Sowjetzeichens kompensieren wollen, ist nicht glaubwürdig. Eine neue Verhöhnung will aber die Verwaltung darin nicht erblicken. Ihre Erklärung, Sie hätten niemand aufgefordert, Sowjetabzeichen oder Hakenkreuz anzulegen, läßt sich nicht widerlegen. Es bleibt also noch die Tatsache bestehn, daß Sie selbst der Verfügung nicht Folge geleistet haben. Dadurch haben Sie zweifellos aufreizend zur Nichtbefolgung der Verfügung gewirkt. Die Absonderung kann deshalb vorerst noch nicht aufgehoben werden, wohl aber kommen die verschärfenden Maßnahmen des Rauch-Besuch-Schreib-Zeitungs- und Kantinenverbots in Wegfall. N’feld, d. 8. Jan. 1921. Festungshaftanstalt. Schroeder.“ – Darauf geht jetzt gleich folgende Antwort los: „An den Herrn Festungsvorstand. Zur Verfügung vom 8. Januar, in der die Fortdauer der Absonderung gegen mich (bei Wegfall der verschärfenden Maßnahmen) begründet wird, gestatte ich mir zu bemerken: Es trifft nicht zu, daß ich durch Nichtbefolgung der Verfügung aufreizend gewirkt haben kann. Ich selbst habe, wenn auch nicht gleich, so doch im Laufe des Nachmittags, aus freien Stücken, ohne von irgendeinem Beamten dazu aufgefordert zu sein, die Zeichen abgelegt, was doch zweifellos, wenn mein Beispiel vorher Nacheiferung gefunden hätte, dann auch der Fall gewesen wäre. – Als dann abends das Militär anrückte, habe ich aber überdies selbst mit lauter Stimme zum Ablegen der Zeichen aufgefordert, damit jede Provokation vermieden werde. – Ich glaube danach hoffen zu dürfen, daß auch die Voraussetzungen zur Absonderung als nicht mehr gegeben anerkannt werden. Hochachtungsvoll N’feld, d. 8. Jan. 1921. Erich Mühsam.“

Eben schickt mir Seppl einen Zettel, wonach auch ihm die Verschärfungen erlassen sind. „Hungerstreik somit beendet.“ Der Junge scheint also schon gefastet zu haben. – Jetzt erwarte ich Kaffee, nachdem mir Eugen Karpf schon Zigarren und allerlei andres heruntergeschickt hat. Ich bin froh, besonders, da voraussichtlich in 8 Tagen Zenzl kommen wird.

 

N’feld (Einzelhaft), Sonntag, d. 9. Januar 1921.

Abschrift: „Lieber Genosse Rühle! Die Aufmerksamkeit, die mein Brief an Gen. Pannekoek bei der Redaktion und den Lesern des „Kommunist“ findet, freut mich aufrichtig. Sie wissen ja aber, daß ich mich infolge der besonderen Lage, in der ich mich befinde, an der weiteren öffentlichen Polemik kaum beteiligen kann. Jedoch habe ich das Bedürfnis, Ihnen persönlich ein Wort zur Klärung zu sagen. – Wie schon in Nr. 50 des „K.“ werde ich wieder in Nr. 54 darauf hingewiesen, daß ich mit meinen Vorschlägen nicht an der richtigen Stelle einsetze, daß es – wenn ich recht verstehe – auf die Zerstörung des Partei- und Bonzenwesens selbst ankomme, ehe ein föderativer Zusammenschluß des Proletariats als Klasse (innerhalb der einzelnen Länder wie auch international) möglich werde. – Es war mir amüsant, daß ausgerechnet mir die Bedenklichkeit aller parteimäßigen Verbindungen der kampfwilligen Arbeiterschaft in so beweglicher Form vorgehalten wurde, wie es in Nr. 50 geschah. Vielleicht freut es den Genossen, der sich dieser Mühe unterzog, zu erfahren, daß ich vollständig mit ihm einverstanden bin, ja – daß ich seit vollen 20 Jahren meinen agitatorischen Eifer keiner Aufgabe so hingebend zugewandt habe, wie der Kritik des zentralistischen Parteiwesens und seiner unweigerlichen Konsequenz, der „geistigen Entrechtung“ des Proletariats durch die Führer, wie die Redaktion des „K.“ richtig sagt. – Die Schaffung des „Revolutionären Kartells Ostsachsen“ habe ich mit der allergrößten Befriedigung erfahren, da hier praktisch genau das begonnen wird, worauf ich hinstrebe. Wenn ich der föderativen Verbindung der kommunistisch-bolschewistischen Organisationen durch räteartig verflochtene Delegationen das Wort rede und dabei die Parteien mit einbezogen wissen will, so geschieht das nicht, weil ich im Parteizentralismus förderliche Prinzipien walten sähe, sondern einfach aus der Überzeugung heraus, daß das seit mehr als 50 Jahren parteimäßig erzogene Proletariat der Parole zum Verlassen der Partei nur sehr langsam folgen wird, daß aber für den gegebenen Moment die aktionsfähige Verbindung unter allen Umständen vorhanden sein muß. Der Überbau einer Räteföderation über den revolutionären politischen und wirtschaftlichen Zusammenschlüssen bewirkt an und für sich eine Entgiftung des Bonzeneinflusses auf die proletarische Initiative. Die Abberufbarkeit der in die kombinierten Ausschüsse entsandten Delegationen garantiert den Massen die Selbstorientierung und Selbstbestimmung. Dabei werden die an Eigenwillen gewöhnten Anarchisten, Syndikalisten und in Unionen betriebsmäßig koalierten Föderalisten vom Rechte des Eingriffs reichen Gebrauch machen, sodaß den parteigläubigen Arbeitern, deren Vertreter natürlich die Zentralen bestimmen und dirigieren werden, eine eindringliche Lektion über ihre Hammelbehandlung im Gegensatz zur gleichzeitigen freien Willensbetätigung ihrer Klassengenossen durch den Augenschein zuteil wird. – Ich glaube also, daß grundsätzliche Differenzen zwischen Ihnen und mir kaum vorhanden sind und nur noch reine Zweckmäßigkeitsfragen zu erörtern wären. – Inzwischen hat Genosse Pannekoek meinen Brief in einem Schreiben an mich ausführlich beantwortet. Da er mir mitteilt, daß er die Antwort zugleich zum Abdruck an die „Aktion“  gesandt hat, werden Sie seinen Standpunkt, der den der holländischen Kommunisten von der „Tribune“-Richtung im ganzen zu präzisieren scheint, ja bald selbst überprüfen können. – Einverstandene Bundesgenossen haben wir in Pannekoek und seinen Freunden danach nicht zu erwarten. A. P. identifiziert sich in weitem Maße mit der KAPD und billigt auch deren Beitritt zur Moskauer Internationale als sympathisierendes Mitglied. Er verwirft den Gedanken einer internationalen Föderation der linken Kommunisten mit der Begründung, daß sie logischerweise eine Spitze gegen Moskau erhalten müsse, ignoriert also meine Erklärung, daß das nicht beabsichtigt sei und daß die Föderation sogar der 3. Internationale von Moskau den Beitritt offen halten solle. – Ich persönlich enthalte mich – und hierin stimme ich mit Pannekoek überein – grundsätzlich einer Kritik der bolschewistischen Politik in Rußland selbst, da ich nicht glaube, daß wir von hier aus alle Zwangsumstände, die sie bewirken, scharf überblicken können, und weil meine verehrungsvolle Dankbarkeit gegen die Initiatoren der russischen Räterevolution es mir, verbietet, mir die Überwachung des Fortgangs dieser Bewegung, die Angelegenheit des herrlich bewährten russischen Proletariats ist, aus Befangenheit und Ferne anzumaßen. – Grade diese Zurückhaltung berechtigt aber zu umso schrofferer Kritik an der proletarischen Politik, die von Moskau aus international getrieben wird. Wir können am Ende nicht übersehn, welche Taktik der russischen Arbeiter- und Bauernschaft in ihrer dauernden Bedrängnis von außen her zuträglich ist, aber wir wissen, daß die Taktik, mit der das Proletariat Westeuropas von der internationalisierten „neukommunistischen“ USP gegängelt werden soll, für uns nicht akzeptabel ist. Dieser Ansicht ist auch Pannekoek, und er verlangt kritische Vorhaltungen an die Moskauer Adresse, daß nicht die Opportunisten, die jetzt die Wege der Internationale bestimmen, von Rechts wegen die Bundesgenossen der Bolschewiki zu sein hätten, sondern wir Ausgesperrten, deren Zusammenschluß er jedoch nicht wünscht. – Ich halte ihn nach wie vor für nötig, nicht um den Moskauern eins auszuwischen – wahrhaftig nicht! –, sondern weil die Verständigung der Nichtzugelassenen untereinander die Gefahr beseitigt, daß die stürmisch Drängenden den schon, aber zu stelzend, Marschierenden [und] sich gegenseitig über die Beine stolpern. – Mit revolutionären Grüßen Ihr     Erich Mühsam.

 

Es ist abends, ¼ nach 9. Möglich, daß das Licht noch eine Weile brennt und mir Zeit gibt zu ein paar Bemerkungen. Denn dieser ganze Tag war angefüllt mit Nachholen dessen, was seit Mittwoch versäumt werden mußte. Ein langer Brief an Zenzl, dann der Brief an Rühle (veranlaßt durch einen zweiten an meine Adresse gerichteten Artikel im Dresdner „Kommunist“ über meinen Brief an Pannekoek: – bin gespannt, ob das Zeug die Zensur passiert), dann eine Stunde Spazierhof mit Seppl; diesmal im richtigen großen Hof und ohne schikanöse Beschränkungen. Und die meiste Zeit habe ich über Zeitungen gesessen und herausgeklaubt, was passiert ist. Das Wichtigste, weil Scheußlichste und Bezeichnendste ist das Blutbad nach der Beerdigung des in Flensburg ermordeten Paul Hoffmann: 10 Tote, 20 Verwundete – und SPD und USP finden das Hineinknallen der Grünen in die Masse „gerechtfertigt“. Eine sehr gut gefaßte, scharfe Note Vigdor Kopps an die Reichsregierung wegen Erschießung internierter Rotarmisten (alle diese Dinge gehören vielleicht miteinander in dasselbe Kapitel wie der bewaffnete Besuch des Herrn Menzel bei uns). – Die Entwaffnungsfrage ist noch nicht weiter geklärt, unsre Patrioten klammern sich an eine Reuternotiz, wonach England geneigt zu sein scheint, längere Fristen zu bewilligen. Ein neuer Kongreß der Ministerpräsidenten soll entscheiden. Die Eisenbahner krebsen (Gewerkschaftsverhandlungen, lies: Gewerkschaftsverrat). Zwischen Amerika und Japan soll Krieg im Anzug sein (Ich halte das Ganze für Theaterdonner). Zwischen Rußland und Rumänien scheint im Ernst etwas nicht zu stimmen. Amerika will Deutschland finanzieren, wie die KAZ zu wissen vorgibt, gegen Verpfändung der Eisenbahnen. Und so weiter. – Im Hause: Klingelhöfer ist heute auch in Einzelhaft gekommen, weil er erklärt hat, der Oberstaatsanwalt habe eine kapitale Dummheit begangen. Seppl hat gestern gefastet, (vielleicht danken wir diesem Umstand die Erleichterungen) und Batum hat ihm andeutungsweise in Aussicht gestellt, daß er wirklich am 16ten entlassen werden könnte. Unsre Gruppe benimmt sich rührend, schickt – seit die Verbindung wieder funktioniert – Kaffee, Tee, Kuchen, Rauchbares, Zeitungen und sorgt sich um uns. – Und so ist wieder mal ein Tag herum, – und ich werde mich schlafen legen und die Frage wälzen, ob ich auch morgen noch meine Mahlzeiten im selben Raum werde einnehmen müssen, in dem der Scheißkübel der Verdauung des Genossenen harrt.

 

Einzelhaft, Montag, d. 10. Januar 1921.

Abends 7 Uhr. Der Tag verlief ohne Sensationen. Zeitungen sind (des Montags wegen) nicht gekommen. So kann ich zwei vergessene Tatsachen nachtragen. Die eine ist die vor kurzem erlangte Gewißheit über das Schicksal des Genossen Ochel. Der ist nicht von Bayern abgeschubt worden, sondern sitzt, seit seiner Entlassung aus der Festungshaft als Schutzhäftling in Günzburg. So hilft sich die baierische Gerechtigkeit, wenn ihr ein Standgerichtsurteil zu milde erscheint. Wenn’s nach Roth und Seinesgleichen ginge, dürfte ich meine 15 Jahre abmachen, um dann bis zum Lebensende in „Schutzhaft“ abgeführt zu werden. – Das zweite Ereignis betrifft mich persönlich, nämlich eine Freude, die ich heut vor 8 Tagen bei der Rückkehr vom Zahnarzt erlebte. Am Bahnhof Rain begrüßten mich, als ich aus dem Neuburger Zug stieg, zuerst Frau und Kinder von Sauber, dann aber Thekla Egl, die ebenfalls von Niederschönenfeld kam, wo sie Karpf besucht hatte, aber nicht mit Saubers abfuhr, sondern eigens auf mich gewartet hatte. Sie begleitete mich dann, ohne daß die begleitenden Aufseher Einwendungen dagegen machten, den ganzen fast ¾stündigen Weg bis zur Anstalt zurück, und ich lernte in dieser Aussprache das prachtvolle tapfere Mädchen zum ersten Mal richtig kennen. Was mir ganz besondere Freude macht, ist, daß ich in ihr eine Bundesgenossin gegen die kommunistische Parteiwirtschaft habe; sie steht vollkommen auf Rühles Standpunkt. Der Weg vom Bahnhof zur Anstalt, der sonst eine Qual ist, war viel zu kurz an diesem Tage.

Grade habe ich die Feder aus der Hand gelegt, da bringt mir der Aufseher, außer einem Krug Thee von oben und Briefmarken von der Kantine ein Briefchen vom Wittmann-Seppl. Er hatte eine Unterredung mit Schroeder, wobei ihm mitgeteilt wurde, daß die Absonderung vorläufig nicht aufgehoben werden könne (was also wohl auch für mich gilt), aber nicht mehr lange dauern werde. Zugleich aber bekam der arme Junge den Bescheid, daß er am 16. Januar, dem Termin, den das Gericht ihm für die Entlassung bestimmt hat (2½ Jahre Festung mit Bewährungsfrist nach Verbüßung der halben Zeit), nicht entlassen wird, jedoch „bei guter Führung“ vielleicht(!) in einigen Monaten. „Ungefähr nach 15“, schreibt er selbst melancholisch. Noch 5 Tage! hatte er heut Mittag noch auf dem Hof triumphiert. Jetzt ist ihm und seinem Mädel, beide verliebt über alle Ohren, die Freude versalzen. Warum? Weil Seppl nicht immer gekuscht hat, weil er sich in ein paar Briefen etwas deutlich über die niederträchtige Behandlung der Festungsgefangenen ausgelassen hat, weil er bei Gelegenheit der Offensive gegen uns am 4ten auf das Kommando: in die Zellen! gefragt hat, warum! und nicht rasch genug das Abzeichen seiner Gesinnung verschwinden ließ. – In Wirklichkeit hat er sich nicht „bewährt“, weil er Mitglied unsrer höchst mißliebigen Tschegagruppe und überdies mein spezieller Freund ist. Aber grade diesen jungen Prachtkerl werden sie durch die Zulage von 15 Monaten nicht kirre machen, grade den nicht. Jetzt will ich mich seiner mit verdoppelter Liebe annehmen. War er bisher Revolutionär aus temperamentvollem Tatendrang, so will ich ihn zu einem Revolutionär von erkenntnisunterbauter Überzeugung machen, an dessen Zähigkeit sich die rachsüchtige Konterrevolution die Zähne ausbeißen soll!

 

Einzelhaft, Mittwoch, d. 12. Januar 1921.

Vormittag. Gestern kam ich nicht zur Eintragung, weil mich die Disposition meines Romans beschäftigte. Immerhin sind einige Anhaltspunkte notiert. – Im übrigen gab es auch nicht viel zu notieren. Batum ließ mich am Nachmittag holen, da ich um eine Unterredung ersucht hatte. Ich setzte ihm auseinander, daß die Absonderung gegen mich schon deshalb unberechtigt sei, weil in dem Anschlag am 4ten die Abnahme der Sowjetzeichen ohne Terminsetzung verlangt wurde, und es danach genügt hätte, die Zeichen am nächsten Morgen einfach nicht wieder anzulegen. Außerdem seien Wegnahme und „Maßnahmen“ nur für den Fall der Weigerung angedroht worden, und ich hätte garkeine Gelegenheit gehabt, mich zu weigern, da niemand die Entfernung des Zeichens von mir verlangt habe; ich hätte es freiwillig abgelegt. – Zugleich beschwerte ich mich über die Wirkungen der Einzelhaft; ich sei von Kopfschmerzen geplagt, da ich dauernd die Dünste der eignen Exkremente zu schlucken hätte. – Auf meine Frage, wie lange denn die Tortur noch geplant sei, meinte Batum, genaue Auskunft könne er auch nicht geben, aber er taxierte noch etwa 1 Woche. Nachher schränkte er das noch ein: nur noch ganz kurze Zeit. 2 Herren (Günther und Gnad) seien ja bereits wieder oben, und die Verschärfungen seien für alle, außer Taubenberger, aufgehoben. – Heute früh kam folgender Wisch: „An den F. G. Herrn Mühsam. Da auf der Verfügung über die Abnahme der politischen Abzeichen ein besonderer Zeitpunkt nicht angegeben war, so wußten Sie doch ohne Zweifel, daß die Verfügung sofort zu befolgen war. Sie haben den Sowjetstern aber trotzdem erst im Laufe des Nachmittags abgenommen und Ihre Weigerung auch noch dadurch deutlich zum Ausdruck gebracht, daß Sie ein papiernes Hakenkreuz anlegten. Die Voraussetzungen des angedrohten Einschreitens sind also voll und ganz gegeben. – Es besteht keine Erinnerung, daß Sie den Abort-Kübel während des Tages auf den Gang stellen, und bei Benötigung desselben läuten, solange sich aus dieser Handhabung kein Mißbrauch gegenüber dem Aufsichtspersonal ergibt. N’feld, d. 11. Jan. 1921. Festungshaftanstalt. Schroeder.“ Es wird immer gut sein, wenn man später mal dergleichen Dokumente vorweisen kann, wenn die Bourgeoisie ihre Langmütigkeit gegenüber dem brutalen Gewaltsystem der Bolschewiken beteuert. So klein der Gegenstand ist, so typisch ist er für die üble Gehässigkeit des Paragraphen-Bürgers. Dazu die bodenlose Feigheit, daß nicht zugegeben wird, daß einzig und allein schikaniert werden soll. Aber nicht mal als Strafe oder Maßregelung soll es gelten. Nur Sicherungsmaßregeln! Damit sie um die Unbequemlichkeit herumkommen, das Opfer vorher zu hören. Das ist der Trost bei allen Schindereien, die gegen uns ausgeheckt und mit kalter Amtsmiene durchgeführt werden, daß wir daran lernen können und müssen. Die Bourgeoisie hat – das muß ihr ihr verbissenster Feind zugeben – politisch klug gegen uns gearbeitet. Das ewige Prozessieren hat in der Masse die Suggestion wachgehalten, als seien die Mächte von 1919 immer noch nicht zertreten, und Ordnung und Sicherheit sei nur deshalb auch unter dem gegenwärtigen System noch ein unerfüllter Traum, weil ihre Feinde eben noch zu tätig sind. Mit den Schindereien gegen uns erreicht man die Wachhaltung der Angst vor uns persönlich, damit die Niederhaltung von Amnestiegelüsten und – das ist grade im Augenblick der Zweck der verschärften Tonart – den äußersten Widerstand gegen die Wehrlosmachung der Bourgeoisie durch Auflösung der Orgesch, Sipo etc. – Es ist also ohne allen Zweifel politische Klugheit, politische Gefangene, also Menschen, deren Verbrechen ihre Gesinnung ist, zu quälen. – Ich bin persönlich wenig rachsüchtig – obwohl ich Leuten wie Vollmann oder Walter Loewenfeld schon eine recht gründliche Pein für ihre Liebenswürdigkeiten gönnen möchte –, aber die Gegner haben mich in der Tat zu der Einsicht gebracht, daß die Rache am politischen Widersacher, ausgeübt durch dauernde Entwürdigung, Kränkung und kleinliche Quälereien, ein Mittel der Politik ist, auf das auch wir einmal nicht werden verzichten dürfen. – Nur dürfte es nicht anwenden, wer noch nicht fest in der Macht ist. Da sitzt der Fehler, den die gegenwärtigen Gewalthaber begehn. Sie glauben, unsre Sache sei aussichtslos, und sie könnten sichs infolgedessen leisten ihre Schafe mit uns in Angst zu halten, um deren Zufriedenheit mit ihnen zu festigen. Kracht aber ihr Postament zusammen, – wie stehn sie dann da! Als sadistische Bluthunde, die ihre Macht unglückliche Wehrlose spüren lassen. Und das Volk wird schauderhafte Rache fordern und nehmen. Ob noch dieses Jahr den großen Umschwung bringen wird? Termine kann niemand vorhersagen; daß die augenblickliche Herrschaft im Fundament morsch ist, das ist deutlich – für die neue Revolution aber haben wir Lehrgeld genug bezahlt – und werden sie besser machen.

 

Einzelhaft, Donnerstag, d. 13. Januar 1921.

Kürzlich hatte Adolf Schmidt wieder Besuch von Frau und Kind: die ganze Zeit unter Aufsicht. Die Versprechungen, die uns der Oberstaatsanwalt beim Generalrapport gegeben hat, der Vollzug werde nach Möglichkeit erleichtert werden, ganz besonders in der Behandlung der Besuche – Weihnachten und Neujahr ließ man ja in der Tat den Besuchsempfängern größere Freiheit (die Zellen konnten ausgeschmückt und ein wenig eingerichtet werden, und im August – September werden möglicherweise verschiedene Genossen Familienzuwachs haben). Jetzt ist das auch vorbei, und wenn Zenzl demnächst von Oppau zurückkommt und mich besucht, wird wahrscheinlich wieder jeder Kuß von einem bezahlten Voyeur überwacht werden. Natürlich ist’s das schlechte Gewissen, das jetzt alles verhindern möchte, was den bewaffneten Überfall draußen publik machen könnte. Wird aber wohl nicht viel helfen; ich bin überzeugt, daß die Zeitungen zum Teil schon Notiz genommen haben. Gestern erfuhren wir beim Hofspaziergang von den täglich zu dieser Stunde am Fenster versammelten Genossen, daß die Berliner Rote Fahne hier bis auf weiteres nicht mehr ausgehändigt wird. Vor einigen Tagen schon wurde mir die „Weltbühne“, der Allgemeinheit die Kom. Arb. Ztg. zu den Akten genommen. Wahrscheinlich hatten sich die Blätter, ohne noch von der neuesten Schandtat zu wissen, mit den baierischen Festungsverhältnissen beschäftigt. – Die Reaktion, die sich uns gegenüber so haltlos austobt, feiert auch sonst wieder wahre Orgien in Deutschland. Gradezu niederschmetternd ist die Nachricht, daß Oberleutnant Vogel, der Mörder Rosa Luxemburgs, der zu der milden Strafe von 2½ Jahren Gefängnis verurteilt, dann befreit und nach Holland geflüchtet war, jetzt amnestiert und schon wieder in Berlin sei. Morgen jährt sich zum zweiten Mal der Tag seines denkwürdigen Verbrechens, – wir haben es weit gebracht in der demokratischen Republik Deutschland. Noch etwas Reizendes: Die Prozesse gegen die Kriegsschuldigen haben vor dem Reichsgericht begonnen. Jüngst schon erfuhr man, daß sich die Regierung an die Alliierten gewandt habe, um von ihnen Material zu bestimmten Prozessen zu erhalten. Eine böse Abfuhr war die Antwort, nämlich eine Note, worin gesagt wird, daß die Personen, über die Belastungsmaterial verlangt wurde, garnicht auf der Liste derer stehn, deren Bestrafung im Versailler Pakt beschlossen ist; zugleich die Andeutung, daß die deutsche Regierung diesen Trick anwende, um die Alliierten festzulegen, sich einmal auf diese Art Prozessierungen einzulassen, und die sehr deutliche Erinnerung an die Verpflichtung, die wirklichen Kriegsschuldigen abzuurteilen, deren Auslieferung immer noch verlangt werden könne. – Nun lesen wir aber, daß wirklich in Leipzig Gericht gehalten wurde. Über wen? Über keinen der auf der Liste von der Entente genannten Verbrecher, auch über keinen Offizier, nein, über ein paar arme Proletarier, die wegen Plünderungen in Belgien jetzt zu jahrelangen Zuchthausstrafen verurteilt wurden. Die Esel, die dieses Land jetzt ins Verderben reiten, glauben, mit solchen Schurkereien, daß sie einige Angestiftete herausgreifen, um die Anstifter zu schonen, das Verlangen der Entente zum Stillschweigen zu bringen! Sie werden sich täuschen. Auch mit der Behandlung der Einwohnerwehrfrage werden sie sich (speziell in Baiern) täuschen. Schon verlangen französische und englische Blätter statt der Besetzung des Ruhrgebiets, bei der man sich wohl angesichts der Gesinnung der Bergarbeiter doch nicht die Finger verbrennen möchte, die Besetzung Münchens durch französische Truppen. Sehr möglich, daß das Tatsache wird. Welche Wirkungen es auf die innere Politik des Landes haben würde und in welcher Form wir persönlich dadurch in Mitleidenschaft gezogen werden würden, ist noch nicht abzuschätzen. – Augenblicklich gilt alle Sorge der Patrioten der Abstimmung in Oberschlesien, die in diesen Tagen steigen wird. Wenn den offiziellen und offiziösen Tendenznachrichten zu glauben ist, so sammeln die Polen kolossale Truppenmassen an der oberschlesischen Grenze, angeblich, um im Falle eines für sie ungünstigen Ausgangs des Plebiszits das Land gewaltsam zu okkupieren. Daß Polen eine Desperadopolitik nach allen Seiten treibt, stimmt. Der Sieg gegen Sowjetrußland hat die völlig derangierte Wirtschaft nicht heben können, und der Kommunismus hat die Eigentümlichkeit, am leichtesten die Menschen zu infizieren, die vom Kapital zu seiner Vernichtung besoldet werden. Was es mit einer bevorstehenden Offensive Sowjetrußlands und Litauens gegen Polen auf sich hat, und welche Rolle dabei Lettland zufällt, ist schwer zu kontrollieren. Allarmnachrichten dieser Art sind genug da, und die deutsche Regierung benutzt auch diese Konstellation wieder, um bei der Entente die Notwendigkeit einer stärkeren Bewaffnung zu begründen. Das besiegte Deutschland – ein ekelhafteres Bild hat es in der Geschichte noch nicht gegeben: ein Hausierer, der immer wieder zur Tür hinausfliegt, draußen fürchterlich schimpft und droht, und dann winselnd durch die Hintertür wieder hereinkriecht und um freundliche Behandlung bittet. Ganz besonders vornehm steht diesem erbärmlichen Gelichter die Pose des Antisemitismus an. Schacherei, Schieberei, Protzerei, bei gänzlicher innerer Würdelosigkeit, das ist jetzt das Bild der deutschen Bourgeoisie – und das macht Front – einig und entschlossen – gegen Schacherei, Schieberei, Protzerei und die Würdelosigkeit der Juden! Wenn nichts andres die Notwendigkeit einer radikalen, alles umstürzenden Revolution begründete, die profunde sittliche Verkommenheit, die Deutschland heute charakterisiert, schreit nach Rache und Reinigung.

 

Einzelhaft, Freitag, d. 14. Januar 1921.

Nicht viel, aber etwas Saftiges. – Vor einer halben Stunde kam der Herr Oberwerkführer Schneider bei mir herein mit einem Gesicht, das das ganze Vergnügen dieses Menschen verriet, mir etwas Unangenehmes mitteilen zu dürfen. Eine neue Verfügung: Alle Besuche sind bis auf weiteres gesperrt! Natürlich ohne Grundangabe, und natürlich ist der Grund der, daß über den Sipo-Überfall auf uns die Öffentlichkeit schon genau orientiert ist, und daß die geriebenen Polizeinaturen unsrer Schinder garkeine andre Erklärung dafür haben, als daß Besucher etwas mit hinausgenommen haben müßten. Die Tatsache, daß noch nie einem Besucher bei der Durchfilzung etwas abgenommen werden konnte, was er hätte schmuggeln sollen, überzeugt die Leute ebensowenig von der Lächerlichkeit ihres Verdachts wie die psychologische Selbstverständlichkeit, daß wir den einzigen seltenen Trost in unsrer Abgesperrtheit von der Welt, die unmittelbare Berührung mit dem Leben draußen nicht leichtsinnig in Gefahr bringen werden. Heut mittag erfuhren wir im Hof, daß Batum dem Genossen Murböck den Augsburger Volkswillen vorgehalten habe, der in mächtigen Lettern die Überschrift trug: „Standrecht in Niederschönenfeld“ und den genauen Inhalt der Sowjetsternverfügung, genauen Bericht über die Menzel-Offensive vom 4ten, genaue Angabe der gegen uns erlassenen „Sicherungs“-Maßnahmen enthielt. Ich zweifle nicht daran, daß der nächste Schreck von der öffentlichen Bekanntgabe des Besuchsverbots kommen wird, bei der dann doch Besucher nicht schuld sein können. – Ich werde mal wieder persönlich schwer getroffen. Mein ganzes Inneres hatte sich schon auf den nahen Besuch Zenzls eingestellt und gefreut. Ich bin überzeugt, daß die Sperre für lange beabsichtigt ist, da neuerdings alles darauf angelegt ist, uns die annoch vorhandene physische Überlegenheit der Gegenseite so empfindlich wie möglich fühlbar zu machen. Der Herr Menzel löst aber doch sein Versprechen ein, daß die Schikanen beim Besuchsempfang aufhören sollen: er verbietet einfach die Besuche überhaupt, – das Ei des Columbus. – Walter Hasenclever, der neuerdings in die beruhigte Caféhaussicherheit sozialer Neutralität zurückgefunden hat, hat immerhin in der Periode seiner Steigerung, die er nun verrät, ein Gedicht geleistet, dessen erste Worte beneidenswert schön sind. Wenn er sie jetzt kläglich und klüglich verleugnet, – ich nehme sie auf, für mich und meine Genossen: Haltet wach den Haß – haltet wach den Haß!

 

Einzelhaft, Samstag, d. 15. Januar 1921.

Gedenktag der Ermordung Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs. Da ist mir die Absonderung grade recht, um den Gedanken nachzuhängen, wie die Reaktion immer noch arbeitet und wie nötig es ist, endlich, endlich einmal die Sehnsucht dieser prachtvollen Beiden wieder zur Auswirkung zu bringen. Nach zwei Jahren noch: Mord über Mord, Rechtsbruch über Rechtsbruch, blindwütige Rachepolitik der Konterrevolution. Mein persönlicher augenblicklicher Zustand ist nicht arg. Zur Langeweile komme ich nicht, ja, mir wird der Tag grade in der Isolierung zu kurz und ich hätte nichts dagegen, wenn er doppelt so lang wäre. Lektüre und Korrespondenz nimmt mir viele Stunden täglich weg, und mein Roman, der – einmal begonnen – mich fortwährend zur Arbeit lockt, kommt viel zu langsam von der Stelle. Das Tagebuch wollte ich heute liegen lassen, und nur ein neuer Willkürakt der Verwaltung veranlaßt mich, damit nichts dieser Art verloren gehe, zum Eintragen. Der Genosse Steiner in New-York, dessen erste Spende nach Ansbach infolge der Erpressung der 4 „Genossen“ so garnicht im Geiste der Helfenden verwendet werden konnte, und die dann zu der schäbigen Anbettlung durch Weber auf Grund der gestohlenen Adresse führte, hat wieder gesandt: 650 Mark (außer Lebensmitteln in Fülle). Mir war ausdrücklich die Verteilung ins eigene Belieben gestellt. Eine öffentliche Sammlung war nicht erfolgt, Steiner ist mein persönlicher, engerer Kamerad, – der Fall liegt also ganz anders als bei der „Weltbühnen“-Affaire. Ich behielt 50 Mark für mich und ordnete die Verteilung des Restes zu 12 gleichen Teilen von 50 Mark an an lauter Genossen, die bei der Weltbühnen-Verteilung noch nichts erhalten hatten und ohne jede Parteinahme nach politischen oder geselligen „Richtungen“. Heut bekam ich von Schroeder den Bescheid, daß die Verteilung laut Ministerial-Erlaß in jener Sache nicht nach meinen Angaben erfolgen werde. Ich habe mich vorläufig zum Vorstand gemeldet und werde dann, wenn die Auseinandersetzung natürlich ergebnislos bleibt, [mich] an Pestalozza wenden, inzwischen aber das Geld nach München schicken, um die Verteilung von dort aus direkt vornehmen zu lassen. Pestalozza soll jedenfalls im Verwaltungsstreitverfahren eine Entscheidung darüber herbeiführen, ob der Eingriff in unser privates Verfügungsrecht tatsächlich so weit getrieben werden kann. Die Gegenseite geht jetzt offenkundig aufs Ganze; uns soll gezeigt werden, daß wir besiegt sind. Sie werden mir aber mit allen Niederträchtigkeiten nicht beweisen können, daß wir besiegt bleiben müssen. Es gibt eine Vergeltung von Gottes wegen, die – wenn nicht an ihren Personen – so ganz gewiß an ihren Handlungen ausgehn wird. Haben die Deutschen das am Kriege noch nicht gelernt, so werden sie es – vielleicht bald genug! – an der Revolution lernen. – Wie wir heute erfahren haben, ist das Besuchsverbot tatsächlich mit der Publikation der Bedrohung gegen unser Leben motiviert worden. Es wird ihnen nicht viel helfen, und sie werden es schwerlich erreichen, ihren Rachedrang unter Ausschluß der Öffentlichkeit auswüten zu lassen. – In den Zeitungen wird wenig Neues berichtet. Der französische Ministerpräsident Leygues mußte abtreten, sein Nachfolger dürfte Peret werden, und die politische Wirkung wird zweifellos eine für unsre Quälgeister sehr unerwünschte sein, nämlich der schroff verschärfte Druck auf Deutschland, ganz besonders in der Entwaffnungssache. Die Generäle Hoffmann und Ludendorff waren so gescheit, die Entente einen neuen Plan wissen zu lassen, wie man Sowjetrußland klein kriegen kann, nämlich, indem man Deutschland bewaffnet, es den Ludendörffern wieder ausliefert und mit den Franzosen gemeinsam nach Moskau marschiert. Tatsächlich! Die ganze Hirnweichheit dieser Hanswurste wird spürbar, die sich einbilden, daß in Paris kein Mensch dran denkt, man könnte die Bewaffnung Deutschlands zu ganz andern Zwecken brauchen, nämlich zu denen, die durch die Entwaffnung dauernd verhindert werden sollen. Liest man aber unsre patriotischen Zeitungen – ob die alldeutsche „München-Augsburger Abendzeitung“, ob den konservativ-klerikalen „Bayrischen Kurier“, ob den „demokratischen“ „Fränkischen Kurier“ – ist einerlei, so findet man überall in dieser gesegneten Nation den gleichen Scharfblick am Werke. – Nach einer Pariser Meldung soll Lenin mal wieder gestorben sein. Seine Lebendigkeit wird sich den Vätern der Trostente hoffentlich noch recht eindringlich bemerkbar machen.

 

Einzelhaft, Montag, d. 17. Januar 1921.

