XXXIV
21. August – 2. Oktober 1922
Niederschönenfeld, Montag, d. 21. August 1922.
Mit einer reizenden Zwischengabe im Niederschönenfelder Programm darf ich das neue Tagebuch gleich wieder beginnen. Sie leben nämlich noch, meine lieben Freunde, die allein richtigen „Kommunisten“. Vorgestern kam Klingelhöfer zu mir und fragte, ob es denn möglich sei, was erzählt werde: meine Frau, die Zenzl, sei Bezirksvorstand der KP in München geworden. Das war auch für mich eine überraschende und belustigende Mär. Ich fand, da Klingelhöfer versicherte, die Behauptung werde in vollstem Ernst verbreitet, zunächst keine rechte Erklärung, da Zenzl, soweit ich orientiert bin, niemals Mitglied der Partei war und solchen Posten gewiß nicht angenommen hätte. Frau Schlaffer, die tags zuvor ihren Mann besucht hatte, sollte den Bericht gegeben haben und Klingelhöfer habe es von Bay. Abends fragte ich Bay, was denn das für eine komische Geschichte sei. Ich müßte doch wohl auch was davon wissen. Bay bestätigte zunächst die Meldung, und ich vermutete nun, daß Zenzl am Ende den Vorsitz der Hungerhilfe für Rußland übernommen habe, da sie schon lange intensiv für diese Sache tätig ist. Endlich – ich glaube, erst gestern – klärte Bay mich auf. Es wäre bloß ein Witz gewesen. In Wirklichkeit sei Weigel Bezirksvorsitzender geworden. Zugleich machte Bay den Umstehenden einen zwinkernden Augenwink wohl in der Meinung, von mir nicht beobachtet zu sein. Nun ist Bay ein harmloser Mensch, der ganz gewiß keine schlimme Absicht mit der Weitergabe des „Witzes“ verband, der aber hinlänglich spießig empfindet, um sich an allerlei Gerede über alleinstehende Frauen ausgezeichnet zu amüsieren. Ich riet natürlich sofort, wie der Zusammenhang ist. Bay verkehrt mit allen Gruppen des Hauses freundschaftlich und ist daher vorgeschickt worden, um das Geschwätz erst zu den Intellektuellen oder auch gleich zu mir selbst weiterzutragen. Der Zweck der Übung aber ist der: Weigel repräsentiert zumal seit der Weihnachtsoffensive die Duske-feindliche Richtung in der Münchner K. P. Unsre Patentkommunisten nehmen aber von hier aus eifrig Stellung zur Ämterbesetzung in der Partei, schon deswegen, damit ihnen selbst Pöstchen offen gehalten werden. Sie stehn aber mit dem Duskeklüngel in München in enger Fühlung. Wenn sie nun Weigel mit Zenzl in Sexualbeziehung setzen, so können sie sagen: unser neuer Parteiführer empfängt seine politischen Richtlinien von der Frau Mühsams, also mittelbar von Mühsam selbst, der unsre Partei als Anarchist scharf angreift. Also ist die Partei in den Händen eines von Feinden inspirierten Mannes. Zugleich wird aber wieder Zenzl bedreckt und damit das besonders erwünschte Resultat erzielt, daß mir das Festungsleben furchtbar verbittert wird. Vielleicht, denkt man sich wohl, die Ehe überhaupt zu sprengen. Dann wäre Mühsam innerlich erledigt. – Ich habe eben an Weigel einen Brief geschrieben und ihn gebeten, der Sache nachzugehn und ihr den Boden zu entziehn. Meine Folgerungen und Entschlüsse liegen danach schon anderswo fest – und ich kann ohne Versäumnis wichtiger Dinge in den Hof gehn.
Niederschönenfeld, Dienstag, d. 22. August 1922.
Ich kann einen entschiedenen Erfolg registrieren. Mein promptes Reagieren auf die gegen Zenzl gerichtete Gemeinheit hat eine große Verlegenheit in den Zirkeln der Tüchtigen hervorgerufen. Man bemüht Unabhängige und Intellektuelle, mit denen man sonst jeden Verkehr meidet, um mir beibringen zu lassen, wie gänzlich falsch ich die Angelegenheit auffasse. Es habe sich wirklich bloß um einen Witz gehandelt. Bay habe den ohne schlechte Hintergedanken gemacht und Frau Schlaffer sei ganz unbeteiligt. – Natürlich ist mir das alles egal. Ich weiß, was ich weiß: nämlich, daß der ausgezeichnete „Witz“, der von Bay oder von wem immer in noch so naiver Geschmacklosigkeit aufgebracht sein mag, von meinen Spezialfreunden im Mittelgang beflissen kolportiert wurde, daß also wenn schon die Absicht nicht gleich bei Erfindung des Witzes bestand, Altweiberklatsch für politische Intrigen herumzuspritzen, gewisse Herren die Eignung dieses Klatsches zur Schädigung Weigels in seinem neuen Amt und meiner Verbitterung sogleich erkannten und benutzten. Mein Brief an Fritz Weigel wäre auch ungeschrieben geblieben, wenn nicht gestern im Hof Männlein mich gefragt hätte, was daran sei, daß meine Frau Vorsitzende der Kommunistischen Partei Münchens geworden sei. Auf meine Frage: von wem hast du denn das? erhielt ich die Antwort: von Kain! – Das genügt mir. Ich werde heute an Zenzl schreiben, ihr die Beruhigung geben, daß die Lumperei hier drinnen schon erstickt ist, aber sie und Fritz zu großer Wachsamkeit auffordern, daß nicht von gewissen Leuten draußen eines Tages der ausgeblasene Docht wieder angezündet wird. Ich bin sehr froh, diesmal sofort so reagiert zu haben, daß die ganze Aktion schon vor dem Anmarsch ausgerutscht ist. – Zu Wesentlicherem: Die Angelegenheit Bayern-Reich ist, wie zu erwarten war, ins Gleis gebracht. Wie das neue „Kompromiß“ aussieht – wenn man nach dem Siege Bayerns bei der letzten Festlegung der Siegesbedingungen noch von einem Kompromiß reden kann –, erfährt man noch nicht. Den[n] voriges Mal war man in München sehr ungehalten, weil das Reich das Berliner Protokoll veröffentlichte, ehe alle bayerischen Reaktionäre das bewilligt hatten. Jetzt hat die Reichsregierung schön zu warten, bis Bayern ihr die Erlaubnis zur Publikation gibt. Jedenfalls wissen wir, daß die Herren Schweyer und Gürtner schon von Berlin zurück sind. Sie werden nun also das endgiltige Resultat der Verhandlungen erst kundgeben, wenn die Verordnung schon aufgehoben sein wird und keine An-Eckung mehr befürchtet zu werden braucht. Soviel weiß man aber jetzt schon, daß unter den „Garantien“, die Gürtner von Radbruch verlangt und sicher auch erlangt hat, die ist, daß das Reich sich nicht beikommen läßt, die politischen Gefangenen in Bayern jemals von sich aus zu amnestieren. Wie mag Radbruch zu Mute gewesen sein, als er diesen Pakt unterschrieb, der seinen ältesten Schulfreund verurteilt, in den Christenfäusten zu bleiben, deren Frömmigkeit sich im Brutalisieren Wehrloser austobt, bis in unbestimmbarer Zeit die angeborne Menschlichkeit von Heiden und Atheisten auch in Bayern einmal die Gnade und das Recht die Rache und die Willkür ablösen läßt. – Wir hatten jetzt erst Gelegenheit, uns zu orientieren, was eigentlich im Reichstag bei Behandlung der Amnestieanträge vorgegangen ist. Die Reichstagsstenogramme kursieren gerade. Ich hatte mit meiner Vermutung recht, daß Radbruch, sich mit seinen persönlichen guten Absichten nicht vortraute und als Minister nur die Straffreiheit der Vergehen gegen das Reich allein fordern konnte. Ein Spezialantrag für uns wurde dann von Hoffmann-Kaiserslautern (also dem, der uns einsperren und wegen „Hochverrat“ aburteilen ließ) eingebracht. Es muß zugegeben werden, daß Radbruch das Seinige getan hat, um uns herauszuhelfen. Er ging hierbei so weit, wie es irgend von ihm zu verlangen war und setzte dem Reichstag auseinander, daß das Recht des Reichstags, Amnestieen auch für die Länder zu erlassen, verfassungsrechtlich unbestreitbar sei. Er empfahl sogar ausdrücklich die Annahme des Regierungsentwurfs mit dem Ammendment Hoffmann. Aber der Pazifist und Demokrat Schücking – man wird sich den Namen dieses Typus eines deutschen Professors merken müssen und zwar unabhängig von dem Ruf, den er sich in der Quidde-Bewegung ohnehin zugezogen hat, nämlich als Friedensapostel, der das Evangelium der Kriegsbrutalität (in seinem Gutachten über die Ermordung des Kapitäns Fryatt und bei andern Gelegenheiten) pazifistisch rechtfertigt –, dieser „Demokrat“ Schücking hielt eine schöne Rede, in der er sich als Gegner jeder Gnadenaktion bekannte, und mit der er erreichte, daß der Antrag Hoffmann erledigt und unser Verbleiben in Niederschönenfeld für absehbare Zeit zum Heil der Friedensbewegung der Welt mit allen Schikanen bayerischer Eigenart garantiert ist. – Jetzt also hat Radbruch dem deutschnationalen Justizminister Bayerns schriftlich bestätigt, daß er es nicht wiedertun und nie und nimmermehr die Auffassung vertreten werde, daß Reichsrecht auch dann noch Landesrecht breche, wenn dadurch ehrliche Menschen der Bestialität rachedurstiger Christen entzogen werden könnten. Ich wenigstens habe keinen Zweifel, daß das neue Protokoll diese Zusicherung enthalten wird, wie ich auch nicht zweifle, daß protokollarische Bindungen ganz nach dem Verlangen der Bayern in allen den Punkten gegeben wurden, für die Eck, Ballerstedt, Buckeley, Hitler, Ludendorff, Pöhner und Xylander solche verlangt haben. Natürlich werden diese Herren mit ihrem Ordnungstroß trotzdem rasen, daß Bayern fürchterlich betrogen sei und daß die Aufhebung der Sonderverordnung das Ende aller Selbständigkeit bedeute. Das ist zur Regie der weiteren angekündigten „Aktion auf lange Sicht“ notwendig, und schon hat Herr Wels vor einer sozialdemokratischen Bezirksversammlung in Brandenburg erklärt, daß seine Partei die Unterwerfung des Reichs unter die bayerischen Pressionen wegen der außenpolitischen Schwierigkeiten billige. Ohne die Räterepublik und ohne die Eisnersche Politik, aus der die Räterepublik hervorgegangen ist, die leider Bayern in die Hand der Reaktion geführt hätte, wären ja alle diese Differenzen garnicht entstanden. Immer noch dieselben Argumente also, die von dieser Seite ins Feld geführt werden, von der ja auch die Mordparolen an die Weißgardisten ausgegeben wurden: Landauer und Mühsam wollen die Frauen verstaatlichen (der Gedanke entstammt dem Kommunistischen Manifest, das von den Welsen früher als Katechismus bekannt, grade aber von Landauer und mir aus vielen Gründen stets abgelehnt wurde, obwohl übrigens die Weiberverstaatlichung auch darin keineswegs propagiert wird). Das deutsche Proletariat aber läßt sich immer noch Reden halten von Herrn Wels, dem ersten Arbeitermörder der Republik. Das Weihnachtsfest 1918 in Berlin haben sie vergessen und die Plakate, die beim Begräbnis der armen Opfer der Schneidigkeit des Stadtkommandanten hinter den Särgen getragen wurden: „Vier Jahre haben sie gestritten, sie standen aufrecht wie ein Fels. Jetzt haben sie den Tod erlitten durch den Berliner Bluthund Wels.“ – Auch Noske sitzt ja aber noch in höchsten Staatswürden in Hannover, Ebert aber, der Dirigent des gesamten Parteiorchesters, „herrscht“ über Deutschland und verwaltet sein Amt unter dem zielbewußten Gesichtspunkt, sich für die über kurz oder lang ja doch nicht vermeidliche Reichspräsidentenwahl das Wohlwollen der kapitalistischen Großbourgeoisie zu sichern. Er hat die Kapitulation vor Bayern erzwungen, wie er vorher die Annahme des Sozialistengesetzes zum Schutz der Republik in der zwar noch nicht den bayerischen Preußen aber doch den Stinnespreußen willkommenen Fassung erzwang. Aber es sind arme Teufel trotz alledem! Alle ihre Erniedrigung vor den Monarchisten und Restaurateuren im eignen Lande bewahrt sie nicht vor der Not, dem Ausland ihre knechtische Unterwürfigkeit erst recht zu beweisen, und täglich mehr die Konsequenzen ihrer irrsinnigen „Erfüllungs“-Politik zu ziehn. Die Valuta steht glücklich auf über 1300 Mark pro Dollar. Zwar glaube ich den Prophezeiungen der unabhängigen und kommunistischen Zeitungen nicht, daß der Sturz nun sofort unaufhaltsam weitergehn wird. Ich würde vielmehr keineswegs erstaunt sein, wenn wir schon morgen von einer Stabilisierung oder gar einer erheblichen Besserung des Kurses erfahren würden. Aber man weiß ja, um welchen Preis. Zur Zeit sitzt die Reichsregierung mit Vertretern der Repko in Berlin zusammen, um über das Moratorium und dessen Bedingungen zu verhandeln. Man wird nach Erlegung noch einer größeren Rate zweifellos Zahlungsaufschub kriegen gegen die Zusicherung „produktiver Pfänder“, und die wird man trotz des Gekreisches aller Nationalisten zusichern, sei es durch Auslieferung des gesamten Goldbestandes der Reichsbank, sei es durch Preisgabe von Wäldern und Bergwerken. Die Franzosen müssen ja auf jeden Fall versuchen, den Bankrott Deutschlands zu verhüten, und die natürlich offiziell in allen Tonarten bestrittene Nachricht, daß zwischen Stinnes und seinen Koninteressenten und der französischen Regierung oder Industrie Annäherungsverhandlungen im Gange sind, ist mir vorerst einmal sehr glaubhaft. Allmählich scheinen sich auch amerikanische Finanzkreise für die Anregungen der – bei uns immer noch nirgends in seiner ungeheuren Bedeutung erkannten – englischen Note Balfours, die die Streichung mächtiger Summen von der Kriegsschuld für England selbst anbietet und von den Hauptgläubigern verlangt, zu interessieren, und es heißt, daß speziell Frankreich bereit sei, Deutschland von all den Zahlungen zu entbinden, die ihm selbst von seinen Gläubigern erlassen werden (es geht da um etwa 70 Goldmilliarden). Die deutsche Presse ist wie immer zu dumm, um zu erkennen, was da eigentlich für Riesenprobleme verhandelt werden (und ich habe die Überzeugung, daß auch die deutsche Regierung es nicht merken würde, wenn es ihr die Gäste nicht sagen würden), und wir lesen bloß die alten Schlager von französischem Hochmut, Sadismus und Vernichtungswillen. Die Gefahr einer Konsolidierung der Weltwirtschaft auf Grund eines enormen Verzichts der Kapitalisten ist riesengroß; sie bedeutet die Vorbereitung einer Neuorganisierung des Ausbeutungsmonopols des Privatkapitals auf den neuen Grundlagen der durch die Vernichtungsorgie des Kriegs an Menschenkräften, Rohmaterial, Konsumwerten und Kreditgarantieen phantastisch geschwächten Basis der Weltwirtschaft. Daß die Arbeitervertretungen – weder die Kommunisten noch die Russen selbst oder sonst welche Marxisten nicht erkennen, daß diese Entwicklung der Dinge, die nur durch die Anstrengung des in neuen Verbindungen zusammengefaßten Weltproletariats verhindert werden kann, für Generationen jeder sozialistischen Revolution die Bedingungen wegnähme, ist selbstverständlich. Dort hat man wichtigeres zu tun, nämlich Parlamentswahlen vorzubereiten und für eine „Arbeiterregierung“ zu propagieren, die den Kapitalismus wohl dadurch kaput machen soll, daß sie ihm die Hilfskräfte liefert. Die Unfähigkeit dieser Herrschaften ist so groß, daß man hoffen kann, daß sie mit ihrer Tätigkeit sogar dem kapitalistischen Staat, dem sie sich verschrieben haben, Schaden zufügen könnten. Man muß ja schließlich aus jedem Unglück Trost zu schöpfen suchen.
Niederschönenfeld, Mittwoch, d. 23. August 1922.
Unsre Informationsmöglichkeiten sind immer noch sehr mangelhaft. Die Zeitungskonfiskationen hören nicht auf, dazu kommt eine große Unregelmäßigkeit in der Ausgabe der Blätter, die man durchläßt. Heut mittag sind wieder nur ganz wenige Neuigkeiten hereingekommen, und keine, die irgendeine Urteilsänderung verlangt. Das „Schutzgesetz“ wirkt sich täglich lieblicher aus. So ist jetzt Niekischs Zeitschrift „Umschau“, weil sie die Reichsautorität gegen Bayern zu stützen versuchte, für vier Wochen verboten worden. Daß das Verbot der Berliner Roten Fahne auf Verlangen der bayerischen Regierung prompt von Herrn Severing verfügt worden sei, wird jetzt von Lerchenfeld bestritten, und der Vorwärts bestätigt es, indem er mitteilt, die bayerische Regierung habe die preußische nur auf den Artikel „hingewiesen“, durch den sie sich beschwert fühlte. Darauf habe Severing das Blatt für 3 Wochen verboten, aber zugleich andre Blätter, wie den Miesbacher und seinesgleichen mit ähnlichem Hinweis nach München gesandt. Die feierliche Verwahrung Lerchenfeld-Schweyers, daß sie keineswegs ein Verbot verlangt hätten, bedeute also, daß Bayern, nachdem sein „Hinweis“ in Berlin das Verbot bewirkt habe, darum noch lange keinen Anlaß finde, auch seinerseits die Herrn Severing für seine Politik unbequemen Zeitungen zu verbieten. Man muß zugeben, daß die Bayern ihr System, das Reich und Preußen andauernd zu demütigen, mit Geschick und selbst mit Humor und Konsequenz verfolgen. Das jetzt in Berlin zustandegebrachte neue Kompromiß zur Anpassung des Schutzgesetzes für die Republik an die monarchistischen Bestrebungen der Organisation C, von dem bekanntgegeben wird, daß man auf beiden Seiten vollständig davon befriedigt sei – es muß also eine liebliche Blamage für das Reich herausgekommen sein – soll erst veröffentlicht werden, wenn sich die bayerischen Koalitionsparteien dazu geäußert haben werden. Aber der Wunsch der Herren Ebert, Radbruch und Köster, die deutschen Bürger recht rasch durch die Publikation und also die darauf folgende Aufhebung der Notverordnung zu beruhigen, stört die Bajuwaren nicht in ihrer königlich bayerischen Gemütlichkeit. Sie haben zunächst mal die Beratung in München verschoben, weil die gesamten beteiligten Parteien nebst ihrer gesamten Regierung ein viel pressanteres und wichtigeres Geschäft hatten. Sie haben die Vertagung der Sache tatsächlich offiziell damit begründet, daß der Besuch Hindenburgs in München ihnen keine Zeit dazu gelassen habe. Dieser Besuch nahm denn auch einen erhebenden Verlauf. Zwar hatte der tapfere Herr Geßler der republikanischen Reichswehr verboten, an den allgemeinen Begrüßungsdemonstrationen teilzunehmen. Doch durfte sie extra aufmarschieren, um ihre treue Anhänglichkeit an den Oberdefaitisten von Anfang Oktober 1918, der erst nach der vernichtendsten Niederlage der Weltgeschichte den von ihm verlorenen Krieg für siegreich hielt, bekunden zu können: Sie rückte daher in der Akademiestraße – also beim Siegestor! – auf, wo ihr Oberkommandierender Möhl über die traurige Tatsache jammerte, daß das Heer seinen Feldherrn fern vom Zentrum in einer „Nebenstraße“ begrüßen müsse, – und der gefeierte Herr selbst, trotz aller strengen Verbote für ehemalige Offiziere, Uniform zu tragen, in großer Generalfeldmarschallgala mit Marschallstab sprach ebenfalls sehr schön und drückte etwa dasselbe aus, was ich einmal in einem Weinhymnus an C. G. in die Worte faßte: „In der Erinnerung liegt die Chance.“ – Im Hofgarten war allgemeine Besichtigung des Heros arrangiert, und es muß wunderschön gewesen sein, wie das Heldentum, das nur irgend in Bayern Kriegervereinsbeiträge zahlt, hurra schrie. Die letzte Weihe erhielt das Unternehmen dann vor dem und im Armeemuseum. „Kronprinz“ Rupprecht sprach schöne Worte und berief sich dabei auf seine Eigenschaft als früheren Befehlshaber der „königlich bayerischen Armee“, und Ludendorff war da und alles was diese gesegnete Republik liebt, und wünschte Hindenburg gute Erholung in den bayerischen Bergen. Er will nämlich nach Berchtesgaden, wo er mit den Rupprechtsradikalen ohnehin beieinander ist. Der Revanche-Generalstab (vielleicht kommt auch der steckbrieflich verfolgte Ehrhardt mit Bauer und Bischof hin) wird dort also ungestört Pläne aufstellen können, gesichert vom Gesetz zum Schutz der Republik in bayerischer Redaktion und Exekution. Nach der Anstrengung, 97mal Deutschland Deutschland über alles von hofbräufeuchten Kriegerkehlen in die Ohren geschmettert zu kriegen, begab sich der greise Heerführer in sein Privatquartier, das ihm sein Gastgeber, der republikanische Ministerpräsident a. D. Herr v. Kahr im von ihm betreuten Gebäude der oberbayerischen Regierung eingeräumt hatte. Auch einen jener „Zwischenfälle“ gab es, die von unsern guten Linksdemokraten so sorgfältig registriert werden, daß der Öffentlichkeit schließlich deswegen eine verzuckerte Pille eingegeben werden muß, deren laxierende Wirkung sich wie bei unsern herrlichen „Schutzgesetzen“ immer erst nach dem Hinunterschlucken bemerkbar macht. Unter den Pressepiraten, die die breiten roten Hosenstreifen des ehrwürdigen Gastes recht nahe sehn mußten, um den aufgeregten Lesern alles genau beschreiben zu können, hatte sich auch – vermutlich für die Versorgungsanstalt der Münchner Arbeiter mit Auerlicht am Altheimereck – der ehemalige Hauptmann, jetzige Führer des republikanischen Schutzbundes und Sozialdemokrat Schützinger eingefunden. Das sprach sich um das ganze Armeemuseum herum, und die in Erwartung ihrer völkischen Heldenväter erzitternden Heldensöhne ließen ihn sich vorführen. Sie spuckten Schützingers in republikanischer Frechheit strahlendes Gesicht voll, andre applaudierten diesem völkischen Vorgang mit Ohrfeigen in das gleiche Gesicht, und als der Mann blutig geschlagen war, war auch die Nortzische republikanische Polizei zur Stelle und nahm fest – natürlich nicht die Herrn Offiziere, die den Journalisten, der sich erlaubte, die giltige Verfassung anzuerkennen, mißhandelt hatten, sondern den Mißhandelten. Der wurde zur Ettstraße geschleift, vernommen und dann – immerhin wieder entlassen, womit denn auch die Bayerische Staatszeitung die Sache für abgetan hält. Und das kann sie wohl damit auch sein. Vielleicht wird Herr Schweyer noch im Landtag interpelliert, um Gelegenheit zu bekommen, dort eine Bewunderungsrede für Hindenburg und unser tapferes Offizierskorps und gegen Schützinger zu halten. Solche parlamentarischen Aktionen sind ja immer willkommene Anlässe für unbeliebte Machthaber, die Unbeliebtheit auf diejenigen abzuwälzen, die sich zu Wortführern davon machen. Nicht anders wird es auch Herrn Rosenfeld gehn, der den Überwachungsausschuß des Reichstags zusammenberufen läßt, um nachprüfen zu lassen, ob die Reichsregierung berechtigt war, die Konzessionen an Bayern zu machen, die sie gemacht hat, – und ob sie damit nicht vom Reichstag beschlossene Gesetze widerrechtlich abgeändert hat. Radbruch und Köster werden durch diese „Überwachungs“-Aktion schneller als sie hoffen konnten, Gelegenheit finden, ihre überlegene Taktik anzupreisen. Ihre Gründe werden allen Reaktionären vollkommen einleuchten, und ihre eignen Parteigenossen werden froh sein, die Gründe von ihnen geliefert zu kriegen, mit denen sie ihre Wähler einbalsamieren können; es wird abgestimmt werden und dann wird auch die höchste Instanz gesprochen haben und der Rechtsgrundsatz unantastbar feststehn. Die Reichsgesetze gelten für alle Bürger ohne Ausnahme im ganzen deutschen Reich. Grundsätzlich von ihnen dispensiert sind hingegen die in bayerischen Geheimorganisationen koalierten und somit von der bayerischen Landesregierung repräsentierten Mitglieder der bayerischen Rechtsparteien, sofern ihnen nicht die Anerkennung einzelner Gesetze zur Niederhaltung verfassungstreuer Elemente von ihren Geheimbundkommandeuren ausdrücklich zur Pflicht gemacht wird. – Meine Erwartung, daß die Berliner Verhandlungen zum Arrangement eines Zahlungsmodus für die Reparationen sich sehr schnell im Stoppen der Dollarhausse äußern würde, hat sich überraschend schnell bestätigt. Nach unsern letzten Meldungen hat sich der Markkurs in 24 Stunden wieder um etwa 150 Punkte gebessert. Die Reise des Pleiteösterreichischen Bundeskanzlers Seipel nach Berlin in diesem Moment wird wohl mit diesen Fragen in Verbindung stehn. Vanderlip, der kürzlich erklärt hat, daß in Deutschland erst mal die ganz selbstverständlich unvermeidliche Revolution abgewartet werden müsse, ehe man die Aussichten des Landes börsentechnisch beurteilen könne, hat jetzt für Österreich das Rezept verordnet, das Land müsse unter die Vormundschaft eines amerikanischen Bankhauses gestellt werden. Das ist ein sehr gescheiter Mensch, dieser Milliardär und macht weder sich noch andern Leuten blauen Dunst vor. Wissen möchte ich aber, wie weit in Deutschland schon Spekulanten ihre Geschäfte auf die Prophezeiungen hin eingestellt haben. Wenn man einmal wird feststellen können, welche in- und ausländischen Manöver in den täglichen Notierungen die Geld- und Devisenkurse aus weitgesteckten Spekulationsgründen schieben, dann wird ein in mancher Hinsicht ganz neuartiger Überblick über Ursachen und Wirkungen und deren Wechselwirkungen in der Politik seit 1918 möglich werden. Auch für die Aufklärung der Arbeiter wären volkstümliche Darstellungen der Börsenstrategie im Kampf gegen die Sättigung des Volks sehr nützlich. Solange das Proletariat nicht weiß, wie es betrogen wird, solange läßt es sich von pseudowissenschaftlichen „Entwicklungs“-Eseln mit Phrasen füttern. Ohne Aufklärung keine Wut. Ohne Wut kein Entschluß zur Revolution. – Sagen, was ist, nicht raisonnieren was Professor Marx doziert hat. Will man die Massen zum Kampf erziehn, dann halte man ihnen keine „Wissenschaft“, sondern einen Spiegel vor die Nase.