Eben komme ich von „vorn“ nach einer scharfen Auseinandersetzung mit Batum in Gegenwart Murböcks wegen der Steinerschen Geldsendung. Natürlich ohne Erfolg. Die Zurücksendung des Geldes mit einer Anweisung, es direkt an die 12 Genossen zu senden, würde als Umgehung aufgefaßt werden. Begründung: es gehe nicht an, daß in den Strafvollzug eingegriffen werde, und das sei der Fall, wenn Gefangene Spenden an andre Gefangene machen und dadurch Abhängigkeiten entstehn können. Daß dieser Eingriff in das Selbstverfügungsrecht über eignes Geld die Verhängung der Vormundschaft bedeute, bestreitet Batum. Nach langem Hin und Wider, wobei ich meine Ansicht, daß man uns schikanehalber mit immer neuen Verschärfungen des Vollzugs behellige und daß alles darauf angelegt sei, uns zu Unbesonnenheiten zu provozieren, deutlich aussprach, wurde endlich beschlossen, das Geld soll der Kantine überwiesen werden. So, denke ich, werden die 12 doch zu dem ihnen Zugedachten kommen. Ich habe Batum aber angekündigt, daß ich den Rechtsweg beschreiten werde, um auf allen Wegen die Rechtslage zu klären. Ich werde also Pestalozza berichten und zugleich noch einmal Radbruch bitten, sich der Sache anzunehmen und das Reichsjustizamt bzw. den Staatsgerichtshof und das Parlament gegen die baierische Justizbehörde in Bewegung zu setzen. – Der Kampf soll aufgenommen werden, neue Einzelhaft und weitere „Sicherheits“-Maßnahmen müssen schlimmstenfalls dafür in Kauf genommen werden. – Die Schlafzimmerszene des 2. Kapitels meines Romans ist gestern fertig geworden. Und jetzt will ich an Zenzl schreiben.

 

Neuburg a/D. Gefängnis. Dienstag, d. 18. Januar 1921.

Fahrt nach Neuburg mit Toller, der noch Einkäufe macht. Ich bin mit dem Zahnarzt fertig. Abschrift: „N’feld, d. 17. I. 21 Lieber Radbruch! Ich begreife völlig, daß Du nicht sonderlich erbaut sein wirst von der Überraschung schon wieder von mir mit ganz ähnlichen Anliegen bedrängt zu werden, wie ich sie Dir schon zweimal brachte. Es handelt sich aber auch nicht mehr um einen Freundschaftsdienst, den ich von Dir erbitten möchte, sondern um eine dringliche Appellation an Dich als Jurist in erster, als Politiker erst in zweiter Linie um des meiner Überzeugung nach schwer verletzten Rechts willen. Es dreht sich dabei keineswegs um meine Person oder um sonst eine Person sondern zunächst um Allgemeines, um Grundsätze und Rechtsfundamente, an deren Reparatur und Stabilisierung an hundert politische Festungsgefangene in Bayern allerdings vital interessiert sind. – Wenn ich es bin, der schreibt, und wenn Du es bist, an den geschrieben wird, so bitte ich Dich zu glauben, daß beides notwendig ist, und daß die Beziehung zwischen uns, wenn sie nicht schon 30 Jahre alt wäre, jetzt von mir aufgenommen werden müßte. Grade ich muß schreiben, weil ich in den Angelegenheiten, die mit den Rechtsprinzipien des Strafvollzugs zusammenhängen, schon immer bei meinen Genossen als Wortführer habe herhalten müssen, und weil in dem akuten Fall, der den Anstoß zu diesem neuen Appell an Dich gibt, ich persönlich der Nächstbeteiligte bin. Du bist aber der Einzige, an den ich mich wenden kann, weil Du – im Gegensatz zu den Juristen der links von Dir stationierten Parteien – die demokratische Verfassung des Reichs grundsätzlich bejahst und demnach als Politiker an ihrer strikten praktischen Geltung interessiert bist, und ganz besonders, weil ich die Aufschlüsse und Ratschläge, die ich als m. E. benachteiligter Staatsbürger brauche, nicht von einem politisierenden Advokaten beziehn will, sondern von einem politisch aktiven Rechtslehrer, der nicht einen interessanten Prozeß führen und gewinnen will, sondern objektiv die Rechtslage überblickt und die Möglichkeit hat, kraft seiner Position für die Herstellung des Rechts zu wirken. Da kenne ich keinen andern als Dich. – Ich bitte Dich aber ausdrücklich, dieses Mal selbst an die Prüfung der Sache heranzugehn und sie nicht als bloßen Beschwerdefall zu betrachten. Seinerzeit hast Du das Dir von mir aus Ansbach mitgeteilte Material freundlichst einem Deiner Herren Reichstagskollegen übermittelt, der zugleich Mitglied der bayerischen Staatsregierung ist. Diese Mühe, für die ich Dir dankbar bin, war, was ich voraussah, vergeblich. Es ist nichts besser, alles sehr erheblich schlimmer geworden. – Den erwähnten akuten Fall, der mich veranlaßt, um mit allen irgend benutzbaren Mitteln Hilfe auf dem Rechtsweg zu suchen, magst Du nur als zufälliges auslösendes Moment betrachten. Er ist irgendein Glied in einer unendlich langen Kette, die sich seit anderthalb Jahren in ununterbrochener Folge aus administrativen Verschärfungen des bayerischen Festungsstrafvollzugs zusammensetzt, einer Kette auch im kriminalistischen Sinne des Worts, die vom Charakter der Festungshaft als Ehrenstrafe auch keine Erinnerung mehr übrig läßt. – Der spezielle Fall verhält sich so: Ende Oktober traf an meine Adresse eine größere Geldsumme ein, die den vorläufigen Ertrag einer öffentlichen Sammlung für die bayerischen Festungsgefangenen darstellte. Der Verteilungsmodus wurde mir überlassen mit dem einzigen Wink, daß Bemittelte und Verräter an der eignen Klasse nicht berücksichtigt werden sollten. Ich beriet die Angelegenheit mit mehreren Genossen und wir einigten uns auf einen bestimmten Modus, nach dem eine Anzahl würdiger und bedürftiger Genossen zunächst eine gleich große Summe, die immerhin schon fühlbaren Nutzen gewährleistete, erhalten sollte. Bei Eintreffen der in Aussicht gestellten weiteren Sammlungserträge sollte dann eine weitere Gruppe ebenso bedacht werden und so fort turnusmäßig verfahren werden. Zugleich sollte immer ein prozentual entsprechender Teil an die andre Festungsanstalt (Lichtenau) geschickt werden. Auf die Beschwerde eines einzelnen Gefangenen, der von fast allen Genossen als einer derjenigen eingeschätzt wird, die nach dem Willen der Spender eben nicht beteiligt werden sollten, schritt die Festungsverwaltung ein und verbot mir, das Geld anders als zu gleichen Raten unter alle zu verteilen (wobei also dem ausdrücklichen Willen des Spenders entgegengehandelt und überdies jeder nur mit einer lächerlich geringfügigen Summe bedacht worden wäre). Mein Verlangen, das Geld an den Absender zurückgehn zu lassen, wurde abgelehnt. Die Angelegenheit blieb lange in der Schwebe, bis das Justizministerium zu Weihnachten entschied, die betreffende Summe solle diesmal nach meinen Angaben verteilt werden, für die Zukunft solle jedoch bei Verteilungen, bei denen keine besonderen Angaben des Spenders vorliegen, der Modus, der von der „Frauenhilfe für politische Gefangene“ verlangt werde (gleichmäßige Verteilung unter ausnahmslos alle), zur Anwendung kommen. – Vor einigen Tagen traf bei mir wieder eine Geldsumme ein, die mir ein persönlicher Freund aus Amerika, den ich für meine Genossen und mich angehauen hatte, mit dem Bemerken zugehn ließ, ich möge damit völlig nach freiem Ermessen verfahren. Es lag also diesmal keine öffentliche Sammlung vor, und es war eine besondere Angabe für die Verwendung gemacht: nämlich, daß das Geld mir gehöre, da es für mich und höchstens meine persönlichen Freunde zusammengekommen war. Ich verteilte nun das Geld zu gleichen Raten wie bei jener früheren Sendung, indem ich ausschließlich Genossen bedachte, die damals nichts bekommen hatten. Zu meinem Erstaunen weigert sich die Verwaltung wieder, die Verteilung vorzunehmen, (da wir unser Geld nicht selbst verwalten dürfen – seit etwa einem Jahr – kann ich nicht selbständig handeln). Sie beruft sich auf die Ministerial-Entschließung vom Dezember. – Alle meine Vorhaltungen und Proteste sind vergeblich. Es wird nicht bestritten, daß das Geld als mein persönlicher Besitz anzusehn ist, den ich für mich persönlich benutzen oder beliebig verschenken kann. Doch darf ich es nicht unter meine Genossen verteilen, es sei denn, ich beteilige dabei persönliche Gegner, Leute, vor denen ich keine Achtung habe und verläppere die Summe in 70 kaum nennenswerte Teile, womit ich ganz bestimmt das Gegenteil von dem täte, was die Spender wünschten. Mein Vorschlag, das Geld zurückzusenden, um es, bereits an die zu Bedenkenden adressiert, wieder herschicken zu lassen, wurde abgelehnt; das wäre eine Umgehung. Die Möglichkeit, das Geld zweckentsprechend zu verwenden, wird also vernichtet, – umso peinlicher für mich, als von dem gleichen amerikanischen Freund bereits die Mitteilung da ist, eine neue Sendung sei unterwegs. – Meine Auffassung ist nun die: indem mir die beliebige Verfügung über das umstrittene mir gehörige Geld genommen wird, bin ich de facto – wenn auch nicht de jure – unter Kuratel gestellt. Die Verhängung der Vormundschaft ist jedoch ausschließlich Sache gerichtlicher Entscheidung und ich bin nicht willens, mir meine bürgerlichen Rechte durch irgendeine Beamtenverfügung nehmen zu lassen, umso weniger als es hier um prinzipielle Dinge geht, an denen etwa hundert politische Gefangene interessiert sind. – Soweit ich die Gesetze kenne, liegt hier objektiv ein Verstoß gegen § 339 St. G. B. vor, insofern als ich, und zwar zweifellos widerrechtlich, unter Benutzung der amtlichen Macht (Mißbrauch, da widerrechtlich) genötigt werde, etwas zu unterlassen (nämlich mein Geld nach Wunsch zu verwenden). Als Täter kommt jedenfalls nur, oder vorerst, der für die Ministerialverfügung Verantwortliche, das ist der Justizminister selbst, in Betracht. Ein Strafverfahren gegen diesen hohen Beamten in Bayern anzustrengen wäre natürlich vergeblich, da die Staatsanwaltschaft, die die Sache zu verfolgen hätte, ja seine untergebene, von ihm abhängige Behörde und ein Teil der Justizverwaltung ist, deren Praktiken doch im ganzen als straffällig nachgewiesen werden sollen, soweit sie auf den Festungsstrafvollzug Bezug haben. (Es kommen weitere Verletzungen des gleichen Paragraphen, ferner solche der §§ 345 und 357 in Frage). – Ich richte nun folgende positive Fragen an Dich, die ich Dich bitte, mir möglichst präzise zu beantworten: 1. Hat das Reichsjustizamt die Möglichkeit, die bayerische Justizverwaltung zur Innehaltung der Gesetze und der Verfassung zu zwingen? 2. Kann das Reichsjustizamt die Strafgesetze über Vergehn im Amte gegen hohe und höchste Beamte der Justizexekutive Bayerns in Anwendung bringen? 3. Wie ist der Rechtsweg, der dazu vom Anzeigeerstatter einzuhalten ist? 4. Ist der Staatsgerichtshof berufen und imstande, den bayerischen Festungsgefangenen unbedingt gesetzliche Behandlung zu verschaffen? 5. Hat der Reichstag oder der Reichskanzler die Macht, die Gesetzlichkeit der Handlungen des bayerischen Justizministers nachzuprüfen, bzw. herzustellen? 6. Wie veranlaßt man diese Instanzen zur Prüfung oder zum Einschreiten? 7. Bist Du selbst befugt, imstande und bereit, als Sachwalter der politischen Gefangenen in Bayern die erforderlichen oder möglich scheinenden Schritte zur Herstellung der Rechtssicherheit zu tun? – Ich wiederhole: der vorgetragene Fall ist nicht Ursache sondern Veranlassung dieses Schreibens. Du kennst aus meinen früheren Briefen schon verschiedene andere Beschwerden. Ich wäre Dir dankbar, wenn Du Dich zur näheren Orientierung in Verbindung setzen wolltest mit dem Rechtsbeistand in unsern bisherigen Konflikten mit der Behörde, Herrn R. A. Dr. Anton Graf von Pestalozza, Mch. Maffeistr. 9. Er besitzt außerordentlich umfangreiches Material. Vielleicht entschließt Du Dich, einmal schriftlich mit ihm darüber zu konferieren, ob die von mir ins Auge gefaßten Rechtswege, auf die mich teilweise die Begründung meiner Revisionsverwerfung durch das Reichsgericht hingewiesen hat, gangbar und aussichtsvoll sind oder ob vielleicht dieser oder jener Mißstand im Verwaltungsstreitverfahren abgestellt werden könnte. – Mir geht es nicht in den Kopf, daß die Ausführung des § 17 StGB so völlig verschiedene Möglichkeiten gibt, wie etwa der Vollzug in Preußen und in Bayern sie zeigt. Das Gesetz ist doch unter einheitlichen Absichten erlassen worden und zwar für das ganze Reich. Wie ist es da möglich, daß seine Handhabung gleichzeitig nach geographischen Gesichtspunkten so diametral entgegengesetzt betätigt werden kann? – Ich kenne mich halt mit Euern Rechtsstaat-Einrichtungen immer noch nicht aus. – Diesen Brief schreibe ich Dir aus der Einzelhaft, in der ich nun 12 Tage „bis auf weiteres“ sitze, aus Gründen, die Du ebenfalls vom Grafen Pestalozza erfahren kannst. Reichlich Material über die Verhältnisse in den bayerischen Festungen besitzt auch Dein Reichstagskollege Wendelin Thomas-Augsburg. – Ich bitte Dich um Nachricht, ob von Dir Interesse und Hilfe zu erhoffen ist. Inzwischen nimm herzlichen Dank und beste Grüße. Dein   E. Mühsam.

 

Abends, wieder „daheim“ (in Einzelhaft). Von der Reise ein paar Kleinigkeiten. In der Bahn fuhren wir mit ein paar jungen Mädels zusammen, die nach Neuburg in die Schule mußten und sich freuten, daß der Zug 40 Minuten Verspätung hatte. Eins davon war reizend, 14–15jährig, ein entzückendes Köpfchen, feine schlanke Hände, wirre Haare, graziöse Beine, eine allerliebste Figur, und besonders anmutig war es zu beobachten, wie tolpatschig sie in ihren Backfischjahren mit ihren Gliedmaßen umging, wie unsicher-kokett sie sich bewegte und benahm, ohne doch deshalb an appetitlicher Liebenswürdigkeit einzubüßen. Wenn man so lange dergleichen Blickgenüsse entbehren muß, ist so ein Zufall ein Erlebnis. In Neuburg verführte mich Toller, auf dem Wege in ein Zigarrengeschäft mit Likörausschank einzutreten. Ich trank unbedacht zwei Schnäpse: Preis 5 Mark. Ich merkte, wie sehr ich die Fühlung verloren habe, da mein Schreck von der Ladnerin, den Aufsehern und Toller sehr belacht wurde. Beim Zahnarzt erschraken zwei Nonnen, die eben das Sprechzimmer verließen, entsetzlich bei meinem Anblick (ich war allein vorausgegangen mit einem Aufseher, Toller machte mit den andern Besorgungen). Toller berichtete mir später: die Damen, von denen eine die Oberin des Herz-Jesu-Ordens war, seien fürchterlich entsetzt zur Wirtschafterin geflüchtet. Offenbar habe ich mir die Haare wieder zu lang wachsen lassen. Der Zahnarzt selbst – ein trottliger junger Spießer – interpellierte mich, ob ich, wenn ich rauskäme, die Frauen doch noch verstaatlichen wolle. Meine Beteuerung, daß ich das nie gewollt und immer das blanke Gegenteil davon gefordert habe, daß er sich aber von denselben bezahlten Preßhalunken, die ihn während fünf Kriegsjahre beschwindelt und belogen haben, nach ihrer Entlarvung immer noch jeden Bockmist glaube, nahm er ungläubig entgegen. Seine Haushälterin fragte mich jedoch respektvoll, ob ich der E. Mühsam sei, der „den Weckruf“ geschrieben habe. Ich verneinte, brachte aber dann heraus, daß es sich um ein Gedicht von mir handelte, das bei der kommunistischen Liebknechtfeier in München vorgetragen sei, wie sie in der Zeitung gelesen hatte. Ins Gefängnis kam Toller erst nach langer Pause nach, die ich zur Abschrift des Briefs an Radbruch in dieses Heft benutzte. Dann aßen wir (ausgezeichnet, aber 9 Mark 50 die Portion), und die nette Verwalterstochter brachte Kaffee. Da Toller mir Andeutungen gemacht hatte, daß er erfolgreich um die Gunst Linas werbe, hielt ich mich sehr lange auf dem Lokus auf. Er behauptete dann, sie sei verhindert gewesen; ich glaube eher, sie hat ihn abfahren lassen, wie denn Tollers Anpreisungen seiner Erfolge auf literarischem, politischen und erotischen Gebiet immer mit Vorsicht aufzunehmen sind. Charakteristisch für ihn: er hatte „zufällig“ zwei Dichtungen von sich bei sich, die er dann dem Mädchen leihweise zurückließ. Auch die Mama lernten wir kennen, eine nette Frau, wie denn die ganze Gefängnisverwalterfamilie ungewöhnlich sympathisch ist für Vertreter dieses tristen Berufs. Die Unterhaltungen mit Toller hatten wenig Bedeutung; es konnte auch kein Thema innegehalten werden, da seine Ruhmredigkeit alle Auseinandersetzungen zu Anekdotenauskramerei aus seiner wichtigen Biographie unterband. Der junge Mann genießt seine Berühmtheit in jeder Minute seines Daseins. Auf dem Rückweg begrüßte uns am Bahnhof in Rain der Genosse Däubler von der KP. Die Aufseher wollten ihn durchaus vertreiben und verboten jedes Gespräch. Trotzdem kam er bis zur Mühle an der Chaussee mit. Er war von den Vorgängen hier drinnen genau orientiert und gab uns höchst lockende Zusicherungen. Es werde bald anders werden, in 3 Monaten, ja in 8 Wochen würden wir schon frei sein. Ich bin davon noch nicht recht überzeugt. Unter heulendem Sturm gingen wir die Landstraße herunter. Er wurde aber übertönt von Tollers Trompetenorgan, mit dem er die beiden Aufseher seiner besonderen Fürsorge für die kleinen Beamten unter der nächsten Räteregierung versicherte. Mir lag es nicht, diesen – an und für sich ganz akzeptablen – Schergen der Konterrevolution, die grade eben dem Genossen Däubler gegenüber ihre Pflichttreue dokumentiert hatten, hinten reinzukriechen, so ging ich vorneweg und ärgerte mich über die geschwätzige Betulichkeit Tollers. Heimgekehrt in meine stille Klause, las ich einen Brief von Wiedenmann, der als einer der 12, die von Steiners Geldsendung bekommen sollten, ablehnt, da er keine Wohltätigkeit von mir, der ich selbst nicht reich sei, wolle und auch nicht den Verdacht erwecken möge, als ließe er sich bestechen. Die Charakterfestigkeit schwankt aber etwas, da er mir anheimstellt, die 50 Mk seiner Frau zu schicken. Grade hat man durch die Überweisung an die Kantine einen Ausweg gefunden, wie die Verwaltung umgangen werden könnte, da schreibt er mir durch die Zensur dieser Verwaltung solchen Brief! Man kann’s machen, wie man mag: verkehrt ist es immer, und ein wenig Dreck spritzt einen immer an. Aber ich bin machtlos und wehrlos dagegen. Ich möchte nicht erst die Äußerungen hören, wenn ich wirklich das Geld allein mir selbst hätte zugute kommen lassen. – Eine Photographie von meinem Karl Petermeier machte mir mehr Freude. Dann las ich Zeitungen. In Berlin ist bei der Liebknecht-Luxemburg-Demonstration schon wieder auf die Massen geschossen worden. Wie lange noch? – Der sozialdemokratische Reichspräsident jedoch erläßt zur 50 Jahr-Feier der Reichsgründung (im Ernst: die feiert man heute!) einen Gruß an sein Volk, worin er Bismarcks Werk als die Erfüllung der Sehnsucht der Deutschen preist. Herr Ebert hat als Sozialdemokrat gelernt! – Die Uhr ist gleich neun. Der Sturm heult – vorhin unterbrochen von einigen Donnerschlägen –, ich bin müde und werde schlafen gehn.

 

Einzelhaft (15. Tag). Donnerstag, d. 20. Januar 1921.

Kurz vor neun Uhr abends. Will sehn, wie weit ich komme. – Auf dem Hof schmiß mir heut mittag Gruber einen Wisch aus dem Fenster zu: „Es ist mir mitgeteilt worden, daß Sie mir 50 M. überweisen wollen. Es ist mir unerklärlich, wie Sie wagen können, mir Geld anzubieten, von dem ich nicht erfahre woher es kommt. Die Revolution für die ich gekämpft habe, kennt keine philantropischen Allüren und keine Wohltätigkeitsgestien (sic!), sondern die Revolution kämpft um die Solidaritätsprinzipien der kommunistischen Gesellschaft. Behalten Sie Ihren Schmutz oder wählen Sie ein andres Opfer zur Korruption, mir genügen meine Erfahrungen, um mit offenem Wisier gegen Sie zu kämpfen. Michael Gruber.“ Ich habe dem Manne nie was zu Leid getan und sehe, daß die Westriche und Genossen meine Absonderung benutzen, um harmlose Esel wie diesen Gruber gegen mich scharf zu machen. Wiedenmann hat es mit seinem Schrieb glücklich erreicht, daß auch die Auszahlung an die Kantine verweigert wird, sodaß also ganz ungewiß geworden ist, was aus dem Geld werden soll; und Vollmanns Verleumdung, ich wolle mir Anhänger kaufen, wird von charaktervollen „Genossen“ fröhlich aufgegriffen. Es ist mir schlechterdings rätselhaft, wodurch ich mir diesen abgründigen Haß zugezogen habe. Das Lustige ist nur, daß mir in Ansbach das Geld von demselben Spender herausgepreßt wurde, das mir hier vor die Füße geschmissen wird als „Schmutz“. Wie ich’s ferner machen soll, – ich weiß es nicht. Mir graut bei dem Gedanken, daß gute Menschen wieder werden helfen wollen und mir dabei ihr Vertrauen schenken könnten. – Eben las ich Zeitungen. Ich hätt’s auch lassen können. In all dem Wust von Neuigkeiten nichts Greifbares, höchstens die zweifelhafte Meldung, daß die Ruhrbergleute ultimativ die Entwaffnung der bayerischen Einwohnerwehr verlangen sollen. Das wäre das richtige Mittel, und mindestens so wirksam wie die Forderungen der Entente. Lenin ist also nicht gestorben. Die Pressbanditen helfen sich, indem sie ihn jetzt geisteskrank sein lassen. Das ist wenigstens mal eine Abwechslung. – Jetzt ist das Licht ausgelöscht. Bei der Kerze strenge ich die Augen zu sehr an. Darum Schluß mit der Registrierung des letzten Toten: Adolf Hildebrand. Ein starker Könner, Epigone mit Eigenwillen, Vater der neuklassizistischen Münchner Schule, Züchter eines schlimmen Nepotismus, der gute starke Talente am Wege hat scheitern lassen. Persönlich hatte ich keine Beziehung zu ihm; zu seinem Werk die höchst respektvoller Verneinung.

 

Einzelhaft, Freitag, d. 21. Januar 1921.

Das neue Dilemma ist schon da. Ein Genosse Gottschalk aus Brooklyn, der meinen Brief an Genossen Steiner in New York gelesen hat, schreibt mir einen prächtigen Brief. Er hat gesammelt und schickt jetzt über 2800 Mark an mich. Da er ausdrücklich Verteilung unter die Genossen in Niederschönenfeld bedingt, obwohl er mich „ausdrücklich mit der Vollmacht betraut, darüber zu verfügen und festzustellen, wo es am meisten not tut“, und obwohl er es für „gleichgesinnte Genossen“ bestimmt, wird mir nichts andres übrig bleiben, als die Verräter Westrich etc. und die Spitzel wie Götz zu gleichen Teilen partizipieren zu lassen: 2876 Mk 50. Es wird also jeder etwa 40 Mk kriegen, – meinetwegen. Die vorige Summe ist noch unverteilt bei der Verwaltung. Ich hoffte, die Angelegenheit mit Murböck besprechen zu können. Doch scheint er nicht die Erlaubnis erhalten zu haben, mich zu besuchen. Die Strafvollstrecker arbeiten tüchtig und unterlassen nichts, was die Festungsgefangenen gegeneinander verhetzen und in Verwirrung bringen kann. Es wird ihnen ja auch von den Opfern ihrer Bosheit leicht genug gemacht. Hornung ist seit heute auch in Einzelhaft. Er soll eine Strickleiter fabriziert haben – „zu Fluchtzwecken“ –, die in der Angst des Augenblicks bei der Menzel-Offensive in den Abtritt geschmissen und dann natürlich gefunden wurde. Wie Hornung mir heut mittag erzählte, hat Vollmeier, den wir immer schon im Verdacht der Spitzelei hatten, bei seiner Entlassung vorige Woche ihn denunziert. Hornung berichtete mir auch von einer Kantinenversammlung, die gestern stattgefunden hat. Dabei ist die amerikanische Geldsendung besprochen worden und ich wurde – und zwar hauptsächlich von Wiedenmann – dabei mit Dreck beschmissen. Er hat große Töne geredet, daß er das Geld nicht nehme; daß er mir aber nahegelegt hat, es seiner Frau zu schicken, wird er kaum erwähnt haben. Was für Jammerseelen! – Gestern soll auch der Oberstaatsanwalt hier gewesen sein. Er habe Murböck gesagt, die Besuchssperre werde nicht eher aufgehoben werden, bis nicht herausgebracht sei, wer den Überfall der Sipo auf uns an die Öffentlichkeit gebracht habe. Dann wird wohl nie wieder ein Besuch hereinkommen, aber ich denke, auch diese Schikane wird der Mann bald in der Zeitung glossiert finden. Ferner: Wendelin Thomas und Frau Aschenbrenner (er Mitglied des Reichstags, sie des bayerischen Landtags) waren hier, um nach den Vorgängen zu forschen. Sie wollten unter anderm auch mich sprechen, wurden aber nur zum Vorstand, zu keinem von uns vorgelassen. Umso besser. Wenn die Parlamente schon sonst zu nichts zu gebrauchen sind, und wenn die Reden unsrer Genossen dort auch praktisch ganz wirkungslos bleiben; ärgerlich wirds den Herren trotzdem sein, von der Reichstagstribüne herunter belichtet zu werden. – Mein Seppl, der arme Kerl, hat den 16. Januar, den Tag seiner ihm vom Gericht bewilligten Entlassung, nicht nur weiterhin auf Festung, sondern sogar in Einzelhaft zubringen müssen. In der Nacht zu dem Tage, auf den er sich so lange gefreut hatte, erlitt er einen schweren Anfall, einen dieser sonderbaren hysterisch-epileptischen Zufälle, wie sie erst seit dem Kriege, dem „Stahlbad des Volks“, in die Pathologie eingegangen sind: mit tobsuchtartigen Erscheinungen bei völliger Bewußtlosigkeit. Dosch litt daran, Markus Reichert, Vogl hier und auch unser Wittmann-Seppl, alles Leute, die verschüttet waren. Sie haben nach dem Erwachen keine Ahnung, was los war, und Seppl erzählte mir, er habe blos dumm geträumt und nachher, als er aufwachte, hätten plötzlich drei Aufseher um ihn herumgestanden. Er wills nicht zugeben, daß ihn die Verlängerung der Strafe aufregt, aber ich buche diesen Anfall, der natürlich furchtbar Kraft verzehrt, den Herren Schröder, Menzel und Kühlewein aufs Schuldkonto. – Noch einige Neuburger Eindrücke. So wie im Kriege überall Anleiheplakate pappten, dann antibolschewistische Wische und Werbungen für die weiße Garde, später Hetzzettel gegen den Versailler Vertrag, so kleben jetzt überall Fetzen mit Weherufen gegen die „schwarze Schmach“. Ein übles Theater. Die Patridioten täten gut, nicht auf Schritt und Tritt an ihre eignen Sünden in Belgien, Polen und Serbien zu erinnern. – Im Reichstag hat man über den andauernd verschärften, mit der Reichsverfassung unvereinbaren Ausnahmezustand in Baiern diskutiert. Die Reichsregierung ist natürlich zu feige, sich mit Kahr einzulassen. Der demokratische Innenminister Koch hat unter vielen Verbeugungen nach München hin einiges nicht unbedenklich gefunden und in Aussicht gestellt, nichts dagegen zu tun. Otto Runge aber, Liebknechts Mörder, hat ein umfassendes Geständnis seiner scheußlichen Tat veröffentlicht, das die Offiziere des Edenhotels, die Herren Papst, Vogel und Konsorten und zugleich den Kriegsgerichtsrat, der die Verhandlung gegen ihn geleitet hat, schwer belastet und als Anstifter und Begünstiger des Mordes bloßstellt. Es wird ihnen nichts geschehn, aber sie werden versuchen, Runge um die Ecke bringen zu lassen, was ja auch keine strafbare Handlung im Urteil der gegenwärtigen deutschen Justiz wäre. Auch die Flensburger Mörder befinden sich bereits außer Verfolgung. Dagegen hat die „sozialistische“ Regierung in Sachsen die Amnestierung von Hölz abgelehnt. Gottseidank haben sie ihn nicht. Und die Leute bilden sich ein, diesen stinkenden Saustall als dauerndes Heim deutschen Rechts und deutscher Sitte konservieren zu können. Im eignen Dreck werden sie eines Tages ersticken. Mag dieser Tag nicht fern sein! Wer noch Mensch ist in Deutschland, lechzt nach ihm.

 

Einzelhaft, Sonntag, d. 23. Januar 1921.

Der dritte Sonntag in diesem Käfig. Vor anderthalb Wochen stellte mir Batum in Aussicht, daß die „Absonderung“ nur noch ganz kurze Zeit dauern werde, und er nannte 8 Tage. Mögen sie diese ewigen Schikanen und gebrochenen Versprechungen nur so weiter treiben. Wie ich höre, ist bei einigen Genossen die Zelle durchsucht worden, so bei Karpf und Günther. Ferner soll eine neue Verfügung da sein, die uns das Abhalten politischer Zusammenkünfte verbietet; die Aufseher seien angewiesen, mit allen Mitteln einzuschreiten. Diese armen Proletarier, die sich von der Bourgeoisie zu unsrer physischen Überwachung haben kaufen lassen, werden nun also als Begutachter unsrer gemeinsamen Aussprachen eingesetzt; freilich hat ihnen ja schon ihre Zensortätigkeit bei den Besuchen von unsern Ehefrauen Belehrung geschafft, wie man es machen muß. Die Erdrosselungspolitik gegen uns geht also weiter. Seit Müller-Meiningen vor anderthalb Jahren mit seiner „Hausordnung“ zum Vorschein kam, ist noch kaum eine Woche vergangen, daß nicht unsre Rechte weiter gekürzt wurden. Der Herr Menzel speziell scheint aufs Ganze gehn zu wollen. Mein Verdacht, daß ihn Verfolgungsideen plagen, verstärkt sich. Leider geschieht draußen nicht das Notwendige. Die ungeheuerliche Tatsache, daß im August eine große Amnestie öffentlich versprochen wurde, ohne daß irgendetwas erfolgt wäre, ist überhaupt nicht zur Geltung gekommen. Den Genossen, die im Juli 1919 von Oberhaus durchbrannten, hat man jetzt – nach 19 Monaten! – den Prozeß gemacht. Von hier waren Fritz Walter, Vogl und Mühlbauer dabei; sie und die meisten übrigen Beteiligten (15) bekamen vom „Volksgericht“ Passau 2 Monate Gefängnis aufgebrummt, einige Mitläufer wurden freigesprochen. Wenn nichts andres, so charakterisiert dieses Nachgraben in den Personalakten nach längst abgetanen Geschichten den Geist der bayerischen Justiz, die Rache nehmen, Politik treiben, aber nicht Recht schaffen will. – Politische Betrachtungen erübrigen sich. Das Kabinett Briand wird zeigen müssen, was es will und im Hinblick auf England kann. So schwebt die Entwaffnungsfrage immer noch. Doch, glaube ich, soll morgen in Paris der „oberste Rat“ zusammentreten. Die Revolutionsbewegung in Deutschland sieht trübe aus. Die VKP beweist ihre Existenzberechtigung durch bloße Schaumschlägerei. Da die Russen nur sie – und allenfalls die zu Kreuze gekrochene KAP – anerkennt, d. h. unterstützt, ist der Kampf allen nicht opportunistischen, entschiedenen Revolutionären ungeheuer erschwert. Lenin übersieht die Dinge nicht richtig. Kennte er den deutschen Volkscharakter, wüßte er, wie autoritätsgläubig der Deutsche ist, – er nützte die Autorität, die zur Zeit grade er genießt, besser aus. Ich sehe es hier im Hause wieder: da die 3. Internationale die KAP als sympathisierende Partei zugelassen hat, verkehrt man mit deren Mitgliedern. Sie kleben ja wenigstens überhaupt Wapperln. Mich hingegen verachtet man aus dem Grunde, – und das Lustige ist, daß die ach so rebellischen KAP-Leute – Gruber ist von ihnen angeworben – mit den echt Gestempelten völlig im Takt marschieren. Der große Bann in Ansbach gegen mich hatte denselben Grund wie hier die große Hetze. Gottseidank ist die Revolution nicht von den „Revolutionären“ abhängig, die sie für ihr Monopol halten. Aber die Widerstände gegen jede revolutionäre Elementarität verstärken diese legitimen Erben der alten Sozialdemokratie ungemein. Bei aller ehrfürchtigen Liebe zu den Bolschewiki wegen ihrer eignen Revolution, – ihre Politik zur Ausbreitung der Revolution ins Weltmaß ist abscheulich dumm, da sie von dem Wahn befangen ist, die Masse müsse sich zu Programmen bekennen und deshalb der Masse mit opportunistischen Konzessionen entgegenkommt und – genau wie die früheren marxistischen Päpste – alles ausschließt, was von links her dagegen opponiert. – Gottlob macht die Unionisten-Bewegung bei uns trotz alledem gute Fortschritte, und was mich vor allem freut und beruhigt, ist daß die revolutionären Arbeiter auch die AAU gespalten haben, da sie Konzessionen an die Moskauer Internationale beschloß. Die Gründung der Sozialistischen Industrie-Arbeiter-Union war die gegebene Antwort auf die Beschlüsse der Leipziger AAU-Reichskonferenz. Die vorübergehende Schwächung der B. O.-Bewegung macht nichts. Abspaltungen nach links beweisen immer, daß der gute revolutionäre Geist lebendig ist, und alle Erfahrung beweist, daß aktiv gewordene Revolutionen nur die links stehenden Sammelbecken füllen – und die bewährtesten und besten unsrer Kämpfer, die Genossen von Braunschweig, Ostsachsen, Düsseldorf und wichtige Ruhrbezirke haben sich schon auf diesem äußersten Flügel zusammengefunden. Ich wünschte, die Syndikalisten fänden bei Wahrung ihrer Eigenheit nahen Anschluß bei diesem Vortrupp. Sie wären geeignet, endlich mal der Marxomanie im deutschen Proletariat entgegenzuwirken, ihm den wissenschaftlichen Spleen zu nehmen und ihm den Glauben an Willen und Tat beizubringen. Nachher wird die „Taktik“ schon von selber kommen. Wie wunderbar groß wären Lenin und seine Freunde, wenn sie keine Schulmeister sein wollten!

 

Einzelhaft, Dienstag, d. 25. Januar 1921.

Große Sensation. Toni Waibel ist durchgebrannt. Auf der Fahrt zum Zahnarzt nach Neuburg gelang es ihm, aus dem Zuge zu springen. Erich Wollenberg, der mit ihm fuhr, versuchte das gleiche und sitzt nun in Einzelhaft. Mehr weiß ich noch nicht von der Geschichte; die ganze Verständigung mit den Genossen geschieht ja vom Hof aus zum Fenster hinauf durch gewaltiges Brüllen. Nun habe ich nur den einen Wunsch, daß es dem guten Toni ferner glücke, daß ihn die Schergen nicht erwischen und daß er bald jenseit der Grenzen dieses süßen Vaterlands die Arbeit aufnehmen kann. Der arme Junge hat’s hier auch nicht nett gehabt. Er war ähnlichen Widerwärtigkeiten von den „Genossen“ selbst ausgesetzt wie ich, und nahm es viel schwerer als ich. Mag ers hinter sich haben! Sein früher intimster Freund, neuerdings wütendster Feind Hans Koberstein ist grade in diesen Tagen auch ins Freie gelangt, offenbar auf Bewährungsfrist. Ich erfuhrs durch einen Postkartengruß, der gestern von ihm eintraf. Ich hatte ihn mir (ebenso wie Anreither) kürzlich vorgenommen, um womöglich seinen Streit mit Toni aus der Welt zu schaffen und sah, daß dies ganz vergeblich war, grade deshalb weil garkeine wesenhaften Gründe dahinter waren, nur Aufbauschungen von Lächerlichkeiten, Krummbiegungen von korrektesten Dingen, Verranntheiten dümmster Art, – übrigens auch umgekehrt, wenn Toni von seinen „Gründen“ sprach. Hysterie, nichts als Hysterie, Erfolge der Vollmannschen Taktik, die Gefangenen untereinander zu verhetzen und wo Differenzen bemerkbar werden, hinten herum einzuheizen. Da unsre Rindviecher von Genossen regelmäßig drauf einhüpfen – wie vortrefflich hat das Stichwort angeschlagen, ich kaufe mir Freunde und besteche ehrliche Genossen! – ist die Pflege der Gefängnispsychose ein wichtiges Instrument der Konterrevolution gegen uns geworden. – Im Ruhrgebiet sollen detaillierte Pläne für Aufstellung und Organisation einer Roten Armee gefunden sein, die die reaktionäre Presse gewichtig breittritt. Die VKP, die natürlich heftig dementiert, soll spiritus rector sein. Die „Rote Fahne“ präsentiert dagegen einen detaillierten Plan der Generäle für eine Kappiade im verbesserten Stil, mit faksimiliertem Stempel der VKP (was in diesem Fall aber nicht Vereinigte Kommunistische-, sondern Vaterländische Königspartei heißt), Unterschriften unter andern Ludendorff und Escherich. Natürlich wird auch die Echtheit hier von den Beschuldigten heftig dementiert, und ich zweifle auch, ob die gerissenen Monarchisten so ungeschickt sein konnten, Dokumente unchiffriert und mit wichtigsten Namen unterschrieben überhaupt herumflattern zu lassen. Daß die ungeübten Parteikommunisten, noch dazu bei ihrer Gschaftlhuberei und ihrem zentralistischen Wahnsinn, jeder untergeordneten Stelle alles Material mitteilten, damit die stramme Disziplin besser funktioniere, glaube ich eher. Was illegale Arbeit ist, wissen sie noch nicht. Wahrscheinlich glauben sie, es genüge dazu, ein Parteibüro nicht polizeilich anzumelden. Schlimm ist nur, daß die Kommunisten in Deutschland jedenfalls wundervolle theoretische Pläne ausarbeiten, deren Ausführung nachher etwa an der Unterbrechung der Telefonleitung mit der Berliner Zentrale – oder einem ähnlichen Mißgeschick scheitern wird, während die Nationalhelden theoretisch garnicht viel plärren, den Einzelstellen weiteste Initiative lassen und praktisch handeln werden. Aber daß sich bald etwas ereignen wird, was die beiden Mächte in offenen Kampf gegeneinander führt, ist wohl möglich. Die kritische Jahreszeit ist im Anzug. – Mein Roman nimmt langsam Form an. Ich halte eben bei der kritischen Stelle im dritten Kapitel, wo der als Sechzigjähriger vorgeführte Held von seiner Kindheit auf determiniert werden soll. Gelingt der Übergang, dann habe ich das Schwierigste vollbracht. – Zenzl ist wieder in München – Gott sei Dank!

 

Einzelhaft, Donnerstag, den 27. Januar 1921.

Seppl ist gestern aus der Einzelhaft entlassen worden, Peter Regler schon vor einigen Tagen. Schwab (der mit Taubenberger im andern Haus sitzt, wo auch Günther und Regler waren und jetzt Wollenberg einquartiert ist) soll gestern seine „Befreiung“ abgelehnt haben, wenn nicht alle hinauf kämen. Sehr anständig, aber, wie ich Schwab beurteilen muß, leider nicht innerlich echt und mehr auf den Eindruck bei den Genossen berechnet. Aber wenn auch: eine gute Geste ist immer was wert. Daß man mich bei der lächerlichen Kleinigkeit, die vorliegt, länger hocken läßt als Seppl, dem doch Schlimmeres, nämlich offene Widersetzlichkeit, vorgeworfen wurde, kann zwei Gründe haben: entweder will man den „Führer“ treffen, oder, was wahrscheinlicher ist, man will mich für meine Briefe an Pestalozza und Radbruch strafen und benutzt, da man es doch nicht offen tun kann, die günstige Gelegenheit. Wegen der amerikanischen Geldsendung verlangte ich seit einer Woche unsern Vertrauensmann Murböck zu sprechen. Gestern kam der Bescheid: „Während der Dauer der Absonderung kann der Besuch von Festungsgefangenen untereinander nicht genehmigt werden.“ Alles Sicherung des Staats, der auf recht festen Füßen zu stehn scheint. Tonis Flucht muß den Herrschaften schwer auf die Nerven gehn. Neben mir der „Rangälteste“ mit 15 Jahren, ein Mann mit den ausgezeichnetsten Verbindungen im In- und Ausland, erfahrener kluger und entschlossener revolutionärer Arbeiter mit in der Bewegung sehr bekanntem Namen – bitter! Möchte er nur heil über die Grenze kommen! Wollenberg haben sie für den Versuch alle Verschärfungen zur Einzelhaft aufgehängt. Es war das dritte oder vierte Mal, daß er ihn unternommen hat, zweimal (von Ingolstadt und von Ansbach aus) mit Erfolg. Da er nur 1½ Jahre hat, wird er in wenigen Monaten ja ohnehin erlöst sein. Und wie lange wird’s bei mir noch dauern?

 

Einzelhaft, Montag, d. 31. Januar 1921.

Mein Roman, der gut vorankommt, nimmt mich so in Anspruch, daß ich das Tagebuch darüber vernachlässigen muß und will. Ich hätte es auch jetzt nicht vorgeholt, wäre nicht wieder etwas Besonderes los. Damit meine ich schon lange nichts mehr, was etwa für den stinkenden Korruptionsstall Deutschland namentlich charakteristisch wäre – was aus allen Zeitungen pestet, braucht für die Weltgeschichte hier nicht aufgefangen zu werden. Nur Häusliches, nur Dinge, die sonst verloren gehn könnten, seien bemerkt, Kleinigkeiten, aber Lichter auf dem Bild. – Eben erschien der Oberwerkführer bei mir, um mir einen Erlaß des Justizministeriums zur Kenntnis zu bringen. Nämlich: von morgen ab wird als Direktor der Niederschönenfelder Festungsanstalt bestellt – Herr Amtsrichter Dr. Vollmann! Das ist die ungeheuerlichste Provokation, die bisher da war. Dieser Mensch hat sich gradezu einen Namen gemacht durch seine maßlos gehässigen, persönlich niederträchtigen Schikanen und rachsüchtigen Intrigen. Die Beschwerden gegen ihn müssen schon Bände füllen, und endlich – als wir schon dran dachten, mit der Forderung, Vollmann müsse fort – in den Hungerstreik zu treten, wurde er wegversetzt. Daß man ihn jetzt wieder hersetzt und zwar als leitende Persönlichkeit ist ein Akt beabsichtigter Ranküne, wahrscheinlich, um damit zu zeigen, wie wurscht den Münchner Herren die Reden sind, die neuerdings von USP-Leuten und Kommunisten speziell gegen die baierischen Rechtsverhältnisse im Reichstag gehalten wurden, wobei Levi besonders auch auf die Wirtschaft in Niederschönenfeld zu sprechen kam und als Beispiel meine Disziplinierung und ihre Gründe anführte. Zugleich wird man vielleicht Schröder, der ein verbissener Reaktionär ist, einer, der seinen Posten durchaus politisch auffaßte und danach handelte, der aber nach meinem Urteil keinen Wert drauf legte, uns zu quälen, wie Vollmann, wegen Tonis Flucht strafen wollen. – Pestalozza schrieb mir kürzlich, daß er demnächst wieder herkommen wolle. Ich muß jetzt unbedingt darauf dringen, daß er meine Privatklage gegen Vollmann wegen Beleidigung durchführt. – Sonst nichts von Belang. Nur, daß Zenzl wieder daheim ist. Meine Hoffnung, sie nach Aufhebung des Besuchsverbots ohne Anwesenheit eines Aufpassers küssen zu können, sinkt mit der neuen Überraschung auf Null.

 

Einzelhaft, Mittwoch, d. 2. Februar 1921

Volle vier Wochen im Eiskeller – Heut vor drei Wochen erklärte mir Batum auf meine Frage, wielange die Geschichte noch dauern werde, vielleicht noch 8 Tage und als mir das schon zulange schien „jedenfalls nur noch ganz kurze Zeit“. Männerwort! – Gestern hatte Duske seinen Prozeß in Rain. Über den Ausgang weiß ich noch nichts. Reizend ist aber dies: er und die als Zeugen geladenen Genossen (soviel ich weiß, Sauber und Klingelhöfer) mußten vorgestern schon ihre Kleidung, die sie zum Termin anziehn wollten, der Verwaltung übergeben und sie dann gestern früh in einer Extrazelle anziehn. Ferner mußten Angeklagter und Zeugen ihre auf den Prozeß bezüglichen Akten und Notizen zur Zensur abliefern. Dieselbe Geschichte, die Müller-Meiningen bei mir machte, die Ankläger, die in Wahrheit beklagt sind, unterbinden die Verteidigung ihrer Gegner, jetzt schon ganz schamlos als selbstverständliches Mittel der Rechtspflege. Die Genossen werden jawohl vor den Richtern protestiert haben, aber das Erstaunliche und auch Imponierende ist ja, daß drüben tatsächlich die ganze Klasse zusammenhält, und ein Richter, der heutzutage nach Recht und nicht nach Politik urteilen wollte, würde sich unter Roth wohl keines langen Amtslebens zu erfreuen haben. Bezaubernd ist eine Protesteingabe der bayerischen Richter an die Regierung, die ihnen die Gehaltszulagen, die sie fordern noch nicht bewilligt hat. Jetzt wiederholen sie die Forderung unter Berufung auf die außerordentlichen Verdienste, die sie sich zur Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung erworben haben. Das sind dieselben Leute, die uns bis in die Lappalien hinein nachgeschnüffelt haben, ob wir nicht doch irgendwelchen Vorteil von unsrer revolutionären Tätigkeit gehabt oder angestrebt haben, und wo sie etwas dergleichen zurechtkonstruiert hatten, wie bei Wadler, der einfach sein Gehalt weiterbezogen hatte, wie sie alle auch, da gaben sie 8 Jahre Zuchthaus. Jetzt wollen sie dieses Verdienst um den republikanischen Staat, den sie verabscheuen, mit Geld belohnt kriegen. Wir werden uns auch das zu merken haben. Könnte man nur das Proletariat zu dem Klassenbewußtsein erziehn, das die Gegner überall zeigen. Die Aufhebung des Ausnahmezustands in Baiern, der in der ganzen Welt mit entsetztem Abscheu beobachtet wird, wurde mit sämtlichen bürgerlichen Stimmen im Reichstag abgelehnt. Die ungeheuerlichen Anklagen Radbruchs und Levis gegen die Rechtsbrüche im ganzen Lande, die Gegenüberstellungen der Urteile gegen Arbeiter, die die politischen Kautschukparagraphen verletzt haben und der Nichtbestrafung aller reaktionären Morde von Liebknecht-Luxemburg angefangen, über Jogisches, Dorenbach, die 29 Matrosen, die Starnberger Arbeiter, Landauer, Eglhofer, Sontheimer, Leib, Dorfmeister, alle unsre Münchner Freunde, die Russen, dann Haase, Paasche, die Arbeiter von Thal, Hofmann in Flensburg u. s. w. u. s. w. nebst allen Begleitverbrechen wie Diebstahl, Plünderung, Leichenberaubung, Brandstiftung, Meineid, Freiheitsberaubung, Brutalitäten jeder Art, – dies alles haben die Bürger ohne Unterschied von deutschnationalen Monarchisten und „linken“ Demokraten oder christkatholischen Klerikalen gleichmütig mit angehört und den Justizetat gutgeheißen. Jetzt sind sie mal wieder in Aufregung. Die Pariser Konferenz ist geschlossen und die Forderungen sind überreicht. In der Entwaffnungsfrage ist die Entente schon wieder übernatürlich weit entgegengekommen. Es sind neue Fristen gesetzt, natürlich wird aber auf der Entwaffnung auch der Einwohnerwehren und der Auflösung von Orgesch, Sipo etc. bestanden. Bis zum 1. Juli soll alles erfüllt sein, und diese Forderung wird ultimativ gestellt. In ihrer eigenen Angst vor dem Bolschewismus haben die Alliierten immer wieder ein Stück nachgegeben, und so haben wir in Baiern jetzt noch 5 Monate zu warten, bis die offiziellen Mörder halbwegs unschädlich sein werden. Trotzdem natürlich Geschrei, Gezeter – Unannehmbar. Ferner ist aber das Entschädigungsverlangen der Sieger jetzt präzisiert. Es ist eine saftige Forderung geworden: 226 Milliarden Mark, für deren Abzahlung aber tolerante Bedingungen gestellt sind, Ratenzahlungen in „Annuitäten“, amortisierbar in 42 Jahren. Dazu 12 % vom Export. Das Jammern unsrer Kapitalisten über die Habgier der andern Kapitalisten ist zum Steinerweichen. Ich hätte mal die Rechnungen sehn mögen, die Stinnes und seine Gefolgschaft als Sieger aufgemacht hätten. Rußland und Rumänien hatten ja schon einen Begriff davon gekriegt. Gestern war feierliche Reichstagssitzung – den Bericht erwarte ich nachher. Die Regierung wird wahrscheinlich ein lautes Geplärr anstimmen und entweder demütig das Haupt neigen: wir müssen oder es stolz erheben und sagen: wir können nicht und in diesem Fall abtreten und den Sozi wieder den Platz räumen, die ja bis jetzt immer die Dummen waren, die der Bourgeoisie die Kastanien aus dem Feuer geholt haben. Levi und die Zetkin aber werden prunkvolle Reden halten voll von marxistischer Wissenschaft und dadurch wieder den Beweis erbringen, wie wertvoll es ist, wenn Kommunisten im bürgerlichen Parlament sitzen. Sie haben recht – ihre Sorte Kommunisten gehört dorthin! Das Unglück ist nur, daß sie noch Arbeiter hinter sich haben, und daß die Autorität der russischen Revolutionäre diese Hanswurste und Gaukler unterstützt, die nichts mehr fürchten als Aktivität, die noch keine einzige ihrer eignen Versprechungen erfüllt haben – nicht mal die politischen Arbeiterräte, die sie törichterweise in diese Stagnationszeit setzen wollten –, die sich mit den Däumigs und Müllers und allen Worthelden der Unabhängigen verbündet haben, die die konterrevolutionären Gewerkschaften stützen und fördern und, wie sie es nach dem Kapp-Putsch gemacht haben, als sie Hölz und die Ruhr-Arbeiter verrieten und die herrlichste Gelegenheit zum Siegen aus Feigheit und Verstocktheit sabotierten, immer wieder machen werden. Sie mögen im Parlament schwätzen. Vielleicht öffnen sie grade dadurch dem Proletariat die Augen, daß sein Weg anders läuft, nämlich über Führer und Parteien, über Dogmen und wissenschaftlich frisierte Phrasen hinweg zu Aktivität und Initiative, zu föderalistischem Zusammenschluß und werktätiger Solidarität. Denn die Revolution fließt nicht aus dem Maul marxistischer Streber, sondern aus dem Herzen rebellischer Naturen.

 

Einzelhaft, Donnerstag, d. 3. Februar 1921.

Gestern abend habe ich – für mich selbst überraschend – die persönliche Bekanntschaft mit Herrn Dr. Vollmann erneuert. Ich hatte am Sonntag schon mich zum Rapport gemeldet, und zwar um Kiesewetters Zelle zu kriegen, da der am 12ten entlassen wird und ich mich oben in meinen beiden Löchern nicht rühren kann. Erst gestern also wurde ich vorgeholt und fand statt Batum unsern Schnösel am Tisch sitzen. Begrüßung kühl und höflich. Ich kam leider zu spät – das heißt, wenn ich zur Zeit zum Rapport vorgelassen wäre, rechtzeitig –, die Bude war gestern vormittag schon Gnad als erstem, der sie verlangt hatte, zugesprochen worden. Ich will versuchen, Gnad zu überreden, sie mir abzutreten, da er hundert Gründe weniger hat als ich, in einer größeren Zelle zu wohnen: kürzere Strafzeit, weniger Zeug zum Unterbringen, nicht alle Freunde auf dem Mittelgang. – Dann fragte ich Vollmann, wie lange die Einzelhaft noch dauern soll. Er wolle sich in den Akten orientieren. Seine Frage, warum ich sitze, beantwortete ich wieder mit der Behauptung: „Weil ich versucht habe, die Wirkung des Sowjetsterns durch Anlegung eines papiernen Hakenkreuzes zu kompensieren.“ Er grinste leicht. Nun bin ich neugierig. Da er jetzt plein pouvoir hat, wird er vielleicht Wert darauf legen, konzilianter zu sein als Schröder und mich heut oder morgen schon hinauflassen. Oder er setzt die Politik von früher gleich fort: den Kerl zwiebeln! Aber er kann mich wenig meinen. Meine Arbeit wird durch die Absonderung sehr gefördert und die Zeit vergeht mir fast zu schnell. Wären nicht einige sehr unangenehme Begleitumstände wie das schandbare Gerassel an Schloß und Riegeln jedes Mal, wenn die Tür geöffnet wird – ich habe gezählt: täglich im Durchschnitt 14mal, und der ekelhafte Lärm am frühen Morgen und abends wieder bis in die Nacht hinein, die Aufseher, die zum Teil auch hier unten wohnen, schmeißen mit den Türen und poltern umeinander, daß es ein Graus ist, und ferner die Störung in aller Frühe, wo schon die Bude aufgewischt wird, – dann würde ich mir drei Monate Verlegung von den Genossen weg selbst ausbitten, um mein Buch hintereinander schreiben zu können. Übrigens erfuhr ich gestern, daß außer Schröder (und wie es scheint, doch auch Batum) auch der Oberstaatsanwalt Menzel von Augsburg weg sein soll. Wenigstens hat Schmidt einen Schrieb von dort bekommen, der nicht mehr von ihm, sondern vom I. Staatsanwalt Pollmann unterzeichnet war. Also wird die Offensive hier im Hause doch wohl sehr unangenehm empfunden in München, und die Schuldigen werden in die Wüste geschickt. – Im Reichstag hat bisher nur Herr Simons, der Reichsaußenminister über die neuen Ententeforderungen gesprochen. Die Entwaffnung muß man halt annehmen, und wegen der Reparation müsse man noch verhandeln. Alle Hoffnung ist also die Konferenz in London, Ende des Monats. Sie werden aber wohl nicht viel Glück haben, ein paar Konzessiönchen, die am ganzen nichts ändern werden ... In Rain wurde gestern Duske zu 2½ Monaten Gefängnis verknackt – der ganze Entlastungsbeweis abgelehnt. Paulukum wurde freigesprochen. Toni Waibels Sünden mußten sie nolens volens „abtrennen“. – Die Genossen wurden vorher hier bis auf die Haut ausgezogen, da bei Wollenberg in den Anzug eingenäht Geld gefunden wurde, und er zwei Unterhosen angehabt haben soll. Am Dienstag soll ich wieder zum Zahnarzt. Ob man da jetzt auch derartige Schikanen einführen will? Ich bin mir noch nicht schlüssig, wie ich mich dazu verhalten soll. Schließlich kann ich doch meine Zähne nicht kaput gehn lassen. – Ich lese eben Zimmermanns Großen deutschen Bauernkrieg. Eine merkwürdige Parallele ergibt sich: Luther – Thomas Münzer und Marx – Bakunin. Luther und Marx, die reaktionären Revolutionäre, die Saboteure ihres eignen Werks der „Realpolitik“ wegen, die schlimmsten Zerstörer der neuen Tat, die aus der neuen Idee erwachsen sollte. Münzer und Bakunin die von Feuer und Seele erfüllten Geister, die von der Demagogie und dem Wortkram der andern zerdrückt werden. Ob es gottgewolltes Schicksal ist, daß die Luther und Marx immer die Sieger bleiben? Das wäre ein schlimmes Zeichen für die Menschen und bewiese, daß die Schulmeister mächtiger sind als die Propheten.

 

Einzelhaft, Freitag, d. 4. Februar 1921.

Dieser Wisch soll hier noch einmal festgehalten werden: „An den F. G. Herrn Mühsam. Gemäß Entschließung des Herrn Oberstaatsanwalts beim Oberlandesgerichte Augsburg vom 28. 1. 21 Nr 1082 habe ich Ihnen zu eröffnen, daß Ihr Brief an Professor Dr. Radbruch vom 17. 1. 21 zurückzuhalten und zu den Akten zu nehmen ist, da dieser Brief gesetzmäßige Maßnahmen der Behörden angreift und auf eine Unterstützung solcher Angriffe abzielt. Briefumschlag nebst Freimarke erhalten Sie anbei zurück. Niederschönenfeld, den 3. 2. 21. Festungshhaftanstalt. Dr. Vollmann.“ Dies ist reizend. Ich behaupte die Ungesetzmäßigkeit der Maßnahmen und die Straffälligkeit der Behörden und diese selbe Behörde hindert mich, den Rechtsweg zu beschreiten, weil ihre Maßnahmen rechtmäßig seien. Ich werde überlegen, was weiter zu unternehmen ist. Am liebsten möchte ich vorerst alles legal machen, um zu sehn, wie weit die Schamlosigkeit der Rechtsbrüche getrieben wird. Entweder warte ich Pestalozzas Besuch ab (doch bin ich im Zweifel, ob der helfen wird. Bis jetzt hat sein erster Besuch garkeine Wirkungen gehabt, und ich habe noch nicht einmal Bescheid, ob er Vollmann verklagt hat), oder ich schreibe selbst zunächst ans Reichsjustizamt. Wollen sehn, ob der Brief dann bis zum Adressaten gelangt oder ob die Beschuldigten weiterhin versuchen werden, die Spuren ihrer Verbrechen rechtswidrig und unter fortgesetztem Mißbrauch der Amtsgewalt zu verwischen. Zu welcher Karikatur ist in der deutschen und baierischen „Republik“ das Recht geworden! – Momentan ist wieder ein Gezeter im Lande wie beim Versailler Vertrag. Im Reichstag haben die Parteien „einmütig“ ihr Unannehmbar! geplärrt, und Herr Löbe, der sozialdemokratische Präsident hat eine Rede gehalten, deren Patriotismus den des Außenministers Dr. Simons weit in den Hintergrund schob. Damals wollte Scheidemann die Hand verdorren lassen, die den Friedensvertrag unterzeichne. Jetzt haut sein Parteifreund Müller-Franken, der damals als Reichskanzler diesen schimpflichen Akt ausführte, mit der ganz unverdorrt gebliebenen Hand in dieselbe Kerbe. Die Presspiraten wimmern gradezu und wollen lieber stolz erhobenen Hauptes gleich verrecken als mit solchen brutalen Gegnern erst noch verhandeln. Deutschland muß untergehn! – das ist der Ton, auf den die Musik gestimmt ist. Wie sich die Schmöcke das vorstellen, weiß ich nicht. Was an Deutschland untergehn konnte, sollte man meinen, ist durch den infamen Krieg, den sie vier Jahre durch auswirkungsfähig gelogen haben, tatsächlich untergegangen: ein korrupteres, ehrloseres, verbrecherischeres, gemeineres Staatswesen wie gegenwärtig das deutsche war in der Weltgeschichte noch nicht da. Das Volk – das kann sein – wird durch die Wirkungen der Pariser Bedingungen revolutionswilliger gemacht werden, und wenn dann das, was die bestochenen Schreiber Deutschland nennen, nämlich Stinnesien, „untergeht“, d. h. die Profite der Millionäre runtergehn, dann wird das Unglück wohl zu tragen sein. Den Arbeitern kann es völlig wurst sein, ob sie von den deutschen oder französischen Kapitalisten ausgepowert werden. Der Standpunkt der Sozialdemokraten, die sich in diesem Augenblick mit der deutschen Bourgeoisie solidarisch erklären, zeigt den ganzen Tiefstand, zu dem diese „Sozialisten“ schon niedergestiegen sind. Protest gegen die Knechtungsbedingungen der Entente – ja; aber beim Entente-Proletariat und in Form einer Kriegserklärung an alle Kapitalisten der Welt. Und auch das nicht im Reichstag, sondern auf der Straße. – Na ja, das sind so Träume weltfremder Schwärmer. Dr. Levi lächelt über sowas und hält sehr schöne Parlamentsreden. Gnad hat mir gestern durchs Gangfenster versprochen, mir die Kiesewetter-Bude zu überlassen. Wenn Vollmann also nicht noch Geschichten macht, werde ich oben große Erleichterung bei der Arbeit haben. Pfempfert bringt in der Aktion meinen Kopf (Holzschnitt nach einer Zeichnung von Karpf) als Titelbild. Überhaupt umwirbt er mich jetzt mit einer Zärtlichkeit, die keine Grenzen kennt. Er hat mir Böses angetan, sehr Böses. Ich will’s in Gottes Namen ruhen lassen und will versuchen, in ihm den reuigen Sünder, der Buße tut, zu sehn und mehr Freude an ihm zu empfinden denn an 99 Gerechten

 

Einzelhaft, Sonnabend, d. 5. Februar 1921.

Ein voller Monat! Vorgestern ist Klingelhöfers und Schwabs Einzelhaft aufgehoben worden. Meine besteht weiter. In Gottes Namen. Dabei werden immer wieder neue Schindereien erfunden. Schmidt bekam ein Paket mit Gebäck. Jedes Plätzchen sollte zerschnitten werden, die Dose Kondensmilch aufgemacht. Er hat es nicht geduldet und das Paket zurückgehn lassen. Auf seine Beschwerde hat Vollmann erklärt, das sei jetzt so angeordnet. Also wieder der Herr Menzel! Zu meiner Überraschung bekam ich hingegen gestern ein Paket von Grethe aus Lübeck ohne Schikanen ausgehändigt. Wäre statt dem Werkführer Fetsch der Oberwerkführer Schneider dabei gewesen, wäre sicher auch Krach entstanden. Eben erzählten mir die Genossen vom Fenster aus – ich komme grade vom Hof –, in München hätten die Studenten vor der französischen Gesandtschaft demonstriert und die Wacht am Rhein und „Siegreich wollen wir Frankreich schlagen“ gesungen. Das ist gut. Dadurch kriegen wir Verbündete, die vorerst noch stärker sind als die deutschen Arbeiter. Welche haarsträubende Dummheit, mit derartigen Herausforderungen die Sieger zu reizen. Und nachher rennt dasselbe Gelichter in die Schlemmerlokale und praßt und säuft sich Mut an für neue Taten gegen die verhungernden Kinder des Proletariats. Aber es gibt eine Vergeltung, es gibt eine Hybris.

 

7 Uhr: Einzelhaft aufgehoben.

 

Niederschönenfeld, Montag, d. 7. Februar 1921.

Abschrift: „Lieber Radbruch! Ich hatte Dir unter dem 17. Januar einen langen Brief geschrieben, in dem ich im Anschluß an einen konkreten Fall, der mir eine Gesetzesverletzung im Strafvollzug zu umschließen scheint, einige ganz bestimmte Rechtsaufschlüsse von Dir erbat. Der Brief ist, auf Verfügung der Oberstaatsanwaltschaft Augsburg, zu den Akten genommen worden, da er Angriffe gegen rechtmäßige Anordnungen der Behörde enthalte und auf eine Unterstützung dieser Angriffe abziele. Die Anfragen an Dich bezogen sich aber grade auf die Rechtsmittel, mit denen die Rechtmäßigkeit der betreffenden Anordnungen nachgeprüft werden könnten. – Ich wäre Dir dankbar, wenn Du den Genossen W. Thomas instruiertest, da er auf meine Bitte, die Angelegenheit mit Dir zu besprechen, verwundert mitteilt, daß Du den betr. Brief nicht erhalten habest. Das ist jetzt also aufgeklärt. – Ich erwarte binnen kurzem meinen Rechtsbeistand, Herrn R.-A. Graf Pestalozza aus München hier zum Besuch. Ich werde ihn dann veranlassen, sich mit Dir direkt in Verbindung zu setzen. Viele Grüße, die ich Dich bitte, auch an Thomas zu bestellen. Dein Erich Mühsam

 

Niederschönenfeld, Mittwoch, d. 9. Februar 1921.

Es war meine Absicht, dem Roman zuliebe das Tagebuch ganz ruhen zu lassen, bis etwas ganz Wichtiges zur Eintragung vorliege. Die Dinge, die jetzt vorgehn, scheinen mir aber wichtig genug, um die Absicht schon jetzt zu durchkreuzen. Die Reparationsforderungen der Entente sind von den Nationalisten sehr geschickt ausgenutzt worden, um eine nationalistische Hochflut in der Bevölkerung herbeizuführen, und als Bundesgenossen der Revancheschreier treten – wenigstens in München – die VKP-Leute auf den Plan. In einer Versammlung im Zirkus Krone haben Otto Graf und Otto Thomas begeisterte Kriegsfanfaren geblasen, die nationalen Studenten zur Bildung einer gemeinsamen Front gegen das Ententekapital aufgerufen und damit den Enthusiasmus der „kommunistischen“ Arbeiter erweckt. Ja, als Gareis (USP) sehr vernünftig den Klassenkampfstandpunkt vertrat, wurde er niedergeschrieen und ihm während der Rede – ganz wie bei der alten Sozialdemokratie – das Wort entzogen. Wenn die Nationalisten gescheit sind, – und Anzeichen deuten darauf hin, daß unter den Studenten Neigung dazu besteht –, gehen sie auf das Bündnis ein. So bleibt unsereinem nur die Hoffnung, sie mögen ebenso dumm sein wie die Thomas, Graf und Genossen, die sich natürlich einbilden, die Arbeiter, einmal mit Waffen versehn, würden sie gegen ihre natürlichen Feinde gebrauchen. Das werden sie ganz bestimmt nicht, oder doch erst nach der – sicheren! – Niederlage, die ihnen keine Gelegenheit mehr gibt, da dann Deutschland unter französischer Besetzung steht und das französische Proletariat nicht mehr daran denkt, revolutionären Redensarten der deutschen Arbeiter zu glauben, die schon wieder à la 1914 ihren Feind im Ausland suchen und die Ausbeuter im eignen Lande gegen die des Auslands mit ihrem Blut zu schützen bereit sind. Wird das wahr, was diese verbrecherischen Idioten wollen, dann sehe ich scheußliche Dinge voraus. Wir konsequenten Klassenkriegsrevolutionäre werden als Pazifisten verschrien um jeden Einfluß auf die Massen kommen. Die gemeinsame Front von Studenten und Proletariat wird nicht nur gegen die Franzosen gehn, sondern auch gegen die Juden. „Rote Fahne mit Hakenkreuz“ sagte gestern schon der junge Wittmann, mein guter Geist hier im Hause, – und ich fürchte, der Witz, der mir den Monat im Eiskeller eintrug, Hakenkreuz und Sowjetstern vereint, wird blutiger Ernst und furchtbare Katastrophe werden. Die Parole der VKP-Zentrale steht noch aus. Originell ist aber, daß Levi zu gleicher Zeit, wo man in München Hurrahpatriotismus gegen Frankreich züchtet (hier ist von Nationalbolschewismus schon keine Rede mehr, hier ist reinster Nationalismus), in der „Roten Fahne“ die Franzosen anwinselte, sie möchten doch unsre Revolution unterstützen, eine deutsche Räterepublik werde die finanziellen Forderungen der Entente loyal erfüllen. Verräter und Flachköpfe alle miteinander. Das Prinzip geht vor die Hunde – überall, die Politik, das Kirren der Massen mit jedem opportunistischen Mittel, das Stabilisieren der Politikantenpöstchen geht den Herren über die Revolution und den Kommunismus. Pfui Teufel! – Hier in der Anstalt soll schon eine Resolution umlaufen und sich mit Unterschriften füllen, die gegen die Ententeforderungen protestiert und für den Krieg Stimmung macht. Soweit sind wir schon. Wiedenmann, der gutmütige Esel, der sich, um nur Führer spielen zu können, zu jedem Unfug mißbrauchen läßt, läuft mit dem Wisch herum. Wir haben aber den Verdacht, daß sein Verfasser kein andrer ist als Elbert, der KAP-Mann, der demagogisch genug ist, um derartige Infamien zu treiben, und dann mit seiner eignen KAP-Weisheit die andern abzutrumpfen. Mit solcher Intriguen-Politik erreicht er natürlich blos, daß der Stank hier im Hause vergrößert wird und daß aber die Resolution der Kriegsbegeisterten hinausgeht und die Verwirrung in den Massen steigert, deren Stimmung ja durch ihr Verhalten im Zirkus Krone deutlich genug zum Ausdruck kam. Dieser Elbert entpuppt sich täglich ärger. Seine früheren Freunde ziehn sich, soweit sie Urteil haben, von ihm zurück. Mich grüßt er, seit ich wieder oben bin nicht mehr, kann mir auch nicht mehr ins Gesicht sehn. Es steht mir fest, daß er der Verfasser jenes Schriebs des törichten Gruber ist, wie er in allen schmutzigen Händeln seine Finger hat. Gestern hatte er Besuch. Von wem? Von Max Weber Ansbacher Angedenkens, der die Ausnahmeerlaubnis bewirkte, an einem Nicht-Besuchstage zu kommen. Unsre Frauen bekommen solche Erlaubnis nicht. Elbert hat berichtet, die Aufsicht sei sehr tolerant gehandhabt worden. Wenn Zenzl kommt – das Besuchsverbot ist aufgehoben und ich erwarte sie bald – können wir auf solche Toleranz schwerlich hoffen. Weber ist auch heute wieder da und spricht mit Graßl. Die kleine Rosa Olschewski und Prell, die mich bei ihren Besuchen hier eine viertel Stunde sprechen wollten, erhielten die Erlaubnis nicht, und Karl Petermeier wurde mitgeteilt, daß sein Besuch bei mir überhaupt nicht zugelassen würde. – Wir sind uns alle klar, daß zwischen Weber und Elbert, der den andern bisher vor uns als Narren und Lumpen bezeichnet hat, bösartige Intriguen ausgesponnen worden sind, die sich wahrscheinlich vornehmlich gegen mich, aber jedenfalls auch gegen Karpf und Schmidt richten. Daß die Verwaltung derartiges duldet und fördert, ist begreiflich. Sähen diese Genosseriche nur ein, wessen Geschäfte sie besorgen! Wie ekelhaft ist das alles! – Die Totenliste muß wieder um einen guten Namen verlängert werden: Carl Hauptmann. Wieviel schönes dichterisches Fühlen, wieviel Märchenduft und ernste Feinheit ist in seinen Werken, die doch immer nur das Wollen des Dichters zeigen, der sich an den Grenzen seines Könnens zerstieß. Und wieviel gekränkter Stolz muß mit ihm gestorben sein. Die ewigen Vergleiche mit dem erfolggewöhnten Bruder, dessen eigne Rolle in dieser Brüder-Rivalität keine gute zu sein scheint, werden Carl Hauptmann, der die Stille liebte, entsetzlich gewesen sein. Der große Bruder Gerhard aber soll sich, wie Harden behauptet, jetzt um die Nachfolgeschaft Eberts als Reichspräsident bemühen. Er würde seinem Namen keinen wertvollen Dienst damit leisten. Als Politiker hat er immer nur peinlich gewirkt, und es würde sich herausstellen, daß ein starker Dichter ein sehr schwacher Staatsmann sein kann. Carl Hauptmann hat das bessere Teil erwählt.