Niederschönenfeld, Donnerstag, d. 24. August 1922.
Herrn Seipels Reise scheint eine der merkwürdigsten Manipulationen vorzubereiten, auf die die Pleite einer Staatswirtschaft ihre Treuhänder je gebracht hat. Der Bundeskanzler und Prälat möchte sein Österreich nämlich sozusagen losschlagen. Er war in Rom, in Prag und ist nun in Berlin, um das verflossene Kaiserreich in Form einer „Anlehnung“ an eins der Nachbarländer sozusagen als Provinz zu verhökern. Was draus wird, wird jedenfalls von den Rechenkunststücken abhängen, die man in New-York, London und an andern Börsenplätzen produzieren wird. Es ist nicht ganz unmöglich, daß die Chancen für eine Aufhebung des Anschlußverbots an Deutschland dabei günstiger stehn als jemals früher. Da der Völkerbund wohl als letzte Instanz zu entscheiden hat, und die Angst vor einem völligen Zusammenbruch Österreichs bei seinen Gläubigern, die ohnehin schon längst die Katastrophe durch immer neue Einzahlungen in das Geschäft aufhalten müssen, sehr groß ist, da außerdem kaum anzunehmen ist, daß sich Italien und Tschechien mit einem überschuldeten Anhängsel deutschredender Mitbürger werden belasten mögen, ist es gut möglich, daß man in einer Zusammenlegung der Minusposten das leichter ausschöpfbare Finanzsystem schaffen zu können glaubt als beim Weiterwursteln wie bisher. Natürlich fragt es sich, welche besonderen politischen Garantien speziell Frankreich verlangen würde, um der zweifellos bedeutenden Kräftigung der nationalistischen Reaktion durch solche Zusammenkoppelung Deutsch-Zentraleuropas entgegenzuwirken. Die bayerischen Restaurationstendenzen bekämen durch die politische Angliederung Tirols eine mächtige Stärkung, und ich vermute, daß grade diese Verbindung Bayern-Tirol-Salzburg von Paris aus verhindert werden wird, sodaß die Blütenträume des deutschen Reichs-, des bayerischen Orka- und des österreichischen Bundeskanzlers nicht in der Weise ausreifen werden, wie man sich’s in Berlin, Wien, München und Innsbruck vorstellen mag. Hindenburgs Münchner Gastspiel muß in Frankreich stark auf die Nerven gegangen sein, denn schon liest man eine Auslassung des „Temps“, worin Herrn Dr. Wirth dringend empfohlen wird, sich lieber um die Vorgänge in Bayern zu kümmern als unausgesetzt an den Reden Poincarés herumzunörgeln. Die neue und diesmal vollständige Kapitulation des Reichs vor den bayerischen Ansprüchen in bezug auf die „Interpretation“ der Republik-Schutzgesetze – und jetzt haben die Koalitionsparteien dem Werk Schweyers und Gürtners ausgesöhnt zugestimmt – läßt allerdings nicht darauf schließen, daß man in Berlin Neigung hat, mit München anzubinden, und der „Temps“ selbst sieht auch den Grund dafür vollständig ein, indem er meint, die ganze Reichswehr stehe nur der Reaktion, also Bayern, niemals aber irgendwelchen ernsthaften Defensivmaßnahmen der Republik zur Verfügung. Bestritten wird das ja auch höchstens noch von Auerochsen. Die strengen sich furchtbar an, aus der Unterwerfung des Reichs dessen Sieg über Bayern und die jämmerliche Blamage Bayerns zu machen. So schrieb die Staatszeitung bei Beginn der neuen Verhandlungen, sozialdemokratische Blätter hätten erst durch ihr Siegesgeschrei den Rechtsradikalen die Gründe gegeben, die Öffentlichkeit gegen die Schlappheit Lerchenfelds aufzuregen. Dazu paßt, daß jetzt das Aschaffenburger Sozialdemokratische Organ aufgrund der bayerischen Verordnung verboten wurde, weil es behauptete, den Herren Gürtner und Schweyer seien in Berlin wie den Schuljungen die Hosenboden stramm gezogen worden. Die Berliner Volkszeitung, das bürgerlich-linksdemokratische Blatt, greift Heilmann, der dieselbe Demagogie verzapft, heftig deswegen an, wie denn überhaupt von manchen Bürgerlichen die Sozialdemokraten durchaus als reaktionär bekämpft werden. Es ist ja allgemein ziemlich schwer sich in Deutschland überall zwischen rechts und links durchzufinden. Die Unabhängigen sehn zwar in der bayerischen Sache deutlich genug, was passiert ist, ihnen verstopft aber die heiße Sehnsucht, von der Noskepartei in Gnaden wieder verschluckt zu werden, das Maul. Und was für Demokraten es gibt, erfährt man täglich neu – neulich aus der Schückingschen Rede gegen die Amnestie, sonst aus gewissen Presseäußerungen. Mein Kurier ist eine Quelle demokratisch-republikanischer Charakterequilebristik. Die Meldung, daß der Staatsgerichtshof zum Schutz der Republik als Vorsitzenden einen der Begründer des republikanischen Richterbundes bekommen hat, erfahren die Franken unter der Überschrift: „Beginn der Politisierung der Rechtsprechung“. Es genügt hierzu zu sagen, daß dies Blatt das Leiborgan und die Trompete unsres Müller-Meiningen ist und ärger als irgendein deutschnationales die Gerichte gegen unsresgleichen politisch scharf gemacht, auch die Sonderbehandlung Arcos stets heftig verteidigt hat. An die Mitteilung, daß die Einigung zwischen Reich und Bayern jetzt perfekt geworden ist, schließt es die Bemerkung, nun könne also die Begrenzung aller freien Meinungsäußerung, das Denunziantentum und die Spitzelei bis in die Schulstuben hinein – also das, was in seiner bajuwarischen Anwendung bisher grade im Fränk. K. stets heldenhaft verteidigt, anerkannt und gefordert wurde – auch in Bayern ihren Einzug halten. Wozu zu sagen ist, daß dieses saubere Organ auf Parteibefehl hinter Rathenaus Sarg gießkannenweise Tränen spritzte und ursprünglich parteifromm für das Schutzgesetz, für Hamms Austritt aus dem Ministerium und gegen die bayerische Verordnung plaidiert hat (allerdings täglich abwechselnd, bald für München, bald für Berlin). Das aber markiert, Ausdruck der Volksmeinung zu sein, jammert schrecklich über die Notlage der Presse, beansprucht Extraunterstützungen auf Staats- und Reichskosten und wird tatsächlich von allen Behörden, vom Kanzler herunter bis zum letzten Magistratssekretär, von allen Parteien und Richtungen als Ausdruck und Stütze der nationalen Kultur angesehn. So aber wie dies eine Beispiel sind wenigstens 97 % der gesamten Presse: der Auswurf der Menschheit, die tiefste Verrottung aller Geistigkeit, das fürchterlichste Spiegelbild der seelischen Verschmutzung und Verkommenheit unsrer Zeit. Aus solchen verpesteten Röhren aber fließen uns alle Kenntnisse von dem zu, was in der Welt vorgeht, und es gehört schon große Übung dazu, aus der Kruste von Lüge, Entstellung, Korruption, Demagogie, Parteiinteresse, Börsenbeeinflussung, Gehässigkeit und Dummheit das Tatsächliche herauszuschälen, das endlich dem eignen Urteil zur Prüfung und Einreihung dienen soll. Jetzt hat Poincaré in Bar le Duc wieder eine Rede gehalten, und die Zeitungen aller Sorten, die deutschnationalen ebenso wie die großen Börsenorgane à la Frankfurter Zeitung und Berliner Tageblatt und die „sozialistischen“ und kommunistischen schmieren ihren unsagbar blöden oder betrügerischen Schleim darüber hin. Dabei steht in dieser Rede äußerst Wichtiges und teilweise Richtiges. Die Situation des kapitalistischen Frankreich Deutschland gegenüber kommt klar zum Ausdruck und zugleich die Differenzen zwischen Frankreich und England, und was Herr Poincaré über die behauptete deutsche Zahlungsunfähigkeit sagt, müßte den maßgebenden Leuten sehr zu denken geben. Vor allem hebt er einmal hervor, daß der Geldwertsturz in Deutschland keineswegs eine Folge der Versailler Politik ist sondern eine Folge der Sabotage dieser Politik. Die Kapitalflucht in Deutschland, gegen die bis jetzt garnichts geschieht, wird zutreffend abgewertet und zugleich erfährt man, wie das Ausland gewisse Ausgaben der deutschen Republik beurteilt, die den monarchistischen Charakter der ganzen Verwaltung bezeichnen. Poincaré spricht nicht detailliert davon, aber er meint sicher auch solche Dinge, wie sie z. B. in der impertinenten Forderung Rupprechts von Bayern sich zeigen, der außer dem Anspruch auf die Auslieferung der staatlichen Kunstsammlungen und andern Schätzen von nahezu unabschätzbarem Wert jetzt auch den auf die Zahlung der Pension erhebt, die ihm als General in der bayerischen Kriegsarmee zukomme. Zu unsrer Zeit hätten diese Herren derartige Frechheiten sicher nicht gewagt, – das weiß man auch und liebt uns grade darum so sehr. Jetzt werden sie alles kriegen, was sie verlangen, – und das wird solange gehn, bis es einmal entweder dem Ausland zu lange dauert und es sich die deutschen Schulden aus dessen Einnahmen selbst deckt, oder bis sich endlich doch mal das deutsche Proletariat rührt. Irgendwie drängen alle Dinge nachgrade einer Entscheidung entgegen. Und die Entscheidung wird fallen im blutigsten aller Bürgerkriege.
Niederschönenfeld, Freitag, d. 25. August 1922.
Will ich noch eine halbe Stunde frische Luft schnappen, dann habe ich – da ich eben zwei Briefe erledigt habe – noch knapp ein Viertelstündchen zur Eintragung. Aber es lohnt sich trotzdem, das Dickste zu vermerken: Dollarstand – über 2000 Mark! Und das, während die Reparationskommission ihre Vertreter Bradbury und Mauclère in Berlin verhandeln läßt. Über diese Verhandlungen wird „tiefstes Stillschweigen“ gewahrt. Nun, die Valuta-Entwicklung redet lauter, als die Pressgrammophone schreien könnten. Die Börse ist hellhörig, auch wenn geschwiegen wird, und ihre Reaktion auf die Verhandlungen beweist, daß es mit dem Moratorium nichts wird. Man erfährt aber auch dafür die Gründe. Herr Bradbury hat nämlich gesprächsweise nebenher fallen lassen, daß ihm ein Moratorium auch nur dann möglich scheine, wenn Deutschland „produktive Pfänder“ stelle. Er unterscheide sich von der Ansicht Poincarés nur dadurch – und hierin liegt wohl auch die eigentliche Differenz der Auffassungen von Paris und London ausschließlich, – daß er die von Frankreich geforderten Pfänder – Bergwerke und Forsten – nicht für „produktiv“ genug halte. In Deutschland selbst aber will man überhaupt an Pfändersetzen nicht heran, – das lasse sich parlamentarisch nicht vertreten! – und so wird’s eben überhaupt nichts und der Krach kommt rascher als man denken konnte. Die Reichsregierung spielt eine beispiellos klägliche Rolle. Im Innern läßt sie vor Bayern den Schwanz hängen und sabotiert den Alldeutschen zuliebe die von ihr selbst als Schutz zur Rettung der Republik vor alldeutschen Anschlägen erlassenen Gesetze. Im Äußeren krebst sie vor ganz denselben Alldeutschen und läßt aus Schiß vor ihnen die ganze deutsche Wirtschaft in den Dreck kugeln. Unsereiner kann zufrieden sein. Übrigens werden sie die „Pfänder“ schließlich ja doch geben, die „Feinde“ sind ja doch am Ende die, vor denen sie noch mehr Angst haben als vor ihren eignen Landsleuten, ob es selbst Junker, Pfaffen und Bayern sind. – Spazierhof!
Niederschönenfeld, Sonnabend, d. 26. August 1922.
Zunächst einmal ein paar Nachtragungen zur Hauschronik. Auf daß der Abbau der bayerischen Festungswirtschaft nicht zu rasch vor sich gehe, hat man vorgestern wieder einen Mann eingebracht, einen gewissen Amereller, der 1 Jahr 9 Monate hatte, wegen Krankheit nach 8 Monaten „begnadigt“ wurde, sich dann 9 Monate in Amberg wegen einer Körperverletzung umtun durfte (über die Amberger Gefängnisverhältnisse, besonders in ihrer Auswirkung gegen politisch Vorbestrafte, und im Zusammenhang damit über den dortigen Anstaltsarzt Dr. Bauernfeind werden später noch mal eingehende Rückforschungen nützlich sein), und nun hier den Rest von 13 Monaten absolvieren muß. (Bei dieser Gelegenheit – ohne besonderen Bezug auf Amereller: es wird auch noch mal eine Statistik anzulegen sein, die die auffallend große Zahl von bedingten Begnadigungen zugunsten wegen krimineller Vergehn Vorbestrafter, zum Teil in recht frühem Stadium der Haftverbüßung zum Gegenstand hätte. Bei Leuten von einwandfreier Lebensführung ist man viel weniger tolerant, und die Frage, ob nicht der Grund dafür in der größeren Eignung moralisch Angefaulter zur Annahme von Gegenleistung liegt, bedürfte der Prüfung.) – Heute erhielten wir eine Mitteilung „wohlwollenden“ Charakters, vermutlich als Wirkung meiner jüngsten Auseinandersetzung mit Gollwitzer. Herr Fetsch erschien und verkündete, daß das Taschengeld wöchentlich auf 50 Mark erhöht worden ist. Während also die Preise für all und jedes im Lauf der nahezu 2 Jahre, seit wir 35 Mark wöchentlich ausgeben durften, um das 50-, 100- und mehrhundertfache gestiegen sind, während eine neue immense Postportoerhöhung wieder kurz bevorsteht, sodaß ein Brief statt 3 Mark 6 kosten wird, dürfen wir unsre Ausgaben von täglich 5 Mark auf deren 7 steigern. Alle Achtung beiseite! kann man da wirklich sagen. Gespannt bin ich nun, wielange diese Taschengeldlimitation nun Geltung haben wird und welchen Valutastand der Dollarstand, der in diesen Tagen – bis gestern – zwischen 1800 und 2400 kreist, erreicht haben muß, ehe die Nichtmörder unter den bayerischen Festungsgefangenen noch größere Summen ausgeben dürfen. – Was unterdessen allerdings in der weiten Welt allgemein, im deutschen Vaterlande besonders und in der Lerchenfeldschen Ordnungszelle ganz speziell vor sich gegangen sein wird, darüber kann man allerlei Erwartungen hegen. Was aus den Berliner Besprechungen herausgekommen ist, werden wir wohl Montag in den Zeitungen lesen können. Soweit bis jetzt bekannt ist, sind die Herren Bradbury und Mauclère nach Paris abgereist, um zu berichten, welche „Zugeständnisse“ Deutschland gemacht hat (man glaubt ja bei uns stets, daß man, wenn man von andern was haben will, garnicht sparsam genug mit eigenen Zugeständnissen sein kann; Staatskunst heißt man dieses Verfahren des diplomatischen Volteschlagens, bei dem regelmäßig die Karten vor den sehenden Augen der Mitspieler aus dem Ärmel rutschen). Schon erfährt man auch aus französischen und englischen Pressezitaten, daß die deutschen Vorschläge von den Alliierten als vollständig indiskutabel angesehn werden. Es hat keinen Zweck, sich mit den einander widersprechenden Einzelangaben über diese Vorschläge zu beschäftigen, man wird ja bald genug wissen was los ist – sofern die Geldentwertung einem nicht schon hinlänglich Auskunft über die Aussichten des erstrebten Moratoriums gibt. Das Wasser steht den Regierern an der Gurgel; kein Mensch, der seine Existenz nicht auf Gaunerei sondern auf Arbeit gegründet hat, weiß, wenn er sein Gehalt oder seinen Lohn einkassiert, um das Wievielfache sich die Konsumpreise in der Zeit zwischen Einnahme der Unterhaltsmittel und den zwei Tagen, bis er davon Lebensmittel für die Familie kauft, erhöht haben. Der allgemeine Kladderadatsch, den wir rechtzeitig durch Konfiskation der Ausbeutungswerte und durch Erfassung aller Arbeitskräfte zum Dienst für die notwendigste Produktion, durch Verweigerung der Verpflichtungen von Versailles und Anlehnung an das damals revolutionäre Rußland verhindern wollten, ist nun also glücklich soweit gediehen, daß kein Mensch mehr weiß, wie ihm noch begegnet werden kann. Regierung und Regierte sehn sich begossen in ihrer „Republik“ um, und was sie sehn sind die drohenden und wehrhaften Beherrscher des Hintergrundes, nämlich die Alldeutschen und Monarchisten, sie, denen seit 1918 von „Demokraten“ und „Sozialisten“ systematisch der ganze, ihnen eben entglittene Staatsapparat, alle Organisationen der Waffenmacht, der Presse, des Kapitals und jeglichen Einflusses wieder in die Hände geschmuggelt wurde. Jetzt stehn sie da und fordern, verbieten und erreichen was sie wollen, und jetzt quittieren sie [es] denen, die auf ihren Befehl uns, die wir das Notwendige zur Zeit sahen und forderten, einsperrten, damit, daß sie sie selbst hindern, irgendetwas zu tun, was sie noch vor der Katastrophe retten könnte. Die Herren Wirth und Hermes wissen wahrscheinlich ganz genau, daß sie „produktive Pfänder“ hergeben müßten und könnten, wenn sie das Ziel aller neueuropäischen Staatsweisheit erreichen wollen, nämlich wieder ein paar Wochen Zeit gewinnen; aber sie trauen sich nicht, weil die preußischen Junker und ihre bayerischen Regierungsprokuristen, von Ludendorff dirigiert, der von Ludendorff im Kriege mit so großer Schneidigkeit kreierten Desperadoformel vertrauen: Nun erst recht! – Ach, sie haben sie still zu kriegen gehofft, indem sie den Bayern ihr ganzes Gesetz zur eignen Lebensrettung geopfert haben, und dachten: wenn wir im Innern bloß „einig“ sind – und sei es auch eine Einigkeit auf dem Boden der Organisation C –, dann werden sie uns mit dem Ausland schon arbeiten lassen. Eine der primitiven Torheiten, die die Führung der deutschen Staatsgeschäfte charakterisieren. Die Franzosen haben bei mancherlei Gelegenheiten zu verstehn gegeben, worauf sich ihr Mißtrauen gegen Deutschland hauptsächlich gründet. Die Behauptung, daß sie ein Bayern, das sich die gegenwärtige Regierung bieten lasse, als halbzivilisiertes Land bezeichnet haben, mit dem amtlich in entsprechenden Formen zu verkehren sei, ist nirgends bestritten worden. In Reden und inspirierten Artikeln wird dem Reich von drüben her dauernd Bayern vorgeworfen, dessen Einfluß gebrochen werden müsse, wolle man Deutschland im ganzen anders beurteilt sehn, – und da kriecht das Reich unmittelbar vor dem Besuch der Repko-Herren vor Bayern wie vor einer höheren Gewalt zu Kreuze in der Meinung, dadurch sein Prestige vor den Siegern zu heben. Natürlich ist das Gegenteil der Fall. Da man aus Frankreich und England keine deutschen Diplomaten, also keine Esel nach Berlin geschickt hat, sagt man sich dort völlig richtig: dieser „Republik“ die Fähigkeit zuzutrauen, sich in ihrer Besiegtenpolitik dem Einfluß der Revanchisten zu entziehn, kann ebensowenig in Frage kommen, wie sie ja nicht einmal die Kraft hatte, sich vor denselben Revanchisten partikularistischen Bestrebungen zum Sturz der Republik gegenüber zu schützen. Daß die Sieger von Versailles vor den Herren Wirth und seinen Gehilfen mehr Respekt haben sollten, als die Pleitesozie[?] von der Isar vor ihnen gezeigt haben, das zu erwarten kann tatsächlich nur den Rapallotröpfen jüngsten Angedenkens in den Sinn kommen, (schon wird übrigens von Rußland und von Deutschland aus zugegeben, daß seit dieser Maltzan-Rathenau-Gescheitheit die Handelsbeziehungen zwischen den beiden Kontrahenten nicht besser, sondern schlechter geworden sind). – Nun steht also, wie von allen bedruckten Wischen gestöhnt wird, der Zusammenbruch vor der Tür. Und höchst intelligenterweise heißt die allgemeine Frage in Deutschland: wie vermeiden wir den Staatsbankrott? – statt daß gefragt würde: wie arrangieren wir den Staatsbankrott? Jaffé zeigte mir, als ich ihn im Januar oder Februar 19 auf seinem Ministerium besuchte, die Lektüre, über der er grade saß. Es war ein Buch, auf dessen Umschlag quer mit großem Buntdruck der Titel stand: „Staatsbankrotte“. Ich sagte sofort: „Eine geeignetere Lektüre kann es sicher jetzt für keinen Finanzminister geben“, – und er antwortete, daß wir um die Pleite auf Dauer um keinen Preis herumkommen und daß er der Meinung sei, sie müsse je früher umso besser erklärt werden. Jetzt, wo sie so gut wie da ist, sorgen die deutschen Finanzexperten sich um die Frage: wie können wir der Pleite entgehn?! – Mögen sie sich nur erst vollends in den Dreck arbeiten. Was draus wird, ist ja klar: die Not wächst ins Unerträgliche, Hungerrevolten brechen aus, dagegen wird das Allheilmittel eingegeben: blaue Bohnen und Zuchthaus, Offizierstreibjagden auf Proletarier, „sozialistische“ Advokatendienste für monarchistisches Mordgesindel, – und am Ende – entweder gleich diesmal oder doch nach weiteren Niederlagen – die Revolution, die auskehrt. Optimistisch bin ich da freilich für den Augenblick garnicht. Die deutschen Arbeiter sind noch immer überzeugt, daß die Gewerkschaften ihnen helfen werden, und die Kommunisten glauben, sie können die Gewerkschaften „revolutionieren“, wenn sie ihre Vertreter dort an die Bürokratenpöstchen bringen. Das heißt, ein Omelett aus faulen Eiern schmackhaft und wohlriechend machen zu wollen, indem man ein gesundes Ei dazu in die Pfanne quirlt. Natürlich fallen alle Wahlen in Gewerkschaftsämter oder zu den „Betriebsräten“ (die Ausbeuter haben es tatsächlich erreicht, daß diese absolut in Kapitalsdienst gezwungenen Belegschaftskommissionen von den Arbeitern selbst, die vergessen haben, daß der Gewerkschaftsmann Bauer als Reichskanzler bei der Annahme des Gesetzes im Reichstag mit der Behauptung, es sei eine „Bartholomäusnacht“ beabsichtigt gewesen, gegen die Verfälschung des Rätegedankens zu zehntausenden demonstrierende Proletarier zu vielen Dutzenden niederknallen ließ, daß diese proletarischen Zutreiberausschüsse für den Kapitalismus, von ihnen als wirkliche Betriebsräte angesehn werden) – die Wahlen zu dergleichen Arbeiterämtern fallen natürlich stets zugunsten deren aus, in deren Charakter, in deren politischer und wirtschaftlicher Gesamteinstellung der Opportunismus ohnehin liegt, zugunsten der Sozialdemokraten und der von ihnen kaum mehr unterscheidbaren und auch organisatorisch nicht lange mehr unterschiedenen Unabhängigen. Nun haben sich also die „Spitzenorganisationen“ (die „bewährten Führer“ sämtlicher auf Proletarierbetrug gegründeten Arbeiterkorporationen, nämlich der Zentralanstalten für Tarifschacherei mit den Unternehmern) mit „Forderungen“ bei der Reichsregierung eingefunden, die manch harmlose Revoluzzer hier drinnen sogar schon für revolutionär halten. Sie haben erstens nicht gelernt – was zumal aus der Vor- und Entwicklungsgeschichte der republikanischen Schutz- und Ministersakrifikationskomödie zu lernen war: daß Forderungen der Gewerkschaften (siehe auch das Bielefelder Abkommen) weit und breit von keinem Menschen mehr ernst genommen werden, da erwiesen ist, daß sie selbst sie niemals ernst meinen (wie sollten sie auch? Sind sie doch Fleisch und Bein vom Fleisch und Bein der Ebert, Legien, Bauer e tutti quanti), und sie sehn nicht einmal, daß die Forderungen zu einem Teil viel zu bescheiden sind, da sie nicht einmal die Gesamtproduktion rationieren oder auch nur unter Kontrolle stellen wollen, zum andern Teil papierner Platonismus bleiben müssen, wie das famose Verlangen, der Mark einen Zwangskurs zu oktroyieren. Das konnte man 1914, als mit der Ausgabe der ersten ungedeckten Papierscheine begonnen wurde, zumal bei der Absperrung und der Blockade machen – und nicht mal den ganzen Krieg durch; jetzt beweist die Forderung nur die nationalökonomische Hilflosigkeit derer, die sich noch immer „Sozialisten“ nennen. Was sie – nach allen Abstrichen während des Leidenswegs der Forderungen über Regierung, Wirtschafts- und Reichsrat, Reichstag, Kommissionen, Ministerien der Einzelländer etc – retten werden, wird die Einführung der wöchentlichen oder monatlichen amtlichen Indexlisten sein, die in Österreich eingeführt sind, ohne natürlich die hungrigen Bäuche im geringsten sättigen zu können. – Je weniger unsre „Republikaner“ aber für das ökonomische Balanzieren des Volkslebens werden tun können, umso lauter werden sie nach „Einigkeit“ schreien, womit sie die Einigkeit der gesamten Bourgeoisie mit den „besonnenen“ Teilen der Arbeiterschaft meinen. Nun hängt diese Einigkeit allerdings nicht von ihnen ab. Gott schütze Bayern und die preußischen Junker! Wir Revolutionäre haben von ihnen alles zu hoffen. Die parteioffiziöse „Bayerische Volkspartei-Correspondenz“ gibt einen Kommentar zu der Berliner Kapitulation vor München. Da wird nicht mehr von schweren bayerischen Opfern gesprochen. Denn mit der Taktik, nach dem Erfolg zu jammern, hätte man beinah Malheur gehabt, da die Miesbacher zu scharf ins Zeug gingen: Nein, man konstatiert jetzt selbst den Erfolg, – nennt ihn aber „Erfolg im Vorfeld“, und wird noch deutlicher mit der Feststellung, daß die Weimarer Verfassung immer noch in Geltung sei und den Föderalismus Deutschlands störe. Das amtliche bayerische Kommuniqué aber gibt eine historische Darstellung des ganzen Konflikts und putzt dabei seine Widersacher elend zusammen. Am schönsten ist in dieser hochoffiziellen Auslassung der Satz: „Der Reichsrat erwies sich als gefügiges Werkzeug der Reichsregierung.“ Diese Behandlung haben die Berliner Herren redlich verdient. Wir aber dürfen voll Frohmuts in die Zukunft blicken. Wir befinden uns in den Händen von Leuten, die übermütig geworden sind in der Fülle ihrer Siege über die jämmerlichsten Schlappschwänze der Weltgeschichte. Der Übermut wird sie bald genug in eine Arena führen, wo sie weniger erbärmliche Gegner vorfinden werden. Und ist ihnen da erst mal ein Zahn ausgeschlagen, dann fällt das ganze Gebiß hinterher, – dann werden sie nicht mal mehr bellen, geschweige denn beißen können.