 

Niederschönenfeld, Donnerstag, d. 10. Februar 1921

Ein furchtbarer Schlag: Peter Krapotkin ist tot! – Die Meldung kam schon vor einigen Tagen, wurde aber von Rußland aus offiziell dementiert. Jetzt scheint aber kein Zweifel mehr möglich. Ich mag mich hier nicht literarisch ausweinen – Ich könnte es doch nicht in ein paar Zeilen fassen, was alles mich bewegt und erschüttert und bedrängt und verläßt bei dieser Nachricht. Wahrscheinlich werden nun auch gleich gewisse Anarchisten beginnen, sein Bild zu fälschen, wie es der unsägliche Rudolf Großmann (Pierre Ramus) in seinem „Erkenntnis und Befreiung“ in Wien mit Landauer macht, dessen reinen großen Rebellengeist er in seine Brühe vom „gewaltlosen“ Anarchismus hinabzuziehn sucht. Ein Neffe Landauers, Walter L. in Heidelberg, unterstützt ihn bei diesem Beginnen, und mir wird vorgeworfen, ich knetete das Andenken des Freundes, den ich eben nicht richtig gekannt habe, zurecht, wie ich es zu meinen politischen Zwecken brauche. Es ist unaussprechlich widerwärtig. Von dieser Seite aus sind auch die Verdächtigungen gegen die Sowjetregierung ausgegangen, daß sie Krapotkin verhungern lasse. Es steht fest, daß Lunatscharski für den großen alten Revolutionär in der denkbar fürsorglichsten Weise sich eingesetzt hat, ihm anbot, seine Werke auf Staatskosten zu verbreiten und ihm einen großen Gewinn daraus vorstrecken wollte. Den Gewinn hat Krapotkin abgelehnt, da er von keinem – auch nicht von einem sozialistischen – Staat Vorteile haben wollte. Wie schön ist die Haltung da auf beiden Seiten! Wie wundervoll vornehm die Art der Unterstützung, die geboten wurde: das geistige Werk, das doch als „gegnerisch“ angesehn wird (wenigstens in deutschen Kommunistenhirnen), auf öffentliche Kosten zu verbreiten und auf diese Weise zugleich ihrem Schöpfer zu helfen – und die starke Geste des alten Kämpfers: das Werk verbreiten – ja!, aber ohne Nutzen für ihn selbst! – Und dem gegenüber die Glossen jenes Schmocks, den Landauer in die Seele hinein verachtete – er hat mir gegenüber mehrfach in Tönen tiefster Verachtung von ihm gesprochen, und der sich jetzt als Verteidiger Landauers gegen mich aufspielt, indem er ihn zu einem schleimigen Pazifisten macht – und jetzt die Sowjet-Leute hämisch angreift wegen ihres Verhaltens gegen Krapotkin. Man schämt sich, daß man auf solches Gesindel angewiesen ist, wenn man Menschen sucht, die mit einem um diesen Mann, um diesen Geist, um diese Kraft und Energie trauern. Sie werden jetzt wieder den Bolschewisten die Schuld an seinem Tode geben – als wenn der Tod eines fast 79jährigen, der von Lungenentzündung ergriffen wird – besonderer Erklärung bedürfte. Und doch: wie schrecklich muß der Mann gelitten haben, als er ins Rußland der Revolution zurückkehren durfte – nach 40 Jahren Exil – und alles so anders werden sah als er gewollt und gefordert hatte. Parteidiktatur statt Rätediktatur (die er trotz des Wortes, wenn sie konsequent aufgebaut worden wäre, sicher gutgeheißen hätte). Konzessionen über Konzessionen an Kapitalismus und Diplomatie statt kommunistischen Neubau; Gewaltsame Bekämpfung des revolutionären Bauerntums in der Ukraine; Zentralismus und Disziplin allüberall statt Freiheit und Beweglichkeit. Aber ich glaube, Krapotkin ist doch voll guten Vertrauens gestorben, daß die Revolution damit nicht am Ende ist, sondern daß dies nur eine Etappe ist und daß sein Ziel, jetzt schon von Millionen und Millionen Menschen aller Länder erkannt, doch das Ziel nach der jetzt entbrannten Weltrevolution sein wird. Krapotkin ist tot! Vielleicht wird die Ehrfurcht, die der gute Geist der Russen vor diesem Ereignis empfinden wird, fruchtbar wirken auf die Revolution auch bei uns. Sie hätte Befruchtung bitter nötig. Wir sitzen hier drinnen, schikaniert und gepeinigt bis oben hinaus, und die „Genossen“ draußen bieten denen, die uns peinigen, die Bruderhand zum Burgfrieden! Freilich, die Berliner Zentrale hat die Münchner glatt desavouiert. Aber – die Massen haben den Thomas und Graf zugestimmt, die Begeisterung war groß. Die Regierung Kahr aber, die in der Entwaffnungsfrage intransigent bleibt und den für uns so sehr günstigen Konflikt mit der Reichsregierung heraufbeschwört, hat die Kommunisten, die die lachenden Dritten sein müßten, im Schlepptau. – Bei uns gehn dabei die Provokationen täglich weiter. Eben bekam ich ein Paket von einer Jugendgenossin Else Rosenthal in Veltheim mit Kuchen und Fett. Der Kuchen wurde aufgeschnitten, das Fett mit dem Messer visitiert, – und dann hat man das Packmaterial konfisziert. Das sei eine neue Vorschrift: Packmaterial wird den Gefangenen vorenthalten. Nur wer etwas wegschicken will, kann seine Kartons, Bindfäden etc. dazu erhalten. – Adolf Schmidt sind seine Diäten als Landtagsabgeordneter beschlagnahmt worden für Verpflegungskosten etc. Und solche Dinge könnte man zu Dutzenden häufen. Aber kann man sich wundern? Die Herrn Genossen kennen ja das Wort Solidarität nur dem Klange nach. Wir wissen jetzt, daß ein Brief hinausgeschickt und auch hinausgelassen ist, worin einer der „Genossen“ schreibt, man könne in gut wieder zugelöteten Konserven- oder Kondensmilchbüchsen hinaus- und hineinschicken was man wolle. Seitdem wird jede Büchse unten geöffnet, jedes Brot, jeder Kuchen aufgeschnitten. Spitzel wimmeln zwischen uns selbst herum. Ein neuer Jüngling ist gekommen, ein gewisser Strauß, der mit farbiger Studentenmütze herumspaziert. Sein Freund ist Herr Götz, vor dem als Spitzel öffentlich gewarnt ist. Natürlich haben wir auch gegen Strauß jetzt jedes Mißtrauen und vermuten, daß er als Ablösung für Götz hergesetzt ist. Denn Götz soll wieder herausgelassen werden, nachdem angeblich die Schweiz seine Freilassung verlangt. Unser Verdacht ist, daß man den Kerl unserm Toni auf die Fährte setzen will. – Und dabei noch Intriguen, Verhetzungen, Erbärmlichkeiten aller Art gegeneinander. So hat Elbert, ein Mann, dem bisher jeder vertraut hat, bei der Menzel-Offensive ein Schriftstück, das ihm wohl gefährlich schien, einem andern Genossen in die Zelle zwischen dessen Papiere gelegt. Bei dem wärs also gefunden worden. – Der einzige Trost ist, daß gute Genossen da sind und unerschütterlich zusammenstehn trotz aller Verschiedenheit der Parteirichtung und gewisser revolutionärer Fragen. Möchte doch der Geist Peter Krapotkins auf alle fallen, die noch guten Willens sind! Der Geist, der nicht nach Paragraphen und „Punkten“ fragt, sondern nach der rechten Erkenntnis von Freiheit und Menschentum und nach Treue zur Idee und Bereitschaft zum Kampf.

 

Niederschönenfeld, Freitag, d. 11. Februar 1921.

Seit vollen drei Monaten habe ich Zenzl nicht mehr gesehn und sehne mich bitter nach ihr. Nun, da endlich das Besuchsverbot aufgehoben ist, schrieb ichs ihr, und sie wollte heute in 14 Tagen auf der Reise nach Mannheim zur „Judas“-Aufführung hier sein. Eben habe ich ihr schweren Herzens einen Brief geschrieben mit der Bitte, nicht zu kommen. Denn das Neueste ist, daß man Besuche nur noch 3 Stunden gestattet (wenn es nämlich Ehefrauen und nicht entlassene Festungsgefangene von der Sorte des Weber sind). Kolbingers Frau war heute da. Sie mußte ihr Portemonnaie und alles Papierne, was sie bei sich trug, abgeben bei der Durchfilzung. Photographisches Material für den Mann mußte sie wieder mitnehmen; da ist ihm jetzt jede Möglichkeit genommen, etwas hereinzubekommen, und dann beim Besuch fand die Aufsicht in der Weise statt, daß der Aufpasser am selben Tisch mit dem Ehepaar saß. Das will ich der armen Zenzl denn doch nicht zumuten. Überhaupt wird jetzt alles auf die Spitze getrieben. Heute erhielt ich wieder ein Paket (von der Genossin Beuer[?] in Zörbig). Diesmal waren unsre beiden Hauptschinder da zum Kontrollieren, der Herr Oberwerkführer Schneider und der Herr Kagerer. Eine Büchse Corned beaf wurde geöffnet, ihr Inhalt zur Hälfte auf eine Schüssel geschüttet, die schon wer weiß was vorher enthalten haben mag, das übrige mit einem Messer zurückgebogen und der Rand genau visitiert. Eine Tafel Schokolade ganz ausgepackt, in einem Beutel Zucker ekelhaft herumgestochert, Bouillonwürfel einzeln betastet und beglotzt. Das Packpapier ans Licht gehalten u.s.w., dann aber mit heraufgegeben. Denn die Zurückhaltung der Emballage ließ sich wohl nicht mit dem Verbot des Diebstahls vereinbaren, und so erhielten wir gestern noch die Kartons, Bindfäden etc. zurück, die man unten behalten hatte. Wie mir Vollmann neulich sagte, als ich ihm von Ungesetzmäßigkeiten sprach, hat Herr Roth selbst einmal seinen Beamten gesagt, sie müßten bei allen Maßnahmen darauf achten, daß sie formal immer durch das Gesetz gedeckt seien. Die Äußerung Kühleweins Zenzl gegenüber, daß das Gesetz dehnbar sei, paßt gut dazu. Und jetzt ist wieder eine hübsche Aeußerung Vollmanns da. Er hat Kiesewetter gestern zum Abschied gesagt, er könne jetzt gehn, während er (V.) in diesem Narrenhause zurückbleiben müsse. Für den Beleidigungsprozeß! Die Angelegenheit der Beschlagnahme von Schmidts Diäten ist in ein neues Stadium getreten: Er hat natürlich seiner Fraktion im Landtag Mitteilung gemacht, ganz sachlich und mit der Bitte, seine Interessen wahrzunehmen. Der Brief an die Fraktion wurde „wegen agitatorischen Inhalts“ zu den Akten genommen. Die gleiche Mitteilung an den Präsidenten des Landtags ging durch. Jetzt habe ich Schm. geraten, er soll dem Präsidenten die Abschrift des Briefs an die Fraktion mit der Bitte zustellen, sie ihr zur Kenntnis zu bringen. Wie weit wird Vollmann diese Sache treiben? – Die Wut im Hause ist groß, und der Verdacht, daß diese täglichen Provokationen dem Zweck dienen, irgendetwas hervorzurufen, was die Menzelsche Drohung mit rücksichtsloser Waffenanwendung zur Tat werden lassen kann, steigert sich. Zenzl berichtet mir, daß Weber die Frechheit gehabt hat, sie zu besuchen. Er wollte alle Schuld von sich abwälzen (doch wohl auf Graßl, den er zwei Tage drauf besuchte). Das Ergebnis der Auseinandersetzung war, daß Zenzl ihm eine kräftige Ohrfeige schmierte. Meine Freunde sind in großer Begeisterung über diese energische Tat meiner herrlichen Frau. – Ich habe den allerstärksten Verdacht, daß Weber sich zum Spitzel hergegeben hat. Anders ist es nicht zu erklären, daß er überhaupt hier ins Haus durfte, noch dazu an zwei Tagen hintereinander und außerhalb der Besuchszeit. Selbst Graßl soll diesen Verdacht ausgesprochen haben. Der täte aber besser, das Maul zu halten, da er mit W. gemeinsam in Ansbach meine Briefe bespitzelt hat (was Weber Zenzl zugegeben hat). Von Koberstein wissen wir, daß er nach seiner Entlassung in Augsburg veranlaßt werden sollte, sich als Spitzel gebrauchen zu lassen. Da er sich weigerte, sollte ihm die Bewährung aberkannt und er hierher zurückbefördert werden. Er mußte flüchten, um das zu vermeiden. Weber aber ist über all dies nicht einmal Bayer und erhält alle diese Vergünstigungen, während jeder andre nichtbayerische Entlassene ausgewiesen oder gar, wie Ochel, in Schutzhaft gesetzt wird. Jetzt ist Ochel allerdings nicht mehr im Günzburger Gefängnis. Es ist ihm gelungen zu fliehn und über die württembergische Grenze zu entkommen. Jetzt kandidiert er im Rheinland als Kandidat der VKP für die preußische Landesversammlung. – Der Konflikt zwischen dem Reich und Bayern ist noch nicht ganz beigelegt, wenngleich hinter den großen Tönen der Regierung Kahr schon ein Zurückzoppen zu merken ist, da es heißt, man stehe nach wie vor auf dem Standpunkt, daß die Einwohnerwehren eine Lebensangelegenheit und auch nicht von der Reparationsangelegenheit zu trennen sei. Aber die Entscheidung stehe natürlich beim Reich, das mit allen Verantwortlichkeiten für die Folgen bepackt wird. Daß ganze Geplärr ist natürlich überhaupt meistenteils Theaterdonner und hat viel weniger mit den Lebensinteressen der deutschen Wirtschaft – recte Profit einiger Stinnesse – zu tun, die ihre Schäflein so und so weiden werden – als mit den preußischen Wahlen und dem dazu erforderlichen Stimmenfang. Immerhin ist zu erwarten, daß Bayern, wo das preußische Militär augenblicklich die Politik bestimmt, da Ludendorff es momentan hier leichter hat als in Berlin, den allzusehr festgelegten Kahr fallen lassen wird. Das wird aber nur die Bedeutung eines Personenwechsels haben. Die „Realpolitiker“ der Opposition sind zu dumm, ihre Möglichkeiten auszunutzen, sonst würden sie ein Plebiszit in der Entwaffnungsfrage vornehmen lassen, das der jetzigen Regierungsmethode das Genick brechen und zu Neuwahlen führen würde. Da die „Revolutionäre“ sich mit der Wacht am Rhein verbündet haben, ist für uns natürlich vorerst überhaupt nicht mehr auf Besserung zu rechnen. Der Sturm muß schon mal wieder spontan losbrechen und dann das ganze Gelichter von Kahr bis Graf auf einmal hochgehn lassen. Inzwischen haben wir nur die eine Pflicht, allen Quälereien zum Trotz nicht zu zerbrechen.

 

Niederschönenfeld, Sonnabend, d. 12. Februar 1921.

Zwei neue Erlasse: Besuche werden fortab nur noch 3 Stunden (statt 6) zugelassen und alles Packmaterial wird festgehalten (dies, obwohl Murböck gestern die Zusicherung erhielt, daß uns die Kartons ausgehändigt werden). Ferner werden „Überstellungen“ nach Neuburg nicht mehr erfolgen. Unsre Zähne mögen verfaulen. So geht’s in schöner Folge tagtäglich fort. Kolbingers Frau hatte Photographie-Material (Platten, Papier, Entwickler etc) für über 200 Mark mitgebracht. Sie mußte alles wieder mitnehmen, darf es auch nicht mit der Post schicken. Kolbinger, der hier mit Photographieren eine Kleinigkeit verdienen wollte, muß das teurere und schlechtere Zeug aus Rain beziehn. Seine Frau, die ihre ganzen Sparpfennige in dem Gekauften angelegt hatte, muß sehn, ob sie es auf irgendeine Weise wieder loswerden kann. Zur Charakteristik Vollmanns (außer verschiedenen Lügen, auf die man ihm wieder gekommen ist): Kiesewetter hatte drei Tage vor seiner Entlassung einen Artikel geschrieben und zur Zensur gegeben. Bei seinem Abschiedsbesuch bei V. fragte er, ob der Artikel durchgelassen werde, was Vollmann bejahte. Eine halbe Stunde später war der von V. unterzeichnete Zettel da, wonach die Arbeit zu den Akten genommen sei. Auch mir werden plötzlich Schwierigkeiten mit dem Umziehn gemacht. Als ich unten saß, bewarb ich mich um die freiwerdende Zelle von Kiesewetter. Vollmann bedauerte, da er grade Gnad die Bude zugesichert habe. Darauf kam ich mit Gnad überein, daß er sie mir abtrete, und der schrieb vor, daß er zu meinen Gunsten zurücktrete. Jetzt erhalte ich heute, wo ich einziehn wollte, den Bescheid, die Bude werde, da Gnad verzichtet habe, für einen „Zugang“ reserviert. Also ein Neuer soll die Vorzugszelle kriegen, und ich muß mich weiter in meinem Loch, wo ich mein Zeug nicht zu lassen weiß, abquälen. Aber Vollmann weiß, daß ich einen Roman schreibe und daß über mir eine Werkstatt ist, da wird er sich nicht um die Freude bringen wollen, mir das Arbeiten zu verleiden. Ich habe mich deswegen zum Rapport gemeldet. Vielleicht steckt der Mann in persönlicher Aussprache zurück, aber ich habe sehr wenig Hoffnung. Die Kontrolle unsrer Pakete etc. geht, wie wir herausbekommen haben, jetzt in München bei der Polizeidirektion vor sich, wo man jedenfalls das Packpapier auf chemische Beschreibungen untersucht. Zu all den Schweinereien wird der Gestank unter den Gefangenen selbst immer ekelhafter. Schneider hat Niekisch auf den Protest gegen die Besuchsbehandlung zur Antwort gegeben, früher hätte man eben dem Ehrenwort von Festungsgefangenen glauben dürfen. Eine Aktion gegen den Beamten (allgemeiner Boykott und das Verlangen seiner Suspendierung) ist nicht durchzusetzen, weil man keine Solidarität mit Niekisch will (da sind meine Freunde – Olschewski, Schmidt – die schlimmsten). Mein Einwand, daß ich nicht für Niekisch, aber gegen Schneider sei, verfängt nicht. Noch toller ist folgendes: Niekisch brachte Wiedenmann einen Stoß Zeitungen mit der Bitte, sie in einem Spielflugzeug einzubauen. Wiedenmann schmiß ihn raus. Das war natürlich sein gutes Recht. Aber dann ging er zu Vollmann und berichtete dem den Vorgang. Diese gemeine Denunziation wird zwar nicht gebilligt, aber die Freude, daß Niekisch der Gelackmeierte ist, überwiegt die Empörung über den Vorgang. Die Wirkung ist schon da: Nickl hat Bilderrahmen nicht abschicken dürfen, weil sie nicht zensurierbar sind. Dieses Verfahren des Schmuggels ist also durch den Ochsen Wiedenmann, der natürlich nur aus Haß gegen die Person Niekischs gehandelt hat, nicht weil er sich seiner Tat als Spitzelei bewußt wäre, verhindert. Murböck gegenüber hat sich Vollmann über die Gründe ausgelassen, die jetzt die Straffziehung des Bogens rechtfertigen sollen. Frau Klingelhöfer und Thekla Egl sollen danach in Versammlungen zur Befreiung der Festungsgefangenen aufgerufen haben (beiden ist der Besuch verboten worden). Hier in der Gegend sollen Posten aufgestellt sein, um die Anstalt zu beobachten, Pläne sollen aufgedeckt sein, wonach Geisellisten für uns bestehn etc. Natürlich wissen die Behörden überall nichts Gewisses. Aber daß eine unheimliche Verräterei in allen revolutionären Organisationen betrieben wird, steht fest. Es ist so, wie um 1907/8 in Rußland, alles ist durchsetzt von Spitzeln. Die Ochrana des Herrn Pöhner arbeitet kolossal. Schon seit Monaten bringt der „Bayerische Kurier“ über alle internen Sitzungen der VKP detaillierte Berichte. Auch wir hier drinnen leben in dem Gefühl, unter dauernder Bewachung nicht nur der Beamten, sondern von soundsoviel eigenen „Genossen“ zu stehn. Ja, heute hat Fetsch zu Karpf gesagt, die Offensive gegen die Sowjetsterne sei erfolgt, weil die Gefangenen selbst die Sterne als Erkennungszeichen unter den Radikalen denunziert hätten. – Ein Trost ist nur, daß der Zwist in der Bourgeoisie infolge der Entwaffnungsgeschichte jetzt auch um sich greift. Offenbar steht das Industriekapital nicht mehr ganz hinter Kahr. Die Mehrheitssozialdemokratie gebärdet sich sogar ganz oppositionell. Da Herr Kahr auf eine Anfrage der Unabhängigen, was in Berlin zwischen den Ministerpräsidenten verhandelt sei, nicht im Landtag erschien und ein Untergebener von ihm erklärte, das sei Geheimnis und nur den Koalitionsparteien mitgeteilt worden, gebärden sich selbst die Auerochsen ganz rabiat und blasen zum Kampf gegen Kahr und alles, was um ihn ist. Dergleichen Stürmchen sind nicht sehr tragisch zu nehmen, doch kann Herr Auer, wenn er in Revolution macht, auch mal die Zügel verlieren. In diesem Monat muß sich jedenfalls noch entscheiden, ob sich Bayern dem Entwaffnungsgebot des Reichs fügt oder nicht. Denn am 1. März tritt die Londoner Konferenz zusammen. Das Organ der Orgesch hat schon verkündet, daß die Waffen allen Befehlen zum Trotz nicht abgeliefert werden. Die Politik der Regierung wird also wohl die sein, daß sie sich nach außen „unter Wahrung des Standpunktes“ unterwirft, zugleich aber den Widerstand bei den beteiligten Formationen insgeheim organisiert und dann stöhnt: Non possumus. Dann kommt wahrscheinlich die Entente-Besetzung bayerischer Städte, und das weitere läßt sich noch nicht sagen, am allerwenigsten, wie und wann und ob die Veränderung der politischen Lage draußen in absehbarer Zeit Rückwirkungen auf unser Ergehn hier drinnen haben wird. Nur soviel können wir als gewiß sagen, daß wir von dem revolutionären Geist der Massen im Augenblick garnichts zu hoffen haben. Otto Thomas ist zwar von der Partei kaltgestellt worden (während Graf weiter als „Volksvertreter“ wursteln darf), – aber daß er ohne Knochenbruch öffentlich zur nationalen Einigung aufrufen konnte, zeigt, wo die „Revolution“ schon gelandet ist.

 

Niederschönenfeld, Sonntag, d. 13. Februar 1921.

Vollmann dekuvriert sich täglich mehr. Jetzt ist es selbst den Gläubigsten klar, daß er mir die Bude von Kiesewetter mit allen Mitteln wegintrigieren und die Gelegenheit zugleich benutzen wollte, die Gefangenen gegeneinander zu verhetzen. Heut früh war Keilerei auf dem „Antibolschewisten“-Gang zwischen Pöltl und Kullmann. Der garnicht beteiligte Schlappschwanz Kaltdorf plärrte: „Herr Aufseher! Herr Aufseher!“ und bewirkte, daß Schneider mit einem Troß Schergen erschien. Nachher wurden die Sünder zu Vollmann zitiert, der eine ganze Gerichtsverhandlung inszeniert zu haben scheint, bei der die Revolutionäre wie Tobiasch und Konsorten sich gegenseitig – vor dem Kerkermeister! – als Gauner und Zuhälter beschimpft haben sollen. Urteil: einer 5, der andre 10 Tage Hofentzug. Und dann ein neuer Geniestreich Vollmanns: Kullmann muß auf einen andern Gang versetzt werden und erhält daher Kiesewetters Zelle. Er ist schon eingezogen. In der Hoffnung, ich werde nun gegen Kullmann oder Gnad gegen mich wild werden, täuscht er sich, aber daß ich weiterhin unter den denkbar ungünstigsten Umständen arbeiten muß, hat er erreicht. – Kolbinger ließ er kommen und teilte ihm mit, daß er seine Machenschaften mit der Photographiererei durchschaue. Er, Mühsam, Gnad und Karpf benützten den Vorwand, um Chemikalien zu mischen etc. Er verbot ihm sogar das Verhängen des Fensters und also die Benutzung der Dunkelkammer. Diese Maßnahme ist insofern erfreulich, als sie zeigt, daß sich die Verwaltung auf falscher Fährte bewegt. Auch das ist ein Plus für uns. Gnad und mich, die wir uns wegen der Zelle zum Rapport gemeldet hatten, hat V. zur Vorsicht garnicht rufen lassen. Also Kullmann verwickelt sich in eine Prügelei und erhält zur Belohnung, obwohl er fast garkeine Effekten hat, eine von allen begehrte Bude, auf die er nie gerechnet hatte. Daß man ihm blos meine Drecklöcher anzuweisen brauchte, womit der Effekt, ihn von Pöltls Gang zu entfernen, ebenso erreicht wäre, spielt keine Rolle. In der Politik nichts Neues. München und Berlin verkehren jetzt schon per „Noten“ miteinander. Der „Vorwärts“ fordert zum Einschreiten der Reichsexekutive gegen Bayern auf wie in den Rätetagen. Dieses Blatt täte gut, die Erinnerung an seine Haltung damals nicht zu wecken. Levi soll in München reden, um die von Thomas und Graf aufgerührten Wogen zu glätten. Wenn nur die Partei keinen Schaden erfährt, alles andre ist der Bande wurscht. – Noch etwas aus dem internen Leben in der Festung: Elberts Intrigen werden immer mehr und die Entlarvung schreitet vorwärts. Jetzt stellt sich heraus, daß Wiedenmann ihn erst um Rat gefragt hat, ob er Niekisch denunzieren soll, und er riet dazu. Dann ging er hinauf und hetzte gegen Wiedenmann. Daß er Grubers Brief an mich verfaßt hat, ist jetzt sicher. Seinerzeit schon bei der ersten Verteilung des Weltbühnengeldes hat er intrigiert und z. B. Kolbinger veranlassen wollen, die 50 Mk abzulehnen, zugleich aber seinem Spezialfreund Seufert die Annahme vergönnt. Der Mann ist hier Obmann der KAP-Sektion, einer Partei also, die anstelle der Führerwirtschaft die Selbstbestimmung der Arbeiter verlangt. Elbert aber wirft seinen Schäfchen Mangel an „Unterwürfigkeit“ vor (wörtlich!). Man muß diese Leute anmerken und grade ihn, da er ein sehr guter Redner ist, viel theoretische Kenntnis und starke Fähigkeiten hat. Aber Paul Förster beurteilt ihn ganz richtig: als in Würzburg die kritischsten Tage waren, mußte man mangels geeigneter Leute den Schwachkopf Hornung zum Führer nehmen, der immerhin persönlichen Mut zeigte. Elbert saß inzwischen ganz in der Nähe in seinem heimatlichen Marktflecken und spielte dort den Bezirksamtmann. Das ist der Mann, dessen drittes Wort Terror! heißt. Aber allmählich gehn über ihn und andre hier selbst den Naiven die Augen auf.

 

Niederschönenfeld, Montag, den 14 Februar 1921.

Eben hatte ich eine Stunde Unterricht im Tapezier- und Dekorateurhandwerk. Der Genosse Mühlbauer, jetzt Komiker, hat ursprünglich dieses Gewerbe gelernt und mir Aufschlüsse über Freuden und Leiden eines Lehrbuben darin erteilt, die ich für meinen Roman brauche. Ich weiß jetzt ungefähr, wie eine Matratze gemacht, ein Zimmer tapeziert, ein Fenstervorhang befestigt und ein Lehnsessel aufgerichtet wird und bei welchen Gelegenheiten die Lehrjungs am leichtesten Maulschellen fangen. – Sonst noch folgendes: Hagemeister und Sauber hatten heute Besuch von ihren Frauen. Man hörte schon in der Frühe unten Frauenstimmen weinen. Das ist schon Usus so. Es stellte sich nachher heraus, daß die Besuchsdauer für 2 Stunden ! genehmigt war. Der Aufseher saß wieder mit am Tisch, „wie im Wirtshaus“, wie August erzählte. Bei der Durchsuchung wurde Frau Hagemeister (von den Weibern der Schinder Schneider und Kagerer) derart unter dem Korsett in den Bauch gedrückt, daß sie nachher noch Schmerzen hatte. Vollmann legt es offenbar darauf an, zu einer Meuterei zu provozieren, um den „rücksichtslosen Waffengebrauch“ anordnen zu können. Darum, daß die Aufseher-Kulis uns auf einfaches Kommando auch erschießen würden, braucht er nicht bange zu sein. Der arme Taubenberger, der morgen 6 Wochen in Einzelhaft zubringt, hat weitere 6 Wochen „strengen Arrest“ zudiktiert bekommen, nämlich Entzug aller letzten Erinnerungen an Festungshaft. Man hat ihm die Bilder von den Wänden genommen, die Einrichtung bis auf den Tisch entfernt, das Schreibmaterial konfisziert und ihm nur noch das Bett gelassen. Da eine solidarische Aktion für ihn nicht möglich ist, müssen wirs geschehn lassen. Menzel will zweifellos einen neuen 4. Januar in verschärftem Maßstabe provozieren, und das ist der Grund, daß Vollmann, der für jede Gewissenlosigkeit zu haben ist – aus Fähigkeit weniger als aus Anlage – hier plein pouvoir erhalten hat. Ich gehe ernstlich mit dem Gedanken um, die Umwandlung der Festungs- in Gefängnisstrafe zu beantragen. Dann weiß ich wenigstens, welcher Hausordnung ich unterworfen bin und weiß Zenzl nicht mehr derartig leiden wie jetzt. Die Stimmung im Hause ist furchtbar. Murböck hat schon erklärt, daß er bedauert, die Umwandlung seiner Zuchthausstrafe in Festung veranlaßt zu haben. In Straubing sei seinen Nerven nicht entfernt so zugesetzt worden wie hier. Jeden Tag – jeden Tag neue Erfindungen, neue Qualen, neue Entwürdigungen. Ich bin überzeugt, daß in ganz kurzer Zeit ein Vorwand gefunden wird, die Gummiknüppel oder auch die Gewehre in Tätigkeit treten zu lassen. Wenn uns das Proletariat nicht bald hilft, sind wir so gut wie verloren. Dennoch hoffe ich noch auf Rettung.

 

Niederschönenfeld, Dienstag, d. 15. Februar 1921.

Ganz abscheulich ist der Fall Anreither, dessen Einzelheiten ich erst heute erfuhr. Dem wurde vom Gericht eine Bewährungsfrist zugebilligt, sodaß er am 12. Februar freigeworden wäre. Bei Zammert, Wittmann, Weigand wurde wenigstens das „Volksgericht“ selbst bemüht, um die Vergünstigung aufzuheben. Bei Zammert berief man sich immerhin noch auf bestimmte Tatsachen, so fadenscheinig sie auch sein mochten; beim Seppl begnügte man sich schon mit der Feststellung, daß er ein „hetzerisches“ Wesen an den Tag lege. Bei Weigand wurde konstatiert, daß er noch keine Reue(!) empfinde, – bei Anreither macht man überhaupt keine Umstände mehr. Er hat nicht eine einzige Disziplinarstrafe gehabt, nicht das allergeringste liegt vom Standpunkt der Hausordnung gegen ihn vor. Die Verwaltung(!) hat ihm einfach mitgeteilt, daß er sich nicht entsprechend geführt habe (garkeine Grundangabe) und deshalb nicht entlassen werde, ein Gerichtsurteil, das den Beschluß der Strafrichter aufhöbe, liegt überhaupt nicht vor. Vollmann setzt sich kalt auch über richterliche Entscheidungen hinweg, ganz zweifellos, um auf irgendeine Weise eine Unbesonnenheit zu veranlassen und dann auf uns schießen zu lassen. Im Fall Anreither liegt eine offenbare Freiheitsberaubung im Sinne des Strafgesetzbuchs vor, – das können sich die Herren in Bayern gestatten. Wenn im Landtag wirklich ein Protestchen laut wird, steht Herr Dr. Kühlewein auf und lügt. Pestalozza aber findet noch immer keine Zeit herzukommen. So sind wir allem preisgegeben. Beschwerden an den Landtag – nächst Vollmann die höchste Instanz des bayerischen Staats – werden nicht durch die Zensur gelassen, bei Gelegenheiten, wo man nicht auskann, ein Mißgriff untergeordneter Organe vorgeschoben. So wurden Sauber von einer amtlichen Sendung, die er als Landtagsabgeordneter bekam, die Umschläge zurückbehalten. Auf seine Beschwerde beim Landtagspräsidenten bekam er den Bescheid, die Verwaltung erkläre, daß das eine Eigenmächtigkeit des Oberwerkführers gewesen sei. Schneider hat einen breiten Buckel, er nimmt’s gern auf sich, um so fester wird seine Position. Solange die Reaktion oben ist, haben wir nichts, garnichts zu hoffen. Ob sie den Konflikt mit dem Reich überleben wird, ist zweifelhaft; wahrscheinlich wird ein Kompromiß gemacht werden, und für uns wird alles beim Alten bleiben. Auch die Entwaffnung wird nicht viel ändern, denn die Arbeiter denken schon lange nicht mehr an Aktionen, die Revolution ist vom Interesse für die preußischen Landtagswahlen verschluckt. Dabei steht in Rußland offensichtlich eine schwere innere Krisis bevor. Der superlativische Parteizentralismus bringt die besten revolutionären Elemente gegen sich auf. Der Kampf gegen die ukrainischen Bauern und gegen Machno ist ein sehr trübes Blatt in der Geschichte der Sowjetrepublik. Der äußere Krieg ist noch nicht abgewendet und wird spätestens wieder einsetzen, wenn die inneren Auseinandersetzungen gewaltsame Formen annehmen. Der Friedensvertrag zwischen Rußland und Polen ist noch immer nicht unterzeichnet. Ich habe schwere Sorgen um den guten Fortgang unsrer Sache. Könnten wir nicht auf die Dummheit unsrer Feinde bauen, müßten wir verzweifeln. Gottseidank befindet sich die öffentliche Gewalt Bayerns und ganz Deutschlands in den Händen von Schnöseln.

 

Niederschönenfeld, Mittwoch, d. 16. Februar 1921.