Niederschönenfeld, Sonntag, d. 27. August 1922.
Valuta vorn, Valuta hinten: das ist das Gespräch in den Zellen, in den Gängen und im Hof. Der Dollar 2000! Da wird gerechnet und prophezeit und einer ist immer noch gescheiter als der andre. Wetten, daß in 3 Wochen 4000 erreicht sein werden, werden angeboten, alles Heil wird vom weiteren Verfall der Mark, statt vom Proletariat erwartet. Gewiß ist Magenknurren der Vordonner der Revolution, aber es genügt nicht, damit es blitzt und einschlägt. Solange sich die Arbeiter der „Disziplin“ vor Zentralvereinen unterwerfen, hoffe ich auf nichts Entscheidendes. Nur darauf hoffe ich, daß sie, wenn einmal die Stunde da ist, der Enttäuschungen gedenken werden, die sie schon von Parteien und Gewerkschaften erlebt haben, und daß es wieder die großen Stunden der Einsicht geben wird, wo die alten Markenkleber ihre Mitgliedbücher zerreißen und die Fetzen in den Versammlungssälen verstreuen werden. Da ich das einmal erleben durfte, werde ich auch nie irre in meinem Vertrauen zum deutschen Proletariat. Bis es allerdings wieder zum Aufwallen des heißen Zorns kommt, können wir unsre Blicke nur auf den Verfall der Wirtschaft richten, und ich teile nicht die Ansicht aller meiner Freunde, in Bayern werde der allgemeine Zusammenbruch durch nationalsozialistische Ablenkungsaktionen länger ertragen werden als sonstwo. Daß man solange wie möglich alles auf die Juden abschieben wird, ist sicher, sehr möglich auch, daß die Wut der hungrigen Bevölkerung sich zuerst in Pogrom-Unternehmungen in den größeren Städten entladen wird (in Schlesien haben die Judenverfolgungen schon Pogromformen angenommen). Aber all das wird keine Besserung schaffen, höchstens größere Warenhausplünderungen vorübergehende Beruhigung. Derlei Exzesse sollte man überhaupt nicht übertrieben wichtig nehmen; tragisch und beschämend werden Pogrome erst, wenn sie sich nicht mehr gegen Wucher- und Schwindelunternehmungen richten, bei denen die antisemitische Phrase nur die befeuernde Musik macht und sich die Aktionen tatsächlich gegen das Prinzip der Kaufhäuser wenden, gegen die die Wut der Handwerker und Kleinbürger höchst verständlich ist und bei denen die Konfession der Betroffenen garkeine Rolle spielt, – ekelhaft werden sie erst, wenn sie sich gegen Personen wenden, um ihrer rassenmäßigen Abstammung halber, wo dann zumeist arme kinderreiche Trödler mit proletarischer Lebensführung dran glauben müssen. Nach diesen Entladungen, die bei dem Geist, der in Bayern Ruhe, Ordnung und Sicherheit zu repräsentieren vorgibt, kaum ausbleiben werden, werden andre Faktoren in den Vordergrund treten, nämlich die Erkenntnis, daß die reaktionärste Regierung noch weniger imstande ist, Brot zu schaffen als eine, die es mit guten Worten versucht. Bayern hat bis jetzt die Ententeforderung, staatliche Subsidien als Lebensmittelzuschüsse abzustellen, nicht erfüllt. Infolgedessen kauft man hier Markenbrot und andre wichtige Dinge billiger als im übrigen Deutschland, und ein gut Teil Popularität bei der nicht sonderlich kritischen Bevölkerung mag das Regime des Landes dieser Eigenmächtigkeit verdanken. Die Entente steht nun zu dem von ihrem Standpunkt richtigen und von den Arbeiterführern, zumal denen, die doch „erfüllen“ wollen, zu Unrecht gelästerten Postulat, Deutschland (und in Österreich hat sie das erzwungen) müsse seine Konsumware ebenso teuer verkaufen wie der Weltmarkt. Was der Staat an Zuschüssen zahlt, ist Liebesgabe für den Besitz, dem dadurch Löhne erspart werden, die in Form von Profit in die Privattaschen fließen. Der Staat aber, der ohnehin den Besitz viel zu schonend mit Steuern heranzieht, beraubt sich durch die Subsidien großer Summen, die dann bei den Reparationsleistungen fehlen. Früher hat speziell England dieses Moment betont, doch findet sich in der Bar le Duc-Rede Poincarés der gleiche Gedanke wieder. Es ist danach kaum anzunehmen, daß man den mißachteten Bayern Extrasprünge dieser Art noch lange gestatten wird. Bei der Einwohnerwehr-Gaudi haben die Bayern ja aber gezeigt, daß sie den Schneid, der ihnen bei Berliner Auseinandersetzungen so gut zu Gesicht steht, dem „Feindbund“ gegenüber nicht aufbringen. Sie werden also mit Wehklagen zwar, aber doch ohne lange Verzögerungen, einer energischen Geste von Frankreich her Gehorsam erweisen. Dann hat ihr populärstes Mittelchen, die bayerische Eigenart zu exekutieren, ausgeschnauft, und dann wirds kaum lange dauern, bis in Stadt und Land die Nörgler gegen das System der Preußenjunker Gehör finden. Je länger sie zeigen können, daß all ihr Wirtschaften ein hoffnungsloses Abwirtschaften ist, umso gründlicher werden sie abgewirtschaftet haben, wenn ihre Herrlichkeit mit Lärm und Gestank verdunstet. Vor allen Dingen wünsche ich ihnen bis dahin noch viele Siege über das Reich. Das hat jetzt auch einen Rückblick auf den Streitfall veröffentlichen lassen, der darin die peinlichste Episode in der Verfassungsgeschichte Deutschlands genannt wird. Im übrigen bemüht sich die Reichsregierung um den Nachweis, daß sie eigentlich über Bayern gesiegt habe. Es geht aber aus der Wolff-Darstellung in Wirklichkeit nur hervor, daß Bayern schon bei der ersten Auseinandersetzung alles Erstrebte bekommen hatte. Schon damals jauchzten die Reichsdemokraten und -sozialisten: „Bayern besiegt“ und Lerchenfeld ließ seine Preßposaunen unter Miesbacher Druck dasselbe jammern. Jetzt schreien die Partner alle beide: wir haben gesiegt! – Zuerst logen beide, jetzt nur noch das Reich. Es ist jedoch noch nicht entschieden, wer von beiden sich die Knochen bei der Rauferei gründlicher verrenkt hat. Nicht lange mehr – und sie werden miteinander im selben Dreck liegen.
Niederschönenfeld, Montag, d. 28. August 1922.
In München war wieder großer Spektakel und zwar einer, der der ganzen Aufmachung nach auf Endgiltiges abgezielt zu haben scheint. Die völkischen Hakenkreuzler, die Nationalsozialisten, die Bünde von Frontsoldaten, deutschgesinnten Kriegsbeschädigten und was noch alles zum „Ordnungsblock“ zählt, hatten zu Freitag abend zu Riesendemonstrationen gegen die Berliner Abmachungen und gegen den Umfall der bayerischen Regierung aufgerufen. Pistolen und Schlagwerkzeuge seien mitzubringen – und das Ganze war auf große Aktion angelegt. Die Polizei verbot diesmal den Rummel auf dem Königsplatz und sperrte ihn sogar ab. Da aber der Karolinenplatz nahe dabei und auch ziemlich groß ist, demonstrierte man trotzdem recht tüchtig und Herr Xylander war in Person da, um die Sache zu schmeißen. Gott weiß, was passiert sein mag, daß die grünen Polizisten und die, die sie auseinandertreiben sollten, den Moment zum Fraternisieren verpaßten, jedenfalls wurde nichts Rechtes aus der Sache. Dafür gings im Kindlkeller hoch her. Hitler referierte mit der Vorsicht, die ihm angesichts des Scheiterns der Straßenmache als Österreicher geboten schien, und trat dann seinem Freund Esser das Wort ab. Dieser Tapfere zeigte dann, was vornehme Polemik ist. Er nahm sich die Familie Lerchenfeld vor und bewies an Madame, daß Monsieur ein Scheißkerl sei. Man lasse sich keine Hure als Landesmutter gefallen, und wenn er nicht mal seine Frau regieren könne, wie könne man dann von Lerchenfeld erwarten, daß er das Bayerland männlich regieren werde! Eine noble Belehrung des Volks, – das muß man sagen. Ob Lerchenfeld diese Attacke lange im Amt aushält? Prozessiert er nicht und zwar mit dem Erfolg einer gehörigen Lausung dieses Essers – und die wird davon abhängen, ob er vor Richter kommt, die mehr auf Lerchenfeld als auf Hitler tippen (leben wir doch in dem Lande, das Justizpflege ohne politische Einmischungen vom übrigen Reich verlangt) –, dann kann er einpacken und dem Hitlerkandidaten – heiße er nun Kahr, Pöhner, Xylander oder sonstwie – den Platz räumen. Schade wärs nicht um ihn, der fortgesetzt das Christentum im Munde führt und nicht einmal die schändlichsten Rechtsverbrechen in seinem eignen Ressort zu dämpfen, geschweige denn abzustellen vermochte – nicht einmal je den bescheidensten Versuch dazu gemacht hat. Wir in Niederschönenfeld können das beurteilen. Wie es mit der Rechtsgleichheit in diesem „Freistaat“, das[der] keine politische Justiz zulassen will, aussieht, das zeigt grade wieder die Nachricht, der Graf Arco habe auf einem Landgut den Besuch des Dr. Heim empfangen und mit ihm ein langes und sehr herzliches Gespräch geführt. Wir aber, die wir nicht gemordet haben, sondern rechtzeitig verhindern wollten, was jetzt zugunsten des französischen Kapitals Ereignis wird, dürfen mit unsern Frauen keine „herzlichen“ Gespräche führen; auch steht uns zu Besuchsempfängen kein eignes oder staatlich zur Verfügung gestelltes Landgut zur Verfügung, sondern eine kahle kleine vergitterte Gefängniszelle und neben uns ein Aufseher, der – wie mir das bei Zenzls letztem Besuch geschah – sich bei jedem Kuß bis dicht an unsre Köpfe vorneigte, sei es, um sich zu begeilen, sei es, um zu kontrollieren, ob wir die Gelegenheit nicht etwa zum Zustecken geheimer Nachrichten benutzten, aus denen die Welt einen Begriff von der Behandlung von Menschen in Bayern bekommt, die weder Grafen noch auch Meuchelmörder sind. – Aber all das, was jetzt geschieht, ist erfreulich und hoffnungerweckend. Die bayerische V. V.(Vaterländische Vereinigungen)-Faszistenhorde hat allmählich eine Höhe auf dem Anstieg zum Erfolg erklommen, die ihr den letzten Griff, um endgiltig Halt zu gewinnen, als absolute Notwendigkeit aufzwingt oder sie mit großem Krach und unter Genickbruch abstürzen lassen wird. Wie ich mir den zukünftigen Verlauf dieser Bewegung vorstelle, ergibt sich aus den eignen Erfahrungen im Winter und Vorfrühling 19. Damals standen wir Revolutionären Internationalisten und Kommunisten, die wir als offizielles Hauptquartier zur praktischen Machtausübung über den Revolutionären Arbeiterrat verfügten, den republikanischen Regierungen Eisner – und dann besonders Hoffmann in ganz ähnlicher Position gegenüber wie heute die Hitler und Genossen der gegenwärtigen. Wir dirigierten das Meiste von der Straße und den Versammlungen aus; bei gelegentlichen Versuchen, uns mit Gewalt still zu kriegen, traten die Massen auf den Plan, und ihr Wille war schließlich und endlich maßgebend. Was wir bei der ständig zunehmenden und von uns lebhaft erstrebten Radikalisierung der Massen übersahen, war die Strohfeuerqualität der um uns jubelnden Begeisterung. Wir nahmen den Lärm besoffen geredeter Volksmengen für Macht, und wir taten, wozu uns diese Menge tatsächlich drängte, was wir tun mußten: wir erhoben die Hand zum entscheidenden Griff an die Machtkurbel. Dann setzten die Widerstände von außen ein, denen wir deshalb nicht positiv entgegenwirken konnten, weil das Strohfeuer der Anhänger vor der Gefahr erlosch. Die lautesten Jünger verrieten uns, und wir sahen zu spät, wieviel im Innern widerstrebende Anhänger aus Opportunismus solange zu uns gestanden hatten, bis sie fanden, daß unser Gaul am Ende das Rennen doch nicht so sicher machen würde wie es schien und teils passiv abwarteten, teils gleich zum Gegner abschwenkten. Und die regierende Partei – die Sozialdemokratie – tat mit uns mit, soweit es anging, solange sie vermutete, wir würden Recht behalten und sie dürfte dann den Anschluß nicht verpassen. Die Massen, die heute hinter dem Hakenkreuz herlaufen und johlen, drohen und zu Taten drängen, sind durchaus keine andern als die, die damals hinter der roten Fahne marschierten, johlten, und zu entscheidenden Taten drängten, ja, sie bestehn zweifellos vielfach aus den gleichen Personen, die ohne viel zu kritisieren, die Verhältnisse unerträglich finden und die Schuld daran denen zuweisen, die von den grade modernsten Parolegebern als Schuldige angegeben werden. Die Enttäuschung an ihnen steht den Xylander-Leuten noch bevor. Freilich ist ihre Aussicht insofern besser, als sie die wichtigsten Posten in der Staatsverwaltung in den Händen ihrer Anhänger wissen, vor allem in der Polizei und in der Justiz. Da hatten wir – dank Eisners irrsinniger Entgegenkommenspolitik, die überall alle Monarchisten auf ihren Plätzen ließ und sie selbst dahin zurückrief – im Gegenteil da das größte Minus, wo sie das größte Plus haben. Dafür aber haben sie tatsächlich nichts der inzwischen unsinnig vergrößerten Volksnot entgegenzusetzen als Phrasen, während wir praktische Mittel wußten und auf das russische Beispiel verweisen konnten. – Wenn es nach meinen Wünschen geht, dann gelingt den Nationalisten in Bayern zunächst ihr Griff. Sie werden dann in dieselbe Lage kommen wie wir im April 19. Ganz plötzlich werden sie sich zugleich unmöglichen Ansprüchen an ihre Organisationsfähigkeiten, den ungeheuersten Widerständen von außen und innen – sie zumal noch mehr durch die Arbeiterschaft als wir durch die Bauernschaft – und dem Abfall und dem Verrat der unsicheren Kantonisten gegenübersehn, die scheinbar zu ihnen halten und in Wirklichkeit in ihnen nur das Sprungbrett sehn, um selbst schwimmen zu können. Es wird, wenn den Xylander-Hitlern der Schwung gelingt, eine ganz kurze Zeit dauern, in der man freilich mehr Ursache haben wird als zu unsern Tagen von „Schreckensregiment“ zu reden, – und dann wird die Seifenblase zerplatzen und Bayern wird auf Gedeih und Verderb die Politik mitmachen müssen, die in Berlin und im übrigen Deutschland gemacht wird. Welche Politik das sein wird, deutet sich eben erst an. Darüber zu handeln, wird Zeit sein, wenn sich ein gewisser Überblick über das groteske Chaos ermöglichen läßt, in das die gesamte Wirtschaft verstrickt ist und das durch die letzten Tage in neues Licht geraten ist. Man wird abwarten müssen, wie sich die österreichische Frage löst, – hinter der Kriegsgefahr lauert, – wie das Schachergeschäft der Reichsregierung mit der Repko endlich ausgeht – und ob da ein neues Provisorium gefunden wird – und wie das Verhältnis des Dollars zur Mark sich in den nächsten Wochen gestalten wird. – Wo man hin sieht, ist die Lage verzweifelt. Grade darum haben wir garkeinen Grund zum verzweifeln.
Niederschönenfeld, Dienstag, d. 29. August 1922.
Jetzt habe ich eben meinen ersten Liebesbrief an unsern neuen Justizminister Gürtner aufgesetzt. Aber davon später. Ich will heute auf alle großen politischen Fragen garnicht eingehn, sondern nur vermerken, was sich leichter vergessen läßt als weltgeschichtliche Zusammenbrüche. Was ich heute fixieren will, betrifft den Teuersten meiner Feinde: Eberhard Auer. Der Besuch Heims bei Arco scheint für unsern Märtyrer eine unerwartete Wendung zu nehmen. Zuerst hatte die Münchner Post mit allerlei boshaften Ausfällen von diesem Besuch erzählt. Aber der große Heim Schorsch revanchiert sich. Er läßt im Bayerischen Kurier eine Darstellung los, etwa so: er sei grade in Landsberg gewesen, sei dort mit einem Verwaltungsbeamten zu dem Gut gekommen, auf dem zufällig grade oder auch, weil es sich so gehört, Graf Arco bei der Arbeit war. Und da ist dann auch etwas gesprochen worden. Dann kommt’s. Wie kann sich denn aber ausgerechnet die Münchner Post über so eine zufällige Begegnung aufregen, deren eigener Direktor doch, „mein verehrter Kollege Auer“ seinerzeit selbst dem Grafen Arco ein Rosenbukett übersandte, noch dazu mitten im Winter!? – Das ist allerlei! Heim ist nicht der Mann, der leicht widerlegbare Lügen losläßt, und es wird Auer schwer werden, sich zu rechtfertigen. Dieser „Sozialist“ steht also mit dem Mörder des Präsidenten des Ministeriums, dem er selbst dank dessen Berufung angehörte, auf einem so freundschaftlichen Fuß, daß er ihm im Winter sinnige Rosengrüße schickt! – Ich schlage eben in der – übrigens im Verlage G. Birk u. Co. (das ist der Verlag der „Münchner Post“) erschienenen – Broschüre „Die Attentate im bayerischen Landtag“ nach, die zweifellos unter Auers Einfluß entstanden ist und einen höchst tendenziös gefaßten Prozeßbericht über die Verhandlungen gegen Lindner enthält. S. 41 heißt es: Vorsitzender: „Sie sprechen immer davon, daß Auer seine Hand im Spiele gehabt haben soll (nämlich bei der Ermordung Eisners) ... Wie haben Sie sich das zusammengereimt, Arco und Auer?“ Angeklagter: „Auer habe ich für einen Volksverräter gehalten und ihm auch zugetraut, daß er mit dem Grafen Arco in Verbindung stehe.“ Vorsitzender: „Das ist ja Unsinn, was Sie da sagen.“ Angekl: „Aber ich habe es fest geglaubt, weil ich ihn für einen Volksverräter hielt ...“ War es nun Unsinn, was unser armer Aloys gesagt hat? Man konnte damals hinhören, wo man wollte: jeder Mensch hatte die Empfindung, da steht Auer dahinter. Und wer den Mann kennt, weiß, daß sein Charakter zum mindesten nicht dagegenzeugt. Bei dem Weihnachtsattentat auf mich war mein erstes Wort zu Zenzl, als wir mit heilen Knochen die Wohnungstür hinter uns geschlossen hatten: „Den Revolver hat Auer geladen!“ – Ich habe in diesen ganzen Jahren noch nie einen Augenblick daran gezweifelt, daß er damals den Mörder für mich gedungen hat. Ob er auch den Revolver für Eisner geladen hat, bleibt vorläufig eine offene Frage, die aber jetzt höchst interessant wird, da man nun die Zärtlichkeit kennt, mit der seine Sympathie für den jungen Mann zum Ausdruck kommt, der damit knallte. Nun – und der Revolver, der gegen ihn selbst vom romantischen Südfriedhofsversteck aus losging, und auf den er so verblüffend schlagfertig seine Revanchepistole gegendrückte (ach, seine Patronen fand man nachher im Friedhof, die des „Mörders“ scheinen sich in die Luft verflüchtigt zu haben, vielleicht war die Waffe auch nur mit Fürzen geladen) – es wird wohl nie gelingen, ganz genau festzustellen, wer den Revolver damals geladen hat, wenn nicht wieder irgendein boshafter Bauerndoktor aus der Schule plaudert, was Auer unangenehm ist. Dieser „Republikaner“, der zu Weihnachten 1917 sein Töchterchen vor dem König Ludwig Verschen aufsagen ließ, der den Januarstreik 1918 abwürgte und Arbeiter en masse der militärischen Kommandogewalt des späteren Justizministers Roth auslieferte, der in der Revolutionsnacht, die seinen Aufstieg zur Ministerhöhe unmittelbar zur Folge hatte – und er nahm die Würde des Ministers einer Eisnerschen Republik an! – bei den Generälen des Königs um Truppen gegen die Republik zeterte, und der dann dem Mörder seines Ministerchefs, der den ersten großangelegten royalistischen Konterrevolutionsakt ausführte, dankbar Blumen in die Gefangenschaft schickt, während er gemütsberuhigt zuläßt, daß der Arbeiter, der ihn durchschaute, der in der Erregung des Augenblicks die Waffe auf ihn anlegte, mit allen Schikanen infamster Rache im Zuchthaus zugrunde gerichtet wird, der seine fette Rente vom Staat für diese Schüsse bezieht, während Frau Eisner nicht weiß, wie sie leben und ihre Kinder sättigen soll für den kleinen Brocken, den der Staat ihr hinschmeißt und Frau Gareis garnichts kriegt – denn auch Auer bestätigte, daß die Ermordung ihres Mannes keineswegs als eine politische Tat zu bewerten sei –, der obendrein als Mitglied von kapitalistischen Aufsichtsräten große Tantiemen einsackt und dem Proletariat immer und immer wieder vormacht, es dürfte nie etwas für sich tun, sondern immer warten, was er – Auer – tut; der jede Gelegenheit, für die politischen Gefangenen Erleichterungen oder gar Amnestie durchzusetzen, ja selbst nur zu kontrollieren, wie sie behandelt werden, mit allem Raffinement, das einem beschränkten Rohling fanatischer Haß eingeben kann, sabotiert hat – und der dabei sich aufspielt, als ob nur er ein Republikaner sei in diesem Lande – dem soll eines Tages noch gezeigt werden, daß nicht nur Betrug, nur Lüge und Tücke für alle Dinge Erfolg verbürgt. Nur das möchte ich noch erleben, einmal mich öffentlich hinzustellen und die Münchner Schafe seiner Herde aufzuklären, wer ihr Hirt ist. Ein einziger Vortrag mit dem Thema Auer! – oh, dann wird mir wohl sein. Noske ist ein Ehrenmann neben dieser Kanaille! – Was nun die Angelegenheit betrifft, die meinen Brief an Gürtner veranlaßt hat, so will ich hier einfach die Abschrift folgen lassen: „Eingabe des Fest.-Gef. E. M., N’feld. An den Herrn Staatsminister der Justiz. München. Justizpalast. – Betr. Beschimpfung und Bedrohung der Festungsgefangenen durch polizeiliche Schutzmannschaften. – Seit kurzer Zeit haben die Festungsgef. in N’feld beobachtet, daß die bisher nur für den Wachtdienst außerhalb der das Verwahrungsgebäude der pol. Gefangenen unmittelbar umgrenzenden Höfe verwendeten Mannschaften der Grünen Polizei ohne irgendwelchen durch die Gefangenen gegebenen Anlaß auch innerhalb dieses Komplexes Dienst tun. Ihre Wachen patrouillieren in voller Bewaffnung unter den Fenstern der Anstalt, und die Festungsgefangenen müssen, um auf den Spazierhof zu gelangen, an den polizeilichen Wehr-Posten vorbeigehn. Diese Änderung erregte gleich anfangs eine gewisse Beunruhigung unter den Fest.-Gef., deren Nerven durch die langjährige dauernd verschärfte Haft ohnehin überaus reizbar geworden sind. Doch wurde eine Abstellung der Neuerung bei der zuständigen Stelle nicht angeregt, da ein solches Ersuchen nur mit Empfindungsargumenten zu begründen gewesen wäre und demnach von vornherein aussichtslos erschien.* – Heute früh wurden die Festungsgefangenen beim Hinaussehn aus den Gangfenstern durch an den Innenseiten der die Anstalt eng umschließenden Mauern aufgemalte Hakenkreuze und andre auf jüdische Einwohner hindeutende bekannte Merkzeichen überrascht. Es scheint zweifellos, daß als Urheber des Unfugs nur Angehörige der Polizeiwehr in Betracht kommen können. – In meiner Eigenschaft als jüdischer Fest.-Gef. lege ich gegen derartige Kundgebungen, die mindestens als Beschimpfung, vielleicht aber als Bedrohung auch meiner Person aufgefaßt werden müssen, entschieden Verwahrung ein. Es kann mir nicht gleichgültig bleiben, ob Personen, die als Beamte einer unter meiner Mitwirkung entstandenen Republik das Gebäude, in dem ich untergebracht bin, zu bewachen haben, die Gelegenheit ihres Dienstes zur Bekundung ihrer politischen Gesinnung, und zwar in offenbar provokatorischer Absicht an meine und meiner Mitgefangenen Adresse, benutzen. An die harmlose Absicht des Täters zu glauben, fällt mir, zumal angesichts der erregten politischen Leidenschaften in dieser Zeit, umso schwerer, als die Bedeutung der angezeichneten Symbole als Aufforderung zu Pogromen und Androhung von Gewaltakten im Sinne ganz bestimmter politischer Tendenzen keinem Zweifel unterliegt. Für derartige Äußerungen humorvollen Übermuts diensttuender Wehrmannschaften ist aber den Gefangenen das Verständnis verloren gegangen, die – selbst wehrlos und von Bewaffneten umgeben – ihr Leben in der Erinnerung an ihre Freunde und Genossen Landauer, Eglhofer, Sontheimer und vieler andrer verbringen, die gefangen und wehrlos von den zu ihrer Bewachung bestellten diensttuenden Wehrmannschaften getötet wurden. – Die Polizeiwehr in Niederschönenfeld ist von den Fest.-Gef. niemals im geringsten zu irgendeiner feindseligen Haltung herausgefordert worden. Es handelt sich um die völlig grundlose Reizung Gefangener durch Bewaffnete. – Ich ersuche den Herrn Staatsminister der Justiz, einer Wiederholung des Vorgangs durch geeignete Mittel vorzubeugen und den Festungsgefangenen das Gefühl ihrer persönlichen Sicherheit dadurch wiederzugeben, daß den Beamten der Grünen Polizei ihr Dienst in genügender räumlicher Entfernung von dem Verwahrungsgebäude der polit. Gefangenen zugewiesen wird, um jede persönliche Auseinandersetzung zwischen diesen und ihren Bewachern über politische Meinungen und Wünsche, die doch nur einseitig geführt werden könnte, auszuschließen. N’feld, d. 29. Aug. 1922 Erich Mühsam.
* Ich erfahre, daß Max Huber damals gleich zu Hoffmann gegangen ist, der ihn grob abfahren ließ. Das seien Verwaltungsangelegenheiten, die die F.-G. garnichts angingen, und nur seine sonst gute Führung bewahre ihn vor Disziplinierung. – Um so eindringlicher wird dieser Brief wirken.
Niederschönenfeld, Mittwoch, d. 30. August 1922.
Man kommt kaum mit mit den Ereignissen, wenn auch nur alles persönlich oder allgemein Wichtige chronologisch erwähnt werden soll. Ich will heute wieder zuerst Niederschönenfelder Kleinigkeiten notieren, da alles andre schlimmstenfalls nachträglich aus den Zeitungen zusammenkompiliert werden kann. Und auch da nur ganz persönliche Dinge, wie sie x andern Genossen täglich auch passieren. Gestern erhielt ich gleich 2 Eröffnungen über beschlagnahmte Korrespondenz: eine Postkarte von meinem alten Richard Östreich, der sich nun mal absolut nicht die Gollwitzigkeit der Schreibweise angewöhnen kann, wie sie hier verlangt wird. Wieder mal also – zum wievielsten Male! – „wegen agitatorischen Inhalts“ zu den Akten. Und dann ein Brief vom Seppl, der zur Zeit beim Adolf in Kempten ist „wegen verschleierten Inhalts“. Der arme Junge, – wie mag er sich geplagt haben, um den Inhalt seines Briefes recht geschickt zu „verschleiern“, – und nun hat der Kriminaler da unten doch was gewittert. Wie mißtrauisch der Mann Postsachen von eben entlassenen Festungsgefangenen umschnüffelt, dafür erhielt ich grade gestern einen köstlichen Beweis. Ich hatte der kleinen Tochter vom Burglengenfelder Schmidt auf seinen Wunsch ein Gedicht mitgeschickt, und dafür hat sie mir nun eine Dankpostkarte geschrieben: abgesandt am 18. August, mir ausgehändigt am 29. August, – das ist die erste Vorsichtsmaßregel der Zensur (auch auf Adolfs ersten Brief mußte ich ja 14 Tage warten, bis er zur Austrocknung von geheimen Zeichen unten abgelagert war). – Der Argwohn, ich könnte mit dem Schmid-Sepp Stichworte verabredet haben, muß aber bei Herrn Gollwitzer sehr groß gewesen sein. Es heißt in der Karte des 13jährigen Mädels: „Mein Vaterl ist ... angekommen“ u. s. w. und in einem Postskriptum: „Viele herzliche Grüße vom ... Vater“ – An den punktierten Stellen ist je ein Wort vom Zensor mit Tusche unleserlich gemacht. Sollte Herr Gollwitzer sich mal gegen meinen Willen den Einblick in dieses Heft erzwingen – 5 oder 6 Hefte befinden sich ja noch immer in den Händen der bayerischen Rechtspflege –, dann mag er erfahren, daß er mit seinem Verdacht auf falscher Fährte war, daß weder die „gute“ Ankunft noch der „Herzens“-Vater (oder wie immer die Worte gelautet haben mögen) die Orientierung über das, was ich hätte wissen wollen, ermöglicht hätte, und daß ich alles, was mir von Interesse war, auf andre Weise erfahren habe, die Herrn Gollwitzer sowohl von mir wie vom Schmid noch nicht verraten werden wird. Später mal vielleicht, – treff ich Euch draußen im Freien. – Soviel aus diesem lieben Hause. – Ich habe seit etlichen Tagen mich nicht mehr mit der europäischen Lage beschäftigt, die fast ganz noch immer von den Reparations- bzw. Moratoriumsverhandlungen beherrscht wird. Die Herren Mauclère (oder Mauclerc?) und Bradbury sind wieder abgereist, anscheinend unter einander nicht grade in jeder Frage einig. Aber der ungeheure Marksturz muß ihren Auftraggebern in Paris und London doch schwer über den Bauch gefahren sein; denn urplötzlich trat – gleich nach der Abreise der Repko-Herren – die Erholung ein, und der Dollar fiel in den letzten 3 Tagen wieder von 2400 auf etwa 1400 Mark. Demnach hält die Börse das Moratorium wieder für wahrscheinlich, und man wird nun ja bald erfahren, aufgrund welcher Verpflichtungen Deutschland es erhält – selbstredend nur für kurze Zeit, weil in ganz Europa alles Definitive tief verhaßt ist. Was man schon weiß, ist, daß die deutsche Großindustrie sich erboten hat, in Form von Holz- und Kohlenlieferungen unter eigner mit Konventionalstrafen gesicherter Garantie Deckung für die ohne Aufschub zu leistenden Zahlungen zu übernehmen (und schon läßt sie auch durch ihre Presse-Reptile andeuten, daß dazu erhöhte Anforderungen an die Leistungen der Arbeitnehmer gestellt werden müssen, will sagen: die Arbeiter, die als Konsumenten ja schon den Profit für sie hereinsteuern sollen, sollen dabei auch gleich um den Achtstundentag geprellt werden). Wie sich Frankreich zu dem Angebot stellt, ist noch unsicher. Es heißt aber, daß ein andrer Modus gefunden sei, um alle zu befriedigen: die deutsche Regierung soll vorgeschlagen haben, eine unparteiische Kommission, am liebsten eine amerikanische, solle als entscheidende Instanz die endgiltigen Festsetzungen der zu zahlenden bzw. der zu stundenden Reparationssummen aufstellen, (das erinnert stark an das Angebot des starken Simons an die U. S. A., sie mögen ihren Präsidenten über Deutschland entscheiden lassen, wie er wolle und man werde sich bedingungslos unterwerfen). Dieses Mal war man nicht so unvorsichtig würdelos wie damals, und man liest jetzt von einem Plan des amerikanischen Gouverneurs Cox, der Kriegslebensmittelorganisator Amerikas Hoover solle quasi als Deus ex machina in die europäische Wirtschaft hineinfahren und mit unbeschränkten Vollmachten die ganze Reparationsfrage zur Lösung führen. – Morgen sollen angeblich in Paris die letzten Entschlüsse über das alles gefaßt werden. – Jedenfalls ist der Markwert wieder gestiegen, was man sich jetzt wieder leisten kann, da die Preise in Deutschland sich bereits nach dem Rekordstand des Dollars rektifiziert haben: und die bleiben stets wie beim Maximalthermometer solange auf ihrer Höhe, bis nach allen Schwankungen und Senkungen ein neuer Rekord erreicht wird, bei dem alles gewaltig aufwärts klettert – und nur die Löhne der Arbeiter erst durch neue Streiks allmählich nachgeschleppt werden, zumeist aber erst, wenn inzwischen die allgemeinen Preissteigerungen neue Gipfel erklommen haben. Jetzt geben die Tabakfabrikanten bereits bekannt, daß sie neue Verkaufs-Mindestpreise für ihre Produkte festsetzen mußten, sodaß in Zukunft die billigste Zigarette 7 Mark, die billigste Zigarre 20 Mark, der billigste Tabak für das Pfund 200 Mark kosten wird. Ich sehe mit Ängsten die Möglichkeit zu rauchen dahinschwinden, – und wielange mir der für mein Herz so nötige Bohnenkaffee noch täglich zubereitet werden kann, das wissen die Götter. (Fett aufs Brot oder zum Kochen und jede Art „Brotzeit“ ist schon seit langen Wochen ein Traum aus der Vergangenheit). – Die Verhältnisse in Österreich sind gradezu grotesk: eine Zeitungsnummer 200 Kronen, eine Trambahnfahrt 1000 Kronen u. s. w., die Lebensmittel, Textilprodukte etc. kosten phantastische Summen, und dabei herrscht in beiden Ländern ein Luxus wie nie irgendwo in der Welt. Herr Seipel aber fährt noch immer zu den europäischen Regierungen als Commis voyageur herum und bietet sein Land an. Die Italiener haben ihm bei der Gelegenheit erklärt, daß sie auf dem Vertrag von St. Germain bestehn und unter keiner Bedingung den Anschluß an Deutschland zugeben werden. Das Angebot, den Zoll- und Münzanschluß Österreichs an Italien selbst vorzunehmen, haben sie abgelehnt, und nun verhandelt man in Verona wegen eines neuen Pumps und die letzte Rettung soll dann vom Völkerbund kommen. Der hat ja gezeigt, was er wert ist. So kennt sich in Ost und West kein Teufel mehr aus, und das Proletariat erst recht nicht. In Deutschland verhandeln jetzt glücklich die MSP-Bonzen mit den USP-Bonzen wegen Zusammenschluß der Eisners mit den Auers und der Haases mit den Noskes. Und der „Vorwärts“ brachte einen Aufruf, in dem er die Weltlage schwarz in schwarz malte, die fürchterlichste Weltkatastrophe prophezeite und dann das Mittel anpries, durch das alles Unheil noch abgewendet werden kann. Es besteht in – erhöhter Beitragszahlung für die sozialdemokratische Partei. Nur in dem verlästerten Frankreich rühren sich wieder einmal die Hungrigen. – In le Havre ist ein großer Streik unter den Hafenarbeitern ausgebrochen, der mittels Noskescher Methoden bezwungen werden sollte. Es gab Straßenkämpfe mit Barrikaden, Schützengräben und ganz revolutionären Erregungen. Und da es Frankreich ist, wo das vorgeht, ist die Angelegenheit nicht lokal zu erledigen, sondern greift auf andre Plätze über. Schon sollen in Paris und anderswo große Streikbewegungen im Gange sein, und es wird sich zeigen, ob die nach deutschen Vorbildern organisierten Arbeiterverbände der letzten Jahre schon imstande sind, das revolutionäre Temperament dieses herrlichen Volks bürokratisch zu betrügen, oder ob die Enkel der Kommune-Kämpfer ihren Vorbildern Ehre machen werden. – Braucht man also bei solchem Geschehn in aller Welt zu verzagen? Wahrhaftig nicht! – Und für uns persönlich wird ja ganz rührend gesorgt: Radbruch ist zu Verhandlungen mit Gürtner nach München gefahren. Er wird wohl schön bitten, daß ihm die Vorlage eines Strafvollzugsgesetzes für das Reich auch von Bayern erlaubt wird, – und wenn er sich verpflichtet, Niederschönenfeld zum Muster für deutsche Ehrenhaft überhaupt zu nehmen, wird’s ihm vielleicht auch bewilligt werden. Ob ihm aber Herr Dr. Gürtner bei der Gelegenheit auch gleich meinen kleinen Liebesbrief vorlegen wird? Das kann füglich bezweifelt werden. Nun – möge den beiden Justizministern, dem Sozialdemokraten und dem Deutschnationalen, meinem Schulfreund und meinem Berufsquäler wenigstens das Frühstück schmecken, mit dem sie ihren Rechtsbund weihen werden.
Niederschönenfeld, Donnerstag, d. 31. August 1922.
Jeden Tag wird’s verrückter in der Welt. Die Wirkungen der Geldentwertung muten nachgrade fast komisch an. Dabei kennt sich niemand über den wirklichen Stand der Währung aus, da sich seine Höhe stündlich ändert und zwischen morgens und mittags der Dollar zu Preisunterschieden von Hunderten von Mark gehandelt wird. Er tost in diesen Tagen zwischen 1300 und 1700 herum. Wie dabei von oben bis unten die ganze Wirtschaft moralisch verkommt, wie jeder Mensch, jedes Gewerbe, jeder Interessenkonzern in Schwindlermanieren im Verkehr mit der Mitwelt verfällt, ist für den Beobachter aus der Gitterperspektive ungeheuer lehrreich (wer draußen und also mitten drin steckt, merkt ja schon lange nichts mehr von der Versumpfung des Geländes, auf dem er lebt). Ein Kapitel besonderer Art zu diesem Thema ist meine Freundin, die Presse. Ich bin abonniert auf 2 weit von einander unterschiedene Organe der Deutschen Demokratischen Partei, auf den auf Deutschnationalem Boden stehenden „Fränkischen Kurier“, der aber auch anders kann, und die ungefähr auf dem Boden der USP stehende, aber anständigere, pazifistische „Berliner Volkszeitung“, die sich als ein Organ für herzensgute Kleinbürger treu bleibt. Vor zwei Monaten bezahlte ich für die beiden Blätter zusammen 85 Mark, was mich mit großem Schrecken erfüllte, da ich im Mai bloß 58 Mark (gegen 46 vorher) für den Juni zu zahlen hatte. Am 17. August kam aus heiler Haut eine Nachforderung der Berl. Volkszeitung von 25 Mark, sodaß ich 110 Mark ausgab. – Da ich genügend Geld unten auf dem Konto liegen hatte, entschloß ich mich, für den September beide Zeitungen wieder zu bestellen, und überlegte dabei nicht, daß das unglaubliche Verfahren, für schon bezahlte Ware nachträglich noch einmal Nachforderungen zu stellen, bei Gefahr die Weiterlieferung gesperrt zu kriegen, im Deutschland der durch unsre Einsperrung gesicherten Ordnung, allgemein schon Übung geworden ist. Also, ich war auf 110 Mark gefaßt auch für den September. Vorgestern kriegte ich nun die Zeitungsquittung: Kosten 170 Mark: weder das Nürnberger Blatt aber noch das Berliner hatten ihren Abonnenten mitgeteilt, daß sie den Preis wieder erhöht hätten, und heute überzeugte ich mich im Fränkischen Kurier unter den Bezugsbedingungen, daß der Monatspreis 50 Mark betrage. Das erfährt man, nachdem man bereits – laut Postschein – 70 Mark hergegeben hat. Damit aber nicht genug: Die Zeitungen – das Stinnesblatt ebenso wie das Mosseblatt – teilen an andrer Stelle des Blatts mit, daß sie angesichts der ungeheuren Papierpreissteigerung gezwungen sind, eine ganz gewaltige Abonnentenpreiserhöhung vorzunehmen und teilen dem Leser, der eben für den September bezahlt und die Quittung in der Hand hat, mit, daß zum 1. September weiterhin mehr als 50 % aufgeschlagen würden. Nachdem ich 70 Mark für den Fränkischen Kurier erlegt habe, erklärt er mir, er koste jetzt 132, nachdem ich für die Volkszeitung 100 Mark erlegt habe – und beide mir durch eine staatliche Behörde die Bescheinigung ihrer Lieferpflicht durch staatliche Vermittlung haben aushändigen lassen – erklärt mir auch dieses Organ, daß es vom 1. September ab 150 Mark koste. Diese Methode ist allgemein jetzt der Brauch und niemand findet mehr etwas dabei. – Ich bin in teuflischer Verlegenheit durch die Sache. Die Genossen, mit denen ich gemeinschaftlich lese, haben kein Geld, – auch nehmen sie mir alle manuellen Arbeiten ab, und ich bin froh, daß ich mich durch die Übernahme der Zeitungen etwas revanchieren kann. Sandtner hat mir trotzdem, als er hörte, daß ich 170 Mark zahlen mußte, 50 Mark auf sein Konto abgenommen. Wie ich aber die mehr als 100 Mark, die jetzt noch täglich als Nachschlagsforderung kommen werden, begleichen könnte, wenn nicht zufällig grade eine Scheckspende von 500 Mark von einem Gönner aus Mexiko vor der Einlösung stände, wüßte ich nicht, und vom nächsten Monat an sehn wir die Aussicht vor Augen, uns überhaupt keine regelmäßige Zeitungslektüre mehr gönnen zu können. Denn die Arbeiterblätter, die gratis hereinkommen, werden dank der ebenso regen wie unparteiischen Zensurtätigkeit in dieser Anstalt zumeist nicht in unsre Hände, sondern in unsre Akten (oder auch gleich auf die Abtritte des Beamtenpersonals) geleitet. Kommt hinzu, daß nur die bourgeoisen Zeitungen über genügend Kapital verfügen, um sich einen wirklich informierenden Nachrichtendienst leisten zu können, und daß die Orientierung der Leser durch die Arbeiterpresse – besonders durch die gesinnungsanständige – dank der kläglichen Redaktionsführung durch unfachmännische Genossen ganz unzulänglich ist. – Wie gern freilich wäre ich bereit, auf alle Zeitungsorientierung zu verzichten, wenn wahr wäre, was uns die Organe der Schwerverdiener vorweinen und auf ganzen Bögen zu beweisen suchen, daß die deutsche Presse am Verenden sei, daß diese hohe Kulturpflanzstätte unrettbar dahinsterbe. Schon sind hunderte von Zeitungen eingegangen – Gott erhalte uns die übrigen! – Hätten sie doch recht mit ihrem Kassandragejammer! Welch ein unermeßliches Glück wäre es für dieses arme Volk, wenn die Gift- und Lügenschläuche nicht mehr verheerend um sich spritzten und als Wahrheit, Überzeugung, Recht und Kultur stets das in die Welt schrieen, was ihre finanzierenden und inserierenden Auftraggeber jeweils für die Hebung ihres Geschäftsprofits – in der Kottonfabrikation, wie Lassalle sagte, und in jeder andern Verfertigung einträglicher Artikel der Massenbegaunerung – für nützlich halten –, wenn die gesamte Presse, die Politik und Kultur, Kunst, Gesinnung und menschlichen Anstand jeder Art als Teig für Gewinnspekulationen einzelner Volksbetrüger verknetet, zum Teufel ginge! – Dieser Gedanke wäre Trost genug, um auf die Verfolgung all der Schmutzereien verzichten zu können, mit denen das Kapital sonst noch die Menschheit verpestet, zumal das Aufhören der infamsten Schmutzerei, der geistigen Syphilisinfektion durch die Presse eben, alle übrigen Kotkanäle verstopfen müßte. Tod den Inseratenplantagen und Spekulationsbordellen der Bourgeoisie – dann könnte man an eine geistige Erholung des Volks und an eine gesunde Informationskost durch eine unbestochene Presse denken! Leider besteht keine Hoffnung auf eine Verwirklichung dieses Traumes, ehe nicht das Proletariat seinen Willen mit Gewalt erzwingen kann. Wenn ich aus meiner Revolutionstätigkeit mich einer Tat vor der Welt rühmen darf, so ist es die, daß ich als Erster die „Freiheit der Presse“, das Monopol des mit Lügen spekulierenden Kapitals zu sein, durch eine deutlich sichtbare Aktion, die Besetzung der großen Münchner Zeitungen am 6. Dezember 18, demonstrativ als volksfeindlich zum Ausdruck brachte. Ich wußte damals genau, daß sich die individuale Sozialisierung dieser Unternehmungen nicht halten lasse, aber hätte Eisner die verfluchten Reptile nicht durch eignes Eingreifen in unsre Aktion vor der Zeit wieder aus unsern Händen befreit, – wofür sie ihn ermorden ließen –, dann hätte die wohltätigste Angst sie nachher verhindert, so frech, gemein, verlogen, erbärmlich und hinterlistig wieder aufzutreten, wie ihre Art war und heute schäbiger als je ist. – Solange also nicht grundsätzlich alles geändert ist, bleibt uns Menschen allen nichts anders übrig, als den Trank des aktuellen Wissens aus diesen schmutzigen Röhren zu ziehn, und da wir hier drinnen mit allen Fasern unsres Lebens an den Vorgängen der Außenwelt hängen, so müssen wir zusehn, daß uns wenigstens das ekle Geschirr erhalten bleibt, das privilegiert ist, die tatsächlichen und manchmal nicht verfälschbaren Meldungen zuzuführen. Man muß ja nicht alles lieben, was man benutzt. – Übrigens sind die Nachrichten, die heute aus diesen Leitungen flossen, nicht überwältigend belangvoll. In einer Note an den deutschen Botschafter Mayer quengelt die Entente – und zwar „einmütig“ – mal wieder an den Kriegsbeschuldigtenprozessen herum. Man will wohl zu verstehn geben, daß über die Nachgiebigkeit, die man faute de mieux in den wirtschaftlichen Friedensvertragsregelungen zeigen muß (die Sozialdemokraten-Republik hat diese Regelungen nun auch endlich in die Hände gelegt, die ihrem Wesen am besten gerecht werden: in die der Herren Stinnes, Klöckner und Kirdorff), die politischen Paragraphen von Versailles nicht vergessen werden, die so besonders geeignet sind, die mala fides der Deutschen zu beweisen. Jetzt erklärt man klar und ohne Umstände, daß, nachdem Deutschland seine Verpflichtungen in den Leipziger Prozessen nicht erfüllt habe, man alle im Versailler Vertrag vorgesehenen Rechte zum eignen Zugreifen zurückerhalten habe und dementsprechend verfahren werde. Dieser Vertragspunkt wird den deutschen Kriecher-Republikanern vor den von diesen Rechten Bedrohten noch lange zu schaffen machen. – Sonst erfährt man mal wieder etwas vom ewigen griechisch-türkischen Krieg, in dem die von Frankreich bewaffneten Angoratürken eine neue Offensive gegen die von England finanzierten Griechen unternommen haben, und alles andre (die Morde und Kämpfe in Irland kann man ja kaum mehr verfolgen) ist voll von Verzweiflung über die Wirtschaft. Das Hirn des Kapitalismus sucht nach Auswegen aus dem Chaos. Da es um das Portemonnaie der Besitzenden geht, finden sie natürlich keinen, da der einzige Ausweg die Entleerung dieser Portemonnaies bedingt. Alle Welt scheint ganz und gar vernagelt zu sein. Alle Welt will die Organisation von früher wiederaufrichten, und alle Welt merkt nicht, daß die Weltwirtschaft deshalb niemals so wieder organisiert werden kann wie früher, weil einfach – und zwar ganz materiell – das nicht mehr da ist, was zum Unterbau der früheren Wirtschaft gedient hatte. Die Verplemperung der Rohstoffe in 4 Jahre währendem Weltkrieg, der Raubbau und die Brachlegung ungeheurer Ackerbauflächen, nicht zu reden von der Verwüstung unberechenbarer Arbeitswerte und der Ausschaltung menschlicher Arbeits- und Zeugungskräfte durch Tod, Verwundung, Entwertung und Entmutigung, all das ins Ungeheure gesteigert durch den Wahnwitz der „Friedensverträge“, die internationalen Verbrechen gegen das revolutionäre Rußland, die sozialdemokratischen Orgien der Konterrevolution in Ungarn und Deutschland (Bayern) und die gänzliche Hilflosigkeit des Kapitals ebenso wie des ganzen Proletariats, aus gegebenen Tatsachen Zukunfts- statt Vergangenheitsschlüsse zu ziehn – hat die Wirtschaft auf die Stufe gebracht, auf der sie heute ist. Hätte man uns vor 3 Jahren arbeiten lassen, dann hätten wir gewiß noch keinen Idealzustand, aber wir hätten schon geschaffen, was jetzt erst zu schaffen begonnen werden muß: einen Organisationsplan zur Feststellung, aufgrund welcher vorhandenen materiellen Werte Produktion, Zirkulation und Konsumtion neu organisiert werden muß. Dabei hätte sich zugleich herausgestellt, was heute immer noch mit Bajonetten und Granaten widerlegt werden soll, daß die Organisation zur Herstellung des Nötigen und zur Versorgung aller nach den Verwüstungen des Kriegs in keiner Profitwirtschaft mehr möglich ist, und daß daher der Sozialismus – und zwar nicht im Sinne der Marxisten, sondern im Sinne Proudhons und Krapotkins – die Lösung aller Fragen ist, eine Lösung, die garnichts utopisch Verstiegenes mehr hat, sondern einfach praktische Notwendigkeit ist. Daß bis zur Einsicht in diese Notwendigkeit noch Armeen von Proletariern, die sie haben, von Armeen von Proletariern, die sie noch nicht haben, eingekerkert, umgebracht und mit allen Keimen ausgerottet werden, ändert nichts an der Tatsache, daß es keine andre Lösung gibt als den Sozialismus. Aber diese Tatsache beweist keineswegs, daß sie auch erkannt wird, wie die Marxisten sich einbilden. Von selbst ist garnichts zu erwarten. Was nicht erkämpft wird, geschieht nicht. Und wenn das Notwendige nicht veranstaltet wird, so wird das Unnotwendige daraus folgen: das völlige Verkommen der europäischen Menschheit in Elend und Blut und endlich das Versinken in den Kulturstand der sogenannten „Wilden“. Das könnte am Ende schon jetzt die Bedingung sein, um die Menschen sich wenigstens sittlich wiederfinden zu lassen. Wie nötig sie das haben, beweist im Augenblick grade der Katholikentag, der denn auch symbolisch genug in München stattfindet. Über die Blasphemie dieser Christentagung heute nichts mehr. Armer, armer Jesu Christ! In was für Mäuler ist Dein Wort geraten! Wer schachert heut mit Deinem Kreuz, mit Deinen Taten! Gingst Du noch mal ans Kreuz wie Du gegangen bist, – und weihtest Leib und Geist des Gotts zum Priesterbraten?