Genau vor 2 Jahren demonstrierten wir in München für die Abschaffung der politischen Paragraphen des Strafgesetzbuchs. Zwei Monate darauf – genau – wurde gegen mich das Verfahren nach § 81 etc. eröffnet. Heute halte ich mein Leben für verwirkt, falls nicht noch in letzter Stunde Rettung kommt. Gestern beobachteten wir von den Gangfenstern aus, wie Offiziere, geführt von Batum und Schröder (der also doch noch hier ist, scheinbar als Vorstand des Gefängnisses und wirtschaftlicher Chef des Ganzen) die Höfe besichtigten und offenbar die Befestigungen prüften. Heute, während wir beim Essen saßen, erschien vor dem Gitter, das uns vom Treppenhause trennt, Vollmann mit 8 Offizieren – einen von ihnen kennt Olschewski aus Augsburg, einen Major Tuma, der sich seinerzeit „auf den Boden der Tatsachen“ stellte –, beäugten uns wie die Raubtiere im Käfig, stiegen zum oberen Stockwerk und wahrscheinlich zum Dachgeschoß, wo die Maschinengewehre stehn, hinauf und kamen dann wieder herunter. Nur Provokation? Ich glaub’s nicht. Man plant einen Gewaltakt, davon bin ich fest überzeugt. Morgen tritt der Landtag zusammen, um Kahrs Erklärung über die Entwaffnungsfrage entgegenzunehmen. Die Münchner Post rechnet mit einem Staatsstreich, also wohl in der Form einer Auflösung des Parlaments und Errichtung einer Epp- oder Escherich-Diktatur. Dann können wir uns gratulieren. Schon hat Frau Niekisch vom I. Staatsanwalt Pollmann in Augsburg gehört, die politische Situation verlange, daß wir von der Außenwelt abgeschnitten werden. Der Bayerische Kurier, der Kahr-Moniteur, höhnt bereits, die Entwaffnung werde an technischen Widerständen scheitern, da die Waffen auf 4000 Höfe im Lande verteilt seien, die einzeln gestürmt werden müßten, da keine Waffe freiwillig herausgegeben werde. Dem Generalstreik, der einsetzen könnte – wird er? – ist durch eine umfassende Organisation „technischer Nothilfe“ vorgebeugt. Wenn nicht alle Zeichen trügen, stehn wir also der offenen Proklamation des weißen Schreckens in unmittelbarer Nähe gegenüber, und was das heißt, davon weiß die jüngste Geschichte Ungarns und vielleicht noch mehr Finnlands zu erzählen. Daß man sich nicht scheuen wird, wehrlose, seit 2 Jahren eingekerkerte Menschen zu töten, und daß ich und alle meine näheren Freunde hier drinnen dann die ersten Opfer sein werden, darüber bin ich mir völlig klar. Übrigens bin ich bereit. Vielleicht ist es das Einzige, was ich der Revolution noch zu geben habe, das Leben. Ich werde mich vor der Nachwelt dieses Lebens nicht zu schämen haben. Nur Zenzl! – Aber private Dinge haben keine Rolle zu spielen. Ich habe vorhin ein Telegramm aufgesetzt, das ich den 3 VKP-Abgeordneten ans Landtagspräsidium abzusenden empfahl und zwar als dringendes Telegramm. Etwa so: „Festungsgefangene Niederschönenfeld in höchster Gefahr. Erbitten umgehend Schutz gegen Festungsverwaltung, Sipo und Justizbehörde. Die Abgeordneten Hagemeister, Sauber, Schmidt.“ Ich glaube, die drei beraten jetzt über die Sache. Mag sich zeigen, ob der blöde Schwatzklub wenigstens die Macht hat, unser Leben zu schützen. Interessant wärs natürlich, wenn Vollmann die Beförderung ablehnte. Daß er dazu den Schneid hätte, ist mir gewiß. Aber es wäre ein Zeichen, daß man sich schon sicher weiß, daß keine nachträglichen Unbequemlichkeiten draus erwachsen werden. – Eben bringt mir Luki Egensperger die Nachricht, daß mein junger Freund Josef Fürbacher in München verhaftet sei, da er versucht habe, einen Kapitalisten um 50 000 Mk zu erpressen, die er für die politischen Gefangenen brauchen wollte. Daß der gute Junge das ehrlich gewollt hat, ist ganz zweifellos. Natürlich wird man es ihm nicht glauben. Übrigens könnte uns durch Geld jetzt wenig geholfen werden, wir brauchen garnichts andres als Solidarität, und die fehlt schon im Hause selbst gänzlich. Uns allen ist aufgefallen, daß der Götz heute vormittag mehrmals hinuntergerufen wurde. Nachher, während des Offiziersbesuchs stand er am Herd und horchte auf jedes Wort, das gesprochen wurde. Aber unsre Intellektuellen sehn die ganze Lage noch immer als harmlos an und trauen den Sipo-Leuten – die den Regierungserklärungen zufolge beileibe nicht militärisch organisiert sind, nichts Unrechtes zu. Sie werden bitter erwachen. Am 1. März beginnen die Verhandlungen in London. Hat die baierische Reaktion bis dahin nicht zugeschlagen, ist’s zu spät für sie. Die Entscheidung muß täglich fallen.

 

Niederschönenfeld, Sonnabend, d. 19. Februar 1921.

Die Atmosphäre ist etwas ruhiger geworden. Der Staatsstreich ist unterblieben – wozu auch? die Reaktion kann in Baiern durch Abstimmung genau dasselbe erreichen wie durch Militärgewalt –, Kahr hat eine schöne Rede gehalten und die Entwaffnung strikt abgelehnt. Die Sozialdemokraten haben etliche Pflöcke zurückgesteckt und praktizieren die loyalste Opposition von der Welt. Die Unabhängigen plärren, die Kommunisten spielen überhaupt keine Rolle mehr. Von der 7köpfigen Landtagsfraktion sitzen 3 bei uns auf Festung, einer (Eisenberger) im Gefängnis – Abgeordneten-Immunität! – und Graf ist jetzt, mitsamt Otto Thomas aus der VKP ausgeschlossen worden – durch ein Machtwort Levis, nachdem die Münchner Schäfchen sie erneut ihres Vertrauens versichert haben. – Hier drinnen folgt nach wie vor eine Schikane der andern, so darf man seit gestern Besuchern keine Bewirtung mehr hinunterschicken. Heut habe ich dem Arzt in einem plötzlichen Anfall von Wut die ganzen Ruchlosigkeiten der Verwaltung an den Kopf geschmissen und von ihm verlangt, daß er im Interesse unsrer Nerven und Allgemeingesundheit für menschenwürdige Behandlung sorgt. Als ich ihm u. a. vorhielt, daß bei besuchenden Frauen sogar die Geschlechtsteile abgetastet werden, fragte der Mann – ein Wasenmeister nach Art und Wesen –, ob dabei nur ein äußerliches Abgreifen erfolgt sei oder ob mit den Fingern in die Scheide hineingegriffen wurde. Unbequeme Tatsachen stritt er einfach ab. Ich sagte ihm schließlich, ich spräche mit ihm nicht als Beamten sondern als Arzt, sonst würde ich mich lieber gleich an einen Aufseher wenden. Ferner sagte ich: Hier im Hause wird statt Justiz Politik getrieben, wenn ich sehe, daß auch die Medizin durch Politik ersetzt wird, hätte ich weiter nichts zu verhandeln. Auf Verständnis stieß ich nicht bei dem Mann. Entzückende Dinge leistet sich Vollmann den Landtagsabgeordneten gegenüber. Sauber entschuldigte sich für sein Fernbleiben von den Verhandlungen beim Landtagspräsidenten in einem Brief, der Angriffe gegen die Verwaltung deswegen enthielt, weil Vollmann dem Landtag den Charakter einer Aufsichtsbehörde abstritt (nach der Verfassung ist das Parlament die überhaupt höchste Stelle in dieser „demokratischen Republik“). Vollmann hat das Schreiben des Parlamentariers an das Parlament zurückbehalten und erklärt, er habe von sich aus Saubers Fernbleiben entschuldigt. Schmidt hat er mitgeteilt, daß keine Veranlassung für ihn bestehe, ihm darüber Auskunft zu erteilen, ob er dessen Zuschriften an den Landtagspräsidenten vorher einer andern Stelle vorlege. Das macht mir altem Antiparlamentarier Mordsspaß, aber die Entrüstung der Betroffenen ist groß und als Agitationsstoff für draußen sind diese Fälle ausgezeichnet. – Ich persönlich habe großen Ärger. Vor einigen Tagen erschien Toller bei mir, sehr stolz, eine Neuigkeit für mich zu haben. Beierle hatte ihm geschrieben, daß mein „Judas“ am 5. März in Mannheim uraufgeführt werde, und daß er (B.) die Rolle des Schenk übernommen habe; die Proben würden demnächst beginnen. Ich lebte bisher in dem Glauben, die Aufführung finde am 26. Februar statt, die Schenkrolle werde von Vogel gespielt und die Proben seien längst im Gange. Heute erfuhr ich von Lederer, daß Toller richtig orientiert ist. Diesen eingebildeten Laffen sucht man sich also aus, um mich über meine privatesten Angelegenheiten zu verständigen. Ich bin wütend. Es scheint, daß mir keine aussinnbare Demütigung geschenkt werden soll. – Bei alledem ist unsre Gruppe, wie es scheint, im Zerfallen. Seit ich von der Einzelhaft wieder oben bin, ist es unter uns fünf so fad geworden, daß ich mich oft zu Paul Förster hinüberdrücke. Mein ganzer Trost ist der Seppl. Ich habe den Jungen so lieb wie einen Bruder oder Sohn. Die Stunden nach Gitterschluß am Abend, wo ich jeden Abend noch mit ihm bis Mitternacht auf dem Gang spazieren laufe, erhellen mir das Leben, das ich dem guten reinen jungen Menschen zum zweiten Mal scheine danken zu sollen. Vor zwei Jahren befreite er mein Körperliches aus den Fängen der Dürr, Seyffertitz und Gelichter. Jetzt gibt er dem Herzen Sonne und Freude. Gebe Gott, daß ich es ihm einmal vergelten kann!

 

Niederschönenfeld, Sonntag, d. 20. Februar 1921.

Vorgestern hatte mich Vollmann „zum Rapport“ rufen lassen. Es handelte sich noch um die Kiesewetter-Zelle, der Fall war also längst erledigt. Ergebnis: ich werde für die nächste freiwerdende große Zelle im 1. Stock „vorgemerkt“, habe also Aussicht, am 1. April – dann kommt Kullmann auf Bewährung heraus – doch noch dieselbe Bude zu erwischen. Vorläufig glaube ich allerdings, daß Vollmann Mittel und Wege finden wird, mich auch dann wieder drum zu prellen. Gestern ließ er mich am Abend überraschend wieder herunterrufen. Der Arzt war bei ihm gewesen und hatte sich über die „Belästigung“ beschwert, die ich ihm vormittags verursacht habe. Ich erklärte sofort, wenn der Herr eine Konsultation als Belästigung empfinde, werde ich ihm weitere Bemühungen um meine Nerven ersparen. Vollmann drehte aber den Spieß um, ich hätte behauptet, es sei Frauen an die Geschlechtsteile gegriffen worden, was eine Lüge sei. Ich solle Namen nennen. Natürlich weigerte ich mich und erfuhr, daß er sich in diesem Falle Maßregeln vorbehalte. Es kann also passieren, daß er mich wieder hinuntersteckt oder mir Schreibverbot oder womöglich – da er weiß, daß Zenzl kommen soll – Besuchssperre diktiert. Ich benutzte die Gelegenheit, ihm eine Menge Sünden der Verwaltung vorzurücken, und er wandte seine alte Taktik an, alles zu bestreiten. Im Fall der Frau Hagemeister habe er die untersuchende Frau vernommen und jegliche Erhebung gepflogen und es sei durchaus nicht wahr, daß ihr die Frau (des Wachtmeisters Müller) mit der Faust in den Unterleib gestoßen habe. Ich erinnerte daran, daß Frau Hagemeister selbst ja nicht von ihm angehört sei und daß ich die Leugnung der Beschuldigten nicht als beweiskräftig ansehn könne. Daß die Aufseher letzthin bei Besuchen mit am Tisch säßen, stritt er einfach ab. Er habe angeordnet, daß sie in einer Ecke Platz zu nehmen hätten. Ich meinte, seine Anordnungen ans Personal könne ich nicht kontrollieren, wohl aber die Handlungen der von ihm nicht gerügten Beamten. Um mich zu entmutigen, behauptete er, die Zeitungen kümmerten sich so gut wie garnicht mehr um uns, da sollten wir uns ja keinen Illusionen hingeben. Ich replizierte, das könne ich nicht nachprüfen, da er uns ja die meisten Blätter nicht mehr aushändige, was wir allerdings bisher darauf zurückgeführt hätten, daß wohl über die Zustände in Niederschönenfeld mancherlei drinstände. Er erwiderte ganz zynisch, das sei keineswegs der Fall, er könne es nur dem Zensor nicht zumuten, täglich den ganzen Stoß Zeitungen genau zu prüfen. Meinem Einwand, daß wir doch nach der Hausordnung Anspruch auf Zeitungen aller Richtungen hätten, begegnete er damit, daß er erklärte, die Justizbehörde habe das Recht, in der Hausordnung nach Belieben Änderungen vorzunehmen, ja, sie könne jederzeit eine völlig neue Hausordnung einführen. Also offenes Eingeständnis, daß wir absolut entrechtet sind. Ferner erzählte er, er habe in München eine Kommunistenversammlung besucht. Da sei zwar auch von den politischen Gefangenen die Rede gewesen, aber nur in zwei konventionellen Sätzen. Nachher habe sich niemand mehr darum bekümmert. Schade, daß keiner in der Versammlung gewesen zu sein scheint, der Vollmann kannte. Er hätte doch vielleicht die Jacke vollgehauen gekriegt. Sein Zorn gilt, das sprach er deutlich aus, ganz besonders den Ansbachern. Bevor die hier waren, sei die Verwaltung mit den Gefangenen vorzüglich ausgekommen, und viele Herren hätten schon selbst Beschwerde geführt, daß sie mitleiden müßten unter den nur gegen uns gerichteten Repressalien. Ja, erst jetzt hätten eine Reihe von Festungsgefangenen erklärt, daß sie gegen die Verwaltung als solche keinerlei Beschwerden hätten und ihr Ehrenwort gäben, sich deren Anordnungen fügen zu wollen. Ich fragte ihn, ob seine Achtung vor mir wachsen würde, wenn ich ein solches Ehrenwort gäbe. Er: Na, ich weiß ja, daß die Herren auf dem Standpunkt stehn: Ehrenwort geben und brechen. Ich: Ich stehe durchaus nicht auf diesem Standpunkt. Er: Wir haben es schriftlich, daß eine ganze Reihe von Ihren Freunden so denken. Ich: Aber ich nicht. Ich stehe auf dem Standpunkt, Ihnen kein Ehrenwort zu geben. – Dann bestritt er mir, daß meine Nerven hier schlechter geworden seien. Er kenne genau die Verhältnisse, unter denen ich in Ansbach die letzte Zeit verbrachte und wisse, daß meine Nerven dort ruiniert worden seien. Ich benutzte auch das, um gegen die Behörde loszuziehn, indem ich sagte, dann müsse er ja auch wissen, daß ich für alle die Vorkommnisse dort stets nur den Strafvollzug, nie den Einzelnen verantwortlich gemacht habe. Schneider stand während der Unterhaltung im Hintergrunde und Vollmann apostrophierte ihn mehrmals als Zeugen, wie zufrieden die weniger schwierigen F. G. mit der Verwaltung seien. – Murböck hat er aber gestern noch etwas besonders Liebliches verraten, daß nämlich eine größere Zahl Festungsgefangener an ihn herangetreten sei und verlangt habe, daß hier nach dem Plan Menzels 2 Anstalten aus unserm Kerker gemacht werden sollten. Sie hätten keine Lust, in Mitleidenschaft gezogen zu werden, wenn die Verwaltung gegen unsre Widerspenstigkeiten Maßnahmen ergreife. Sie möchten also Erleichterungen beim Besuchsempfang, bei der Paketkontrolle etc., wogegen sie ihr Ehrenwort verpfändeten, keinen Mißbrauch zu treiben, während die Schikanen auf uns Intransigente beschränkt bleiben möchten. „Genossen“! Diese Herrschaften schimpfen ja auch im Hause umeinander, alle Scheußlichkeiten hätten nur wir dadurch verschuldet, daß wir die Veröffentlichung des Menzel-Überfalls im „Volkswillen“ veranlaßt hätten. Erstens wissen sie natürlich garnicht, wer und was da in Frage kommt. Dann aber die wunderbare Logik: Wir werden aus heiler Haut von Bewaffneten angegriffen und dann eine Warnung losgelassen, jede Widersetzlichkeit werde fortan durch rücksichtslosen Waffengebrauch geahndet werden. Und die Herren Genossen selbst finden nicht diese Provokation strafwürdig sondern nur ihre Plakatierung vor der Öffentlichkeit. Wäre auch nur in den ärgsten Dingen Solidarität unter den Gefangenen, könnten wir allem trotzen. So sind wir macht- und hilflos. Gottseidank haben die Kahrs ebenfalls ihre Bedrängnisse. Jetzt wird eine Beschwerdeschrift des Bayerischen Königsmachers Mayer-Koy an den Landtag bekannt, worin er die Konkurrenz Escherich – Kanzler angreift (er ist föderalistischer Rheinbündler, die andern sind Alldeutsche), weil sie ihn als „Fahnenhauptmann“ abgesetzt haben. Dabei denunziert er ganz offen die Orgesch, Orka und Einwohnerwehr, daß sie beabsichtigten, Tirol auf „annexionistischem“ Wege zu erobern, gießt also der Entente den Entrüstungseimer bis oben voll. Ich rechne damit, daß im März, spätestens im April, die „schwarze Schmach“ nach Baiern vorrückt, und beim Widerstand mit Franktireur-Methoden werden selbstverständlich die deutschen Repressalien von Löwen, Mecheln und hunderten von belgischen, polnischen und serbischen Ortschaften angewendet werden. Ob die Kahr-Roth-Pöhner-Gesellschaft sich dann noch lange auf den Stühlchen halten wird, ist wohl äußerst zweifelhaft. Heute aber ist der große 20. Februar, an dem „Preußens Schicksal“ entschieden wird – mit dem Stimmzettel! Die „kommunistische“ Presse donnert die Arbeiter an: „Gebt am 20. Februar Eure Stimme ab für die Diktatur des Proletariats!“ O sancta simplicitas!

 

Niederschönenfeld, Dienstag, d. 22. Februar 1921.

An den „Gemeindetafeln“ in beiden Stockwerken prangt folgender Ukas, der auch mir persönlich abschriftlich zugegangen ist: „An die Festungsgefangenen (die „Herren F. G., wie es früher hieß, sparte man sich schon seit einiger Zeit). Der Fest. Gef. Mühsam hat am 19. 2. 21 gegenüber dem Anstaltsarzt völlig erfundene, hier nicht wiederzugebende Behauptungen bezüglich der Durchsuchung der weiblichen Besuche aufgestellt, ohne für seine Behauptungen nur im Geringsten den Wahrheitsbeweis anzutreten. – Ich ersuche die F. G. von derartigem Verhalten abzusehn. Gegen die Verbreiter derartiger übler Nachreden wird in jedem Falle seitens der Verwaltung eingeschritten werden. –  Gegen den F. G. Mühsam wird Hofentzug auf die Dauer von 7 Tagen, Brief- und Besuchssperre auf die Dauer von 3 Wochen verfügt. – Beginn der Maßnahmen: 22. 2. 21. Festungshaftanstalt. Dr. Vollmann. Herrn F. G. Mühsam zur Kenntnisnahme. N’schönenfeld, 22. 2. 21. Dr. Vollmann.“ Zenzl, die fast 4 Monate nicht bei mir war, sollte nächste Woche endlich kommen. Daß weiß der Mann. Es ist ihm wieder mal gelungen, es zu verhindern. Ich habe ihr ein dringendes Telegramm geschickt. Für Freitag steht der Besuch Pestalozzas in Aussicht. Eben habe ich einen Zettel hinuntergeschickt mit der Anfrage, ob sich das Brief- und Besuchsverbot auch auf den Rechtsbeistand beziehe. Wenn ja, will ich es wenigstens schriftlich haben. Im übrigen sind alle diese Schikanen längst derartig häufig geworden, daß sie die Wirkung, uns zu ärgern oder zu grämen ganz verfehlen. Man lacht nur noch. Wenn es mir auch nahe geht, Zenzl wieder nicht sehn zu sollen, besonders weil ich mich in ihre eigne Gemütsverfassung hineindenken kann, berührt mich die Sache wenig. Beierle hatte sich ebenfalls angemeldet; er wollte mit mir über die Inszenierung des „Judas“ reden, ehe er nach Mannheim fährt. Natürlich glaubt V., mich da durch das Besuchsverbot besonders empfindlich zu treffen. Da irrt er. Ich habe mich über die Taktlosigkeit dieses Menschen, mir durch Toller mitteilen zu lassen, daß die Aufführung verschoben werde, daß er die Hauptrolle spiele und daß die Proben „demnächst“ beginnen, dermaßen geärgert, daß ich ihm wahrscheinlich die schwersten Grobheiten gesagt hätte. Jetzt hat er mir seinen Besuch zwar direkt auf einer Postkarte angekündigt – er wolle Ende dieser oder Anfang nächster Woche kommen und dann drei Stunden mit mir über die Inszenierung reden: ein paar Tage vor der Aufführung! –, die andern drei Stunden dann mit Toller konferieren –, zugleich hetzte er aber auch wieder Toller zu mir, um mir die gleiche Mitteilung machen zu lassen. Nicht einmal den Tag hält er also für nötig vorher anzugeben, sodaß ich Zenzl nicht hätte orientieren können, wann sie kommen dürfte, ohne Gefahr zu laufen, daß die Hälfte der Besuchszeit bereits von Beierle beschlagnahmt wäre. Jetzt habe ich meinen Seppl eine Karte an ihn schreiben lassen: ich hätte Schreib- und Besuchsverbot, könne ihm also nicht direkt antworten und auch den Besuch nicht empfangen. Es sei mir auch lieber, wenn er ohne Verzug nach Mannheim an die Arbeit führe. Im übrigen bäte ich ihn, mir künftig keinerlei Botschaften mehr durch Toller zukommen zu lassen, sondern mir entweder direkt zu schreiben, oder wenn er dagegen Bedenken habe (Zenzl meinte nämlich in einem Brief, er habe Schiß, mit Mühsam zu korrespondieren, an Toller zu schreiben, sei weniger kompromittierend) mir alles Nötige durch ihn – Seppl – sagen zu lassen. Er wird ja in Mannheim erfahren, wer Josef Wittmann ist; Zenzl wird ihm dazu wohl den nötigen Kommentar geben: daß mir nämlich der proletarische Rotgardist näher steht als der literarische Feldherr von Dachau. – Ein sehr schöner Gedanke steht in Zenzls Brief, den ich heute bekam: Wir sollen alle Quälereien nicht ernst nehmen, sondern als Witz auffassen. Wäre Recht und Justiz noch gesund – wendete man also die Paragraphen ganz gesetzmäßig gegen uns an –, dann wäre unser ganzes Rebellentum nur komisch; denn solange noch allgemeine Achtung vor Gesetzen wäre, brauchte man dagegen keine Revolution zu machen. Die Anwendung der von uns gebrochenen Gesetze gegen uns in der karikaturistischen Form, die sich zeigt, beweise grade ihre tatsächliche Beseitigung und also den Erfolg unsres Wirkens. Jetzt habe kein Mensch mehr Achtung vor und Vertrauen zu den Gesetzen, was beweist, daß sie fallen müssen. Zenzls Briefe in der äußerlich naiven Art ihrer Diktion, sind voll von tiefen Gedanken, klaren Erkenntnissen, wunderbar schönen Empfindungen, voll Güte und Liebe und einer Größe des Herzens, daß meine Zärtlichkeit und mein Verlangen, meine Mannesliebe zu dieser Frau durchtränkt ist von tiefer bewundernder Ehrfurcht vor dem Menschlichen, das jede ihrer Aeußerungen, jede ihrer Handlungen erschließt. Sollte mein Kerker sich noch einmal auftun und unsre Gemeinschaft neu erstehn, dann will ich zu ihren Lebzeiten ein Denkmal für sie errichten, wie es Varnhagen Rahel in seinem Buch des Gedächtnisses gesetzt hat, und noch mehr: dann will ich versuchen, mich selbst zu bezwingen und ihr das Leid zu ersparen, das ihr meine Neugier auf andre Frauen und meine fessellose Abwechslungsgier immer wieder zugefügt hat.

 

Niederschönenfeld, Freitag, d. 25. Februar 1921.

Ich hatte heute zum ersten Mal den neuen (d. h. gewendeten) von Lederer gestifteten Anzug an, um Pestalozza würdig zu empfangen. Er kam nicht. Gott weiß, wie lange das von mir massenhaft vorbereitete Anklagematerial noch liegen soll, bis ich es an den Mann bringen kann. Gestern war zur Verteidigung Paulukums (der in der Niederschönenfelder Schule zu 14 Tagen Gefängnis verknackt wurde) Dr. Philipp Loewenfeld hier. Auch ich wurde zu ihm gerufen und zwar im letzten Moment, als schon der Wagen, der ihn zum Bahnhof fahren sollte, auf ihn wartete. So dauerte die Unterredung etwa ½ Minute. Sie fand in Gegenwart von Fetsch statt, und ich erfuhr, daß meine Tagebücher noch immer nicht herausgegeben sind, daß L. aber hofft, sie noch zu kriegen. Ich zweifle, bis es Tatsache geworden ist. Vollmann hat sich gegen mich wieder ein kapitales Stück geleistet. Gestern bekam ich von Lederer die Mitteilung, daß die Judas-Aufführung schon wieder verschoben sei – auf den 11. März. Am 5. Akt habe er einige visionäre Finessen untergebracht (nachdem er mir früher geschrieben hatte, das Ganze solle in „grotesk übersteigertem Naturalismus“(?) dargestellt werden). Mit diesen Abweichungen habe ein übereifriges Ausschußmitglied diesen Akt in der Mannheimer „Tribüne“ veröffentlicht, die er mir zur Begutachtung beilege. Ich erhielt den Brief ohne die Anlagen, aber mit einem Zettel von Vollmann, daß die „Tribüne“ wegen des allgemeinen Verbots dieser Zeitung zu den Akten genommen sei. Dies, nachdem er mir selbst erst vor ein paar Tagen erklärt hat, er verbiete die Zeitungen nur, um dem Zensor Arbeit zu sparen. Natürlich hätte jeder andre wenigstens den für ihn bestimmten Ausschnitt erhalten, zumal V. weiß, wie existenzwichtig für mich die Kenntnis der umgeänderten eignen Arbeit wäre. – Taubenberger, der nun fast 7 Wochen in Einzelhaft ist und Wollenberg sind jetzt in diesen Bau überführt worden und gingen heute zum ersten Mal im großen Hof spazieren. Wir erfuhren so, daß gegen Taubenberger gradezu haarsträubende Gewaltakte ausgeübt werden. Auf Anordnung des Oberstaatsanwalts Menzel hat er eine volle Woche in Dunkelarrest gesessen, bei Kostschmälerung (ein Stück Brot und mittags eine Suppe als ganze Nahrung) und jeden zweiten Tag Bettentzug. – Zur Richtigstellung: Der Fall Anreither verhält sich anders, als ich ihn hier nach den Behauptungen, die im Hause kursierten, niederschrieb. Ihm war seinerzeit auf ein Bewährungsfristgesuch in Aussicht gestellt worden, daß er nach 1 Jahr 9 Monaten bei guter Führung Aussicht habe, herauszukommen. Die Zeit ist jetzt herum. Das Volksgericht – nicht die Verwaltung von sich aus – hat ablehnend entschieden und zwar unter Berufung auf die Auskünfte der Verwaltung. Da Anreither sich während der ganzen Strafzeit nichts zuschulden kommen ließ, nicht ein einziges Mal diszipliniert oder verwarnt wurde, kann also die Verwaltung nur Erlogenes berichtet haben. Ich habe den Fall mit denen Wittmanns und Weigands (bei dem „Reue und Besserungsvorsatz“ verlangt wird) für Pestalozzas Akten ausführlich kritisiert und besonders darauf hingewiesen, daß Treue zur Überzeugung, die jetzt als straferschwerend gilt, von den Standgerichten sogar als mildernder Umstand bewertet worden ist. Wie lange sie es noch so treiben werden (jetzt sind in den letzten Tagen wieder mehrere Blätter verboten worden, so das Organ der A. A. U. „der Kampfruf“ und der Hallesche „Klassenkampf“ (VKPD)), müssen wir abwarten. Die Wahlen in Preußen sind so ausgefallen, daß die rechte Seite eine entschiedene Verstärkung erfahren hat. Das ist gut, da es klärend wirkt. Der Standpunkt der Entente in der Entwaffnungsfrage wird dadurch erst recht gefestigt. Dazu der künstliche Spektakel wegen der „schwarzen Schmach“  und die stockdumme Anmaßung der Besiegten den Siegern gegenüber wird energische Maßnahmen der Alliierten sehr fördern. Ich sehe schon Senegalneger Würzburg, München und die Etappe dazwischen besetzen. Dann wird Kahr wohl ausgespielt haben und das Rad dreht sich wieder zu unserm Vorteil. – Noch etwas Persönliches. Ich hatte die Staatsanwaltschaft in München ersucht, mir eine Abschrift meines Standgerichtsurteils vom 12. Juli 1919 zuzustellen. Heute teilt mir Vollmann auf Veranlassung der Kriminalregistratur mit, daß ich warten müsse, da sich die Akten zur Zeit beim Justizministerium befänden. Das ist eine sehr interessante Nachricht, die ich da zufällig erfahre. Warum beschäftigt man sich jetzt beim Ministerium mit meinem Strafakt? Ich rechne mit der Möglichkeit, daß von Rußland aus schon Schritte für mich unternommen sein könnten. In diesem Fall wäre jedenfalls von der Reichsregierung Auskunft über mich verlangt worden. Das Beste hoffen!

 

Niederschönenfeld, Dienstag, d. 1. März 1921.

Abschriften. I. Dringendes Telegramm an Pestalozza. „Aeußerste Bedrängnis. Herreise absolut unaufschiebbar. Es geht ums letzte. Mühsam und viele Genossen.“ Dies Telegramm, wurde mir vom Aufseher ausgerichtet, könne in dieser Fassung nicht befördert werden. II. „Herreise absolut unaufschiebbar. An näherer Erklärung behindert. Mühsam und viele Genossen“. So scheint das Telegramm abgegangen zu sein. Es folgt jetzt, eingeschrieben und express dieser Brief: III. „Sehr geehrter Herr Rechtsanwalt! Mein dringendes Telegramm an Sie durfte ich leider nicht in der Form abfassen, die Ihnen die Unmittelbarkeit der Gefahr, in der wir uns befinden, noch sinnfälliger hätte machen können. So fürchte ich, daß Sie dieser Brief noch in München antreffen könnte und halte es eben deswegen für nötig ihn zu schreiben. Wir alle glauben hier drinnen, daß eine Katastrophe dicht bevorsteht. Alle Anzeichen lassen darauf schließen, daß die Spannung, die seit dem bewaffneten Überfall auf uns vom 4. Januar sich ununterbrochen verschärft hat, einer gewaltsamen Lösung in den allernächsten Tagen entgegengeht. – Gestern hat der neue Vorstand, Herr Dr. Vollmann, einige Festungsgefangene zu sich zitiert und ihnen folgendes Ultimatum gestellt: Sollte bis Mittwoch abend der Urheber eines Artikels der „Neuen Zeitung“, der sich mit den Zuständen in Niederschönenfeld und insbesondere mit der Person des Herrn Dr. Vollmann beschäftigt, dem Vorstand nicht bekanntgegeben sein, so werde uns der gesamte Verkehr mit der Außenwelt gesperrt werden „für Monate hinaus“, wie ausdrücklich bemerkt wurde. Es wird also eine Verhinderung unsrer Korrespondenz, die sich auf ein- und auslaufende Post bezieht, eintreten, wir werden weder mehr über unser Ergehn nach Hause berichten können, noch irgendwelche Nachricht über das Ergehn der Unsrigen erhalten, Pakete werden uns nicht mehr ausgeliefert, Besuche natürlich nicht zugelassen. Überdies sollen auch die Zeitungen nicht mehr ausgeliefert werden. Mit andern Worten: unsre Isolierung wird vollständig sein, und alles, was weiter geschieht, bleibt verborgen, und wenn etwas sehr Ernstes geschieht, so wird das Ausbleiben jeder Mitteilung darüber draußen nicht einmal auffallen, da man ja wissen wird, daß wir nicht um Hilfe rufen dürfen. – Was aber die Bedingung anlangt, die gestellt ist, so ist zu bemerken, daß der betr. Artikel höchstwahrscheinlich überhaupt nicht von der Anstalt hier ausgeht, wenigstens nicht von einem Festungsgefangenen. Die Sicherungsmaßnahmen, die seit einiger Zeit durchgeführt werden, lassen es ganz ausgeschlossen scheinen, daß Artikel von hier hinausgeschmuggelt werden können. Wir nehmen daher an, daß ein Vorwand gesucht wurde, die letzte Maßnahme vor unsrer gänzlichen Hilflosmachung irgendwie zu begründen. – Einzelheiten kann ich natürlich einem durch die Zensur des Vorstands geleiteten Brief nicht anvertrauen. Ich hoffe aber Ihnen begreiflich gemacht zu haben, daß ein Aufschub Ihres Besuchs unabsehbare Folgen haben würde. Meine Frau hatte Sie bereits für vorigen Freitag angemeldet. Daß wir Sie vergeblich erwarteten, war eine furchtbare Enttäuschung. Sollten Sie nicht abkommen können, so bitten wir Sie, einen Vertreter genau zu instruieren und sofort zu entsenden. Natürlich wäre es uns allen aber eine sehr viel größere Beruhigung, Sie persönlich sprechen zu können. Versetzen Sie sich bitte in die Lage von Menschen, die – selbst in der kritischsten Situation – von der letzten Verständigungsmöglichkeit mit ihren Nächsten abgeschnitten werden sollen! Ihr ergebener Erich Mühsam. Bitte um telegraphische Antwort.“

 

Niederschönenfeld, Sonnabend, d. 5. März 1921.