Niederschönenfeld, Sonnabend, d. 2. September 1922.
Über den inzwischen abgeschlossenen Katholikentag brauche ich nach den Versen, die mir vorgestern zuerst unwillkürlich aus der Feder liefern, bis ich merkte, daß es Reime waren und den versmäßigen Abschluß verlangten, kaum mehr etwas hinzuzufügen. Das Wichtigste daran war, daß der Tagungsort München war, woraus sich denn die Musik des Orchesters von selbst bestimmte. Der streitbare Kardinal Faulhaber benutzte denn auch seine göttliche Sendung zu der göttlichen Gelegenheit, um auf die Revolution loszuschlagen – und die Republik mit ihrer Verfassung mithin christlich zu erledigen. Das Novembergebilde Deutschland sei aus Hochverrat und Meineid entstanden und entsprechend zu bewerten und zu behandeln. Großer Beifall natürlich, denn die Zentrumsrepublikaner im Reich, die im vorigen Jahr in Frankfurt um die Leiche Erzbergers zu Hauf standen, waren taktvoll genug, entweder wie Dr. Wirth, dessen Unerwünschtheit in München ihm vorher zu verstehn gegeben sein soll, und der wohl auch sein Leben zu lieb hat, der Waffenschmiede der Erzberger- und Rathenaumörder ganz fernzubleiben oder doch ganz stille zu sein. Erst in seinem Schlußwort wagte Herr Adenauer eine sehr vorsichtige Andeutung, daß nicht alle Katholiken über alle Dinge einer Ansicht zu sein brauchten, was aber schon genügte, um die Recht- und Faulhaberischen, so Herrn Dr. Heim, zu kräftigem Protest zu veranlassen, (zu dessen Anrempelung gegen Auer sich dessen Münchner Post bisher überhaupt nicht geäußert zu haben scheint. Falls Herr Gollwitzer nicht beschlossen hat, uns lieber die Kenntnis der Dinge vorzuenthalten, da der dies Haus durchziehende Duft des Auerschen Rosenstraußes an Arco geeignet sei, dem Strafvollzug Nachteile zu bereiten, wird’s also damit wohl seine Richtigkeit haben). Nun – der Katholikentag ist vorüber, die demütigen Feistbäuche in ihren seidenen Roben und Soutanen und die 22 von Tirol zusammengeströmten christlichen Trachtenklubs mit ihren Musikkapellen sind wieder abgereist, in der Seele bereichert durch das Bekenntnis des Kardinals Faulhaber, der heilige Bonifacius habe ihm grade aus dem Grabe den Auftrag erteilt, – ich weiß nicht mehr recht, welchen: wahrscheinlich, daß die Münchner Christkatholischen und ihre Tiroler und Chiemgauer Kropfgenossenschaft sich als gute Bonifaszisten bewähren mögen. – Was übrig bleibt, ist Faulhabers Credo, dem man aus vollem Herzen zustimmen darf: [„]Die Politik der Welt wird nicht in Moskau, nicht in Versailles, nicht in Genua bestimmt, sondern in Rom!“ – Wenn das das Proletariat aller Länder nur recht begreifen wollte, und wenn es diejenigen, die es mit Schule und Kindern in aller Welt ehrlich meinen, nur laut genug hinausschreien wollten, wer heute regiert und demnach die Kinderseelen für sich zurechtbiegt: In Berlin, in München, in Wien, in Budapest, in Madrid, in Prag, in Dublin, – überall ein Römling an der Spitze. Frankreich und Italien auf dem Wege zur „Versöhnung“ – d. h. zum Gefressenwerden – mit Rom, und Rußland, das die Pfaffen ihrer früheren Staatsreligion, die die Kirchengüter verschoben, hinrichten läßt, zugleich beflissen, den Jesuiten und andern Klosterbrüdern die Stätten zu bereiten, von denen aus sie die Kinder der ersten sozialistischen Revolution in die Spinnennetze ihrer Ordenslehren für den Papst einfangen können. Diese unermeßliche Gefahr merkt in aller Welt kaum noch ein Mensch, und die „Freidenker“ finden es ja auch viel wichtiger, das naive Gottesgefühl frommer Menschen durch lächerliche Wissenschaftlhuberei zu verwirren und die Seelen um ihr bißchen Poesie zu prellen, als der entsetzlichen Ausbreitung der weltlichen Macht der das Christentum verratenden Kirchen zu steuern. Von hier wird noch schreckliches Unheil über die Menschheit kommen, mehr als von der Reparations-„Krise“. Die ist ja Gottseidank wieder mal ins Rohr gelegt, nachdem in Paris glücklich doch noch ein Verfahren zur trockenen Pelzwäsche gefunden wurde. Das Moratorium für Deutschland ist abgelehnt, und so hat Frankreich Recht gekriegt, und die Deutschen brauchen sich auch noch nicht gleich zu ängstigen, daß sie zahlen müßten, und so hat auch England Recht gekriegt. Denn die Belgier hatten ein Kompromiß zur Hand, das man einstimmig annahm, wonach Deutschland Schatzwechsel ausstellen muß für die fälligen August- und Septemberraten, die erst nach 6 Monaten fällig werden. Inzwischen kann man also weiterwursteln wie bisher und Doktorarbeiten ausschreiben, ob sich nicht die Quadratur des Zirkels doch ermöglichen lasse, daß man die Vorkriegswirtschaft ohne Substanz wieder herstellen könne. Inzwischen kann der Verfall aller Wirtschaft weitergehn, indem für die arbeitenden Massen keine Verpflegung, Bekleidung und hygienische Erhaltung mehr gekauft werden kann, weil sich der Handel ganz und gar mit dem Geldschacher beschäftigt, also mit Spekulationen um den Gegenstand, der erst unter der Verrottung kapitalistischer Dekadence überhaupt Ware werden konnte, da er von Natur nur als Tausch-Werteinheit mit feststehendem Zwangskurs möglich war. Sylvio Gesell war der erste, der lange vor der Selbstentlarvung des Geldes durch die Wischgeldbetrügerei im Kriege erkannt hatte, wodurch das Geld als Eigenwert neben dem Warenhandel, das weder reine Tauschmünze noch eigne Ware ist, stets kapitalistischem Schwindel Vorschub leisten müsse. Sein Verfahren des gleitenden Geldwerts hat sich so sehr als richtige Theorie erwiesen, daß sich das Geld selbst gegen alle Absicht die Praxis geschaffen hat, für deren Veranstaltung Gesell geworben hat. Nur werden die Menschen lange brauchen, bis sie sich auch nur durch die Praxis zur richtigen Theorie bekehren lassen. Heute hat die deutsche Mark mit einem Durchschnittswert von weniger als einem drittel Pfennig ihrer Friedensgeltung längst den tiefsten Stand des Assignatenfranken der französischen Revolution erreicht. Damals gab es für die Papierfetzen noch immerhin insofern Deckung, als die Nationalgüter und das Kroneigentum mitsamt dem Vermögen der Toten Hand zugunsten des Volks beschlagnahmt war, – heute dagegen quälen sich die deutschen „revolutionären Republikaner“ mit Berechnungen ab, mit wieviel Gold und Nationalwerten an öffentlichen Einrichtungen die vertriebenen Könige und Fürsten für die großherzige Tat abzufinden seien, daß sie auf einen gewaltlosen Fußtritt hin von ihren „angestammten“ Thronen gekollert sind. Nicht mal mit Würde Pleite machen können diese Deutschen; da sie schon nicht wußten, wie man einen Krieg verliert und was eine Revolution ist. Zu allem müssen sie gezwungen werden – und immer unter Opferung derer, die sie rechtzeitig auf den Weg bringen wollten. Die Pleite kommt jetzt, – und wenn sie da ist, werden sie auch merken, daß der Krieg verloren ist, obwohl die Kriegsverlierer selbst, die Ludendorffs und Hindenburgs, von nichts wissen. Die Frage allerdings, ob diese Einsicht und die Generalpleite wirklich die Revolution zur Folge haben werden, möchte ich vorerst nicht entscheiden. Große Streikbewegungen stehn ja sehr wahrscheinlich wieder nahe bevor, – aber der Einfluß der Amsterdamer Fimmenbrut ist speziell in Deutschland entscheidend. Selbst in Frankreich macht er sich gegen die syndikalistischen Kampfmethoden, die jetzt in le Havre vorherrschten, und die sich schon vor Jahrzehnten bei den Marseiller Hafenarbeiterstreiks bewährten, peinlich bemerkbar. Wird dieser Einfluß von der revolutionären Arbeiterschaft Europas nicht gebrochen, – und die Moskauer geben immer noch die wahnsinnige Parole aus: hinein in die Gewerkschaften, statt: schlagt sie in Trümmer, – dann wird das Ergebnis des Kladderadatsches nicht Revolution, Sozialismus und Befreiung sein, sondern ein übler Staatskapitalismus unter halbsozialistischer Firma, eine Diktatur der Vereinigten Staaten von Amerika über ihre Filiale, die Vereinigten Staaten von Europa, mit Gompers als Firmenträger und Stinnes als seinem Filialdirektor.
Niederschönenfeld, Sonntag, d. 3. September 1922.
Ich erhielt gestern folgende Eröffnung (etwa): Die für den F. G. Mühsam eingetroffene Postanweisung von 340 Mark, Absender F. W. Reiwers, Arbeitsgemeinschaft revolutionärer Gruppen in Cöln wurde unter Verweigerung der Annahme zurückgesandt, weil nicht ersichtlich ist, ob und wie das Geld verteilt werden soll und weil über den propagandistischen Zweck der Sendung kein Zweifel besteht. – Mich kostet diese neue Liebenswürdigkeit der Verwaltung 1 Mark 55 für die Postkarte, auf der ich den Genossen in Cöln Bescheid geben mußte, und die Proletarier, die das Geld gesammelt haben, müssen auch noch den Ärger schlucken, daß ihnen alle möglichen Schikanen gemacht werden, bis sie es überhaupt an Ort und Stelle schaffen können, und daß sie eine Verteilung in ihrem Sinne – wahrscheinlich hatten sie mich aufgefordert, die syndikalistisch und unionistisch gerichteten oder einfach die von mir erwählten Genossen zu bedenken – garnicht durchsetzen können. – Seit einigen Tagen scheint es, als ob die Märtyrer Auftrag hätten, uns zu provozieren. Sie benehmen sich wieder ganz so wie immer, wenn „Fälle“ von Kühlewein bestellt worden sind. So gab es gestern abend Anstände, weil es infolge eines Gewitters ziemlich früh dunkel wurde, die Märtyrer sich aber weigerten, das Licht in unsern Zellen einzuschalten, obwohl sie in ihrer Wachtstube längst Licht hatten. Ihr Oberwachtmeister (Reiner heißt der Mann, auch einer der Leute, in deren Unteroffiziersseele die Überfütterung mit persönlicher Macht gegen Menschen, von deren Wesensart der Mann keinen Begriff hat, die er aber aus Pflichttreue haßt, jeden Rest innerer Selbstverantwortlichkeit – von Religiosität ist hier ja überhaupt nicht zu reden – abgetötet hat), dieser Reiner wurde schließlich geholt und nahm selbstverständlich nicht bloß gegen uns Partei, sondern gab sich offensichtlich Mühe, durch sein Auftreten irgendeine Aeußerung zu provozieren, die ihm eine Meldung und daher die Genugtuung ermöglicht hätte, einen dieser verachteten Menschen diszipliniert zu sehn, die anders denken, als der Pfarrer lehrt und die nicht einmal das Empfinden freudiger Genugtuung von seinesgleichen würdigen, wenn er vor einem Vorgesetzten die Hacken zusammenschlagen und die eigne Natur zugunsten einer automatischen Bewegung vollständig aufheben darf. Die Wut dieser Subalternseelen gegen uns ist mir manchmal ganz gut verständlich. Wir rennen rauchend in den Gängen rum, laufen und turnen 5 Stunden täglich im Hof, disputieren in unsern Zellen von früh bis spät, spielen Karten, essen gut, ohne zu arbeiten, liegen, wenn wir mögen, den ganzen Vormittag im Bett, sitzen sonst vor den Büchern oder Schreibereien, wie wir selbst es bestimmen, – während sie das stundenlang mitansehn müssen, ja dieses Mitansehn ihren eigentlichen Dienst ausmacht. Sie müssen uns die Stunden ausrufen, wann die Gitter für den Hof aufgemacht werden, müssen dann für jeden, der es verlangt, die schwere Eisentür auf- und einschieben, müssen uns, während wir wie die Herren bei Tisch sitzen, das Essen aufladen und sind für richtige Verteilung der Portionen etc. verantwortlich. Daß wir dabei Gefangene sind und noch dazu eine Gefangenschaft erleiden, die unendlich härter ist als unser Urteil bestimmt hatte, vergessen die Leute, deren Leben ja ganz gewiß auch eine Gefangenschaft ist, die sie ebenfalls vergessen haben. Was wissen sie von Freiheit, die sie nie innerlich erlebt haben und deren Ehrgeiz ist, in ihrem Geschäft des Menschenquälens eine gute Note zu kriegen? Die haben mit uns kein Mitleid; es ist viel, wenn sie keinen direkten Haß gegen uns haben, zu dem sie doch von der Obrigkeit mit allem Raffinement hingestoßen werden. Aber beneiden werden sie uns wohl alle, weil wir zu essen haben, ohne uns zu rühren; und in den Minuten, wenn sie nun als Obrigkeit auftreten können, wenn sie irgendetwas als nicht erlaubt mitteilen dürfen, wenn sie uns abends in den Schlafzellen abzählen und dann das Gitter hinter uns zuschließen können, – dann kosten sie es aus, und mancher von ihnen zeigt das Gefühl, Rache zu genießen, so deutlich, daß ich manchmal drüber lachen mußte. Wahrhaftig, arme Teufel sind’s, Kühleweins „Märtyrer“. Menschen, die Gefangene beneiden, – die sind gewiß nicht zu beneiden! – Die letzten Tage also trat die Neigung des Aufsichtspersonals, uns zu hunzen, besonders stark hervor, und vielleicht steht diese – von vielen gemachte – Beobachtung in einem Zusammenhang mit der auffälligen Tatsache, daß sich gestern unter den konfiszierten Zeitungen die „Bayerische Staatszeitung“ und der „Bayerische Kurier“ befand, also die beiden eigentlichen Regierungsorgane. Dabei ist zu bemerken, daß die Konfiskationen im allgemeinen weniger geworden sind: durchschnittlich täglich 6 – 10 Blätter gegen 20 – 30 in den letzten Wochen. Der Verdacht liegt vor, daß beim bevorstehenden Zusammentritt des Landtags wieder über Amnestie oder über Niederschönenfeld gesprochen werden soll, und daß Kühlewein dazu Vorbereitungen trifft, indem er seine Presse über neue Exzesse berichten läßt, die den schmutzigen und gierigen Charakter der politischen Gefangenen beweisen. Vielleicht sind wir wieder nackt und unter schamlosen Gebärden an besuchenden Frauen und Kindern vorbeipassiert oder man hat etwas Neues dieser Art erfunden. Herr Gollwitzer aber läßt uns keinen Einblick nehmen in dergleichen Berichte, und so werden sie historische Wahrheit, da ja die Angegriffenen selbst kein Wort drauf erwidern, – und daß sie niemals von den Behauptungen etwas erfahren haben, braucht man ja in Bayern dem mit Recht empörten Publikum nicht zu sagen. Dessen Empörung gegen die Gefangenen genügt, die braucht man. Christen! – Was es auch sei, was die Ursache der Konfiskation ist, – gewiß dreht sich’s um uns dabei, da das offizielle bayerische Amtsblatt doch schwerlich wegen „hetzerischen Inhalts“ beschlagnahmt würde, und Hauptsache bleibt für uns, daß man sich draußen überhaupt unsrer erinnert. Alles ist beruhigend, was das bestätigt. Nach der Preisgabe der bayerischen politischen Gefangenen durch „die drei“ sozialistischen Reichstagsfraktionen (nicht daß sie für die Amnestie gestimmt haben, ist maßgebend, sondern daß sie sie dann nicht erzwungen haben: speziell die Kommunisten, durch Sprengung des Reichstags beim Beamtendisziplinargesetz), nach der katastrophalen Niederlage des Reichs gegen Bayern in der Verordnungsangelegenheit – und nun haben sie sogar auch noch den Grafen Zech von München abberufen, – ein Kotau nach dem andern, – nach alledem haben wir natürlich für uns vorerst und ohne vollständige Veränderung aller innerpolitischen Verhältnisse nicht das geringste zu hoffen. Trotzdem kann man sagen, die innerpolitischen Verhältnisse, auch die in Bayern, sind weniger stabil als je. Jede Stunde kann neue Erschütterungen bringen, die alles zum Bersten bringen. Und ob irgendein Herr Schröder aus dem Finanzministerium in Paris nochmal um gut Wetter bittet oder ob der Miesbacher Anzeiger wiedermal offen und klar den Royalistenterror ankündigt und dabei allen Republikanern, besonders den Auerochsen gründliche Henkerarbeit verspricht, oder ob am 24. September die „Einigung des Proletariats“ sich in Nürnberg dadurch vollzieht, daß die Scheide- und die Dittmänner sich im Reichs-Wirthhaus einen gemeinsamen Regierungsstammtisch ködern – Noske und Levi, 2 würdige Kandidaten! – all dies wird auf die Dauer nicht von Belang sein. Sie alle glauben, alle Fragen gelöst zu haben, wenn sie die Versailler Frage und die Reparationsschwierigkeiten so oder so geregelt haben. Gute Luchten! Ob der Versailler Vertrag bestehn bleibt oder zerrissen wird, das ist Jacke wie Hose. Nicht weil es zahlen muß, kann Deutschland nicht leben, sondern weil es nicht hat, was zum eignen Leben nötig ist, zuwenig Menschen, zuwenig Rohstoffe, zuviel Krüppel und zuviel Kriegserinnerungen. Und nicht weil Deutschland nicht zahlt, ist Frankreich im Druck, sondern weil der Krieg das Land verwüstet hat und weil dort wie hier Arbeit und Austausch irrsinnig organisiert sind, nämlich auf den Profit weniger, statt auf die Versorgung aller hin. Und deshalb ist’s gleich, ob alles ein paar Wochen früher oder ein paar Jahre später kommt: die soziale Revolution – bleibt nicht mehr am Wege liegen. Sie ist auf dem Marsch und ob alle Spekulanten auf Pöstchen und Ämter ihr in die Speichen fallen, – sie können ihre Schnelligkeit bremsen, – sie selbst können sie nicht mehr umbringen. Sie wird da sein, ehe die Bonzen und „wissenschaftlichen“ Bremser es vermuten und wird über alle Länder gehn, alle Länder umpflügen und dabei auch an Rußland nicht etwa vorbeigehn, sondern die Revolution von 1917 wiederherstellen, die Angestelltenwirtschaft der Revolution zerstampfen und Freiheit schaffen. Qui vivra, verra!
Niederschönenfeld, Dienstag, d. 5. September 1922.
Kopf, Hals und Nase sind katarrhalisch verklebt, – dazu friert mich trotz doppelter Weste und dickem Rock: solche Zustände fördern das Heimweh. Gestern, am Gipfeltage des Katarrhs war es besonders fühlbar, zumal ich auch wieder einem guten Genossen adjö zu sagen hatte und ihm mündlich Grüße an Zenzl auftrug. Michel Fischer ist frei. Man hat ihm von seinen 9 Monaten 4½ auf gute Bewährung erlassen. Diese überraschende Gnädigkeit – die erste seit April – erklärt sich aber: Fischer wurde wegen Vorbereitung zum Hochverrat verurteilt, weil er in seinem Blatt Aktionen gegen die Reichswehr (ob auch gegen die Sipo, ist nicht klargestellt im Urteil) propagiert haben soll. Sein Antrag auf Anwendung des Amnestiegesetzes wurde natürlich abgelehnt und zwar mit der Begründung, er habe sich auch gegen die bayerischen Sipo vergangen, das gehe das Reich also nichts an. Wahrscheinlich hat man sich nun gesagt, mit dieser Auslegung wird man nicht durchkommen bei dem Begnadigungsausschuß in Berlin, – und daß die Reichswehr denn doch vermutlich als Reichsangelegenheit in Anspruch genommen werden wird, damit mußte man wohl selbst bei der zur Zeit amtierenden Reichsregierung rechnen. Nachdem man also das eigne Gewissen beruhigt hatte, indem man Fischer die Ablehnung seines Antrags mitteilte (Emminger hatte im Reichstag erklärt: mit der Amnestie werde man sich in Bayern immerhin abfinden), ließ man ihn dann auf Bewährung laufen und denkt sich wohl, um die unangenehme Geschichte herumzukommen. Da es sich für Fischer aber darum handelt, ob seine Strafvollzugs- und Prozeßkosten gestrichen werden oder dauernd pfändbar bleiben und ob er mit jedem Wort, das er schreibt und redet, in Gefahr gerät, den Rest nachbrummen zu müssen, werden sie wohl kein Glück mit der Spekulation haben, den Fall erledigt zu haben. – Mir geht Fischer sehr ab. Dieser grundgescheite Mensch mit seinem prachtvollen Humor half einem wirklich oft über trübe Stunden hinweg. Das Angenehme an ihm war, daß seine Bildung Michel niemals zu der Intellektuellen-Pose und -Maniriertheit verführte, die wir hier in gewissen andern Typen personifiziert sehn. Im Gegenteil: er haßte die süßliche Klingelhöferei wie nur einer und seine oft äußerst rauhbeinige Bosheit bevorzugte den verwaschenen Intellektualismus im Verein mit der Gefräßigkeit seiner Repräsentanten – übrigens ist die Gefräßigkeit und die unmanierliche Gier der Intellektuellen ein noch kaum beachtetes, aber sehr lohnendes Thema für psychologische Studien – als ergiebiges Objekt seiner bissigen oder harmlos-ulkigen Verse. Ich verliere in Michel Fischer außerdem noch meinen einzigen Kollegen als Verfasser all der Geburtstags- und sonstigen Gelegenheitsgedichte, mit denen man hier die kleinen Abwechslungen des Lebens würzt (und in denen sich meine dichterische Produktion seit langen Monaten beinahe erschöpft – leider!). Kommt hinzu die Gleichaltrigkeit und die sehr vorurteilslose Beurteilung der politischen und wirtschaftlichen Revolutionsfragen, so kann ich sagen, daß mein Leben hier drinnen mit diesem Verlust eine spürbare Verarmung erfährt. Hoffentlich gelingt es Michel bald, draußen seinen Lebensunterhalt zu finden. Die Partei, der er angehört, täte sehr klug, diesen klugen Kerl, der dabei als echter Bayer und Dialektsprecher bei den Massen von vornherein eine Nummer hätte und mir in meiner Ablehnung des Reichsunitarismus völlig recht gibt, eine wichtige Redaktion zu übertragen. Auch für uns erhoffe ich mir allerlei Gutes von Fischers aufklärender Wirksamkeit unter den Arbeitern. Er wird ihnen mit gebührender Grobheit sagen, wie sie uns im Stich lassen und daß Resolutionen mit flammenden Protesten einen Dreck wert sind, wenn kein Wille zur Erzwingung der Forderungen dahinter steht. Ich habe immer den Eindruck, als ob die Proletarier in Bayern garnicht merken, was eigentlich um sie herum vorgeht (und ihre Parteipresse klärt sie ja auch verdammt wenig auf). Wenn sie schon reichstreu sein wollen, dann mögen sie wenigstens von diesem Standpunkt aus ihren Regierern auf die Pfoten sehn! Aber jetzt sind sie schon wieder beruhigt, daß Schweyer, dem die Regie bei den gegen Berlin gerichteten Demonstrationen aus den Fingern geglitten war, anstelle Lerchenfelds, der selbst überhaupt nicht mehr den Mund auftun darf, gegen den „Rechtsbolschewismus“ – so sagt natürlich nicht etwa Schweyer, sondern das ist das Lieblingswort der Auerochsen –, gegen den „Druck der Straße“ schwächliche Verwahrung einlegt, und sogar Escherich bemüht, der seinen Hammeln ebenfalls Beruhigungspillen zu schlucken gibt. Worüber aber die Arbeiter still hinweggeleitet werden, ist, daß Schweyer seine gegen die Ordnungsblock-Spektakelei gerichtete Polemik damit einleitet, daß er erklärt, die bayerische Regierung finde sich durchaus nicht ab mit dem Republik-Schutzgesetz und den Berliner Vereinbarungen, und daß er unmittelbar, nachdem Wirth, Radbruch und Köster dem Überwachungsausschuß des Reichstags ihre volle Loyalität in der Durchführung der Vereinbarungen und die Garantie zugesichert haben, zwischen Bayern und Reich hätten sich jetzt glücklich alle Differenzen in Güte beilegen lassen, öffentlich – und im Namen der Regierung verkündet: Wenn nötig, werde Bayern die Notverordnung – den Zankapfel des Konflikts also – jederzeit von Neuem in Kraft setzen! So sieht also der „Sieg“ des Reichs aus, den die Herren Eck, Buckeley, Tafel, Xylander und Konsorten jammernd in die Bayernschaft hinausklagen. Dazu gehört die offensichtlich gewollte Provokation der Reichsbestimmungen beim Gedenktag der Fußartillerie in Nürnberg – gleich nach dem Reichsverbot zu militärischen Veranstaltungen dieser Art. Der große Festzug der Artilleristen zur Kirche – eine militärische Straßendemonstration besten Stils wurde von der Staatspolizei (die gegen das ausdrückliche Ententeverlangen, die Polizei müsse kommunal organisiert werden, von Bayern erst recht in Nürnberg zentralisiert wurde) erlaubt. Der Nürnberger Stadtrat verbot ihn dann aus eigner Machtvollkommenheit mit der Begründung, es seien bei der Erregung der Bevölkerung Zusammenstöße zu befürchten, und die Staatsregierung desavouierte den Stadtrat und erlaubte den Zug, der sich unter einem Schutz der Polizei bewegte, der demonstrativer Beteiligung gleichkam. Selbstverständlich kam es zu Störungen und zur Verprügelung von Arbeitern mit den Schlag- und Stichwaffen von Polizei und Kriegsartilleristen.* Die Landfriedensbruchprozesse gegen die Arbeiter werden das Werk bald krönen. – Die Berliner Illustrierte Zeitung bringt in der letzten Nummer Bilder vom Hindenburgbesuch in München, die ganz erstaunlich anmuten. Ludendorff, Hindenburg in großer Generalsgala mit Epauletten, Schärpen, Orden, Kreuzen, Schwertern, Helmen – Offiziere en masse, Studenten in Wichs mit Cerevis und Schlägern, Herr v. Kahr (Oberpräsident der Regierung von Oberbayern, der größten Provinz dieses „republikanischen Freistaats“) als Redner in der Mitte. Und darunter noch einmal: Ludendorff, Hindenburg, viele Offiziere – und Leopold Prinz von Bayern, ebenfalls in großem Generalfeldmarschallsornat als der Gefeiertste von allen. Man muß sich manchmal fragen, ob denn, wenn schon die Reichsregierung, der Reichstag, die Sozialdemokraten, die Unabhängigen, bis zu einem gewissen Grade auch die Kommunisten und überhaupt alle Republikaner in Deutschland stets vor jeder bayerischen Frechheit kuschen und sich allem unterwerfen, was hier zum Schutz der Mörderzentralen getan wird, – ob denn auch die Franzosen wie die Alliierten überhaupt mit dem Versailler Vertrag in der Hand jede Sabotage dieses Vertrags hinnehmen wollen, bloß weil sie von Bayern kommt. Es hat fast den Anschein so, und man könnte dann schließen: hier zeigt sich ein von einer – noch so schlechten und korrupten – Idee getragener energischer Wille, und die Schlappheit der Welt nach dem Stahlbad des Kriegs ist so groß, daß wo immer nur eine Idee ist, sie sich auch durchsetzt. Mir liegt es persönlich ganz gut, so zu schließen, und ich leugne garnicht, daß ich jedenfalls für diese Aeußerungen bayerischer „Eigenart“, wenn sie auch überall ostelbischer Import sind, mehr Sympathie habe als für das ganze Gemächle und Getue dessen, was sich hierzulande republikanisch gibt. Trotzdem bezweifle ich stark, daß Frankreich aus Schwäche zögert, in Bayern durchzugreifen, glaube auch nicht, daß es aus lauter Kompetenzbedenklichkeit, weil es in deutschen Sachen nur mit Berlin verhandelt, den Weg nicht findet, mit dem Skandal Schluß zu machen, und am wenigsten, daß es etwa aus Sympathie für den Bayerischen Separatismus in München 5 grade sein läßt. Ich bin vielmehr überzeugt, daß es Bayern gewähren läßt, um seinen Alliierten gegenüber bei allen Versuchen, Deutschland als gleichwertigen Partner wieder zu diplomatischen Geschäften zuzulassen, da es guten Willen bekunde, sich zu zivilisieren, sich immer wieder auf die tollen Zustände in Bayern berufen zu können. Die Bilder in der B. I. Z. sind in der Tat absolut überführend, und Lloyd George kann schlechterdings, wenn Poincaré sie ihm vorlegt, nicht behaupten, das militaristische Deutschland habe sich zu einer neuen Mentalität bekehrt. Das ist ein starker Trumpf in den französischen Karten, und über kurz oder lang, wenn er lange genug als Druck- und Schreckmittel gewirkt hat, wird er sehr zum Schrecken der Xylander- und Ludendorff-Mannen auch gegen Bayern direkt ausgespielt werden. Die Wiederaufrollung der Kriegsbeschuldigtensache läßt ja darauf schließen, daß man auf keinen politischen Trumpf verzichten will. Die Entmilitarisierungs- und Polizeifrage wird auch bei Gelegenheit wieder aktuell werden, und über die Auffassung, die man in Frankreich von Bayern hat, ist ja nach der unwidersprochenen Behauptung, daß Bayern offiziell vom Quai d’Orsay aus als halbzivilisiertes Land bezeichnet wurde, kein Zweifel möglich. Ganz unbeachtet wird auch das Rosenbukett Auers an Arco in Paris nicht bleiben. Nachdem die Münchner Post sich lange in diskretes Schweigen gehüllt hat, hat der große Volksmann sich nun doch noch nach allerlei Anzapfungen von Miesbach und anderswo her zu einer Erklärung genötigt gesehn. Und zwar ist die Erklärung, wider Erwarten eine eindeutige Bestätigung. Anfang 1920 (ob’s nicht am 21. Februar war?) habe er, nachdem Arco monatelang in derselben Klinik gelegen hatte wie er und beide abwechselnd immer wieder operiert wurden, nach einer schweren Operation eine Aufmerksamkeit Arcos mit der Übersendung des Blumenstraußes, als Höflichkeit gegen Höflichkeit, beantwortet. Es sei nicht zu begreifen, wie dieser rein menschliche Akt als eine politische Angelegenheit angesehn werden könne. Dies Kind, kein Engel ist so rein. Ob auch Aloys Lindner mal einen Rosenstrauß von Auer erhalten hat? Man sollte meinen, menschlich stünde einem jemand näher, mit dem die Revolverauseinandersetzung persönlich vor sich ging, als jemand, der einen Dritten erschossen hat. War die Beziehung zwischen Arco und Auer je eine andre als politische? Hatten sie beide nicht ausschließlich politischen Gründen ihre Kliniknachbarschaft zu danken? Oder war’s doch hauptsächlich ein „menschliches“ Gefühl, das als Empfänger des duftigen Grußes grade den Mann bestimmte, der den Mann weggeräumt hatte, der Auer am meisten im Wege stand? Ich habe für meine Person gewiß nichts gegen Arco als menschlichen Charakter. Ich bin kein Pharisäer, der Arcos Tat sittlich anders bewertet als die Friedrich Adlers. Daß ich dessen Mord billige, Arcos nicht, liegt an politischen, nicht an moralischen Unterscheidungen. Beide haben für ihre Idee, für ihre sittliche Moral getötet, – nur daß mir die sittliche Moral des Einen gut, des Andern schlecht und hassenswert scheint. Erhard Auer aber „verabscheut“ – wenigstens offiziell – jeden Mord, und nur ist er ein so gütiger Mensch, daß ihm der Mörder dessen, der ihn blöderweise zum Minister machte, eines Blumengrußes würdig scheint, den Zuchthäusler aber, der in blinder Aufwallung dann ihm selber ein paar Kugeln in den Leib senkte, den verabscheut er schon ganz und gar; ja, gegen dessen Amnestierung oder Strafumwandlung wird er sich stets aus Überzeugung wehren, obwohl er ihm doch seine staatliche Märtyrerrente verdankt. Ich will hier einmal festhalten, wie Landauer geurteilt hat (und so urteilten damals alle, und jeder Ehrliche von damals urteilt auch jetzt noch so). Ich ging mit ihm durch die Ludwigstraße. Ich: „Im Grunde genommen, hat Lind[n]er doch unsrer Revolution einen großen Dienst geleistet.“ Landauer: „Ja. Er hätte nur besser treffen sollen.“ – Ich habe mich bisher immer gescheut, diese Äußerung niederzuschreiben, weil unbefugte Leute, die sich in meine Aufzeichnungen Einblick erzwingen, daraus Kapital gegen den toten Landauer schlagen könnten. Diese Bedenklichkeit war falsch. Landauer urteilte aus einem klaren Gefühl heraus, das ihm dasselbe sagte, was es Lindner sagte, als er die Waffe anlegte: dieser Mann ist der Schädling. Wenn nicht direkt, so indirekt war er auch der eigentliche Mörder Eisners. Man soll einmal wissen, wer Landauer war, den ich gegen seine Leichenfledderer im Lager der armseligen Nebbich-Tolstojaner schon öfter in Schutz nehmen mußte. Nein, Tölpel und Betrüger wie jener Rudolf Großmann, der sich frecherdings Pierre Ramus nennt, sollen mit der schäbigen Herunterwürdigung Landauers, als ob er ein schmachtlappiger Sänftling gewesen wäre, vor historischen Rechtfindern nicht bestehn. Landauer hat die Gewalt nicht um ihrer selbst willen geliebt, – ohne sie aber irgendwann grundsätzlich zu verneinen. Er hat am 12. April, als man den Studentenangriff aufs Wittelsbacher Palais erwartete – mit eigner Hand zur Handgranate gegriffen und hätte sie geschleudert, wenn es soweit gekommen wäre. Und am Tage darauf (hierüber muß ich späterhin noch Zeugen hören) war er mit der Flinte in der Hand unter denen, die den Bahnhof stürmten, um uns daraus zu befreien und die Revolution zu retten. – Aber ich spreche nicht ohne Absicht grade von dem übeln Burschen in Klosterneuburg, der mir vorwarf, ich habe mich an der Räterevolution beteiligt, um ein Gouverneurs- oder Regierungspöstchen im neuen Staat zu erwischen, und der sich, ausgerechnet gegen mich, als ob mir Landauer ein Fremder gewesen wäre, in eine Nachbarschaft zu dem großen Toten drängte, die mich angewidert hat. Denn ich habe mehrmals Urteile Landauers über Ramus gehört, die alles andre als milde oder freundschaftlich waren. Da ich sie wörtlich nicht mehr wiedergeben kann, mags nicht versucht werden. Dem Sinne hießen sie: ein ekelhaft schleimiger Kerl und Anschmeißer. Dieser Mann nun hat eine Übersetzung von Krapotkins „Paroles d’un revolté“ unternommen, die er wie alle seine Machwerke mit einem ekelhaften Dunst von Selbstbeweihräucherung einleitet. Er erwähnt dabei eine vor 30 Jahren erschienene in London veranstaltete Lieferungsausgabe desselben Werks in deutscher Sprache, von der 10 Hefte erschienen – und übrigens die ersten 2 in meinem Besitz und auch hier sind. Er bemängelt nun die „unzulängliche“ Übersetzung dieser Frühausgabe, die seine Bemühung vor allem rechtfertige. Außerdem habe Krapotkin ihn besonders ermächtigt (gewiß wird das wahr sein, denn warum hätte er’s ihm verwehren sollen?) und seine Anmerkungen ausdrücklich gutgeheißen (was bestimmt nicht wahr ist; Krapotkin konnte nicht deutsch und hätte den Mist, der da als Fußnoten klebt, niemals gutgeheißen). Daß dieser Ramus im übrigen ein kompletter Analphabet ist, konnte Krapotkin, eben weil er ihn nicht kontrollieren konnte, natürlich auch nicht wissen. Nun, seine Übersetzung ist ein jämmerliches Elaborat und an der alten gemessen durchaus minderwertig. Durch die Möglichkeit zu vergleichen, bin ich dem Burschen aber auf eine ganz niederträchtige Fälschung gekommen. Dieser Anarchistenpazifist, dem selbst das niedrigste Mittel nicht zu gemein ist, um Menschen zu verdächtigen, die den Kampf noch achten, zerrt alle großen Revolutionäre auf das morastige Niveau seiner „Gewaltlosigkeit“ hinunter. Das hat er bei Landauer gemacht, indem er mich als Lügner denunzierte, ja ich sah einmal den „Beweis“ bei ihm, daß auch Bakunin ein Schleimscheißer war, da es ihm gelungen war, ein Zitat aus dessen Werken herauszuklauben, in dem der große Apologet des rücksichtslosesten Bürgerkriegs meinte, die Wirkungen der blutigen Gewalt seien niemals erfreulich. Jetzt muß auch Krapotkin her. Leider konnte ich nur den Anfang vergleichen, und fand da schon zwei Fälschungen, deren eine – die gravierendere – ich feststelle: In der Londoner Ausgabe, Heft 1, S. 10, wird übersetzt: „So führen sie (die herrschenden Klassen) uns denn unvermeidlich einer gewaltsamen Umwälzung entgegen. Die Freiheitsbestrebungen der Menschheit werden sich Durchbruch verschaffen, aber nur unter dem Donner der Kanonen und dem Knattern der Mitrailleusen, beleuchtet von der Flamme des Aufruhrs.“ Herr Pierre Ramus „übersetzt“ dasselbe folgendermaßen (S. 14): „Und unvermeidlich führen sie uns dadurch einem gewaltsamen Umsturz zu. Die Bestrebungen der Menschheit werden sich unaufhaltsam Geltung verschaffen – aber ihre gewaltsamen Verwirklichungsformen werden ihnen von den Herrschenden aufgezwungen.“ – Daß die Fälschung nicht bei dem früheren Übersetzer liegt, sondern bei dem Wiener „Tolstojaner“ ist absolut sicher. Die alte Arbeit macht völlig den Eindruck absoluter Zuverlässigkeit, – und jenen Großmann kennen wir von dieser Seite grade schon lange. Immerhin will ich mich bemühen, das Original des Buchs zu bekommen, und werde mich der Mühe nicht entziehn, den französischen Text mit dem österreichischen zu vergleichen. Und dann – freu dich, mein lieber Genosse! Die Unverfrorenheit dieses arroganten Schwachkopfs, Krapotkin „verbessern“ zu wollen und seine – d. h. gänzlich mißverstandene und verfälschte Tolstojsche Ideen als Krapotkinsche in die Literatur einzuschmuggeln, soll ihm nicht ohne kräftige Maulschellen durchgehn. – Ich war so froh, diesen Wicht einmal in flagranti zu erwischen, daß ich dem Ringelmann und dem Weigand je zwei Zigarren spendierte. Und auf dem Gebiet bin ich geizig. – So, und nun ist mir gleich viel wohler, daß ich mal die beiden lieben Freunde, den in München und den in Klosterneuburg miteinander frikassieren konnte. Könnte ich mir diese Zucht nur erst draußen in der Freiheit kaufen! Sanfter bin ich nicht geworden in der Ehrenhaft!
* Erfreulicherweise ist aus weiteren Berichten zu erkennen, daß die Nürnberger Arbeiter nicht allein die Verprügelten waren. Auch Polizei und Artillerie kriegten was ab, und die Demonstration verlief ziemlich kläglich.
Niederschönenfeld, Mittwoch, d. 6. September 1922.
Ich muß noch einmal meinen Erhard streicheln. Mein Antipode auf dem rechten Flügel, der Miesbacher Eck, hat dieselbe Liebe wie ich zu diesem Volksmann, und manchmal muß ich gestehn, daß diese Miesbacher Bundesgenossenschaft in manchen Dingen garnicht peinlich ist. Man liegt noch lange nicht zusammen in einem Bett, wenn man mit einander von beiden Seiten an die Matratze herantritt, um den, der sich drin breit macht, gemeinsam rauszuschmeißen. Wenn das Lager dann frei ist, kann dann das Raufen beginnen, wer den Platz einnehmen soll. – Im Miesbacher Anzeiger also wird Auers Rosenbukett, die Revanche für Arcos „Aufmerksamkeit“ (daß er Eisner erschossen hat?) kräftig ironisiert und bei dieser Gelegenheit erfährt man von einer andern Erklärung des republikanischen Arbeiterführers, die kürzlich in der Münchner Post (in einer uns jedenfalls konfiszierten Nummer) erschienen ist. Der Royalist Mayer-Koy (der habsburgisch-katholischen Richtung) wollte einen Beleidigungsprozeß gegen den Monarchisten Kanzler (der großdeutsch-wittelsbachischen Richtung) führen. Es war nun behauptet worden, Mayer-Koy habe auf Verlangen die Mittel zur Bezahlung der Prozeßkosten durch Erhard Auer erhalten. Der Königsmacher dementierte: Er habe Geld weder verlangt noch erhalten. Auer aber, wahrscheinlich gedrängt von Leuten, die ein Interesse an der Feststellung der Wahrheit hatten, erklärte ebenfalls, und der Miesbacher gibt die Erklärung im Wortlaut wieder. In einem endlosen, immer wieder von Relativsätzen durchbrochenen und sehr geschickt gewundenen Satz nimmt er von der Ableugnung der Tatsache, daß Sozialdemokraten die Rechtfertigung eines Monarchisten bezahlt hätten, Akt, quält sich dann durch ein ganzes Schachtelsystem von Nebensätzen mit der Begründung ab, daß ein Prozeß recht viel Geld koste und kommt endlich zu der positiven Feststellung – immer in dem deutlichen Bemühen, den Uneingeweihten trotz der Aufklärung uneingeweiht zu lassen –, dem Mayer-Koy sei die Vorstreckung der Kosten angeboten worden. Von wem? verschweigt des Sängers Höflichkeit. Das Ganze wird völlig „objektiv“ behandelt. Klaus Eck zieht völlig richtige Schlüsse: nämlich Auer hat dem Royalisten Geldmittel angeboten, ohne sein Geld loszuwerden. Mit andern Worten: der Republikaner wollte Arbeitergroschen verwenden, um jene konterrevolutionäre Monarchistenbestrebung zu fördern, der sein Rosenfreund Arco angehört, gegen Kanzlers preußisch gerichtete Tendenz, bei der ihm wohl ein Regierungsposten weniger sicher schien. Auch dieser Fall gehört mit ins Bild des Mannes, vor dem es anscheinend nachgrade auch manchem seiner Partei- und Gesinnungsfreunde graut. Selbst die unabhängige „Münchner Morgenpost“, das von trostloser Geistesarmut redigierte Organ der heute noch stramm eisnerischen Kämpfer und Winter, bläst jetzt Alarm gegen Auer und macht Andeutungen, die beinah wie die Anschuldigung aussehn, daß Auer in das Mordkomplott gegen Eisner – und damit also auch gegen Landauer, Levien und mich – verwickelt war. Die Münchner Mehrheitler werden scharf gemacht, sich speziell beim Republikanischen Reichsbund um Material umzutun, das Auers Arbeiter- und Republikfeindlichkeit dartun werde, und auf eine Anrempelung des Auer-Organs, sie mögen den Sozialdemokraten geben, was sie über den „hochverdienten Parteiführer“ wüßten, wird ziemlich hochmütig und im Ton starker Siegeszuversicht – Melodie: Die Sonne bringt es an den Tag – dies Entsprechen zugesichert. Natürlich wird dabei nichts herauskommen, wenigstens nichts für die Öffentlichkeit. Die streitenden Gruppen stehn kurz vor der Einigung – und die „Reinigung“, von der jetzt trompetet wird, wird ihnen nicht so wichtig sein, daß sie nicht den Anfangsbuchstaben preisgeben werden. Denn die Liebe wird grade jetzt von beiden Seiten so heftig angeeifert, daß man sich nicht wegen „persönlicher Stänkereien“, wie die Münchner Post schon jetzt den stinkenden Korruptionsherd nennt, die Laune der Verlobten vor der Hochzeit wird trüben lassen wollen. Wenn nun auch die Morgenpost jetzt noch schmettert, die bevorstehende Einigung könne sie nicht veranlassen, Eiterbeulen schwelen zu lassen, so ist das nicht sonderlich tragisch zu nehmen. Denn die Forderung, daß der von oben bis unten mit Kot besudelte politische Schieber und Falschmünzer Auer von der Bildfläche verschwinden müsse, ehe man sich mit seiner Partei verbinden könne, wird nicht erhoben. Herr Auer selbst und seine Auerhähne, die Schneppenhorst, Segitz, Endres, Edelmann, Sänger und wie die Noskitos des Südens alle heißen werden an der Tête der Auerochsenhorde bleiben, und zu ihr werden sich die Kämpfers – die schon im Namen ihrer selbst spotten und wissen nicht wie – und Winters, die Niekischs und der Schwarm von ausgeschwärmten Schwärmern gesellen, die des „Idealismus“ müde nach „praktischer“ und „realpolitischer“ Wirksamkeit unter der Leitung ausgekochter Bonzen verlangen. Das Proletariat verliert längst nichts Gescheites mehr an diesem Geschmeiß – und die guten Elemente, wie der alte Ledebour – werden den Übertritt zu den Überläufern zur Bourgeoisie nicht mitmachen (ich bange ein wenig für meinen lieben Fischer Gustl. Das ist ein braver Prolet, ein redlicher unbestechlicher Kerl, und er würde gewiß auch im Landtag der Suggestion Niekischs, Blumtritts etc. kaum unterliegen. Aber er ist Nürnberger, und in Nürnberg soll am 24ten der große Einigungsrummel vor sich gehn. Gute Regisseure werden für ausgezeichnetes Klappen der Massenbegeisterung sorgen. 1914 hat sich kein Mensch der Psychose dieser Begeisterungsorgien entziehn können (kein Mensch! Ich glaube es noch heute keinem, der es behauptet. Sie wirkte nur verschieden). Wird sich der einfach organisierte, im Gewerkschaftsdienst 50 Jahre alt gewordene Arbeiter der Suggestion entziehn können? Hoffentlich. Er würde fürchterliche Enttäuschungen erleben). Schon jetzt schmeißt das Berliner Unabhängigenblatt „die Freiheit“ alle revolutionären Prinzipien in die Pfütze. Heut las ich einen Artikel dort gegen wirkliche Betriebsräte, die – mit Recht – als Geisteskinder Bakunins gelästert werden, und damit natürlich schon widerlegt sind. Statt der Räte preist man den ganzen verrotteten Zentralverbandshumbug mitsamt dem Surrogat an, das in der perfiden Bourgeoisgesetzgebung über die „Verankerung“ als „Betriebsräte“ heute gilt, also das, wogegen seinerzeit grade die Unabhängigen die berühmte Todesdemonstration vor dem Reichstag unternahmen (Bauers „Bartholomäusnacht“). Die vom verstorbenen Däumig gepredigten Räteorganisationen seien in ihrem Unsinn längst erkannte „utopistische Experimente“ gewesen. Soweit sind wir jetzt in der „deutschen Revolution“. Erfreulich ist, daß sich diese Polemik der Freiheit gegen die Kommunisten wendet, deren anarchistische Methoden denunziert werden sollen. Wenn der Vorwurf begründet ist, dann könnte man hoffen, daß wenigstens bei den Moskauern wieder ein bißchen Einsicht in revolutionäre Notwendigkeiten erwachen will. Aber man darf nicht sehr optimistisch sein. Partei bleibt Partei, und wer sich einmal dem Opportunismus ergeben hat, der ist unrettbar drin verfangen. Immerhin glaube ich, daß bei weiten Schichten des Proletaria[t]s eine Erkenntnis im Werden ist, die von antiautoritären Instinkten herkommt und bald genug mit dem ganzen Partei- und Zentralgewaltsschwindel aufräumen wird, der die Köpfe bisher verseucht hat. – Jetzt ist mir schon wieder die Zeit ausgegangen, die aktuellen Ereignisse zu erörtern. Nun, es gibt ohnehin keine Entscheidungen. Der Dollar kreist um 13 – 1500 Mark und scheint sich auf dem Niveau vorläufig zu halten, da die Herren Bemelmans und De la Croix aus Brüssel in Berlin eine Einigung über die deutschen Garantieleistungen für die Schatzbons erzielt haben sollen. Im griechisch-türkischen Krieg scheint die Niederlage der Griechen – und somit Englands durch die Waffen Frankreichs – besiegelt. Die – zuerst so wenig in ihrer Bedeutung erkannte – Balfour-Note über die internationale Schuldentilgung aber fängt an, Wirkungen zu zeitigen, so zwar, daß Frankreich dagegen zuerst schroff Front machte, um denselben Gedanken nun, etwas variiert, als eignes Fabrikat bei Amerika anzubieten. Daß man dadurch eine gewisse Stabilisierung in der längst verfahrenen Gelddivergenz und somit eine Atempause in der galoppierenden Schwindsucht der Weltwirtschaft erreichen kann, ist möglich. Auf die Dauer aber hilft kein Palliativ gegen die Katastrophe. Das Ausbeutungsmonopol der bisher Privilegierten stirbt. Am Weltproletariat ist es, ihm den Fangschuß zu geben. – Persönlich für mich ist die Pleite schon perfekt. Eben wurde ich hinuntergerufen. Das Finanzamt München verlangt eine „Restzahlung“ für Entscheidungs- etc. Kosten in der Arrestpfändungssache von bloß – 783 Mark. Ich habe mich insolvent erklärt.