Bewegte Tage intra muros et extra. Intra: der Brief an Pestalozza kam zurück mit dem Bescheid: wegen Briefsperre nicht befördert. Also selbst der Verkehr mit dem Rechtsbeistand lahmgelegt, – eine Neuerung, würdig allen andern. Natürlich schrieb sofort Karpf an ihn und erhielt heute ein Telegramm, worin sich P. für Dienstag oder Mittwoch anmeldet. – Aber das war nur eine Lappalie. Das Ultimatum, das Vollmann – persönlich gekränkt – erpresserisch gestellt hatte, lief ab. Mittwoch abend gegen 7 Uhr erschien Fetsch im Gang und rief zuerst mich. Ich erhielt folgenden Ukas: „An den F. G. Herrn Mühsam. Sie werden mit sofortiger Wirksamkeit in Zelle 188/192 des II. Stockwerks verlegt. Niederschönenfeld, den 2. 3. 1921. Festungshaftanstalt. Dr. Vollmann.“ Wische desselben Inhalts erhielten Olschewski, Karpf, Hagemeister, Wittmann, Schmidt, Elbert, Egensperger. Bis auf Olschewski und Seppl bekamen wir alle kleine Zellen (die jetzt schon auch offiziell nicht mehr Festungsstuben, sondern ehrlicherweise Zellen heißen) zugewiesen und zwar so, daß die Gruppe ganz auseinandergerissen ist. Auf meinem Gang liegt von uns nur Adolf Schmidt; aber Vollmann hat es so eingerichtet, daß ich Nachbar von Graßl, Schwab und Renner geworden bin, der leider neuerdings ebenfalls gegen mich stänkert, weil ich vor 1½ Jahren mit der Geldspende Nexös betrügerisch verfahren sein soll. (Ich bin diese gemeinen Anwürfe nun schon so gewöhnt, daß sie mich kaum mehr berühren). Von oben kamen Walter und Höck herunter, denen dann noch auf seinen eignen Antrag der völlig reformistisch gewordene Mairgünther folgte. Ich schrieb, als ich das erfuhr, sofort hinunter, erinnerte an mein wiederholtes Ersuchen, mir eine große Zelle zu geben und verlangte die von Mairgünther geräumte. Ich erhielt keine Antwort, doch wurde am Donnerstag zu uns übrigen 8 noch Leo Reichert hinaufbefördert, der ohne weiteres die große Bude bekam. Am Abend des 2. März aber prangte schon folgender Anschlag an der Tafel: „An die Festungsgefangenen. Gemäß § 22 der Hausordnung wird verfügt: 1. Die F. G. des II. Stockwerks erhalten hiermit bis auf weiteres Brief-, Besuch- und Paketverbot. Einlaufende Briefe und Pakete werden ausgehändigt. 2. Die Fest. Gef. des I. Stockwerks werden durch diese Maßnahmen nicht berührt. 3. Hofzeit für die F. G. des II. Stockwerks bis auf weiteres 8 bis ½ 12 Uhr vorm., Hofzeit für die F. G. des I. Stockwerks 2 – 5½ nachm. 4. Da ein Stockwerkverkehr nicht im Interesse der Fest.-Gef. des I. Stockwerks liegt, kommt dieser Stockwerkverkehr bis auf weiteres in Fortfall. N’feld, 2. 3. 21. Dr. Vollmann.“ Die längst angedrohte Trennung der Stockwerke in 2 Anstalten ist also Tatsache und zwar mit der pikanten Unterscheidung, daß es nun in diesem Hause Festungsgefangene erster und zweiter Ordnung gibt. Die Böcke sind von den Schafen gesondert worden. Gottseidank bin ich nicht als Schaf qualifiziert, und – was mich besonders freut – die Tschega-Gruppe ist vollzählig zu den Böcken versetzt worden, auch der Seppl, der damit wohl für die Dauer nicht mehr auf seine Bewährungsfrist zu rechnen braucht, aber doch die offizielle Anerkennung als tüchtiger Revolutionär gefunden hat. Ich bin froh, ihn oben zu haben, vermisse ihn aber abends schmerzlich auf meinem Gang. Nie werde ich wieder einen so von innen heraus überzeugten Schüler finden, nie einen Menschen, dem ich mich mit dem Gefühl, zu meinem Freund, Kameraden, Bruder und Sohn zu sprechen, so selbst aufschließen kann. Am Tage wird es eine große Seltenheit sein, daß wir uns mal stundenlang so aufeinander konzentrieren können, wie wir es unten jeden Abend taten. – Der Vollmannsche Erlaß ist ein ganz unglaubliches Stück, in allen Einzelheiten. Vorausgegangen war eine Erklärung etlicher Auch-Genossen unten, geleitet von unserm militärischen Volksbeauftragten Reichardt, der sich hier ganz reizend entpuppt hat, – und von Niekisch. Sie haben die ehrenwörtliche Erklärung abgegeben, daß sie sich in die Hausordnung, die sie anerkennen(!), fügen, keinen Fluchtversuch machen und wollen und nur um Erleichterungen bei den Besuchsempfängen und den Paketdurchsuchungen bäten. Diese Erklärung hatte mir gegenüber Vollmann ja neulich schon erwähnt. Der Angriff gegen ihn in der „Neuen Zeitung“ (er hat ihn Reichardt, Klingelhöfer, Murböck und Elbert vorgelesen und danach wird er darin als „Schnösel“ bezeichnet, wobei er die Zwischenbemerkung machte, der Ausdruck stamme aus Mühsams Tagebuch) hat ihm den äußeren Anlaß gegeben, der Bande die Gefälligkeit zu tun und uns andre extra zu schinden. Ganz unglaublich ist es, daß er die Hälfte der Festungsgefangenen bestraft (vielmehr er „sichert“ die Ruhe und Ordnung der Anstalt) für einen Zeitungsartikel, der draußen erscheint und zwar in einem Blatt, das uns der Zensor vorenthält. Für die Behauptung, der Artikel sei hier geschrieben worden, fehlt dem Mann jeder Beweis. Aber wir sollen den Schreiber nennen, und er greift zur Erpressung und unterbindet uns jegliche Mitteilung an die Unsern, wendet also gegen ganz Unbeteiligte die Folter des Zeugniszwangsverfahrens an. Die würdigen Herren unten haben erklärt, der Artikel müsse Spitzelwerk sein. Das ist eine Dummheit, noch dazu eine gemeine. Wir haben den Zeitungen dankbar zu sein, wenn sie sich für uns einsetzen, nicht sie zu desavouieren. Enthalten sie Wahrheit über die Zustände hier, haben wir das allen Angriffen gegenüber stark zu betonen, enthalten sie Falsches, so bleibt es dem gekränkten Vollmann ja vorbehalten, sich sein Recht zu schaffen, indem er die Beleidiger verklagt. Daß er statt dessen uns diszipliniert muß ihm als schwerster Amtsmißbrauch angekreidet werden. Die „Schafe“ kommen in dem Ukas traurig weg. Stockwerkverkehr liegt „nicht im Interesse der F. G. des I. Stockwerks.“ Das ist eine knallende Ohrfeige. Besonders interessant ist die Änderung der Hofzeiten. Abgesehn davon, daß die Zeit im Freien für alle von 6 auf 3½ Stunden verkürzt wird, werden uns Böcken die Vormittagsstunden eingeräumt. Nun hat aber vor kurzem der Anstaltsarzt einen Genossen gewarnt, vormittags in den Hof zu gehn, da dann giftige Nebel darin aufsteigen, die die Atmungsorgane gefährden. Die Beschränkung der Freizeit für uns grade auf diese Stunden bedeutet also die vorsätzliche Schädigung der Gesundheit der Böcke. Leider hat aber wie immer hier dieser Anlaß, den Zusammenschluß der Böcke herbeizuführen, das Gegenteil bewirkt. Klingelhöfer hat gegen die Niekisch-Reichardtsche eine Gegenaktion inszeniert, zu der es ihm leider gelang, auch den guten, treuen, grundehrlichen Murböck einzufangen. Sie haben miteinander eine Resolution verfaßt und dafür Unterschriften gesammelt, worin sie, wie ich erfahre (denn wir Gruppen-5 haben das Ding nicht einmal vorgelegt gekriegt) die Wiederherstellung der Hausordnung von 1919, also der Müller-Meiningenschen, gegen die wir dauernd als ungesetzlich protestiert haben, verlangen und noch allerlei radikal klingende Forderungen aufstellen, ohne zu bedenken, daß jetzt nur schroffste Intransigenz, Ablehnung jeder Verhandlung am Platze ist. Der Elbert, der als Intrigant in letzter Zeit schon oft eine üble Rolle gespielt hat, ist auch hier wieder sehr unschön beteiligt. Er war bei der Beratung zwischen Murböck und Klingelhöfer selbst zugegen, war dann aber derjenige, der gegen die Unterzeichner der von ihm mit inspirierten Resolution am heftigsten arbeitete. Der arme Murböck, der sich von diesem Intriganten und von dem schmalzigen Advokaten Klingelhöfer einseifen ließ, mußte sich Verräter und was noch alles heißen lassen, Kain, Sauber und selbst Hagemeister – vornedran natürlich Schwab – verlangen Boykott der 12 „Unterschriftsteller“, wie ich sie benannt habe, und ich mache da absolut nicht mit, habe heute im Gegenteil ostentativ Murböck besucht und mit ihm lange auf dem Gang gesprochen. Mögen sie mich auch anfeinden. Adolf Schmidt steht genau auf demselben Standpunkt wie ich – trotz sachlicher Differenz ehrlichen Genossen gegenüber Kameradschaft! Seppl denkt bedeutend härter darüber – er ist vor 6 Tagen 22 Jahre alt geworden; da ist Schroffheit nur Tugend –, und der alte Polterer Olschewski wird wohl in einigen Tagen seinen Groll gegen die Sünder von selbst verkocht haben. – Die Umquartierung bringt natürlich viel Unbequemes mit sich. Mein Mobiliar steht gottseidank wieder am gehörigen Platz, aber die Einordnung von Büchern und Papieren droht noch. Die erste erfreuliche Wirkung für mich war gleich am Mittwoch abend die Einladung Ringelmanns zu einer Aussprache zwischen ihm und Weigand einerseits, mir andrerseits. Die Jungs hatten eigens einen Kaffee für mich gekocht und so war der Friedensschluß gleich fertig. Ich freue mich darüber; ich habe nun mal die Sympathie; mit Renner-Hax werde ich, wenn der Graßl mal weg sein wird, in knapp 3 Wochen – wohl auch wieder ins Reine kommen. Leider sind einige gute Freunde von uns unten geblieben; besonders vermisse ich Paul Förster, der mir nächst meinem Seppl – trotz der Gruppe – und mit Leo Reichert eigentlich innerlich der Nächste war. Auch Kolbinger vermisse ich, den gutmütigen Herkules. Dafür haben wir jetzt näheren Verkehr mit Günther und vor allem dem prächtigen Clemens Schreiber, und durch die abendliche Gangabsonderung komme ich Adolf Schmidt jetzt ganz nahe, wenngleich er mir den Seppl nie und nimmer ersetzen kann. – Wie lange die brutalen Maßnahmen durchgeführt werden, müssen wir an uns herankommen lassen. Die Frauen draußen werden ja närrisch werden. Ich habe Zenzl nichts mitteilen können, da ich ja ohnedies Schreibverbot habe, und in einem Brief, der heut ankam, kündigt sie sich für den 16ten an. Sie wird außer sich sein, wenn sie sogar auf der Rückfahrt von der Mannheimer Uraufführung mich wieder nicht sehn darf. Aber sie ist stark und tapfer, und da ertrage auch ich den Gedanken eher. Übrigens liegen die politischen Verhältnisse so, daß täglich eine vollständige Umwälzung aller Dinge eintreten kann. Die deutsche Delegation hat gegen die Pariser Beschlüsse in London Gegenvorschläge gemacht, die, wie Lloyd George ganz richtig sagte, eine völlige Verkennung der ganzen Situation verraten. Diese Leute beurteilen die Psychologie der gerissenen Ententediplomaten immer noch ebenso primitiv wie die des deutschen Trambahngastes. Die ganzen deutschen Reparationsvorschläge sind eine Mischung von Frechheit und Dummheit und führten zu einem Montag ablaufenden Ultimatum. Hat Herr Simons bis dahin keine neuen Vorschläge unterbreitet, in denen die Basis der Pariser Beschlüsse zugrunde gelegt ist, so wird zunächst Duisburg, Ruhrort und Düsseldorf nur besetzt, (also nicht das Ruhrgebiet, sondern dessen Ausfuhrhäfen), ferner die deutschen Zölle in den besetzten Gebieten beschlagnahmt und die deutschen Außenstände von Ententeschuldnern direkt eingetrieben. Und das ist nur vorläufig. Die Entwaffnungs- und Auslieferungsrepressalien stehn noch außerdem bevor. Was wird draus werden? Jedenfalls wohl die Zwangsvollstreckung der Alliierten, in Deutschland aber wahrscheinlich Regierungswechsel, der auch in Bayern fühlbar werden wird und entweder Rechtsputsch, den die Franzosen niederschlagen würden, oder allgemeine Linksorientierung, die über kurz oder lang unsre Lage klären müßte, unter Umständen sehr schnell. Wir können alles in Gemütsruhe abwarten. – Inzwischen wird jetzt auch draußen gegen mich Stimmung gemacht. Die V. K. P. D. ist schon derartig auf den Hund gekommen, daß man Max Weber zum Bezirksrat gewählt hat für Südbayern, und der macht nun seine Ankündigung von Ansbach wahr, daß er über mich nicht blos die Wahrheit verbreiten, sondern mich überdies so verleumden werde, daß kein Hund mehr einen Knochen von mir nehmen würde. Man soll sich sehr über mich entrüstet und sogar einen Kurier nach Holland entsandt haben, der dort über mich Erkundigungen holen sollte. Sie mögen. Wenn die Revolution da sein wird, werde ich diese Bande kaum zu fürchten haben. Aber ihr Getue verrät, wie weit sie von der Revolution entfernt sind. – Murböck erzählte mir, die Schafe im I. Stock hätten einstimmig – gegen die Stimme von Reichardt – beschlossen, alle Vergünstigungen zurückzuweisen und einheitliche Behandlung aller Festungsgefangenen zu verlangen. Sie werden also wohl wieder die alte Besuchsaufsicht und Paketdurchsuchung kriegen, aber die Trennung wird bestehn bleiben. – Noch etwas: Ein vom Zensor stark zurechtgestrichener Brief kam an. Bei der genaueren Prüfung der gestrichenen Stellen ergab sich, daß sie Mitteilungen über den Grafen Arco enthielten, der Damenbesuche in beliebiger Zahl und Dauer bekomme und täglich Urlaub in die Stadt erhalte. Mit dieser Rekonstruktion wurde aber eine zwischengeschriebene und wieder gelöschte Anmerkung des Zensors sichtbar: „Das würde euch so passen!“ – Diese Leute behaupten, nicht als Politiker sondern als Justizbeamte auf uns herumzureiten. Es gibt ja keine Klassenjustiz. Grade heute wird wieder ein Urteil bekannt, das mir persönlich furchtbar nahe geht, mein guter roter Junge Josef Fürbacher ist wegen Erpressung zu 4 Jahren Zuchthaus und 10 Jahren Ehrverlust verurteilt worden. Der Staatsanwalt hatte nur 3 Jahre beantragt, das Gericht ist aber mit der ausdrücklichen Begründung über den Antrag hinausgegangen, weil es einen kommunistischen Terrorakt in seiner Handlung erblickt. Man sollte meinen, politische Motive seien weniger ehrenrührig als solche der privaten Habgier. Das ist in der „demokratischen Republik“ des Kahr und Roth nicht mehr so. Fürbacher hat sich tapfer benommen vor Gericht. Er verließ die Anklagebank mit den Worten: „Es kommen wieder andre Zeiten.“ Bravo, bravo, mein lieber Kerl! – Tot ist der König Nikita von Montenegro, was mich nicht – und Franz Diederich, was mich ein wenig berührt. Er war lange Zeit Feuilleton-Redakteur an sozialdemokratischen Blättern und war einer der ersten, die auf mich als Lyriker verständnisvoll und mit Sympathie hingewiesen haben. Ich lernte ihn persönlich vor dem Kriege in Leipzig kennen. Während des Kriegs sattelte er – als Vorwärts-Redakteur – leider zu den Sozialpatrioten um, obwohl er noch 1912 eine gute Anthologie von Antikriegsgedichten herausgegeben hatte. Ein Förderer von Geschmack und Kultur im Proletariat war Diederich zweifellos und mir persönlich hat er zu Arbeiterkreisen manchen Eingang freigelegt. Requiescat in pacem! Veränderungen im Hause: außer der großen Umquartierung Abmarsch des Genossen Zauner in die „Freiheit“. Er hatte seine Strafe herum. Die Revolution wird kaum einen Heros in ihm gewinnen, und wir verlieren in ihm nicht grade eine Säule, wohl aber ein kleines Original. Der nächste, der verschwindet, wird Paul Graßl sein. Er wird draußen – bis er wieder Anschluß bei seinesgleichen findet, d. h. bei Sipoleutnants und Billardmarkeuren, – Weber eine Stütze sein gegen mich. Aber ich werde froh sein, ihn nicht mehr sehn zu müssen. Schon hat mich Schwab vor ihm und Renner gewarnt, die Böses gegen mich im Schilde führten, – schon bin ich aber von andern auch vor Schwab gewarnt worden, der in Gemeinschaft mit zwei genau bezeichneten andern meine Briefe zu stehlen oder doch zu bespitzeln beabsichtige. So gehts hier her: Vollmann hat sich selbst den schönsten Strick um den Hals gelegt, den wir bei einiger Einigkeit blos zuzuziehn brauchten und er wäre geliefert, – statt dessen werden guten alten Genossen Stricke gedreht und endlich wohl Vollmann zu Hilfe genommen, um denen den Halswirbel abzudrehn. Arme Revolution!

 

Niederschönenfeld, Dienstag, d. 8. März 1921.

Die Verhandlungen in London sind brüsk abgebrochen worden, die „Sanktionen“ treten sofort in Kraft und zwar, wie Lloyd George ankündigte, verschärft. Die neuen deutschen Vorschläge, die zu dieser vorauszusehenden Konsequenz geführt haben, sind noch nicht bekannt. Sie sollen auf ein Provisorium abgezielt haben, doch hat Lloyd George erklärt, der Ton, in dem sie gehalten seien (offenbar haben die geistreichen Delegierten Deutschlands die Gelegenheit benutzt, wieder mal die deutsche Kriegsschuld zu bestreiten), verbiete weiteres Verhandeln. Man ging ohne die üblichen Höflichkeitsbezeugungen auseinander. Natürlich krächzt das nationale Geschmeiß schon wieder nach der „Einheitsfront“. Es ist nicht ausgeschlossen, daß man derartiges markieren wird, was unter Umständen in der Amnestierung der politischen Gefangenen zum Ausdruck kommen könnte. – Sehr bedenklich klingen die letzten Nachrichten aus Rußland. Alle bolschewistischen Dementis können die Tatsache nicht mehr verkleistern, daß die Kronstädter Matrosen gegen das gegenwärtige Regime aufgestanden sind. Petersburg soll in den Händen der Aufständigen sein, in Moskau scheinen Kämpfe stattzufinden oder gefunden zu haben. Die roten Truppen sollen nicht mehr sicher sein. Die Tendenz der Rebellen, die sich schon ein Revolutionskomitee geschaffen haben, ist noch garnicht recht zu erkennen. Ich glaube vorläufig weder der bürgerlichen noch der kommunistischen Presse, die eine simple gegenrevolutionäre Erhebung draus machen möchten. Ich glaube viel eher, daß es sich um einen Aufstand revolutionärer Räterepublikaner gegen die Verfälschung der Sowjetmacht durch den Parteidespotismus handelt. Jedenfalls scheinen mir augenblicklich ernstere Dinge in Rußland im Gange zu sein als je seit der Etablierung der Bolschewiki am 7. November 1917. Auch da bleiben alle weiteren Konsequenzen für Deutschland und für den Fortgang der Weltrevolution im Dunkeln; aber die Erhellung der Situation kann nicht lange mehr auf sich warten lassen. – Häusliches: Vollmann ist von einer Münchner Reise zurück, was sich gleich eigenartig bemerkbar machte. Noch am Sonntag abend, gleich nach der Ankunft, ließ er Murböck rufen, dem er gewisse Zusicherungen gab, die sich aber auf die Unterzeichner eines der schimpflichen Kapitulationsdokumente zu beschränken scheinen, die er in Händen hat. Höchst auffallend ist, daß er sich bei dieser Gelegenheit über Adolf Schmidt und mich günstig ausgesprochen haben soll. Ich führte das zunächst auf schlechtes Gewissen zurück, da er uns in den Gesetzen gut zuhause weiß und wohl selbst fühlen mag, daß seine Zwangsmaßnahmen, um Geständnisse zu erpressen, eines der schwersten Amtsvergehn sind, das nach § 343 Str. Ges. B. mit Zuchthaus bis zu 5 Jahren bedroht ist. Was gestern geschah, läßt aber leider Rückschlüsse darauf zu, daß Murböck sich inkorrekt verhalten haben und uns, weil wir uns weiterhin freundschaftlich gegen ihn verhielten, auf Kosten andrer gelobt haben könnte. Zuerst erhielt Wiedenmann ein Verbot, die Werkstatt, in der er bis jetzt arbeitete, zu betreten. Sein Handwerkszeug – Privatbesitz – wurde von der Verwaltung in Verwahrung genommen. Irgendwelche Begründungen gab es nicht. Nach dem Mittagessen aber wurde Olschewski, Schwab und Sauber folgende Verfügung zugestellt: „An den F. G. Herrn ... Eine Reihe von Fest. Gef. des II. Stockwerks hat bei der Verwaltung Klage geführt, daß die Zustände im II. Stock der Anstalt unhaltbar seien und hat sich insbes. darüber beschwert, daß „eine Gruppe von Wahnsinns-Politikern“ unter ihnen sei, welche ein Interesse daran hätten, ihre eigenen Genossen nicht zur Ruhe kommen zu lassen. Als zu dieser Gruppe gehörig werden hauptsächlich Sie von diesen F. G. angegeben. Im Interesse der Ordnung der Anstalt werden Sie mit sofortiger Wirksamkeit nach Zelle XY des II. Stockwerks verlegt. N’feld, d. 7. 3. 21. Festungshaftanstalt. Vollmann.“ Die ihnen zugewiesenen kleinen Doppelzellen liegen alle auf einem und demselben Gang, den bisher schon Karpf, Wiedenmann, Hagemeister, Elbert, Egensperger und Nickl bewohnten, außer Nickl lauter V. besonders unangenehme Leute. Es ist also jetzt ein regulärer Wahnsinnswinkel in der Anstalt geschaffen und eine Gruppe von F. G. III. Ordnung qualifiziert worden. Jedenfalls plant der Mann gegen diese Genossen die ersten Sipo-Eingriffe. Aber daß grade Adolf und ich nicht dazu gesteckt worden sind, gefällt mir garnicht und macht mir Murböck verdächtig. Allerdings gehe ich nicht soweit, ihm beabsichtigte Verräterei vorzuwerfen, aber er wird sich verschnappt haben und Vollmann benutzte das gleich, seiner Taktik gemäß, um Maßnahmen daran anzuschließen und dabei denunziatorisch Denunziationen von F. G. des II. Stockwerks zu behaupten. Seine Absicht, die Gefangenen untereinander zu verhetzen, ist ihm über alle Beschreibung gut gelungen. Gegen die 13 Unterschriftsteller herrscht die denkbar größte Mißstimmung und die kleinliche Persönlichkeitspolitik, die grade die äußerlich Radikalsten charakterisiert, feiert Orgien. Die Atmosphäre ist höchst unerquicklich, und im I. Stockwerk, wo eine Menge verschiedener Resolutionen unterschrieben sind (Liste Niekisch-Reichardt, die offen eine Besserstellung gegen uns verlangt; Liste Klingelhöfer-Murböck, die wenigstens gleiche Behandlung aller F. G. fordert; Liste Valtin Hartig-Toller, die zwischen den beiden Kompromissen ein Kompromiß machen will; Einzelerklärungen des ganz verräterischen Daudistel, ferner Mairgünthers, Höcks und Walters) und wo 6 (seit gestern, wo Gnad noch zu uns herauf verlegt wurde, 5) Genossen – Rudolf Hartig, Podubetzki, Kolbinger, Seuffert und Förster – ihre Unterschrift verweigert haben, scheint die Stimmung nicht besser zu sein. Sogar in unsrer Gruppe machen sich die Differenzen fühlbar, da Olschewski Schmidt und mir Mangel an Solidarität vorwirft, weil wir Murböck nicht als überführten Verräter anerkennen wollen. – Die Verwaltung treibt inzwischen eine blanke Desperado-Politik. Egensperger, der Elsaß-Lothringer und mithin französischer Staatsbürger ist, hat der französischen Gesandtschaft geschrieben und von ihr Hilfe und Rechtsschutz verlangt. Der Brief wurde wegen der Briefsperre nicht befördert und sogar zu den Akten genommen. Sie lassen es auch auf einen Konflikt mit Frankreich ankommen. Es wird unsre Aufgabe sein, all das auszunutzen. Was wir erleben, stellt sich mir wie eine Wiederholung alles im Weltkrieg Erlebten vor. Dieselben Menschen, dieselbe Presse, die während der Kriegsjahre Va banque spielten und alles verloren, haben nur die Front verändert, und treiben ihr ganzes Spiel noch einmal, nur gegen das Proletariat des eignen Landes. Da wird gelogen und gefälscht auf Teufel komm raus, jedes Recht gebeugt und gebrochen, jedes Verbrechen begangen – und die Wirkung wird genau dieselbe sein: sie verlieren keine Schlacht, aber den Krieg. Ich habe stärker als je die Empfindung, daß diese Entscheidung nicht mehr sehr lange aussteht, obwohl ich auf das deutsche Proletariat zur Zeit wenig Hoffnung setze. – Inzwischen spukt mir ein Gedanke im Kopf herum, mit dem ich glaube, den Stein der Weisen gefunden zu haben, der wieder mal identisch ist mit dem Ei des Columbus. Nämlich: alle Internationalen haben sich bisher ihre Aufgaben falsch gestellt. Die politischen Zusammenschlüsse der proletarischen Revolutionsorganisationen sind nur nebenbei wichtig. Worauf es ankommt, ist mit einer wirtschaftlichen internationalen Verbindung dem Problem des Kommunismus direkt auf den Leib zu rücken. Es wäre notwendig, eine Internationale von Betriebsorganisationen zu gründen, die sofort im größten Maßstabe den wirtschaftlichen Mobilisationsplan für alle Länder zu entwerfen hätte, nämlich bis ins Einzelste hinein die Feststellung, wo Rohstoffe lagern, wo sie überflüssig sind, wo benötigt werden, welche Arbeitskräfte zur Verfügung stehn durch Nicht- oder Falschbeschäftigung, wie der Austausch zwischen revolutionierten Ländern zu regeln ist, wie die Produktion dem Bedarf angepaßt werden kann, was und wie sofort zu sozialisieren ist. Jeder Betrieb hätte Listen aufzustellen über Materiallieferungen und Absatz, der gesamte Verkehr wäre auf seine praktische Umstellung hin zu untersuchen, kurzum, der Aufbau müßte bis in die Dörfer hinein in allen Ländern vorbereitet werden, damit im Augenblick der politischen Revolution die konstruktive Arbeit sofort planmäßig von den Betriebs- und Bauernräten aus aufgenommen werden kann. Daran sind alle diese großen sozialen Bewegungen gescheitert, daß man das Wichtigste der augenblicklichen Eingebung überließ, während die Bourgeoisie beispielsweise den Krieg bis in die kleinsten Details vorbereitet hatte, sodaß jeder Soldat am ersten Mobilisationstage wußte, wohin er sich zu begeben habe, jeder Kaufmann wußte, was er in der ersten Stunde und an wen liefern mußte, jeder seine Aufgabe bis ins Gleichgültigste hinein vorgezeichnet fand. Stützt sich meine kommunistische Tatinternationale, die eine Räte-Internationale sein muß, ganz auf die schaffenden Kräfte selbst, so leistet sie die denkbar beste revolutionäre Erziehungsarbeit und verhindert von selbst die Etablierung einer Partei- oder Personen-Oligarchie. Es ist ja dumm und mir selbst kaum verständlich, daß ich erst jetzt auf die Idee verfalle, und es ist sehr möglich, daß die Revolution alle Vorbereitungsarbeiten überholt und uns wieder vor die Notwendigkeit stellt, Stegreifarbeit zu machen; aber ich finde, deswegen muß man doch versuchen, die statistischen und registratorischen Vorarbeiten zu machen, und also praktisch Revolution zu treiben auch ehe die Revolution da ist. – Wie immer, wenn ich eine Idee versuchen will, trug ich auch diese zuerst meinem Seppl vor, der ernst zuhörte. Dann sagte er nach seiner Gewohnheit einfach: „Stimmt“ – und da war ich zufrieden und sprach mit dem Bonz (Adolf) darüber, der, als er die Sache verstanden hatte, die Größe der Idee sofort begriff, aber sehr viele Schwierigkeiten voraussah, an denen ein solcher Plan scheitern könnte. Ich sagte ihm, daß ich das wisse, daß Millionen Detailbedenken erhoben und Millionen von Differenzen in Einzelfragen entstehn werden, aber ich setzte alledem mein eignes Wort entgegen: Die Gegenwart hat an die Zukunft keine Fragen zu stellen sondern Forderungen. – Sollte mein Gefühl sich bewähren und die Freiheit ist eines Tages da, dann fange ich, solange nicht unmittelbarer Revolutionsdienst zu leisten ist, mit der Propaganda dieser Idee an, zu der ich Syndikalisten und linke, parteifeindliche Unionisten zu gewinnen hoffe. Zu neuen Ufern –

 

Niederschönenfeld, Donnerstag, d. 10. März 1921.

Eigentlich müßte ich täglich mindestens zweimal das Tagebuch vornehmen, um wenigstens mit Vollmanns Ruchlosigkeiten einigermaßen mitzukommen. Die überstürzen sich derartig, daß wir jede Minute in der Erwartung leben, gleich müsse wieder etwas ganz Ausgefallenes gegen uns geschehn. Dabei läßt Pestalozza immer noch auf sich warten. Für Dienstag war er bestimmt angekündigt, statt seiner kam der telefonische Bescheid, er werde Donnerstag oder Freitag hier sein. Heute haben wir wieder mal vergeblich gehofft und meine Erwartungen, daß er morgen da sein wird, sind nach allen Erfahrungen recht mäßig. Inzwischen habe ich aber viel Material für ihn vorbereitet und eine große Menge von Niederträchtigkeiten schriftlich niedergelegt, die mir Seppl nach Diktat geschrieben hat. Abhilfe verspreche ich mir auch durch den Anwalt nicht, aber bei der steten Möglichkeit, daß wir Gewaltakten zum Opfer fallen können, will ich jedenfalls dafür sorgen, daß alles in knapper Darstellung außer dem Hause ist, sodaß dokumentarisch festgestellt werden kann, daß wir alles vorausgesehn haben und den Mördern nachträgliche Beschönigungen unmöglich gemacht sind. Trotz der streng durchgeführten Trennung der Stockwerke wissen wir natürlich, was unten vorgeht. Vorgestern fand dort eine Stockwerksversammlung statt, die sehr interessante Aufschlüsse schuf. Vollmann hat die Aufhebung allerlei schikanöser Gepflogenheiten denen zugesagt, die ehrenwörtliche Zusicherungen ihres Wohlverhaltens abgegeben haben, ohne sich dabei auf einen Solidaritätsstandpunkt zu versteifen – mit der Wirkung, daß nicht nur die Bande Niekisch, Reichardt, Seidl und Konsorten, von der nichts besseres zu erwarten war, ihre aufrechten Leidensgefährten preisgaben, sondern heute bereits alle Unterzeichner – einschließlich Murböck, Renner u. s. w. – soweit sind. Sie bekommen außer Aufhebung des Post- und Besuchsverbots wieder 6stündige Besuchszeit, für Gatten ohne Aufsicht, tolerante Paketkontrolle, werden nicht mehr im Kasernenhofton ans Gitter beschieden zur Entgegennahme von Mitteilungen, sondern die Aufseher müssen sich in ihre Zellen bemühn und sogar vorher anklopfen. Es kam bei der Auseinandersetzung im I. Stock auch heraus, daß Reichardt, unser großer Volksbeauftragter für Militärwesen, zu Vollmann gerufen war – ohne irgendwelche Legitimation andrer Gefangener – und daß ihm dabei die persönlichen Erklärungen Rudolf Hartigs (der erklärte, sein Verhalten in nichts ändern zu wollen), Walters (der seine Zurückverlegung zu den Böcken verlangte) und Kullmanns (der gegen die Belästigungen mit Unterschriftslisten protestierte) vorgelesen wurden, also wieder eine Verletzung der Amtsverschwiegenheit des Schnösels. Noch schöner: Vollmann hat Podubetzki zu sich kommen lassen und ihn darüber zur Rede gestellt, warum er keine Erklärung unterschrieben habe. P. hat sehr würdig geantwortet, weil er gesetzliche Behandlung zu verlangen habe und sich nicht mit entwürdigenden Bedingungen abkaufen lasse. V. soll erklärt haben, daß er alle Nichtunterzeichner zu uns herauf verlegen lassen wolle. – Gestern abend erlebten wir eine neue Überraschung. Zu den Mahlzeiten finden sich von jeher harmonierende Gruppen zusammen. Wir Tscheka-Leute haben uns seit unserm Umzug dazu den großen Gemeinschaftsraum ausersehn, wo ohnehin die meisten essen. Als gestern das Abendessen aufgetragen war, stand Schneider in der Tür und verlangte plötzlich von Karpf und Olschewski, sie hätten ihre Mahlzeiten künftig in ihrem (dem Wahnsinnspolitiker-)Gang einzunehmen. In den Seitengängen ist je eine Zelle zum Eßraum hergerichtet, indem darin ein längerer Tisch mit zwei Bänken den ganzen Raum ausfüllt. Einzelne Freundesgruppen benutzten diese Zellen auch, natürlich ohne Rücksicht auf die Wohnverhältnisse. Da der Befehl nicht schriftlich überbracht wurde, (auch heute noch nicht) wurde er vorläufig ignoriert. Es scheint mir aber, daß die Meinung, es sei persönliche Ranküne von Schneider, falsch ist. Vollmann wird doch dahinter stecken und die Verfügung von ihm wird wohl noch kommen. Warum? Vielleicht nur, weil er neuen Konfliktstoff schaffen will, da die bisherige Regelung der Dinge zu aller Zufriedenheit war. Aber der schon ausgesprochene Verdacht, daß gegen die zum Essen Abgesonderten, ein Giftattentat geplant ist, ist bei der Charakteranlage des Manns, so grotesk es scheinen mag, durchaus nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen. Möglich ist auch, daß mit den beiden Genossen nur ein Anfang gemacht werden sollte, und daß ein Erlaß bevorsteht, wonach jeder fortab in seinem Gange dinieren soll. Denn Vollmann liebt es, alle schikanösen Neuerungen löffelweise einzugeben. Er will jeden Tag seine Freude haben, uns zu beunruhigen und zu quälen. Jetzt eben ist großer Radau im ganzen Stockwerk. Es wird gehämmert, Möbel werden gerückt, man hört Obacht! rufen und alles ist in Bewegung. Die Scheidung der Böcke von den Schafen wird konsequent durchgeführt. Unser kleiner Gang ist gegenwärtig dran. Die Schafe darin, Paulukum, Gruber, Renner(!) Regler(!) Graßl(!!) waren brav und ziehn in den Mittelgang mit den großen Zellen. Dafür haben Kain, Duske, Seffert, Gnad und Ibel Wische erhalten, daß sie „im Interesse der Ordnung der Anstalt“ auf unsern Gang verlegt werden. Seppl ist traurig, weil er nicht dazu gehört; ich nehme an, weil unsre Freundschaft gehindert werden soll. Doch wird Duske am 6. April frei, da wird man ihn vielleicht mir wieder als Nachbarn gönnen; das wäre ein erwünschtes Geburtstagsgeschenk. Die Schafe erhalten hier oben ebenfalls alle Vergünstigungen, und es ist recht beschämend, daß Leute wie Murböck und Zammert den Vorteil wahrnehmen, der auf unsre Kosten erkauft ist. Ich fürchte allerdings, daß auch von den Rabiaten noch so mancher umfallen wird, um ihre Frauen unbeaufsichtigt empfangen zu dürfen. Wir haben da Weihnachten üble Erfahrungen gemacht (damals scheuten sich selbst Leute wie Hagemeister, Wiedenmann und auch Murböck nicht um den Beschluß, das „Entgegenkommen“ der Verwaltung abzulehnen und lieber nichts als eine dreckige Gnade anzunehmen). Wir paar Leute, die unsre Besuche abbestellten, waren die Angeschmierten. Ich habe Zenzl jetzt 4½ Monate nicht gesehn. Am 16ten will sie von Mannheim aus kommen. Ich zweifle, ob sie dürfen wird. Wenn aber Pestalozza wieder nicht kommt, kann ich ihr nicht einmal Bescheid geben, und sie wird die Reise machen und im Hause abgewiesen werden. Morgen soll nun die Uraufführung des „Judas“  wirklich stattfinden. Man hat mich gehindert, in irgendeiner Form noch Wünsche dazu geltend zu machen. Gott weiß, wie die Aufführung ausfallen wird. Da ich mich garkeinen Illusionen darüber hingebe, habe ich auch keine Angst. – Inzwischen schwelgt Deutschland in Hochgefühlen der Entrüstung. Simons ist in Berlin wie ein Vaterlandsretter empfangen worden (die Alldeutschen finden aber schon, daß er der Entente unwürdig weit entgegengekommen sei und wollen ihn fallen lassen). Der urgelungene Ebert mit seinem Reichskanzler, dem Liedervater Fehrenbach, läßt Durchhalte-Pronunziamenti los. Düsseldorf ist besetzt. Der Einmarsch in Süddeutschland wird angedroht. (Die „schwarze Schmach“ in München! – das wäre einen Schluck Wein wert!). Man mimt den Starken, Rückgratfesten, Unbeugsamen, (– und kujoniert hier drinnen diejenigen, die Rückgrat haben, mit Inquisitionsfoltern!) Der Gedanke, die Alliierten damit mürbe zu machen, ist kindisch. Sie werden Deutschland neu blockieren und die Entwaffnung erst recht durchführen, sei es selbst um den Preis eines neuen Krieges, bei dem Deutschland ja doch widerstandsunfähig wäre. – Über die neue Revolutionsbewegung in Rußland besteht noch immer keine Klarheit. Die Lenin-offiziöse Rosta publiziert Bulletins, die vollständig den Stil und die Aufmachung der üblichen Regierungs-Beschwichtigungen und Lügen haben. Ich glaube nicht, daß die angebliche Forderung auf Einberufung einer Konstituante und Wiedereinführung des Privathandels wirklich das Ziel des Aufstands ist. Daß die Kronstädter Matrosen, die in allen Phasen der russischen Revolution als die besten vornedran waren, die eigentlichen Träger der Bewegung sind, zeigt mir, daß der Angriff gegen die Verknöcherung und Versumpfung der Revolution, also gegen die Personen geht, die die Diktatur des Proletariats durch ihre eigne ersetzt haben und durch ihre Konzessionen an ausländische Kapitalistenkonsortien zur Ausbeutung russischer Naturschätze die kommunistische Idee preisgeben. Die Aussichten der neuen Bewegung sind von hier aus nicht abzuschätzen. Sicher ist mir nur, daß sie sich als vorhanden manifestiert hat und daß sie mit allem Blut, mag sie auch jetzt und noch öfter totgeschlagen werden, nicht mehr verschwinden wird, bis sie aus Rußland eine wirkliche Sowjetmacht gemacht haben wird. Für Deutschland würde das das Ende der kommunistischen Kompromißparteien bedeuten und der Weg der Revolution, wie ihn die freien Unionen gehn wollen, wäre bedeutend erleichtert, wobei ich die Gefahren neuer innerer Kriege für Rußland nicht verkenne, denn Polen, Frankreich und Amerika würden sich die Schwächung nicht entgehn lassen, um neuerdings die gewaltsame Wiederaufrichtung des Kapitalismus zu versuchen, an deren Gelingen ich aber nicht mehr glauben kann. – In Spanien ist der Ministerpräsident Dato ermordet worden. Revolutionsdonner überall. Das Gewitter läßt sich nirgends mehr verscheuchen. Es wird die Welt unwandelbar reinigen. Der schwüle Druck seiner Geburtswehen muß überstanden werden.

 

Niederschönenfeld, Freitag, d. 11. März 1921.

Pestalozza ist bis jetzt (11¼ Uhr) nicht gekommen, ist also wohl kaum mehr zu erwarten, und ich werde mir den neuen Anzug wieder ausziehn können. Wird uns eines Tages hier die Gurgel abgeschnitten, so haben wir dabei wenigstens das Bewußtsein, daß man draußen alles getan hat, um die völlige Interesselosigkeit daran uns noch zu dokumentieren. Die Reaktion fühlt sich wieder stark. Die Ablehnung der Pariser Bedingungen in London schwellt die nationalistischen Hochgefühle. Unsre Peiniger glauben schon wieder, ihnen kann keiner mehr an die Wimpern klimpern, ihre Einwohnerwehren, Orgesch, Sipo etc. seien für alle Zeit gerettet. Die Entente ist quantité négligeable. Sie werden bald genug erwachen. Diese Zeit muß noch überstanden werden, bis die Zwangsmaßregeln einsetzen, Blockade, Zollkonfiskation, Besetzung weiterer großer Gebiete, gewaltsame Entwaffnung, Prozessierung der Kriegsverbrecher von den Siegern. Dann läuft das Gefäß über. In wenigen Monaten werden sich unsre Gitter öffnen, – wenn wir es erleben. Der Sumpf im Hause stinkt zum Himmel. Vollmann – es muß ihm zugegeben werden, hat tatsächlich Charaktere gebrochen, die wir für fest hielten. Leute, die vier Kriegsjahre durch alle Strapazen überstanden, die dann tapfer für die Revolution im Kugelregen standen, – hier sind sie zusammengeknickt. Murböck ist da für mich die größte Enttäuschung; auch Renner und Regler. Graßl dagegen entlarvt sich jetzt erst richtig. Bisher hat er den ganz rabiaten Kommunisten gemimt. Erst jetzt, kurz vor seiner Entlassung (am 21ten), hat er erst seinen Austritt aus der VKP vollzogen, dann seinen Freunden erklärt, er wolle nichts mehr mit der Arbeiterbewegung zu tun haben und erschleicht sich jetzt zum Schluß noch durch entwürdigende Konzessionen Vorteile vor denen, die noch jahrelang aushalten sollen. Er möchte halt draußen sei’ Ruh’ haben. Eines Tages wird er wieder Anschluß finden, wo er herkommt, bei der weißen Garde. – Einzelne neue Lieblichkeiten. Ibel erlitt bei der Mitteilung, daß er seine Zelle räumen solle, einen Anfall (Schwindel, Kopfweh, Brechreiz) und mußte zu Bett gehn. Er hatte sich schon wegen ähnlicher Erscheinungen zwei Tage zuvor beim Arzt gemeldet, der aber nicht kam. Dieser Arzt hatte seinerzeit selbst angeordnet, daß Ibel wegen seiner sehr schwachen Lungen und vielen Krankheiten eine große Zelle haben müsse. Vollmann kennt ärztliche Anordnungen nicht, wenn er etwas durchsetzen will. Die Bude wurde einfach von Aufsehern ausgeräumt und Ibel im Bett in sein neues Loch hinübergetragen. Fetsch aber, der den Umzug leitete, machte angesichts des sich erbrechenden Kranken Andeutungen, er simuliere. – Heut früh hat Duske vom Gericht ein abenteuerliches Schreiben erhalten. Er wurde kürzlich zu 2½ Monaten Gefängnis wegen Beleidigung verurteilt und hat dagegen Revision eingelegt. Am 6. April ist seine Strafzeit herum. Das Gericht teilte ihm jetzt mit, daß er nach Ablauf der Festungsstrafe sofort in Untersuchungsh

 

Niederschönenfeld, Sonnabend, d. 12. März 1921

Mitten im Wort mußte ich gestern abbrechen: Pestalozza kam doch, und zwar unter besonders günstigen Umständen: es war grade von München eine Regierungskommission da, und P. konnte sich an Kühlewein halten und erwirkte von dem die Erlaubnis, ohne Aufsicht und ohne Kontrolle seiner oder unsrer Papiere mit beliebig vielen F. G. zu sprechen. Ich kam als erster dazu, ihm Beschwerden zu bringen und gab ihm einen großen Stapel Material mit, das nun für jeden Fall draußen liegt. P.s Meinung ist, daß wir, solange die derzeitige Regierung in Bayern besteht, garnichts zu hoffen haben. Die guten Bürger mit Einschluß aller Juristen billigen jeden Rechtsbruch, der an uns verübt wird, und die Arbeiterschaft ist apathisch. Er gab mir aber zu, daß allein die Tatsache seines Besuchs bremsend auf die Verwaltung wirken könnte. Aber ich will fortfahren, um einigermaßen mit den Schikanen Schritt zu halten, die Vollmann, wie jetzt feststeht, von den Unterschriftstellern wirksam unterstützt, gegen uns verübt. Also Duske wird sofort nach der Entlassung in Untersuchungshaft gesetzt, da das Gericht behauptet, er hätte gegen die 2½ Monate wegen Beleidigung nur Revision eingelegt, um Zeit zu gewinnen und zu flüchten. Wegen 2½ Monaten jahrelang illegal leben! Ein offenbarer Akt, Schutzhaftersatz zu schaffen. Bei Ochel hatten sie keinen Vorwand und sperrten ihn also ohne Umstände ein (er ist von Günzburg durchgebrannt und jetzt Abgeordneter der preußischen Landesversammlung geworden). Weiter: Gestern vormittag wurde unsern Genossen, die sich ihrer Gewohnheit gemäß ihre Lagerdecken mit in den Hof genommen hatten, das mitten während der Hofzeit verboten. Fetsch, begleitet von einem mit Gewehr bewaffneten Aufseher, sorgte für die Entfernung der Decken vom Hof. Heute folgte diesem Verbot das, Stühle von oben mit in den Hof zu nehmen. Nur die paar Bourgeois, die Privatsessel haben (Toller und Klingelhöfer) genießen das Vorrecht, draußen bequem zu sitzen. Da die aufgestellte Bank in einer Ecke steht, die vormittags im Schatten liegt, können wir uns überhaupt nicht mehr in die Sonne setzen. – Wir haben jetzt herausgebracht, daß die Umlegung der Genossen auf die Seitengänge auf die Erklärung von 6 Unterschriftstellern des II. Stockwerks zurückzuführen ist, die Vollmann mitgeteilt haben, daß sie die Festungsstrafe in möglichst angenehmen Formen zu verbüßen wünschen und daher die Umlegung etlicher Störenfriede, die V. namhaft gemacht wurden, beantragten. Wir haben gestern auch die Niekisch-Reichardtsche Erklärung zu Gesicht bekommen: ein schamloses Machwerk, das offen die Vergünstigungen nur für diejenigen beansprucht, die unterzeichnen und im übrigen ihr Ehrenwort verpfänden, das sie nie etwas schmuggeln und an Flucht nicht einmal den Gedanken führen wollten. Mir also wird zugemutet, mich schon jetzt ehrenwörtlich festzulegen, daß ich bis zum 21. April 1934 nie einen Fluchtversuch auch nur erwägen will. Immerhin ist jetzt eine klare Scheidung der Geister hier im Hause eingetreten, ein Boden geschaffen, auf dem sich die Rückgratfesten begegnen können. Ich habe vorgeschlagen, am Freitag nächster Woche, dem 50ten Jahrestag der Pariser Kommune, diese Solidarität durch eine würdige Feier zum Ausdruck zu bringen. – Noch etwas Nettes. Nickl hatte am 4. März auf Ansuchen die Erlaubnis erhalten, seiner Frau Mitteilung vom Schreibverbot zu machen und tat es am gleichen Tage. Vorgestern (nach 6 Tagen!) bekam er die Mitteilung, daß der Brief zu den Akten genommen sei, weil er unwahre Angaben enthalte und zumal dem Vorstand parteiische Behandlung der F. G. unterschiebe. Vollmann wagt also, seine provozierenden Herausforderungen eines Teils der Gefangenen und die ebenso provozierenden Bevorzugungen des andern Teils als unparteiische Behandlung zu bezeichnen. Heute haben die Unterzeichner von unserm Stockwerk nun auch die Erlaubnis bekommen, obwohl sie vormittags schon unten waren, nachmittags mit den Schafen von unten zusammen wieder hinunterzugehn; vermutlich werden sie von morgen ab nur noch mit ihnen gemeinsame Hofzeit haben. Doch soll V. beabsichtigen, den andern den großen Gemüsegarten zuzuweisen, sodaß wir unsern Hof dann allein hätten. Ferner hat er Nickl, der sich wegen der Briefzurückhaltung bei ihm beschwerte, angedroht, er werde bei uns auch noch die Ganggitter schließen lassen. Ob er das wirklich tun wird, bezweifle ich, da er dann ja für besondere Kochgelegenheit auf jedem Gang sorgen müßte. Heute war Menzel im Hause und empfing zum Generalrapport. Natürlich hat sich von uns Böcken keiner zu dem Menschen gedrängt, während die Schafe erstens die Kommission (Niekisch, Göpfert, Valtin Hartig – leider! – und Murböck – leider! – leider !!) zu ihm entsandten und zweitens noch einzelne von ihnen – Blößl in Gala! – spezielle Anliegen devot vortrugen. Wir leben nun in ständiger Erwartung der nächsten Nummer auf Vollmanns Walze. Ich aber warte außerdem auf Zenzls Telegramm über den Erfolg der Uraufführung in Mannheim. Jetzt ist es bald ½ 5 Uhr und noch keinerlei Nachricht da. Ich schließe daraus, daß nichts Erfreuliches zu berichten ist, was mich auch nicht wundert. Die Regiekunststücke, von denen ich Meldung erhielt, werden wahrscheinlich eher komisch als feierlich gewirkt haben, – und auf den Gang der Dinge noch in später Stunde einzuwirken, hat mir Vollmann ja unmöglich gemacht. Leider konnte ich daher auch Zenzl nicht bitten, mir auch im Falle des Mißerfolgs ehrlichen Bericht zu telegrafieren. Gott weiß, bis wann ich nun warten muß, ehe ich überhaupt etwas erfahre. Große Freude hatten wir, da aus Briefen an mehrere Genossen hervorgeht, daß die Arbeiterpresse schon wieder einen Artikel über Niederschönenfeld und gegen Vollmann gebracht hat. Gegen wen wird er nun ein Zeugniszwangsverfahren verhängen, da wir doch nicht mehr als Schmuggler in Betracht kommen können? Etwa doch gegen die Unterzeichner seiner Wohlverhaltensverpflichtungs-Erpressungen? – Das Vaterland ist kurioser zu beobachten als je. Die entrüsteten Patrioten schieben aber in unheimlicher Hast noch vor den Zollkonfiskationen möglichst viele Waren über die Grenze. Idealisten! – In Rußland scheint es sich in der Tat um eine Revolution von links zu handeln, gegen den wahnwitzigen Zentralismus, die Parteidiktatur und die Beamtenhierarchie. Wir sitzen zu weit von der Kampfstatt, um genau wissen zu können, wohin wir unsre Hoffnungen und Befürchtungen zu dirigieren haben. Leider aber kann man unter den Genossen das Thema kaum besprechen. Die Rosta-Meldungen werden als Evangelium angebetet, jeder glaubt was er wünscht und wünscht, was seine Partei ihm vorschreibt. Die Autorität, der offizielle Wert, die Parole von oben – Tod den Schurken, die etwas andres loben! Das wäre ein Spruch für die Deutschen; er paßt auf sie alle, ob sie Nationalisten und Rentiers oder Kommunisten und Arbeiter sind.

 

Niederschönenfeld, Sonntag, d. 13. März 1921.

Vollmann ist so forsch in der Tour, daß es unmöglich ist, einmal einen Tag mit der Eintragung auszusetzen, ohne den Faden zu verlieren. Gestern kam – nach 10 Wochen!! – Taubenberger aus der Einzelhaft wieder zum Vorschein. Vollmann war so boshaft, ihm Einblick in die Winseleien der Auch-Genossen zu geben. Es ist scheußlich, wozu sich Murböck mißbrauchen läßt. Er gehört tatsächlich zu den 6 Denunzianten, die die Verlegung von Kain u. s. w. vom Mittelgang verlangt haben. Wenden sich an diesen Menschen! noch dazu in dieser Zeit, wo wir als Opfer seiner Pressionen den schwersten Zwangsmaßnahmen unterworfen sind! Und ohne im geringsten provoziert zu sein. Die Differenzen wurden von Anfang an stillschweigend durch gegenseitiges Ignorieren ausgetragen – bis gestern, wo während einer Unterhaltung zwischen Wollenberg, der Hofzeit hatte und Günther, der vom Fenster aus hinunterrief und dabei die Aeußerung fallen ließ: „Jetzt lernt man die Lumpen kennen!“, Regler plötzlich aus einer Zelle hervorbrach und auf Günther einprügelte. Dabei war grade Regler gewiß nicht gemeint. Das ist ein grundguter Kerl, dessen Fehler nur seine sehr lockeren und sehr starken Fäuste sind. Er hält aus reiner schöner Freundschaft zu Renner zur andern Seite, wiewohl ihm sein Herz wohl sagen mag, daß er zu uns gehören müßte. Auch Renner bin ich nicht böse, obgleich er mich schon vorher ignorierte und über mich häßliche Gerüchte verbreitete: ich soll in Ansbach nur für meine Freunde (Hagemeister, Olschewski, Waibel) gesorgt haben und bei Geldverteilungen ihn, den Proletarier, links liegen lassen. Verrückt. Aber ich kenne den Hax zu gut, er hat sich von Graßl verhetzen lassen, außerdem hat das Pech mit seiner Frau und seine Krankheit ihm das Gemüt verwirrt. Ich hoffe, er wird es noch begreifen, wenn dieser Graßl nächste Woche aus dem Hause sein wird. Der hat ganz daneben gegriffen. Anscheinend hat er V. besonderen Grund zu Mißvergnügen gegeben (er soll beim Briefschmuggel reingefallen sein), jedenfalls hat er wie wir Brief- und Besuchsverbot und muß unsre Hofstunden teilen. Unten läuft er nun ganz isoliert herum, seine früher treuesten und von ihm überschwenglich verhimmelten Freunde wie Kain, Hagemeister, selbst Schwab, laufen ohne Gruß an ihm vorbei. Ich müßte mich besser machen als ich bin, wollte ich verschweigen, daß ich eine gewisse Genugtuung empfinde, daß er nun noch ganz kurz vor seiner Entlassung selbst ein wenig spürt, wie es tut, was er mir getan hat: wenngleich natürlich seine Situation mit meiner in Ansbach nicht zu vergleichen ist, denn er hat ja oben noch seine Freunde unter den Unterschriftstellern. Fast unerklärlich ist das Verhalten Murböcks. Der wird von der Verwaltung schon nahezu als Amtsperson behandelt. Jede Maßnahme wird von Vollmann zuerst mit ihm beraten und er gibt sich dazu her. Das ist Verrat – zweifellos, und doch ist er kein Verräter. Ich glaube nicht an seinen bösen Willen. Mit seinem gütigen Herzen hat er den Genossen Vorteile verschaffen wollen, seine Eigenschaft als Vertrauensmann der Gefangenen bei der Verwaltung gab ihm zuviel Gelegenheit zu Konzessionen, so bekam ihn der raffinierte Vollmann allmählich ganz in die Hand und nun kann er nicht mehr zurück. Mir gibts jedesmal einen Stich, wenn ich ihm auf dem Gang begegne und wir uns ohne Gruß ansehn. Aber ich darf da nicht als Psychologe handeln, sondern muß die Solidarität den Konsequenten gegenüber über alle Mitleidsgefühle stellen. – Also Taubenberger kam gestern nachmittag wieder herauf. Heute folgte ihm Erich Wollenberg – nach 7 Wochen Einzelhaft. Er hatte seine Zelle (in unserm Gang; auch er mußte umziehn) noch nicht betreten, da war schon Ablösung unten. Ibel wurde zu Vollmann hinuntergerufen – und kam nicht wieder zum Vorschein. Dagegen wurde seine Zelle, an deren Einrichtung er heute vormittag den letzten Hammerschlag gelegt hatte, von Aufsehern abgebaut und ausgeräumt und ihm sein ganzes Zeug hinunter in die Einzelhaft gebracht. Wir wissen noch nichts Genaues. Wahrscheinlich ist diese neue Brutalität wieder vom Arzt verschuldet. Am Tage nach seiner Zwangsübersiedlung hat er den zur Rede gestellt, ob eigentlich er oder Vollmann zu bestimmen habe, welche sanitären Maßnahmen zu treffen seien. Da wird sich dieser Musterarzt wohl wieder „belästigt“ gefühlt haben, und der Kranke wird jetzt nach echt Vollmannschen Methoden kuriert. – Zweck all dieser Schändlichkeiten ist natürlich: wir sollen mit aller Gewalt zu Unbesonnenheiten provoziert werden. Bei mir hat V. jetzt einen neuen Versuch unternommen, mich aus dem Häuschen zu bringen, der ihm aber nicht gelungen ist. Ich wartete gestern den ganzen Tag vergeblich auf ein Telegramm von Mannheim. Heute, etwa eine viertel Stunde vor Austeilung der Zeitungspost erhielt Karpf ein Telegramm von Thekla, in dem sie ihre Besorgnis ausdrückt, weil sie keine Nachrichten erhält. Es wurde ihm durch einen Aufseher extra überbracht. Ich nahm nun an, daß für mich also keine Depesche da sei und fürchtete, daß die Aufführung am Ende wieder abgesetzt worden sei oder die Katastrophe derartig groß gewesen sein müsse, daß niemand sich traute, mir telegrafisch Bericht zu geben. Dann kamen aber die Zeitungen (Briefe kommen Sonntags nicht). Darunter wurden mir zwei Telegramme übergeben. Das eine, aufgegeben in Mannheim gestern Nachmittag 5 Uhr 10 Minuten, hat folgenden Wortlaut: „5000 Besucher, durchschlagender Erfolg, großer Jubel. Wir freuen uns mit Dir. Zenzl. Fritz.“ Das andre, – auf das ich größeren Wert lege, da es weniger durch die Augen der Liebe verschönt erscheint, heißt: „Judas vor 4000 Personen gute Aufführung starker Eindruck. Gruß. Lederer.“ – Dieses Telegramm ist von der Anstalt mit dem Datum 12. März (also gestern) gestempelt. Der Kopf aber, aus dem ich ersehn könnte, um welche Zeit es abgesandt wurde, ist abgeschnitten. Ich soll nicht wissen, wie lange man mir die Meldung vorenthielt, die mir doch zu dem Zweck telegrafisch gesandt wurde, damit ich sie sofort nach Eintreffen bekäme. Aber daß man sie seit gestern liegen ließ, wird mir durch den Stempel noch ausdrücklich unter die Nase gerieben. V. hat mich wohl für eine Art Toller gehalten, der in seiner gekränkten Literatenwürde natürlich Bocksprünge gemacht hätte. Und mir einen Erfolg durch Einzelhaft versalzen – könnte es für V. einen schöneren Triumph geben? – Heute ist nun der Jahrestag des Kapp-Putsches; und wenn nicht viele Zeichen trügen, so stehn neuerdings große Dinge bevor. Die bayerischen Zeitungen patriotischer Observanz toben vor Wut: Überfall auf Bayern durch das Reich! Die Reichsregierung hat nämlich die ungeheuerliche Kühnheit, plötzlich die Entwaffnungsbedingungen der Entente durchführen zu wollen. Dazu muß sie bis zum 15. März ein Gesetz unter Fach bringen, worin die Auflösung aller Selbstschutzorganisationen unter Strafandrohungen und unter Unterbindung jeder Umgehungsmöglichkeit garantiert wird. Dieser Gesetzentwurf ist jetzt in 12. Stunde ans Licht befördert worden und muß also spätestens übermorgen schon angenommen werden. Er scheint in der Tat alles zu erfüllen – auf dem Papier! –, was die Entente fordert, wenn er auch nur Strafen bis zu 3 Monaten Gefängnis vorsieht (bei Roten Armee-Plänen gibt’s Zuchthaus). Der Konflikt zwischen Bayern und dem Reich ist nun also da, und schon hört man, daß Bayern eine Milderung schon des Entwurfs erzwungen habe. Dann wird nun aber Frankreich ungemütlich werden, – kurz und gut, wie man’s macht, ist’s verkehrt. Ich rechne damit, daß die Annahme des Gesetzes im Reichstag den neuen Rechtsputsch unmittelbar auslösen wird, was mindestens den Vorteil hätte, daß die ganze Bewegung wieder in Schwung käme. Wir stehn zweifellos den größten Entscheidungen gegenüber. Viel wird darauf ankommen, wie sich die neue Revolutionsbewegung in Rußland auswächst. Umgekehrt wird aber auch dafür die Gestaltung der Dinge in Deutschland mit entscheidend sein. Ich gebe der Regierung Fehrenbach-Simons im Reich und der Regierung Kahr-Roth in Bayern keinen langen Wechsel mehr. Im Frühjahr wird Tag.

 

Niederschönenfeld, Dienstag, d. 15. März 1921.

Der Erfolg in Mannheim war nach den brieflichen Berichten, die ich bis jetzt habe, tatsächlich sehr stark. Die Mitwirkenden und das Arbeiter-Publikum waren so bei der Sache, daß die armen Teufel, die die Soldaten spielten, wirklich verhauen wurden. Die Begeisterung soll mächtig gewesen sein. Ich warte aber noch die Presse ab, ehe ich mich irgendwelchen Siegesgefühlen hingebe. Es wäre schön, wenn sich Zenzls Meinung erfüllen würde, daß das Stück über viele Bühnen gehn müsse. Sie könnte eine kleine Kassenauffüllung gut brauchen. – Wie die Entwaffnungsdebatte im Reichstag ausgegangen ist, wissen wir noch nicht. Höchst albern ist jedenfalls in der Behandlung der Londoner Forderungen und Sanktionen die Haltung der Kommunisten. Die Deutschnationalen treiben die gleiche Illusionspolitik wie während des ganzen Kriegs, lassen sich von Phrasen und Studentenkundgebungen benebeln, machen aber mit ihrer halsstarrigen Vabanquepolitik immer noch eine weit bessere Figur als etwa die Sozialdemokraten. Die Unabhängigen machen reine pazifistische Politik, immerhin ein Standpunkt, wenn auch nicht meiner. Die Kommunisten dagegen proponieren den Bourgeois im Reichstag in Anträgen ein Schutz- und Trutzbündnis mit Sowjetrußland, weil sie anscheinend sonst überhaupt nichts wissen, stimmen aber im übrigen mit der USP, also für die Innehaltung der Verträge von Versailles und der Forderungen von Paris. Alles Drumrum ist leeres Gerede. Statt jetzt, auf die Gefahr hin, mit den Nationalisten in einen Topf geworfen zu werden – das fürchten sie wie die Pest – klare Katastrophenpolitik zu treiben, alles zu unterstützen, was die Konflikte zwischen den Kapitalisten der verschiedenen Länder fördern muß! Bedenkt man, wie sie seinerzeit die USP beschimpft haben, weil sie für den Versailler Vertrag eintrat und sieht, wie sie jetzt genau dasselbe machen, dann kann einem angst und bange werden. Aber die Beteiligung am Parlamentarismus mußte ja zur Aufgabe jeder prinzipiellen Revolutionspolitik führen. Bayern bleibt – gottseidank – „fest“: offene Fronde gegen die Reichsparolen. Unsre Knebeler sind unsre Befreier. Sie werden notwendig die schwersten Repressalien der Entente heraufbeschwören, das Elend wird dadurch grenzenlos werden, und die Revolution wird mächtig gefördert werden. – Im Hause wenig Neues. Ibel wurde, weil er Vollmann bei der Unterredung jedenfalls gründlich die Wahrheit sagte, gleich unten behalten, hat außerdem 8 Tage Hofentzug. – Einem Gerücht zufolge soll gegen uns Radikale ein neuer großer Schlag geplant sein. Man will von Attentatsabsichten gegen die Anstalt wissen und will angeblich mit dem Sprengstoffgesetz gegen uns anrücken. Es ist den Leuten kein Geschwätz zu blödsinnig. Wahrscheinlich soll wieder wie im vorigen Jahr „Material“ geliefert werden für die Notwendigkeit der Sipo und Einwohnerwehr. An der ganzen Geschichte ist nicht das geringste dran, aber ekelhaft ist, daß offenbar im Hause selbst derartige Albernheiten im Umlauf sind und das ganze auf Denunziationen von „Genossen“ zurückgeht (falls überhaupt was dran ist). Diese Leute sind durch Entgegenkommen jetzt soweit gebracht, daß sie uns andre glatt ans Messer liefern würden. Zu Ostern dürfen sie ihre Frauen ohne Aufsicht in den unbewohnten Zellen des I. Stockwerks empfangen, während wir ihnen nicht mal schreiben dürfen. Aber man lernt seine Leute kennen, das ist auch was wert, wenn auch nicht viel.

 

Niederschönenfeld, Donnerstag, d. 17. März 1921.

Gestern hätte Zenzl kommen sollen. Seit Anfang November habe ich sie nicht gesehn. Wieder nicht. Solche Dinge dienen immerhin zur Gedächtnisstärkung. Vollmann geht jetzt aufs Ganze. Er wirft jede Maske ab und bekennt sich offen als Vollzugsorgan einer bestimmten politischen Richtung. Für Olschewski kam ein Paket vom Verlag Francke in Leipzig, enthaltend „Russische Korrespondenz“, „Internationale Rundschau“ etc., Bücher im Wert von etwa 2000 Mark zur Verteilung. Statt der Bücher erhielt er einen Zettel. Das Paket sei an den Absender zurückgesandt worden, da sein Inhalt nur kommunistische Literatur enthalte, deren Aushändigung dem „Strafzweck“ nicht entspreche. Also offene Parteinahme gegen eine bestimmte Richtung, wie denn die Pression durch Brief- und Besuchssperre fast alle Kommunisten trifft, dagegen keinen einzigen Unabhängigen. Graf Arco unterschreibt öffentlich Aufrufe für die Bayerische Königspartei. Das ist mit dem Strafzweck des republikanischen Freistaats Bayern vereinbar. – Die Leute treiben ein verwegenes Spiel. Es ist wie im Krieg. Im August 1918, wenn ich nicht irre, sprach Kühlmann das Wort von dem „uns nicht mehr entreißbaren Sieg“ ... Jetzt hat am letzten Sonntag in München eine Straßendemonstration gegen die Entwaffnung stattgefunden. Kahr hat dabei die Entente-Leute als Gauner beschimpft und dann im Landtag eine Rede gehalten, in der er, ohne es in klare Worte zu fassen, doch recht deutlich zu verstehn gab, daß Bayern sich den Gesetzen der Reichsregierung nicht fügen werde. Die Gesellschaft merkt garnicht, daß sie nur noch mit einer halben Arschbacke auf ihrem Thrönchen sitzt. Das Entwaffnungsgesetz im Reichstag, das bis zum 15ten März verabschiedet sein sollte, wurde einer Kommission übergeben, – gegen Simons’ Warnung, aber mit Zustimmung der Sozialdemokraten. Jetzt haben die guten Leute wieder 8 Tage Ruhe – gottseidank. Die einzige Kunst, die deutsche Politiker verstehn, eine Sache immer wieder noch etwas hinauszuschieben. Wenn sie Zeit gewinnen können, verlieren sie darüber Hose und Hemd. Natürlich wird die Entente mit Recht die Nichtinnehaltung des gegebenen Termins – des ersten in der langen Reihe – als Mangel am guten Willen betrachten und entsprechende Maßregeln verhängen. Dann wird wieder das Gezeter losgehn über die ruchlose Niedertracht der Sieger – und so gehts weiter. Den Mut aber, zu dem die Alldeutschen auffordern, den Versailler Vertrag offen als nicht mehr bindend zu betrachten, bringen sie nicht auf. Sie könnten dabei wenigstens ein wenig Respekt retten, der bei dem feigen hinterhältigen betrügerischen Verhalten der Regierung völlig vor die Hunde geht. Über Kahrs Gauner-Rede bin ich ganz glücklich. Die Bedenken, die die Alliierten bis jetzt gegen ein direktes Vorgehn gegen die Bayern hatten, werden dadurch zweifellos beseitigt werden. Die Besetzung der Mainlinie ist nur noch eine Frage kurzer Zeit. Bestätigt es sich überdies, daß die Tschecho-Slowakei gegen Deutschland mobilisiert, so kann das nur bedeuten, daß die Besetzung Bayerns als nächste Nummer auf dem Programm steht. Ich gebe der Regierung Kahr nur noch ganz wenige Wochen Lebenszeit. Ihr Ende wird aber auch für uns hier drinnen wenn nicht gleich für alle die Freiheit, so doch bestimmt eine entscheidende Wendung zum Besseren bringen. Der Erpresser Vollmann wird ohne diese rechtsbrüchige Regierung natürlich keine Stunde im Amt bleiben können. Ich bin entschlossen, die Geduld nicht zu verlieren, denn ich weiß, daß die Feinde trotz aller Brusttöne ihrer Herrlichkeit schon recht asthmatisch sind. Ich will ihr Verröcheln mit Vergnügen genießen.

 

Niederschönenfeld, Sonnabend, d. 19. März 1921.

Die Infamieen gegen uns folgen einander ohne Unterbrechung. Adolf Schmidt ist ein ganz erbärmliches Stück geliefert worden. Obwohl eine Verfügung bestehn soll, daß die Strafvollstreckungskosten nicht während unsrer Strafzeit eingetrieben werden dürfen, ließ das Finanzamt ihm eine Rechnung von 1995 Mark zustellen und zu ihrer Deckung seine Landtagsdiäten, etwas über 1000 Mark beschlagnahmen. Auf Schm.’s Beschwerde teilte ihm die Landtagsverwaltung mit, daß die Diäten unter keinen Umständen pfändbar seien. Er wies daher die Verwaltung an, das Geld seiner Frau zu senden. Vollmann ignorierte diesen Auftrag einfach – womit er also offen die bisherige Übung, wonach unser Geld nur für uns „verwaltet“ wird, aufhebt und selbständig und gegen unsern Willen darüber verfügt, – also Vormundschaft über uns verhängt. Jetzt ist das Geld auf Antrag des Stadtmagistrats Kempten tatsächlich gepfändet worden. Vollmann hat es demnach dem Gerichtsvollzieher direkt und widerrechtlich in die Hände gespielt. Damit nicht genug wird der Rest der Summe, die Schm. zahlen soll – mit den inzwischen entstandenen Kosten natürlich schon weit über 2000 Mark – bei seiner Frau gepfändet, ihr also womöglich der letzte Stuhl aus der Wohnung geschleppt und nicht etwa auf die nächste Diätenrate des Landtags gewartet. Der Mann sitzt hier drinnen, von der Arbeit ferngehalten und durch Vollmanns Erpressung außerstande, auch nur Ratschläge an die Frau zu schreiben, die mit den Kindern in die Gefahr gerät, heimatlos zu werden und, falls ihr das Temperament durchgeht, eingesperrt zu werden und die Kleinen völlig preiszugeben. Dabei glauben viele Frauen draußen, daß auch sie nicht schreiben dürfen, und so warten die Genossen, die sie selbst nicht orientieren können, in täglich wachsender nervöser Angst auf Nachricht. Seppl hat seit Wochen von seiner Marie nicht gehört, ebensowenig Schmidt von seiner Anna u. s. w. Die Herren Festungsgefangenen I. Klasse jedoch profitieren freudig lächelnd von diesen Bedrückungen gegen uns für ihre eignen Personen. Sie dürfen zu Ostern Besuche ohne Aufsicht im ersten Stock empfangen, denen sogar gemeinsames Mittagessen im Gang bewilligt ist. Offenbar hofft Vollmann, unsre Wut würde dann zu Ausbrüchen führen, die seinen dunklen Plänen Vorschub leisten können. Er wird sich täuschen. Unten wird jetzt auch die Absperrung der Scherengitter zwischen den einzelnen Gängen unterlassen; für die Hofzeit gibt es gar 3 verschiedene Behandlungen. Wir haben 3½ Stunden (wahrscheinlich durch Eingreifen des Arztes wöchentlich abwechselnd die Vor- bzw. Nachmittage). Das untere Stockwerk hat außerdem noch 1 Stunde mittags von ½ 1 – ½ 2 Uhr, und die Unterschriftsteller hier oben können hinunter, wenn überhaupt Hofzeit ist, also statt der 6 Stunden früher jetzt 8 Stunden, – und machen Gebrauch davon. Auch das Schreibverbot wird verschieden gehandhabt. Wollenberg und Taubenberger haben, obwohl sie doch in Einzelhaft waren und für den Artikel überhaupt nicht in Verdacht sein können, die Schreibberechtigung auf zwei Briefe wöchentlich beschränkt erhalten, ebenso Walter, der vor einigen Tagen vom 1. Stock wieder heraufversetzt wurde, und Podubetzky, der ihm gestern folgte, weiß noch nicht, ob bzw. wieviel er schreiben kann. Unten sind nur noch ganz wenige, die Charakter wahren. Klingelhöfer, der doch die zweite Resolution mit Murböck selbst verfaßt hat, soll Angst vor den eignen Taten gekriegt haben. Nun, der Mann ist für mich schon aus früheren Fällen erledigt. Auch mit Toller, der alle Vorteile auf unsre Kosten nützt, will ich nichts mehr zu schaffen haben. Leider muß ich auch mit Valtin Hartig brechen, der mir persönlich immer lieb und wert war. Aber er ist ganz im Bann von Niekisch, der ein Lump ist und mit dem fast pathologischen Verräter Daudistel zusammen jede auch nur formale Aktion zu unsern Gunsten bei der Verwaltung glatt ablehnt. Daß dumme Jungen wie Vogl etc. derartiges mitmachen, nehme ich nicht tragisch, und wenn gute Genossen wie Kolbinger schließlich ihre Unterschrift hergegeben haben, so möchte ich noch nicht gleich den Stab brechen. Paul Förster hat eine eigne Erklärung für sich hinuntergeschickt. Daß er sich im ganzen charaktervoll hält, ist mir so gewiß, daß ich jedem, der es hier oben anzweifelt, grob komme. Aber er hat ein Bewährungsfristgesuch laufen, und da muß er halt doch Konzessionen und Kompromisse machen. Man soll dem Teufel nicht den kleinen Finger hinhalten. Nach Podubetzkys Heraufverlegung (die offenbar von den „Genossen“ unten verlangt worden ist; sie erfolgte am Tage nach einer erregten Sitzung unten, bei der sich P. energisch für uns eingesetzt hatte) ist nur noch Kullmann unten, der ganz blank dasteht, keine Erklärung unterzeichnet hat und garkeine Kompromisse in der Sache eingegangen ist. Er hat schon seine Strafe weg: 3 Monate Festungshaft. Ihm war zum 1. April Bewährungsfrist bewilligt worden; heute erhielt er den Bescheid, daß ihm die „Gnade“ wieder entzogen sei. Da er nur noch 3 Monate vor sich hat, wird’s ihm nicht sonderlich weh tun, aber bezeichnend ist, daß unten allgemeine und garnicht verheimlichte Freude herrscht. Es ist weit gekommen mit unsern herrlichen Räterevolutionären, – und ich bin manchmal sehr traurig. Der arme Renner zum Beispiel: nie hätte ich geglaubt, daß ihm so die Flügel brechen könnten. Und Murböck und wie viele noch! Und wer weiß, wer noch alles umfallen wird. Wenn sie zu Ostern das heiße Weiberfleisch im Hause riechen werden – wer weiß, wer noch zu Kreuze kriecht. Aber immer weg damit! Es ist gut, einmal genau zu wissen, auf wen sich die Revolution verlassen kann.