Niederschönenfeld, Donnerstag, d. 7. September 1922.
Während alle Welt sich die Köpfe zergrübelt, wie man zu Nutz und Heil der Völker aus den vielen Kalamitäten, die durch den Krieg entstanden sind, halbwegs heil herauskommen kann, und sich besonders heiß um das Problem müht, den Wiederaufbau der zerstörten Provinzen Frankreichs und Belgiens auf Kosten des leistungsunfähigen deutschen Volks zu bewirken, während die Sieger- und Besiegtenregierungen nicht aus- noch ein wissen, mit ihren Steuerzahlern fertig zu werden, wird dieses Problem plötzlich aus freier Hand gelöst. Von Herrn Stinnes nämlich. Die durch Ludendorffs mehr politische als militärische Strategie um Haus und Hof gebrachten Parzellenwitwer in den verwüsteten Gebieten hatten längst verzweifelt, von staatlichen Diplomatenkünsten das ihrige zurückzukriegen. Nachdem ihre Brüsseler und Pariser Regierer sie jahrelang mit Zusagen hinzogen, immer höhere Steuern einzogen und versprachen, Deutschland werde alles zahlen, haben sie zur Selbsthilfe gegriffen. Sie vereinigten sich zur Genossenschaft und betrieben als solche selbständig die Vorbereitungen zum Wiederaufbau. Das führte Hugo Stinnes auf den Plan. Er setzte sich ebenfalls privatim mit dem Vertreter der Genossenschaft, Herrn Lubersac in Verbindung und jetzt, nachdem die Kapitalisten-Dienstboten in den Regierungen einander zustimmend zugezwinkert haben, erfährt man, was für einen Vertrag die Genossenschaftsvertretung derer, die so oder so wieder zu Wohnstätten kommen wollen, und der Mann geschlossen haben, der die Ausbeutung des deutschen Volkselends zur gigantischsten Industrie der Welt hochzuzüchten verstanden hat. Soweit bis jetzt übersehn werden kann, beruht das Übereinkommen, dem die westlichen Regierungen bereits ihre Zustimmung gegeben haben sollen, darauf, daß Stinnes für sich – d. h. das Riesenkonzern seiner verzweigten Unternehmungen, inclusive des Kohlensyndikats, dessen Hauptnutznießer er ebenfalls ist – sämtliche Lieferungen an Bau- und Arbeitsmaterialien sowie die Stellung der Arbeitskräfte und wohl auch die Ausführung übertragen erhalten hat. Die deutsche Regierung hätte also garnichts mehr damit zu tun, als dafür zu sorgen, daß Stinnes aus den deutschen Steuereinkünften für seine verdienstvolle Tat, die Pflicht der Nation auf seine Schultern zu nehmen, die Bezahlung kriegt. Außerdem soll er von Lubersac 6 % Tantieme für alle Leistungen garantiert bekommen haben und nun beansprucht er auch noch die Freigabe aller für die Produktion der zu liefernden Materialien, Geräte und Maschinen etc. notwendigen Kohle aus den von Deutschland als Reparation zu liefernden Kohlequantitäten. Es handelt sich also um das ungeheuerste kapitalistische Privatmonopol, das je vergeben wurde. Stinnes wird zum absoluten Herrn über die gesamte deutsche Wirtschaft, zum Generalausbeuter, zum Vollstrecker und Nutznießer, zum Aufsichtsrat und Konkursverwalter des Versailler Vertrags in allen seinen ökonomischen Auswirkungen für Deutschland. Der Staat tritt zu ihm in die Beziehung des bloßen Auftragvollstreckers. Hugo Stinnes ist jetzt in ein Wechselverhältnis zum deutschen Volk getreten, daß[das] sich in die einfache Formel kleiden läßt: „Stinnes hat die Einnahmen, das Volk die Ausgaben.“ Die Monarchisten müssen glücklich sein. Wir haben monarchistische Einrichtungen wieder und zwar in der dem kapitalistischen Zeitalter allein gemäßen Form, der Kapitalist mit dem weitesten Gewissen übt unumschränkte Despotie aus, auf dem Gebiet, wo sie sich noch lohnt. Marx’ Lehre von der Konzentration des Kapitals aber erhält eine ungeahnte Bestätigung, und wir Nichtmarxisten haben Ursache, unsre früheren Ansichten in dieser Beziehung sorgfältig zu überprüfen. – Nun will die „Rote Fahne“ wissen, daß als Geburtshelfer zu diesem Vertrag unser großer Ebert persönlich rege tätig gewesen sei, ja daß auch die Gewerkschaftsführer vorher um ihre Zustimmung angegangen seien, und sie auch gegeben hätten. Die Leipartrioten bestreiten das zwar jetzt noch. Aber wer weiß, wer Ebert ist – und so sind sie ja alle – und welchen Einfluß der Biedermann auf die hat, die eben alle so sind, der zweifelt kaum. Auch daran nicht, daß sie neben der Übertragung des Amts eines Generalsteuereinnehmers an Hugo Stinnes auch der Notwendigkeit Rechnung getragen haben, daß die Arbeiter, die an Stinnes verschachert werden, aus vaterländischen Gründen die Verlängerung der Arbeitszeit über die gesetzlichen 8 Stunden hinaus auf sich nehmen müssen. Wir werden ja bald Genaueres darüber wissen. Ich habe sehr wenig Zweifel, daß die Gewerkschaften auch diesen letztmöglichen Verrat nicht scheuen. Jetzt grade vollziehn sich ja die Präliminarien zur „Einigung des Proletariats“ in Deutschland zum Erstaunen des Proletariats, das den Wunsch hegt, zur Zertrümmerung des kapitalistischen Bourgeoisiestaats in geeinigtem Aufmarsch vorzugehn. Die beiden Parteien, die vom 24. September ab als „Vereinigte sozialdemokratische Partei Deutschlands“ firmieren wollen, verraten schon jetzt die Grundlinien des Programms, mit dem die Kriegspatrioten, Durchhalter, Siegesagitatoren, Anleihepropagandisten und -zeichner auf Kosten der Arbeiterorganisationen, Kreditbewilliger und Kopfnicker zu Brest-Litowsk und Bukarest, die Denunzianten revolutionärer Proletarier an die Militärkommandos, die Schmäher und Auslieferer Liebknechts, die Hohenzollernzuhälter und späteren Arbeiterschlächter von Berlin, Bremen, Düsseldorf, München, die Noskes, Wels’ und Hörsings, die Auers, Schneppenhorsts, Heines und Landsbergs, die Auslieferer Deutschlands an Ludendorff und Kapp, an Jagow, Erhardt und Bischof, an Marloh, Krull, Pflug-Harttung und Arco, an Kahr, Xylander, Roth, Wulle und Helfferich, die Mordhetzer gegen Liebknecht und Rosa Luxemburg, die Mörderanwerber für Landauer, Sontheimer, Eglhofer, die Mörderkollegen bei Levinés Tod – mit dem sie die Ehe führen wollen mit ihren Opfern von 1914–20, mit denen, die bis jetzt Verräter schrieen und jetzt Genossen sagen. Ach, das Programm wird lieblich aussehn. Vermutlich verfährt man im allgemeinen so, daß die USP die Phrasen von Erfurt aufwärmen darf, während die SP ihre Bedeutung mit Görlitz interpretiert. Nur eins mußten die Crispiensel preisgeben, die stolze Überlieferung von Leipzig: die Diktatur des Proletariats! (Bei Gott, ich bin auch nicht glücklich dabei, wenn man „Diktatur“ sagt. Die Moskauer haben durch ihre Jakobinerpraxis die Bedeutung des Begriffs, wie ich ihn aufnahm und weitergab, desavouiert. Ich will die Herrschaft der Kapitalistenklasse durch eine offene Herrschaft des Proletariats über diese Klasse zur Verhinderung der Konterrevolution, und da – als Rätediktatur habe ich auch garnichts gegen das Wort. Die Bolschewiki haben den Begriff auf seinen früheren falschen Sinn von Parteidiktatur, noch dazu Beamtengewalt-Diktatur zurückgebogen. Da kann ich nicht mehr mit. Aber die Partei, die sich jetzt ein V für ein U machen läßt, gibt die Idee der Machtentfaltung der proletarischen Klasse der Demokratie überhaupt preis). Nicht mehr gegen den bestehenden Staat soll gekämpft werden, sondern für ihn, nämlich für die Republik (Eberts) und für die Demokratie (Müller-Meiningens). Dann kommt der allgemeine Sums, der ganze Schwung simpler Reförmchen, von der Justiz angefangen über Frauenrechte und kleine ökonomische Postulate, die aber schließlich und endlich bloß auf die Gewährung erhöhten Einflusses an Partei- und Gewerkschaftsbürokraten auf die öffentliche Verwaltung abzielen, und dann ist man auch „gegen“ mancherlei, z. B. gegen die von den Sozialnoskes erfundene und von den Sozialcrispiens ach so fanatisch bekämpfte Technische Nothilfe. Ja, da ist man dagegen, aber weil Leipzig nur im Wort und Görlitz in der Tat Ausschlag gibt ist der Ausweg auch gefunden. Wenn halt „lebenswichtige“ Betriebe bestreikt werden (und das hat immer die Gefahr in sich, daß die Arbeiter dadurch ihre Forderung durchsetzen könnten), dann sollen die Gewerkschaften die Technische Nothilfe stellen. Die Gewerkschaften als programmmäßige Streikbrecherorganisationen, auf diesem non plus ultra findet die Einigung „der Sozialisten“ in Deutschland statt! In Augsburg werden sich die M’s, in Gera die U’s die Lippen klebrig reden, damit in Nürnberg endlich die V.-Küsse saftiger schmatzen. Wohl bekomm’s! Mögen sie reden und das Proletariat bescheißen! Das fängt an, sich zu besinnen. In Eberswalde hat’s Unruhen gegeben, in Charlottenburg gab’s Zusammenstöße und bei Braunschweig sind Abteilungen von 80 Mann aufs Land gefahren und haben von einem Rittergut die gebundenen Garben weggeholt. „Felddiebstähle“ heißt so etwas im Schmöckischen. Die Ausgebeuteten in Stadt und Land werden schon noch drauf zu kommen wissen, wie die Rücknahme, dessen was ihnen gestohlen wird, beglaubigtes Recht werden kann. Dadurch vor allem, daß sich das Volk sein Recht selbst beglaubigt. Dazu bedarf es bloß eines Entschlusses: den Staat zu überrennen und dabei die Staaten im Staat nicht zu schonen, die Parteien und Zentralverbände. Die Einigung von Nürnberg wird zur Erleuchtung des Proletariats viel beitragen. Je besser sich die Bonzen alle im selben Tempel konzentrieren, umso zuverlässiger wird man sie miteinander in einem Scheiterhaufen verbrennen können. Und an seinen Flammen werden die Revolutionäre sich erwärmen und in ihrem Scheine singen: Leuchtend glühn die Fanale – zum Kampf; der Würfel fällt ...!
Nachtrag. Ich wurde zu Herrn Regierungsrat Englert hinuntergerufen, der mir ein Schreiben des Oberstaatsanwalts (also Kraus) in Augsburg vorlas. Etwa: Dem F. G. Erich Mühsam ist zu eröffnen. Seiner Beschwerde vom 29. August kann nicht stattgegeben werden. Die Verteilung der Wachtposten unterliegt dem Ermessen des Festungsvorstands. Es liegt keinerlei Anlaß vor, eine Änderung in den von ihm verfügten Bestimmungen zu verfügen. Wegen des Anmalens von Hakenkreuzen u. s. w. sind vom Vorstand bereits sachgemäße Anordnungen getroffen worden. – Basta.
Niederschönenfeld, Sonnabend, d. 9. September 1922.
Heute früh sind wieder zwei unerwartete Entlassungen erfolgt, die erst gestern telegrafisch mitgeteilt waren: Männlein und Schade, also die beiden ersten vom Münchner Sprengstoff-Prozeß. Beide hatten 18 Monate Festung, beide haben davon 17 Monate machen müssen und müssen sich jetzt 2 Jahre „bewähren“, wenn sie den Rest von 4 Wochen nicht noch nachholen wollen. Sie haben beide die „Begnadigung“ angenommen, und ich will kein Splitterrichter sein. Sie sind jung, ihre kurze revolutionäre Tätigkeit hat die Charaktere noch nicht heroisieren können. Außer dem einzigen Rupert Rappl (wie mag’s dem braven Jungen gehn?) war noch keiner, der dem auch nur fern lockenden Schein der Freiheit vor Ablauf der Strafe widerstanden hätte, und der widerstand schon, als man ihm 6 Wochen vor Schluß zumutete, sich einem Gesuch um bedingte Begnadigung anzuschließen. Herr Dr. Gürtner hat also seine Statistik wieder bereichert. Im Landtag kann er, wenn demnächst wieder mal von der bayerischen Güte, Gnade und Milde geredet wird, mit schönen neuen Zahlen antreten, und niemand wird ihn fragen – mindestens wird niemand durch seine Zeitung von solchen Fragen erfahren –, wieviel Zeit denn die Freigelassenen durch die „Gnade“ gewonnen haben – und warum man nicht wenigstens für diese Leute, die unzweifelhaft nach dem Reichsamnestiegesetz die vollständige Eliminierung ihrer Strafe zu verlangen hätten, auf den öden Schwindel verzichtet hat, von Gnade zu reden, da man in Wahrheit ihre Strafe nur in kachierte Polizeiaufsicht bei gleichzeitiger Ausreckung auf Jahre hinaus umgewandelt hat. Neulich wurde hier hereingeschrieben, Radbruch habe bei seinem Münchner Besuch besonders auch über die Anwendung der Amnestie in Bayern gesprochen. Das ist wohl möglich, und jetzt erteilt man ihm eben die Antwort, die Bayern zu geben hat. Sie brunzen auf die Reichsgesetze und üben ihre Gnädigkeit im Geiste des Christentums, wie sie es verstehn. Mit Max Männlein ist ein origineller Kerl fortgegangen. Die bourgeoisen Eierschalen sind ihm zwar viel zu fest an die Haut gewachsen, als daß er sie je abstreifen sollte. Er hat wohl seine Beteiligung an der kommunistischen Bewegung auch selbst kaum als etwas andres als eine Abenteurerei betrachtet und wird gewiß als Politiker nie wieder sichtbar werden. Es ist halt doch ganz hübsch, als Millionärssohn zu leben, und einmal Märtyrer gespielt wird fürs fernere Leben und zur Unterhaltung von Kindern und Enkeln reichen. Macht nichts. Hier drinnen hat Männlein Eigenschaften bewährt, die ihm ein freundliches Gedenken sichern. Vor allem: er war immer ein guter und gefälliger Kamerad. Mir persönlich war er sichtlich ehrlich zugetan, und so erfreute er mich gestern dadurch, daß er im Überschwang des Jubels über seine Begnadigung 10 Zigarren und eine schöne große Strohmatte, die mir als Wandschutz im Winter gute Dienste leisten wird, für mich als Erbschaft daließ. Im übrigen: ein ganz witziger Mensch mit typisch jüdischer geistiger Beweglichkeit. Einer, der in allen Künsten dilettiert, überall Hübsches, nirgends Beachtliches oder auch nur Orginelles zuwege bringt. Aber begeisterungsfähig, verehrungsbereit, entflammbar. Das sind gewiß keine schlechten Eigenschaften, und es wird stiller werden im Hause, da dieser Hans in allen Hägen weg ist. Den Hans Schade wird dagegen niemand vermissen, und es ist bezeichnend, daß er gestern Nachmittag überhaupt nicht auf dem Hof erschien, um in der üblichen Weise von den Genossen des andern Stockwerks Abschied zu nehmen. Wir waren dem jungen Menschen bei seiner Ankunft alle sehr entgegengekommen, hatten ihn freundschaftlich aufgenommen und ihn an uns herangezogen. Er erwies sich dann als ein wirklich schlechter Charakter, dem wegen seiner gradezu heimtückischen Falschheit seit langem alle aus dem Wege gingen. Soviel ich weiß, hatte er keinen einzigen Freund mehr im Hause. Für die revolutionäre Bewegung, in die ihn Gott weiß welcher Zufall hineingeworfen hatte, kommt er noch weniger in Frage als Männlein. Er wird sich eine Kleinbürgerexistenz zu schaffen wissen und in Philisterei und Pharisäertum verstumpfen. – In der großen Politik hat sich seit vorgestern nichts Umwälzendes zugetragen. Die Verhandlungen der belgischen Herren mit der Reichsregierung in Berlin über die Garantieen für die in Paris beschlossenen Schatzwechsel schleppen sich hin und werden wohl ohne große Reibungen zum Abschluß kommen. Die „Entspannung“ ist durch das Stinnes-Lubersac-Abkommen, das die französische Regierung jetzt ausdrücklich gebilligt hat, schon jetzt spürbar. Der Dollar scheint sich bei etwa 1300 Mark halten zu wollen, wenn er nicht weiterhin fallen sollte (aber das wird man an der Berliner und Frankfurter Börse zu verhindern suchen, da sich viele Spekulanten in der Erwartung, die Hausse-Bewegung der Devisen werde anhalten, mit Auslandswerten zu sehr hohen Preisen reichlich eingedeckt haben werden: und – mag das Volk verrecken! – Spekulationen gehn vor.) Nun fällt in allen Ernst unsres wirtschaftlichen Jammers ein erheiternder Sonnenstrahl. Er ist von Bayern her aufgezuckt, und in wenigen Tagen, wenn man der Sache überhaupt Beachtung widmen sollte, wird die Welt sich vor Lachen die Rippen verbiegen. Das Ei des Columbus ist gelegt, die Wirtschaftskatastrophe hat ihren Meister gefunden. Das ist ... das ist – Herr Staatsanwalt Emminger aus Augsburg, M. d. R. als Abgeordneter der bayerischen Volkspartei! Er verkündet in großer Aufmachung durch die Presse seinen Plan zur Rettung Deutschlands. Und der sieht so aus: Der Reichspräsident soll auf Grund des Artikels 48 der Reichsverfassung auf dem Verordnungswege folgende Bestimmungen treffen: Aller lebensnotwendige Bedarf des deutschen Volks, der ja längst von der Statistik festgestellt ist, wird auf Grund des Preisstandes vom 1. September – oder eines andern Stichtages – auf ein Jahr hinaus als im Preise unveränderlich festgelegt. Ebenso dürfen in dieser Zeit Gehälter und Löhne keinerlei Änderung erfahren, kurzum es wird verordnet, daß die Preisschwankungen und zwar ohne Rücksicht auf den Dollarkurs für ein Jahr aussetzen. – Der Stein der Weisen! Auf Grund des Artikels 48 wird die Steigerung der Teuerung und der Not verboten! Eine echte Staatsanwaltsidee, der ihr Heiterkeitserfolg als solcher garantiert ist. Aber die Sache kriegt ein noch erstaunlicheres Aussehn dadurch, daß Herr v. Kahr eine neue Rede losgelassen hat, in der er nicht nur einen neuen Napoleon forderte (am Ende möchte er sich selbst in der Rolle versuchen, in der Horthy ja schon debutiert hat), sondern auch seinerseits zur Rettung aus der Wirtschaftsmisère ganz ähnliche Dinge andeutete, wie sie Emminger mit dem Mut sich so gut zu blamieren wie er kann, jetzt detailliert hat. Ja, es heißt sogar, Wirth habe Emminger bereits telegrafisch zum Vortrag in der Angelegenheit eingeladen. Somit scheint der Plan sich als offizielle Weisheit der bayerischen Volkspartei zu enthüllen und das gibt ihm erst seinen vollen Reiz. Ich kann mir freilich schwer denken, daß man derartige Schildbürgereien von einer Partei aus riskieren könnte, die so gescheite Wirtschaftspolitiker wie Heim und Schlittenbauer hat, die man doch zum mindesten fragen müßte, ehe man sämtlichen Nationalökonomen des Reichs mit der Theorie unter die Nase fährt: was schert einen Staat das Gesetz der Volkswirtschaft, das auf dem richtigen Funktionieren der Wechselwirkungen von Produktion, Zirkulation und Konsumtion beruht, da er es mit resoluter Anwendung seiner eignen juristischen Gesetze unwirksam machen kann! Schließlich müßte doch wenigstens ein Mensch unter diesen Glanzpolitikern sitzen, der dem Emminger an die Stirn getippt hätte, um ihm das zu sagen, was der naivste und theoretisch ungeschulteste Fabrikarbeiter ihm gesagt hätte: daß die deutsche Wirtschaft auf Arbeit beruht, daß zur Arbeit Material gehört, daß das Material importiert werden muß, daß der Import mit dem Geldwert des Landes bezahlt wird, von dem es exportiert wird, daß die ins Ausland gehenden Gegenwerte und der internationale Warenaustausch die Preise bestimmen, und daß Herr Emminger schon versuchen muß, die deutsche Reichsverfassung von Weimar in ihrem Artikel 48 auf die Märkte von New York und London, von Rio de Janeiro und Kalkutta wirken zu lassen, um zu einem Erfolg zu gelangen. – Immerhin ist der Vorschlag überaus begrüßenswert. Er gewährt einen Blick in den Abgrund von Ignoranz, Naivität, absoluter Ahnungslosigkeit in den primitivsten wirtschaftlichen Verhältnissen bei den Leuten, die sich anmaßen, Völker zu regieren, ihnen ihre Gesetze und Lebensbedingungen vorzuschreiben und sie dafür zu strafen, daß Not, Verzweiflung, Qualen aller Art die Folgen des Wirkens der Personen sind, die mit unbeschränkten Befugnissen – weil die Gerechtigkeit der „Demokratie“ es so verlangt – die Menschen in allen noch so komplizierten Dingen „vertreten“ dürfen. Sie haben noch nie körperlich gearbeitet, wissen garnicht, wie eine Fabrik aussieht, können einen Hengst nicht von einem Wallach, kaum eine Kuh von einem Ochsen unterscheiden, haben nie drüber nachgedacht, woher das Geld stammt, das sie als „Zinsen“ des vom Vater ererbten oder erheirateten Vermögens einkassieren, kennen die Grundlagen der Beziehungen zwischen den Menschen nicht und infolgedessen auch nichts von den Ursachen von Verbrechen und gar Revolutionen. Aber sie sind „gewählt“, und so machen sie „Gesetze“, für Generationen geltende Lebensnormen für die Menschen, die das Unglück haben, ihre Landsleute zu sein, Gesetze über industrielle und landwirtschaftliche Arbeitsbedingungen, über Zeit und Intensität der proletarischen und bäuerlichen Arbeitsleistungen, über Körungs- und Viehzuchtsregelungen, über Erbrecht und Steuerpflichten derer, die kein Erbrecht haben (mangels Erblassern), über Strafen gegen Eigentumssünder und gegen Menschen, die an ihrer, der Gesetzgeber, Allwissenheit zweifeln. Ist man aber überdies Staatsanwalt, sogar auch noch bayerischer, dann sorgt man gleich für alles auf einmal, nämlich für Gesetze von solcher Blödsinnigkeit, daß sie überhaupt nicht durchführbar sind, sodaß man als Gesetzgeber sich selbst als Juristen und Rächer Beschäftigung für tausende von zu verhängenden Zuchthausjahren schafft. Was wird werden aus dieser Komödie? Man wird in Berlin vor Angst in die Hosen machen, weil sich kein Mensch trauen wird, den Bayern zu sagen, was für Esel sie sind, und man wird, um nur ja den guten Willen zu zeigen, irgendetwas Saudummes machen, worüber die Bayern sich dann wieder fürchterlich hinstellen werden, weil es nichts Halbes und nichts Ganzes sei. Erreicht wird werden, daß Arbeiter eingesperrt werden, sonst nichts. Während in der ganzen Welt Bayern zum Gespött und zum Ekel geworden ist, regiert es in der Tat das deutsche Reich, und sein Partikularismus und Föderalismus ist in Wahrheit der übelste Zentralismus, weil sich alles ringsum der bayerischen „Eigenart“ unterwirft. Als Revolutionär kann ich damit ganz zufrieden sein. Grade veröffentlicht der Miesbacher Anzeiger einen Geheimbericht Weißmanns an die preußische Regierung über die Ergebnisse seiner Spitzelei bei den französischen Überwachungsstellen in Deutschland. Daraus erfährt man, daß die französische Regierung dem Münchener französischen Konsulat schwere Vorwürfe macht wegen der höchst mangelhaften Berichterstattung über die reaktionären Zustände, die monarchistischen Bestrebungen und die Geheimorganisationen in Bayern. Es werden genaue Anweisungen gegeben, in welcher Weise dieser Dienst, auf den Poincaré den größten Nachdruck legt, künftig geübt werden soll. Das zeigt deutlich, wie man in Paris über Bayern denkt, und daß Frankreich schon ganz gewiß keine Rupprechtsbrüche unterstützt. Hätte aber ein linkes Blatt diese Publikation gebracht, die Frankreich den offiziellen deutschen Spionagedienst verrät und ihn zugleich durch die Denunziation des französischen Überwachungsoffiziers in Berlin, eines Obersten Crevecœur, fernerhin unmöglich macht, dann wäre der Redakteur, grade in Bayern, wegen Landesverrats ins Zuchthaus geflogen. So aber bringt die Staatszeitung milde Mahnungen gegen die Putschabsichten der Rechtsradikalen, die sie bei aller Anerkennung ihrer guten patriotischen Gesinnungen höflich bittet, doch davon abzusehn, auf verfassungswidrigem Wege eine Diktatur zu errichten. So fest fühlen sich die Lerchenfeldwebel noch in ihrem Sattel. – Zugleich aber macht sich schon jetzt die Wirkung bemerkbar, die der Hindenburgrummel in München hervorruft. In Obercassel sind 2 Soldaten der belgischen Besatzung ermordet worden. Die nationalistischen Brüsseler Zeitungen bringen daraufhin die Reproduktionen der in Deutschland erschienenen Bilder von der Hindenburgparade und schreiben darunter: Und unsre Soldaten ermorden sie ... So zieht sich von allen Seiten das Wetter um Bayern speziell und um ganz Deutschland allgemein zusammen. Und das Himmelswetter selbst scheint das Seinige zur Förderung jedes Kladderatsches beitragen zu wollen. Hier im Hause ist’s fürchterlich zugig, und dabei ist die Temperatur – in der ersten Septemberhälfte – nun schon seit einer Woche so, daß die doppelte Weste mich nicht davor schützt, daß ich jämmerlich friere. Alles erweckt den Anschein, als ob wir einen Winter kriegen werden wie den Dotschenwinter 1916/17. Das Volk wird aber nicht mehr zu essen haben als damals und dazu garnichts zum Heizen. Die nackte Not grinst ihm entgegen wie noch nie. Die Not aber wird sich diesmal nicht mehr vor den „vaterländischen Belangen“ ducken. Durchhalten wie 17? Wozu? Für die Republik der Ebert-Stinnes-Emminger? Es deutet alles darauf hin, daß die Zeit bald reif ist. Das Feuer, das dem Armen im Herd fehlt, – er wird’s auf der Straße anfachen. Fritz Eberts Klugheiten werden dies Feuer nicht löschen. Er hat bestimmt, daß Hoffmann von Fallerslebens Lied „Deutschland, Deutschland über alles“ von jetzt ab das Lied der deutschen Republik sein soll, und wenn’s die Reichswehrkapellen für ihren Wilhelm spielen, will Fritze sagen: Damit meinen sie mir! – Das ist gut so. Jetzt sind sie in Wahrheit verbunden, die Kriegspatrioten und ihre Platzhalter der „Revolution“. Ein Lied singt ihrer aller Bekenntnis. Sie mögen es singen, je lauter umso besser. Sie werden die Antwort hören auf das Lied, und die wird auch aus sehr verschiedenen Kehlen strömen, und obendrein in allen verschieden Sprachen und wird doch ein Lied sein, das alle verbindet, die es singen, verbindet gegen das Geschmeiß von Nutznießern der Not in den Palästen, den Bankhäusern, den Warenmagazinen und den Büros der „proletarischen“ Schmarotzerzunft: Debout les damnés de la terre, debout les forçats de la faim!“
Niederschönenfeld, Dienstag, d. 12. September 1922.