 

Niederschönenfeld, Sonntag, d. 20. März 1921.

Heute ist die Volksabstimmung in Oberschlesien. Es wird sich zeigen, ob der ungeheure Tamtam, mit dem alle Welt von Deutschlands Heldensinn, Edelmut, Anmut, Bedauernswürdigkeit, Ungebrochenheit, Aufrichtigkeit, Reichtum, Friedfertigkeit, Kriegsentschlossenheit, kurzum seiner Würdigkeit, Oberschlesien zu behalten, überzeugt werden sollte, wenigstens auf die Abstimmungsberechtigten soviel Eindruck macht, daß sie ihre Gendarmen von früher wiederwählen. Zu prophezeien gibt es da garnichts. Die Presse hat einen so in Lügen eingewickelt, daß sich kein Mensch auskennt. Angenommen, Oberschlesien bleibt dem Abstimmungsresultat nach deutsch, so ist damit noch garnicht gesagt, daß es wirklich deutsch bleibt. Denn der Versailler Vertrag bestimmt, daß die Alliierten nach der Abstimmung immer noch nach eignem Gutdünken entscheiden können, und sie werden zweifellos so entscheiden, daß das Land ihrem Einfluß und ihrer wirtschaftlichen Diktatur unterworfen bleibt. Sie werden also entweder einen autonomen Staat daraus machen, was das Wahrscheinlichste ist, oder sie werden es bei Deutschland lassen, unter der Bedingung, daß es von Preußen getrennt und eigner Bundesstaat wird, der durch Ententegesandtschaften etc. entsprechend bearbeitet wird. Fällt hingegen die Abstimmung zugunsten Polens aus, so scheint eine Desperadoaktion der deutschnationalen Militärs bevorzustehn. Es heißt, sächsisches und bayerisches Militär liege an der oberschlesischen Grenze und werde einmarschieren. Das wäre der casus belli. Eben wird bekannt, daß zwischen Polen und der Tschecho-Slowakei ein Abkommen mit der Spitze gegen Deutschland perfekt geworden sei, so gewinnt die Mobilisation in Tschechien bedeutend an Wahrscheinlichkeit. Gestern habe ich mir auf der Karte die bayerisch-böhmische Grenze angesehn. Die ist so lang, daß ein Einmarsch tschechischer Truppen in Bayern binnen wenigen Tagen das ganze Land besetzt machen könnte. – Wie es auch wird, unsre Patrioten, die nur noch mit Jammern und Winseln Politik treiben, werden sich wieder grauenhaft aufführen. – Unterdessen werden sehr interessante Börsenereignisse gemeldet. Vor der Londoner Konferenz sank die deutsche Valuta plötzlich erheblich: natürlich hatte man fremde Devisen gehamstert oder deutsche Noten massenhaft abgeschoben, um möglichst arm, zahlungsunfähig und bejammernswert vor den Gläubigern zu erscheinen. Nach der Konferenz dagegen trat merkwürdigerweise garkeine Verschlechterung, geschweige der erwartete allgemeine Kurssturz ein. Offenbar ist auch das durch Manöver bewerkstelligt haben[worden] – man wird die gehamsterten Devisen halt ins Ausland verkauft haben –, um dem deutschen Volk zu zeigen: seht ihr, wie fest wir noch immer auf den Füßen stehn. Grade weil wir abgelehnt haben, kriegen wir weiterhin Kredit. Jetzt kommt aber die Meldung, eine Reihe großer deutscher Banken, darunter die Reichsbank, lehne die Annahme englischer und französischer Schecks ab. Das wird damit begründet, daß nach den Beschlüssen von London als Sanktion 50 % aller von Deutschland an die Alliierten zu zahlenden Gelder für die Entente beschlagnahmt werden, man also nicht wisse, ob man für die ganze Summe des Schecks gesichert ist. Das ist Unsinn. Erstens brauchte man ja die Schecks nur auf die halbe Summe auszustellen, dann genügte telefonische oder telegrafische Anfrage um zu erfahren, welche Deckung für die Bank besteht. Mir kommt vor, als wolle man den Staatsbankrott beschleunigen, da man ihm doch auf die Dauer nicht entgehn kann und inzwischen infolge der Londoner Bestimmungen nicht mit genügendem Profit arbeiten kann.

Lange Unterbrechung. Fortsetzung am Nachmittag. Inzwischen kamen Zeitungen. Der Reichstagsausschuß hat die Formel gefunden, auf der sich Reich und Bayern in der Entwaffnungsfrage einigen können. Es wird darin nichts mehr von Verboten gesprochen sondern nur bestimmt, daß Organisationen, die nach § soundso des Versailler Vertrags unzulässig sind, aufgelöst werden müssen. Da Kahr und Genossen behaupten, die Einwohnerwehren widersprächen diesen Paragraphen nicht, sollen sie also bleiben. Bestraft sollen nur Mitglieder von „aufgelösten“ Vereinigungen werden, und zwar ist auch da außer Geldstrafen und Gefängnis bis zu 3 Monaten (des Dekorums wegen) Festungshaft ebenfalls bis zu 3 Monaten vorgesehn. Der Sipo-Offizier riskiert also 3 Tage Arco-Haft mit Sekt, Weibern und Tanzvergnügen. Was die Entente zu dieser neuen Verhöhnung sagen wird, interessiert die Leute nicht. Zunächst haben sie mal vor den armseligen Deutschen den Schein gerettet, und sie bilden sich ja immer ein, daß die Franzosen und Engländer sich ebensoleicht betrügen lassen wie ihre eignen von bestochenen Journalisten verblödeten Lämmer. Zunächst drücken sie sich also um die Auflösung der Organisationen mit Buchstabenklaubereien herum, dann bedrohen sie die Mitglieder der aufgelösten Organisationen mit einer Strafe, die niemanden schreckt, da ja keiner befürchten muß, nach Niederschönenfeld zu kommen. Ich erwarte ein Ultimatum der Entente auf diese Provokation (daß das Reichstagsplenum andres beschließen wird als der Ausschuß, ist kaum anzunehmen). – Noch was Schönes: der Oberleutnant Hiller, der Menschenschinder aus den Karpathen ist wieder mal abgeurteilt worden. Urteil: 6 Monate Festung. Somit hat die gräßliche Ermordung des armen Helmhake ihre „Sühne“ gefunden. Eine so völlig unverhüllte Korruption der Justiz wie im gegenwärtigen Deutschland hat die Welt noch nicht gesehn. Herr Hauptmann Kessel steht wegen seiner Aussage im Marloh-Prozeß auch wieder mal vor Gericht, wegen Meineids. Die Geschichte sieht windig aus für ihn, zumal der Staatsanwalt aus irgendwelchen politischen Gründen ausnahmsweise nicht als Verteidiger des patriotischen Mörders auftritt. Nun, das Gericht hat den Mann gegen eine Kaution von 150.000 Mark aus der Haft entlassen. Wenn’s schief geht, verschwindet er halt. Sein Gesundheitszustand verlangte die Befreiung. In der Ehrenhaft Niederschönenfeld ist Krankheit ein Grund zur Disziplinierung; siehe Ibel. Seppl, der schwer nervenleidend ist, wofür x ärztliche Zeugnisse zeugen, kriegt die Bewährungsfrist, die ihm das Gericht zugesprochen hat, entzogen und Urlaub wegen Krankheit wird grundsätzlich nicht bewilligt. Wären wir meineidige Patrioten oder Meuchelmörder, wärs natürlich was andres. – Schlimm ist nur, daß auf die Arbeiterschaft garkein Verlaß ist. Unsre Hoffnungen müssen sich ganz auf die alliierten Imperialisten gründen, mit denen wir zufällig den Feind gemeinsam haben. Auch Individualakte bleiben so gut wie ganz aus in Deutschland. Das Attentat in der Berliner Siegessäule weist sich anscheinend als Bierulk aus, und wenn bei uns schon mal ein Terrorist auftaucht, so ist es ein Armenier, der in Charlottenburg den türkischen Henker Talaat Pascha umbringt. Levi und die Seinen lehren ja auch, daß Individualterror konterrevolutionär ist. – Der Aufstand in Rußland scheint vorläufig zugunsten der Bolschewiki niedergeschlagen zu sein. Wenigstens wurde Kronstadt von ihnen eingenommen. Aber ich glaube nicht, daß die Bewegung damit erledigt ist. Sie soll schon nach dem Süden übergegriffen haben, und jedenfalls hat sie gezeigt, daß Arbeiter und Bauern Räte- und keine Parteidiktatur wollen. Wir haben für unsre künftige Revolution viel davon zu lernen. – Schließlich mein „Judas“. Die Bourgeoispresse verreißt das Stück unisono und zwar sind alle Kritiken einmütig auf den Ton gestimmt: Volksversammlungs- und Leitartikel-Theatralik. Ich habe die Empfindung, daß eine Kritiker-Vereinbarung getroffen wurde; denn das Interessante ist, daß diese Blätter kein Wort von der Aufnahme beim Publikum bringen, die in der Tat überschwänglich gewesen sein muß. Die Rote Fahne, bis jetzt als einziges Blatt, das ich zu sehn bekam, bringt eine ausgezeichnete Besprechung. Doch hat noch keiner bemerkt, worauf es mir ankam, was der Titel bedeutet, und worauf im Text mehrfach sehr deutlich hingewiesen wird: die Konformität der Handlung mit der biblischen Judas-Legende.

 

Niederschönenfeld, Donnerstag, d. 24. März 1921.

Über 4 Wochen habe ich jetzt keinen Brief mehr schreiben können, kann wichtige Anfragen nicht beantworten, für Paketsendungen nicht danken und keine Erklärung für mein Schweigen hinausgelangen lassen. Einen jungen Dichter, der zu einem Vortragsabend die Erlaubnis von mir erbat, einige meiner Gedichte vorzutragen und per Eilbrief und unter Beifügung von Rückporto geschrieben hatte, wollte ich, um ihn vor Schaden zu schützen, durch Taubenberger, der zweimal wöchentlich schreiben darf, verständigen lassen. Er erhielt die Karte mit dem Vermerk Vollmanns zurück, daß er die ihm erteilte Erlaubnis nicht dazu mißbrauchen dürfe, das Schreibverbot gegen die andern hinfällig zu machen. Bisher hatten wir, wenn Schreibverbot verhängt war, ungehindert durch andre schreiben lassen können. Die Gegenpartei erhält dagegen immer weitere Vergünstigungen und mißbraucht sie zu unserm Schaden. Ein Brief, den Nickl erhielt, beweist, daß man seiner Frau unter einseitiger Darstellung der Dinge denunziatorisch geschrieben hat; sie macht ihm Vorwürfe, daß er zu den „Hetzern“ halte. Erfreulicherweise sind, wie wir erfahren, auch neuerdings wieder Artikel über unsre Lage in der Presse erschienen, und sogar eine namentliche Aufzählung der Aufrechten und der Vollmann-Verbündeten veröffentlicht. – Zenzl ist tapfer und stark, das macht mir alles leicht. Denn die Abschneidung der Möglichkeit, ihr zu schreiben, steigert an und für sich erheblich die Sehnsucht, und der Blick durch die vergitterten Gangfenster ins Freie – ringsum nichts als freies Feld, man konnte unsre Internierung nicht raffinierter einrichten als in dieser Einöde – ist wenig geeignet, Heimatgefühle für Niederschönenfeld zu wecken. – Doch glaube ich bestimmt, daß die längste Zeit unsrer Qualen überstanden ist. Die deutschen Patrioten lassen auch jetzt wieder keine Dummheit aus, um die Alliierten zu reizen. Das gilt für ganz Deutschland, es gilt besonders auch für Bayern. Die Abstimmung in Oberschlesien hat eine deutsche Mehrheit (60 % zu 40 %) ergeben. Darob zuerst ungeheurer Jubel, der jetzt angesichts der polnischen Gegenagitation, in wahnwitzige Wut gegen Polen und die gesamte Entente umschlägt. Daß die Entente auch nach der Abstimmung nach Belieben entscheiden kann, hindert die Trottel nicht, schon den Gedanken, es könnte eine Teilung Oberschlesiens gemäß dem Stimmenverhältnis vorgenommen werden, als neuen Gewaltplan zu beschimpfen. Tatsache ist, daß das flache Land und ebenso die Industrie-Gegenden vorwiegend polnisch gestimmt haben und die deutsche Majorität auf den städtischen Wählern ruht. Geht die Hetze weiter wie bisher, so nehme ich an, wird man auf Teilung verzichten, Deutschland garnichts geben und die Autonomie des Landes unter Anschluß an die kleine Entente dekretieren. Die Polen sollen gewaltigen Terror gegen die Deutschen üben, doch nehme ich an, daß sie dasselbe von den Deutschen behaupten, und wahrscheinlich sprechen dabei beide die Wahrheit. – Gestern sollte von den Reparationen die erste Goldmilliarde von Deutschland bezahlt sein. Selbstverständlich schickt man statt Gold eine „Note“, die keine Banknote ist, und selbstverständlich wird dieser neue Verstoß gegen die Ententebefehle mit neuen „Sanktionen“ beantwortet werden, also voraussichtlich Neubesetzungen im Ruhrgebiet oder sonstwo. – In der Entwaffnungsgeschichte gehn die Dinge in der Tat weiter, wie vorauszusehn war: die Kahr-Regierung erklärt, sie gehe das ganze nichts an und denkt nicht an Auflösung der E.-W., der Orgesch und der Sipo. Sie bilden sich ein, die Entente werde weiterhin ruhig zusehn, wie sie ein neues 1813 vorbereiten. Nun, der erste böhmische Soldat, der die bayerische Grenze überschreitet, wird die Herren Kahr, Roth, Pöhner und Konsorten von ihren Thrönchen schmeißen. Diese Regierung wird das Frühjahr nicht mehr überleben, und wir hier werden einen weiteren Winter auch nicht mehr durchmachen müssen. Inzwischen strengt sich die norddeutsche Konterrevolution ebenfalls an, die Unentbehrlichkeit der Sipo zu beweisen. In Mitteldeutschland (Eisleben, Merseburg, Halle, Mansfelder Bezirk) treten provokatorisch grüne Truppen auf, und Herr Hörsing, der seine Noske-Tätigkeit aus Schlesien, wo er genügend Arbeiterleichen auf dem Gewissen hat, als Oberpräsident in die Provinz Sachsen verlegen mußte, will doch jetzt den Mord im Großen von neuem beginnen. Die Mansfelder Streikbewegung soll blutig bezwungen werden. Die Sozialdemokraten und Unabhängigen haben schon Partei genommen, – natürlich gegen die Arbeiter, und die Kommunisten reißen das Maul ungeheuer weit auf und erklären zugleich, daß eine revolutionäre Aktion noch nicht in Frage komme. Die Arbeiter sind mal wieder nicht „reif“. Bedeutendere Bewegungen werden zugleich aus Hamburg gemeldet, wo die Arbeitslosen anscheinend die Besetzung der Werften vorhaben. Es deutet alles darauf hin, daß wir wieder dicht vor schweren Kämpfen zwischen Kapital und Proletariat stehn. Gelingt es, diese Kämpfe vom Einfluß der VKPD zu befreien, so brauchte man nicht am Ausgang zu verzweifeln. – Aber leider hält man in Deutschland diese Gesellschaft immer noch für revolutionär. – Im Hause wenig Veränderungen: Gestern hat Graßl seine Zeit hinter sich gehabt. Gottseidank! Ich bin froh, den widerlichen Verräter nicht mehr zu sehn. Mag er jetzt draußen gegen mich hetzen, – er hat noch in den letzten Wochen dafür gesorgt, daß alle seine früheren Freunde ihn richtig erkennen konnten. Seine Verabschiedung von Vollmann soll recht interessant gewesen sein. V. soll ihm in seine Pläne ziemlich deutlich Einblick gegeben haben. Er werde das Schreibverbot noch sehr lange aufrecht halten, obwohl er an 4 Artikeln, die seitdem wieder erschienen seien, sähe, daß sie nicht in der Anstalt verfaßt seien. Ferner wünsche er, daß ein Zusammenstoß hier oben zwischen uns und den Seinen ihm Anlaß geben könnte, eine Meuterei daraus zu konstruieren, so werde er diejenigen, auf die er es abgesehn hat, doch noch ins Zuchthaus bringen können etc. Natürlich wird Graßl beim Wiedererzählen dick aufgetragen haben, auch wird bei der Umständlichkeit der weiteren Übermittlung allerhand dazu gedichtet und kombiniert sein. Aber daß V. überhaupt mit dem Kerl sich kameradschaftlicher ausgelassen hat als mit andern, glaube ich aufs Wort, auch daß Graßl sich höchst gesellschaftlich dabei benommen und gefühlt hat (ich erinnere mich an V.’s Abschied von Ansbach, wo ich mitten in die liebenswürdigste Unterhaltung zwischen den beiden hineinplatzte und den richtigen Ton erst angab). Und auch das glaube ich, daß Vollmann den Graßl eingeladen hat, ihn doch mal in München zu besuchen, daß er ihm seine Genugtuung ausgesprochen hat, wie er den Weg zur Tugend – zur Bourgeoisie! – zurückgefunden habe, und daß Graßl das alles freudig quittiert hat und den Schinderknecht von Niederschönenfeld ungeachtet seiner degenerierten Ohren in München zu seinem Spezi avanzieren lassen wird. – Heute geht vom 1. Stock auch Kaltdorf fort, – und zwar zunächst nach Stadelheim, wo er noch 4 Monate wegen irgendwelcher Betrügereien abzumachen hat. Diesem „Romanschriftsteller“, von dem noch niemals jemand eine gedruckte Zeile gesehn hat, braucht kein langer Nekrolog geschrieben zu werden. Es genügt die Feststellung, daß er ebenfalls, obwohl er nur noch lumpige 3 Wochen vor sich hatte, die ehrenwörtliche Versicherung zum Wohlverhalten abgegeben hat, aus der der Strick um unsre Hälse geflochten ist. – Im April werden eine ganze Anzahl frei, darunter Leo Reichert, – und dessen Fehlen werden wir bitterer empfinden als das der Braven.

 

Niederschönenfeld, Freitag, d. 25. März 1921.

Karfreitag abend nach 10 Uhr. Der Bonz ist ausnahmsweise früh ins Bett gegangen, von den andern Ganggenossen ist nur noch Kain auf, der über einer Arbeit sitzt, so will ich vorm Schlafengehn noch mein von frohen Hoffnungen erfülltes Herz in dies Heft erleichtern. Der März tat auch in diesem Jahr seine Schuldigkeit. Die Revolution ist an vielen Stellen Deutschlands wieder akut, und die nächsten Tage müssen große Entscheidungen bringen, gute oder schlimme. Mitteldeutschland ist in hellem Aufruhr. Eisleben scheint diesmal der Mittelpunkt zu sein, und die Mansfelder Bergleute sind die Träger. In Leuna haben 22000 Mann bewaffnet ihre Betriebe besetzt – trotz Marx! In Sachsen – dem früheren Königreich – hat der Individualterror eingesetzt: Rathäuser, Gerichtsgebäude fliegen in die Luft; in Hamburg wurde bei Blohm und Voß die rote Fahne gehißt, die Direktion entfernt und die Leitung von den Arbeitern in die Hand genommen. Es kommt nun alles darauf an, wie sich Berlin verhalten wird. „Vorwärts“ und „Freiheit“ bremsen auf Teufel komm raus, – die Kommunisten scheinen ziemlich festgelegt und es wird sich nun zeigen, ob die Thalheimer, Brandler, Stöcker ihre Taten ihren Worten anpassen können und bessere Revolutionäre sind als die gottlob abgehalfterten Levi, Zetkin, Däumig. Die KAP soll in Berlin eine ungeheure Massendemonstration veranstaltet haben, die den sofortigen Aufstand beschlossen haben soll. Vielleicht werden jetzt die Nationalisten schleunigst zuvorkommen wollen, und der große Entscheidungskampf, der allgemeine Bürgerkrieg beginnt. Ob die Entente dabei passiv bleiben würde, ist sehr fraglich. Doch glaube ich nicht, daß sie, wie unsre Marxisten behaupten, ohne weiteres Partei gegen das Proletariat nehmen würde. Mindestens die Franzosen halte ich für klug genug zu der Einsicht, daß ihr erstes Interesse die Entwaffnung der Patrioten ist. Ihr kann deshalb auch eine radikale proletarische Revolution garnicht unsympathisch sein, die ihr die Mühe der Entwaffnung der gefährlichsten Gegner abnähme. Sie werden sich denken, die Entwaffnung der Arbeiter und die Niederwerfung des Bolschewismus werde dann ohne sonderliche Schwierigkeit gelingen, und in der Tat wird das von den französischen Soldaten abhängen. Doch kann leicht das Zumvorscheinkommen ungeheurer Waffenmengen der Apo, Sipo, Schupo, Orgesch, Einwohnerwehren, Bürgerwehren, Ortswehren etc. ihnen Anlaß geben, sofort bewaffnet einzugreifen, um zu konfiszieren. Auf Bayern setze ich zunächst wenig Hoffnung. Unsre Arbeiter haben im vorigen Jahr fast widerstandslos die Kahr-Usurpation über sich ergehn lassen und sich bisher sehr wenig geneigt gezeigt, neue Kämpfe auf sich zu nehmen. Die Herren Otto Thomas und Otto Graf haben im übrigen noch alles getan, um jeden revolutionären Schwung bei den bayerischen Arbeitern abzutöten. Doch bin ich heute so völlig auf Kombinationen angewiesen, daß es keinen großen Wert hat, Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten aneinander abzumessen. – Vielleicht macht sich morgen der Umschwung der Dinge schon im Hause bemerkbar; insofern als man uns vielleicht auch einlaufende Post und Zeitungen vorenthält oder uns, wie es hier während des Kappputsches gemacht wurde, in die Zellen einschließt. Sicher ist, daß wir auf einem bis oben gefüllten Pulverfaß sitzen und daß jedes politische Ereignis draußen uns an die Wand bringen kann. Wenn’s sein muß, werde ich auch mit Anstand abtreten können. – Gestern wurde Seufert (I. Stock) entlassen. Man hat ihn genau so rigoros gefilzt wie jeden andern vorher, ihm sogar seine private Kiste konfisziert und ihm dafür von der Anstalt eine geliefert. Niekisch soll empört auf Seuferts Ehrenwort hingewiesen haben, natürlich ohne Erfolg. Jetzt zeigt sich’s, daß sie mit ihrer Erniedrigung noch nicht mal erreicht haben, daß man ihnen traut. – Übrigens war Seufert nicht der Schlechteste; ein harmloser armer Teufel, den Elbert für seine KAP eingefangen hatte. Er ist auf Bewährungsfrist entlassen worden – und wird sich bewähren. – Große Aufregung verursachte mir gestern abend der Seppl, der einen schweren Anfall seiner Herznervenkrankheit erlitt. Wenn ich noch nicht wüßte, wie lieb mir dieser prachtvolle Junge ist, dann hätte ich es aus der Angst erfahren, die ich vor seinem Bett ausstand. Ich war heute ganz zerschlagen von der Nachwirkung, während er selbst schon ganz vergnügt wieder herumsprang. Das ist ein Anarchist von Natur wegen, vollständig frei von jedem Autoritätswahn, dabei tapfer, entschlossen, treu gegen die Treue, unerbittlich gegen jede Zweideutigkeit. Er hat seine nächsten Freunde – Murböck, Tanzmaier, Kolbinger, Anreither mit einer Härte fallen lassen, die mich erschreckt hat, und seine Marie, in die er verliebt ist wie so ein junger temperamentvoller Mensch nur sein kann, zeigt sich jetzt der Situation nicht recht gewachsen, versteht offenbar nicht, daß er nicht ihretwegen das Kompromiß mit der Verwaltung macht, – er ist schon nahezu entschlossen, mit dem Mädel zu brechen, und nur wir Freunde halten ihn noch davon zurück. Sollte die Stunde unsrer Befreiung wirklich bald schlagen – und mein Gefühl rät mir zum Optimismus – und wir kommen zusammen heraus: den Seppl lasse ich nicht mehr aus, der muß für die Revolution weiterleben an einer Stelle, die seinem schönen reinen Herzen alle Möglichkeiten zur Entfaltung seiner Eigenschaften bietet. Wenn es mir sonst nicht gelingen sollte, der kommenden Generation auf den Weg der Freiheit zu helfen, so mag es indirekt durch das lebendige Beispiel dieses meines liebsten Schülers, des Sohnes meiner Seele und meines Herzens geschehn.

 

Niederschönenfeld, Sonntag, d. 27. März 1921.

Ostersonntag. Im I. Stock dürfen sich die Unterschriftsteller an ihren Weibern erfreuen. Ich habe meine Zenzl seit 5 Monaten nicht einmal mehr sehn können. – Mich erfüllt ganz die Erregung: wird die Revolution diesmal endlich Entscheidendes bewirken oder wieder der Reaktion neuen Boden ebnen? Zwar weiß ich, daß dieser Boden von Anfang an mit Flatterminen unterlegt wäre und daß über kurz oder lang der Sieg auf unsrer Seite sein muß, aber meine Ungeduld ist groß. Die Zeitungen lassen bis jetzt wenig Änderung erkennen. Die Kämpfe in Mitteldeutschland gehn weiter. Eisleben soll wieder in den Händen der Weißen (Grünen) sein, doch wird diesmal reichlich mit Einzelterror gearbeitet, der in dieser Situation jedenfalls die einzig mögliche Taktik ist. Die Sozialdemokraten und Unabhängigen nehmen offen die Partei der Gegenrevolution, ebenso natürlich der Gewerkschaftsbund, während die VKP ganz unsicher zu sein scheint. Von ihr fürchte ich den größten Schaden. Erst schreien sie: zur Offensive übergehn! und nachher schieben sie die Dynamitaktionen Spitzeln in die Schuhe. Auch sollen sie sich Hörsing gegenüber verpflichtet haben, den Arbeitern die bedingungslose Unterwerfung zu empfehlen. Nun gibt es also nur noch die Frage, ob das Proletariat sich wieder von Parteiparolen einseifen läßt oder endlich dem eignen Willen vertraut. In München hat eine große Versammlung stattgefunden mit anschließender Straßendemonstration. Wendelin Thomas, der Nachfolger von Otto Thomas bei der Neuen Zeitung, der einzige kommunistische Reichstagsabgeordnete Bayerns wurde im Anschluß daran verhaftet, die N. Ztg., das letzte kommunistische Blatt in Bayern unterdrückt. Ob den bayerischen Arbeitern jetzt etwas Energie zugetraut werden kann, wage ich nicht zu entscheiden. Doch ist recht interessant, daß heute ganz überraschend Göpfert von hier entlassen wurde, der einzige Mehrheitler, der Festung sitzen mußte. Ich glaube, er wurde zu 1½ Jahren verurteilt und bekam vom Gericht Bewährungsfrist nach 6 Monaten zugebilligt. Davon hat er erst 3 hinter sich (er kam Weihnachten an und darf Ostern gehn). Ich erkläre mir die Sache so, daß er als Bürgermeister von Rosenheim die unruhigen Arbeiterelemente dort zur Raison bringen soll. Jedenfalls ist die Entlassung eine Wirkung der verräterischen Haltung seiner Partei. Ich freue mich über diese Haltung der Scheidemänner und Hilferdinge. Die Opposition, die sie in letzter Zeit markierten, war sehr gefährlich und wird manchen Proletarier irre gemacht haben. Jetzt ist eine klare Lage geschaffen, ein Arbeiter, der revolutionär empfindet, weiß jetzt, daß er dort nichts mehr zu suchen hat; und die VKP wird wohl, wenn sich mein Eindruck von ihrer Haltung bestätigt, beträchtliche Massen von revolutionären Arbeitern abstoßen. In der ganzen Welt ist aufgeregte Bewegung. In Spanien ungeheuerliche Gewalt gegen die Syndikalisten, Racheaktionen wegen Datos Ermordung, die an ungarische Schreckenszeiten erinnern, die übrigens auch dort noch keineswegs vorüber sind. In Italien terroristische Akte und Streikbewegungen teils wirtschaftlicher, teils politischer Natur (Forderung der Freilassung unsres alten Malatesta, der in den Hungerstreik getreten sein soll). Von Rußland hört man wenig. Der Aufstand scheint für diesmal unterlegen zu sein. Ich habe immer die Hoffnung, daß Lenin mindestens noch den Anschluß nach links finden wird, damit diese herrliche Kraft der Bewegung, wie sie endlich doch werden und siegen muß, nicht verloren geht. Übrigens schreibt mir Zenzl, daß die Sowjetregierung durch einen Dresdner Verlag meinen „Kain“ – das ganze Werk – angefordert hat. Man scheint sich also doch noch für mich zu interessieren in Moskau, und vielleicht wird es wirklich einmal Tatsache, daß ich mit Zenzl im plombierten Wagen aus Deutschland nach dem Osten davonrolle. Mir sollte es recht sein, und die Revolution hätte gewiß keinen Schaden davon.

 

Niederschönenfeld, Mittwoch, d. 30. März 1921.

Die Situation ist immer noch nicht recht zu übersehn. Wir bekommen kein einziges kommunistisches Blatt mehr und sind ganz auf die Lügen der bürgerlichen Presse, also auf Kombinationen angewiesen. Die Nachrichten, wie sie offiziös ausgegeben werden, widersprechen einander deutlich. Überall wird versucht, zu beruhigen, die Bewegung sei so gut wie niedergeschlagen, Ende der Woche – versichert Herr Severing (Sozialdemokrat) werde spätestens alles erledigt sein, gleichzeitig aber liest man von immer neuen Bezirken, in denen der Streik um sich greift. Die Leuna-Werke sollen von der Sipo genommen sein. Die Nachrichten, nach denen Hölz gefangen genommen sein soll, bestätigen sich zum Glück nicht. Doch scheint sicher zu sein, daß diese prächtigste Gestalt, die die deutsche Revolution bisher hervorgebracht hat, wieder im Brennpunkt aller Dinge steht. Die terroristischen Akte – hauptsächlich Sprengung von Brücken und Bahnanlagen mehren sich. Endlich ein richtiger Anfang. Nur Einschüchterung hilft. Kein Bourgeois dürfte sich noch seines Lebens und Eigentums sicher fühlen, – dann hätten wir erreicht, was wir brauchen. Auch das Attentat gegen die Siegessäule hat sich als revolutionäre Aktion herausgestellt. Das ist gut. Auch trotz des Mißlingens schafft ein solcher Plan Angst, zumal ja doch an verschiedenen Orten neue Terrorakte erfolgt sind. Da mögen jetzt die Parteibonzen Parolen gegen den „konterrevolutionären“ Individualterror ausgeben, wie sie mögen. Revolutionäre, die damit einmal begonnen haben, sehn die Wirkung vor sich und lassen nicht wieder davon ab. Jetzt dürfen wir in Deutschland auf energische Taten hoffen. Zunächst wird natürlich eine unheimliche Verschärfung des Klassenkampfs die Folge sein, ein weißer Schrecken, den wir Roten ja nicht einmal in der Phantasie mit Gleichem vergelten können, macht nichts: umso sicherer wird die Revolutionierung der Massen beschleunigt werden. – Persönliches: Zenzl, die infolge meiner Schreibverhinderung alles auf eigne Faust machen muß, bewährt sich wundervoll. Selbst meine literarischen Geschäfte nimmt sie geschickt und mit hingebender Liebe wahr. Der „Judas“ wird vom Malik-Verlag herausgegeben, in Frankfurt und Hamburg sind Aufführungen geplant. – Heute hatte ich einen neuen Zusammenstoß mit dem Dr. Steidle. Ich verlangte ihn Seppls wegen zu sprechen, um ihn darauf hinzuweisen, daß dieser schwer nervenleidende junge Mensch nicht mehr haftfähig ist und er als Arzt die Pflicht habe, seine Freilassung zu betreiben. Der Mann ließ sich auf garnichts ein, lehnte vor allem ab, über die Behandlung im Hause, die ich als Ursache aller Nervenkrankheiten angab, etwas überhaupt anzuhören. Ich sei bloß von Haß verblendet und sehe in allen Sozialisten Engel und in allen Bürgern Schurken. Ich erwiderte, es wäre mir sehr lieb, von der bürgerlichen Behandlung politischer Gegner einen besseren Eindruck bekommen zu können, und als er von „den Segnungen des Sozialismus“ sprach, die man ja auch kennengelernt habe, fragte ich ihn, ob er wisse, wen wir ermordet, ausgeplündert, in Zuchthäuser gesteckt oder schikanös behandelt hätten um der Rache willen. Dann rieb ich ihm sein eignes Vorgehn gegen mich hin und machte ihn sehr wütend, als ich von der Denunziation gegen mich sprach. Er denunziere nie jemanden und habe sich nur um meine Vorwürfe, daß die Frauen beim Empfang mißhandelt würden, bekümmert, um sie nachprüfen zu lassen. Ich erwiderte, dann habe Vollmann die Unwahrheit gesagt, der mir erklärt habe, er – der Arzt – sei mit der Beschwerde zu ihm gekommen, ich hätte ihn durch meine Art der Konsultation belästigt und mich deswegen diszipliniert habe. Natürlich führte die ganze Unterredung zu absolut nichts, und am Ende schmiß mich der Herr Doktor sozusagen hinaus: das Gespräch ist erledigt, – Sie können gehn. Ich ging mit den Worten: Wir werden uns später eingehender unterhalten; lange dauerts nicht mehr. – Gebe Gott, daß ich die Wahrheit gesagt habe!

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