Vormittag. – Abschrift: „N’feld, d. 11. Sept. 1922. An den Vorstand der Sozialdemokr. Partei, München, Gewerkschaftshaus. – Wie ich aus der Presse erfahre, wird sich Ihre Partei in einer außerordentlichen Generalversammlung mit den Beziehungen zwischen den Herren Erhard Auer und Graf Arco-Valley beschäftigen. Ich glaube, aus diesem Anlaß Ihre Aufmerksamkeit auf folgende Tatsachen lenken zu sollen. – Herr Auer befand sich in der Nacht vom 24. zum 25. Dezember 1918 – in der unbegründeten Sorge, seine persönliche Sicherheit sei durch seine politischen Gegner von links gefährdet – in der Kaserne des Leibregiments. Jetzt berichtet der Bayer. Kurier, sein Gastgeber dort sei der spätere Mörder Kurt Eisners gewesen. Am Abend des 26. Dezember wurden, als ich von einer Jugendlichen-Versammlung im Deutschen Theater mit meiner Frau nach Hause ging, in der Schwarzmannstraße 5 oder 6 Schüsse auf mich abgegeben, die sämtlich ihr Ziel verfehlten. Ich habe von der Sache kein großes Aufheben gemacht, sie aber mündlich im Münchner Arbeiterrat mitgeteilt, und sie in meiner Zeitschrift Kain (5. Jahrg. Nr. 3 vom 7. Januar 1919) in einem „Gegenrevolution“ überschriebenen Artikel kurz behandelt. Ich behaupte nicht, daß zwischen der Begegnung in der Türkenkaserne in der Weihnachtsnacht und dem Anschlag auf mich am Abend des zweiten Weihnachtsfeiertags ein ursächlicher Zusammenhang besteht. Ich lasse die Frage völlig offen und stelle Ihnen nur anheim, ob Sie vielleicht an ihre Prüfung herangehn wollen. – Als Unterlage zu solcher Prüfung wären immerhin einige Kleinigkeiten zu erwähnen. Herr Auer sah – ich wiederhole: fälschlicherweise – in mir den Hauptantreiber zu seiner Vernichtung. Das Mißgeschick, das ihn am 6. Dezember getroffen hatte, als ihn meine Gesinnungsfreunde – die ich selbstverständlich durchaus nicht verleugne – zur Unterzeichnung seiner Abdankung als Minister veranlaßten, hat er offenbar stets als eine vorbereitete Teilaktion zu der gleichzeitig unter meiner persönlichen Leitung erfolgten Besetzung der großen Tageszeitungen aufgefaßt. Davon hat ihn auch meine Erklärung in der 3. Sitzung der Tagung der bayer. Arbeiterräte vom 10. Dezember nicht abgebracht, in der ich sagte: „Es ist im Zusammenhang mit dieser Sache der Gewaltakt gegen den Minister Auer erwähnt worden. Ich stelle fest, daß ich an dieser Angelegenheit keinen Anteil hatte, daß ich davon überrascht worden bin wie jeder andre auch, wenn ich auch nicht leugne, daß ich nachher an den Ungerechten, die die Aktion unternahmen, mehr Freude hatte als an den Gerechten, die dann den Auer wieder einsetzten.“ (Vgl. Stenogr. Bericht, S. 180). – Mit welch tiefem persönlichen Mißtrauen Herr Auer mir gegenüberstand, ging am Schluß derselben Sitzung aus der Gereiztheit hervor, mit der er einen Zwischenruf in seine Rede, der von mir ausging, beantwortete. Er hatte den Zwischenruf mißverstanden und replizierte mit einer kompakten Drohung an meine Adresse (Stenogr. Bericht S. 203; s. auch meine Entgegnung S. 205). – Wie fest sich der Gedanke bei Auer eingenistet hatte, ich und meine Freunde wollten ihm ans Leben, zeigte er dann ganz offen in der Sitzung des Münchner Arbeiterrats vom 14. Dezember, als er (ich zitiere nach der Broschüre „Die Attentate im Landtag“ S. 14) ausrief: „... die Leute ... wollen Brot. Ich weiß aber, daß Sie mich mit etwas anderm füttern wollen.“ – Ich kann hinzufügen, daß Herr Auer diese Worte direkt an mich richtete, und daß er auf meine Zwischenfrage: „Woher wissen Sie denn das?“ erwiderte: „Ich weiß es genau!“ – Bei dieser Stimmung gegen mich, die, wie wohl erwiesen ist, Herr Auer zu der fixen Idee steigerte, ich trachte ihm nach dem Leben, darf auch der Umstand nicht übersehn werden, daß er, wie die Prozesse gegen Lindner und Arco ergeben haben, durch eine ihm befreundete Dame (Frau Oberleutnant Kern) bei mir Hausspionage treiben ließ. Ich bin in diesen beiden Prozessen nicht gehört worden, sonst hätte ich mit Leichtigkeit beweisen können, daß die Aeußerungen, die Frau Kern bei mir gehört haben wollte, – und die bezeichnenderweise Morddrohungen gegen Auer enthalten haben sollen –, nie gefallen sind, und daß ich im Gegenteil, da ich gegen die reinlichen Absichten des Besuchs dieser Dame sofort Verdacht faßte, die beiden Male, die mir Herrn Auers Sendling die Ehre gab, Vorsorge traf, daß überhaupt nicht von Politik gesprochen wurde. – Da ich Herrn Auers Meinung über mich genau kannte, wird es ihn selbst kaum überraschen, daß ich nach dem Attentat auf mich sofort die Überzeugung aussprach: „Den Revolver hat Auer geladen!“ – Ich betone, daß dieser Verdacht nur stimmungsmäßig motiviert werden kann. Ich will ihn auch hier nicht wiederholen, sondern nur von ihm berichten, da plötzlich die Person des Grafen Arco in den Kreis des Geschehens schon dieser Tage tritt. – Die Verbindung der Herren Auer und Arco schon im Dezember 1918 ist mir deshalb so interessant, weil ich weiß, daß am 21. Februar 1919 nicht nur Eisner sterben sollte, sondern auch Landauer, Levien und ich. Diese Tatsache bringe ich nicht jetzt zum ersten Mal zu Papier. Sie ist bereits den Behörden durch mich bekannt gegeben worden, und die Staatsanwaltschaft in München hat dieserhalb bereits ein Verfahren eingeleitet gehabt, das aber, wie mir der Herr Erste Staatsanwalt beim Landgerichte München I unter dem 31. Dezember 1921 mitteilte, mangels genügenden Beweises eingestellt wurde. Für den Fall, daß Ihre Partei von den Protokollen, die in dieser Sache geführt wurden, Kenntnis nehmen will, verweise ich auf das Gerichtsaktenzeichen: A. V. XX 591/21. – Ich überlasse es selbstverständlich ganz Ihrem Ermessen, ob und wieweit Sie von dem Inhalt dieses Schreibens in Ihrer außerordentlichen Generalversammlung Gebrauch machen wollen, wie ich auch mir persönlich vorbehalte, ihn seiner Zeit in der mir geraten scheinenden Weise zu verwerten. Erich Mühsam.“
Nachmittag. Die schandbare Kälte der letzten Tage, die immer noch anhält und mich trotz doppelter Weste und Wadlstrümpfen in der ungeheizten Zelle und besonders in den Gängen mit ihren Steinböden, den Kalkwänden, dem Zug von unten herauf, durch die Treppengitter, aus den Fenstern herein elend frieren läßt – von diesem grotesk unhygienischen Bau werden wir allesamt freundliche Andenken an Niederschönenfeld ins spätere Leben mit hinausnehmen, – diese Kälte war der Hauptgrund, weshalb das Tagebuch ein wenig zu kurz kam. Gestern kam nun noch der Brief an die Sozialdemokratische Partei hinzu, der eingeschrieben abging. Ich warte nun ab, ob mir Herr Gollwitzer die Postquittung heraufschicken wird. In diesem Falle werde ich Adolf Schmidt eine Abschrift zusenden. Nimmt man mir das Schreiben aber hier zu den Akten, dann werde ich durch Mitteilung an den Beschwerdeausschuß des Landtags dafür sorgen, daß mein Schritt draußen nicht ungehört verhallt. Die Erklärung, Auer sei in der Heiligennacht 1918 Gast der Kompanie der Leiber gewesen, die unter Arcos Obhut stand, erhellt die Situation ganz beträchtlich. Zwei Tage darauf der Mordanschlag gegen mich – es bedarf keiner verwegenen Phantasie, um auf Zusammenhänge zu schließen, umsoweniger, wenn man sich der Vernehmung Arcos in seinem Prozeß erinnert, bei der er meinen Namen immer wieder im Zusammenhang brachte mit seinem Abscheu gegen Eisner. Diese völlige Unkenntnis aller Vorgänge und Gruppierungen zwischen den Linksrevolutionären damals mag sich sehr wohl aus den Scharfmachereien erklären, die Auer zur Schürung des reaktionären Vorgehns anwandte. Der Mann hat niemals mit einer Silbe laut werden lassen, daß der Mörder seines Ministerchefs sein Bekannter von früher her war. Das Charakterbild tritt immer schärfer hervor. Mein Brief wird Auer und seinen Getreuen wenig angenehm sein, und sie werden sich den Kopf kratzen und nicht recht wissen, wie sie sich verhalten sollen. Daß ich noch mehr weiß, als da drinnen steht, werden sie wittern, und da Auers Verbindungen mit der royalistischen Konterrevolution ganz gewiß sehr tief wurzeln, wird er selbst garnicht recht wissen, bis zu welchen Tiefen dieser Verwurzelung ich seinen Schweinereien nachsteigen kann. Er mag schwer drunter leiden, daß jene Schüsse in der Schwarzmannstraße nicht trafen und mich jetzt mehr als je dahin wünschen, wo zu seiner Genugtuung Eisner und Landauer gelandet sind. Aber, solange ich Atem habe, werde ich nicht aufhören, an der Visierlüftung dieses Schädlings zu arbeiten, auf dessen Konto fast alles Unglück zu setzen ist, in das die bayerische Arbeiterschaft geraten ist. Seine Rolle in der Nacht vom 7. auf den 8. November wird noch ganz genau aufzuklären sein, ebenso die Vorgänge, die zur Begründung der von ihm und Timm inaugurierten „Bürgerwehr“ führten, ferner die Intrigen im „Roten Hahn“ in München, wo er die Oberländler konsigniert hatte, um Eisners Rücktritt zu Auers Gunsten zu erzwingen, sowie auch Auers Anteil am Lotterputsch auf den Rätekongreß am 19. Februar, bei dem die Pedellfrau des Landtags durch die Handgranate eines seiner Bravos ums Leben kam. Noch fehlt viel, um die ganzen Schandtaten dieses „Klassenkämpfers“ (das ist er in Wirklichkeit: er kämpft an der Spitze betrogener Arbeitermassen mit der zynischsten Energie für die Vorrechte, für den Profit, für die Macht, für den Terror der Klasse, die ihn unter dem Vorwand, ihm die Schüsse Lindners durch eine Rente zu versüßen, aushält), um seine Verrätereien alle in eine geordnete Reihe zu stellen. Meine Gefangenschaft hindert mich leider daran, allen diesen Intrigen so nachzugehn, wie es sich gehörte. Aber ich hoffe, daß das alles noch einmal nachgeholt werden kann. Ich hoffe den Tag noch zu erleben, an dem Lindners Tat gerechtfertigt dasteht, als Vergeltungstat, die durchaus zureichend so motiviert werden kann, wie Lindner sie aus seinem Instinkt heraus vor sich und vor dem Gericht motiviert hat, und an dem Arco als das Werkzeug Auers erkannt wird, daher also erst mittelbar als das Werkzeug der Offizierskamarilla, deren unmittelbarer Handlanger unser republikanischer Minister Erhard Auer war. – Augenblicklich sitzt der Tribun nun in der Patsche. Die Häufung der Anklagen gegen ihn in der letzten Zeit haben nun seine Partei doch bewogen, eine Untersuchung durchzuführen. Ich müßte Auer aber schlecht kennen, wenn es ihm nicht gelänge, die Skat-Mauerer und Wimmer-Brüder seines frommen Klüngels von seiner Ehrlichkeit und Biederkeit zu überzeugen. Ich gebe mich auch keiner Täuschung darüber hin, daß man, falls man nicht völliges Ignorieren vorziehn sollte, meinen Brief benutzen wird, um mich, im Vertrauen auf meine Wehrlosigkeit hinter diesen Gittern mit allem Dreck zu bewerfen, den man irgendwo aufkratzen kann. Daran hat’s Auer bei keiner Gelegenheit fehlen lassen. Auch, als bei dem Verleumdungsfeldzug der Murböcke und Duskiden letzte Weihnachten alle Verbreiter der Schmutzerei loyal genug waren, nach der Aufklärung mir meine Ehre zu bestätigen, machte davon die sozialdemokratische Presse Bayerns unter Auers Kommando eine rühmliche Ausnahme, und seine Münchener Post unterließ es nicht, Loewenfelds Aufklärung mit einer Note zu versehn, die neue Verdächtigungen enthielt. Auer wußte, daß er sich’s leisten konnte, seine Beziehungen waren einflußreich genug, um ihm garantieren zu können, daß ich zu einem Prozeß nicht überstellt würde und er Zeugen gegen mich aufbieten könnte, deren Aussagen in meiner Abwesenheit niemand würde zurückweisen können. Hatte Auer und sein Minister-Verbündeter Roßhaupter doch dafür gesorgt, daß die Festungsgefangenen auch bei der Arbeiterschaft keinen Rückhalt fänden, hatten sie doch jede auch nur teilweise Amnestie mit niedergestimmt und unsre Beschwerden gegen rechtswidrige Behandlung vor den Parteigängern ihres Arco, dem sie das gute Leben nicht mißgönnten, verhöhnt und als unwürdige Winseleien beschimpft. – Mein Brief bezweckt vorerst nichts weiter als die Visitenkarte: ich lebe noch, ich verfüge noch über Material, ich erfreue mich noch meines Gedächtnisses, – wir sprechen uns noch! – Politische Neuigkeiten sind kaum nachzutragen. Die belgischen Parlamentäre sind von Berlin wieder abgereist, anscheinend ohne ein Resultat erzielt zu haben. Es ist noch nicht zu erkennen, ob damit das ganze Geschäft gescheitert ist oder ob die Herren neue Orders in Brüssel einholen wollen, um evtl. weiter entgegenzukommen. Wir werden sehn, wie der Dollarkurs auf dieses Intermezzo reagiert. – Der griechisch-türkische Krieg ist zugunsten der Türken entschieden; wahrscheinlich sind die Waffenstillstandsverhandlungen schon im Gange, da jetzt auch Smyrna von den Kemalisten besetzt ist. In Athen wird Tino also wohl wieder Leine ziehn müssen, und das ewige Wechselspiel zwischen ihm und Venizelos geht weiter, indem der verbannte Griechen-Bismarck wohl wieder mal zurückgeholt werden wird. Es ist ja gleich, mit was für Mitteln und durch was für Personen das Volk von der Notwendigkeit der sozialen Revolution überzeugt wird: auch ob ein schurkischer Esel wie König Konstantin, der Schwager, es überzeugt, oder ein schurkisches Genie wie Venizelos. – Um von Niederschönenfeld zu reden, das vorerst ja noch näher liegt als Brüssel und Smyrna, so ist zu berichten: Sonntag früh hat auch Seebauer die Mitteilung bekommen, daß ihm nach Ablauf von 17 Monaten – am 14. September – der Rest seiner 18monatigen Festungsstrafe auf Bewährung erlassen wird, und zwar hat er sich von der Entlassung ab 4 Jahre zu „bewähren“; er kann also noch im September 1926 geholt werden, um 1 Monat nachzuhocken. Und grade ihm wird dabei sinnfällig demonstriert, wie strenge man alle Verfehlungen nachzusühnen weiß. Seebauer hat nämlich vor seinem „Hochverrat“ schon ein kleines Reat begangen, indem er seine Arbeitslosenunterstützung noch einzog, als die Prämissen dazu nicht mehr bestanden.* Dafür, daß er mit dem „Lohn“ für seine Arbeit die Seinen nicht auskömmlich ernähren konnte und sich durch den kleinen Schwindel zu helfen suchte, bekam er 8 Wochen Gefängnis, die er aber garnicht anzutreten brauchte. Jetzt ist ihm eröffnet worden, daß seine Festungsverurteilung die damals ausgesprochene bedingte Begnadigung hinfällig mache, und daß er die Gefängnisstrafe jetzt erst verbüßen muß, bevor man ihn heimläßt. Bayerische „Gnade“. Der arme Kerl hat die verhöhnende „Begnadigung“ angenommen, weil es ihm – er ist ohrenleidend – nicht egal sein kann, ob er die Haft in dem berüchtigt kalten Gefängnis in Neuburg bis Mitte November oder bis Mitte Dezember abbüßt. Nächste Woche aber wird Herr Dr. Kühlewein dem erstaunten Landtag berichten, daß im Lauf der letzten Woche allein fast 10 % aller Festungsgefangenen auf Bewährungsfrist entlassen wurden. Man wird’s ihm ja nicht nachrechnen, daß das grade 4 Mann von über 40 sind, und daß vorher lange Monate durch niemand dieser „Gnade“ teilhaftig wurde. – Nun noch etwas Hübsches. Genosse Glaßer bekam eine Zeitung aus irgendeinem Grund in zeitlichen Abständen 2mal geliefert. Eines Tages wurde ihm eröffnet, daß eine Nummer beschlagnahmt sei. Er teilte der Verwaltung darauf mit, daß er eben diese Nummer ein paar Tage zuvor ausgeliefert erhalten habe. Da er nun erfahre, daß der Besitz des Blattes geeignet sei, dem Strafvollzug Nachteile zu bereiten, frage er an, was er zu tun habe. Er erhielt den Bescheid, er könne die Nummer behalten. Wenige Tage später kam ein Blatt an, dessen Beschlagnahme ihm kurz vorher eröffnet war, und Glaßer fragte wiederum an, wie er mit der neuen Nummer zu verfahren habe. Er wurde zu Gollwitzer gerufen, der seinen Brief, obwohl er an den Vorstand gerichtet war, aus der Rocktasche vorzog und Glaßer grob zur Rede stellte. Scheinbar war es dem Mann äußerst fatal, daß seine Zeitungszensur so schlagend als ganz willkürlich und zufällig nachgewiesen wurde, und so war er unvorsichtig genug zu fragen, ob man ihm Unannehmlichkeiten machen wolle, und ausfällig zu werden. Glaßer beschwerte sich darauf über den Zensor, zumal darüber, daß er seine Anfrage an den Vorstand nicht weitergegeben hatte und von sich aus hintenherum zu erledigen versuchte. In der Sache stellte sich Glaßer auf den Standpunkt, der Mitteilung, daß die Zeitungsblätter im Besitz von Festungsgefangenen den Strafvollzug gefährden könnten, fühle er sich nicht berechtigt, Zweifel entgegenzusetzen. Es sei nicht seine Angelegenheit, zu prüfen, worin die Gefährdung bestehe. Falls der Nachteil im Strafvollzug nun wirklich eintrete, so könne er dadurch, daß er nicht mitgeteilt habe, daß das gefährliche Blatt in seinem Besitz sei, Nachteile für sich herbeiführen, und diesen wolle er sich nicht aussetzen. Wenn beispielsweise zwei Revolver an ihn geschickt würden, deren einer beschlagnahmt würde, während ihm der andre durch ein Versehn ausgehändigt würde, und dieser Revolver ginge los und richtete Schaden an, dann würde zweifellos die Verwaltung ihn haftbar machen, da er die Waffe bei sich behalten habe, ohne Mitteilung zu machen, obwohl ihm bekannt war, daß sie geeignet sei, dem Strafvollzug Nachteile zu bereiten. Es sei nicht seine Sache zu untersuchen, wie weit dieselben oder ähnliche Folgen durch die Aufbewahrung des gefährlichen Zeitungsblatts in seinem Besitz entstehen können. Ihm genüge die Mitteilung der Verwaltung, die Nummer sei strafvollzugsschädlich, um sich danach zu richten. Die Folge seines pedantischen Vorgehns war überraschend. Der Regierungsrat Englert teilte ihm mündlich mit, der Vorstand billige durchaus sein korrektes und pflichtgemäßes Verhalten. Dem Zensor sei die Eigenmächtigkeit, die Anfrage an den Vorstand von sich aus zu beantworten, verwiesen worden. Gollwitzer habe die Erklärung abgegeben, eine Kränkung Glaßers sei keineswegs in seiner Absicht gewesen. Einer Wiederholung des Vorfalls sei vorgebeugt. Die Fragen Glaßers seien formell und sachlich durchaus berechtigt gewesen. Er wurde gefragt, ob er die Weitergabe seiner Beschwerde an die höhere Stelle wünsche. Natürlich hat Glaßer sich durch die Erklärung des Vorstands befriedigt erklärt. Er hat einen Triumph in der Sache erzielt, der ausgezeichnet ist. Auch Hoffmann hat sehr geschickt operiert, da er durch diese klare Stellungnahme zugunsten des Gefangenen jede Gefahr abgewehrt hat, die Art der Gollwitzerschen Zensurhandhabung, die sicher kompromittierend wäre für die Anstalt, könne draußen noch propagandistisch verwertet werden. Jetzt war der Fall ein vereinzelter Übergriff, wie er überall möglich ist und sofort auf Beschwerde abgestellt worden. Damit läßt sich nichts mehr anfangen. Aus Glaßers klugem Verhalten ist ebenfalls viel für uns zu lernen. Es hat sich als zwecklos erwiesen, sein cholerisches Temperament überall gleich zu Protesten anzustrengen. Je sachlicher und ruhiger man vorgeht, umso besser wird man abschneiden. Wichtig bei dem Fall ist die Zurechtweisung des Zensors, die sich schon in einer bemerkbaren Mäßigung bei den Zeitungszurückhaltungen auswirkt und die Fixierung der willkürlichen Zensurübung, in amtlichen Dokumenten an Exempeln dargetan. – Zum Schluß heute noch eine persönliche Notiz: Zenzl meldet ihren Besuch für Freitag, unsern Hochzeitstag an, und sie wird mir die besondere Freude machen, daß sie ihres Bruders Sepp Töchterchen, die 8- oder 9jährige Kathl mitbringt. Ich habe jahrelang mit keinem Kind mehr gesprochen und freue mich sehr drauf. Was Zenzl doch für ein einsichtiges Herz hat, daß sie darauf verfallen ist! – Sie verdiente ein besseres Schicksal als meine Frau zu sein. Mein Glück aber ist, daß sie dies schlimme Schicksal als Glück erlebt. Daß ich’s ihr einmal vergelten dürfte!
* Nein, weil er zugleich Krankenunterstützung für seine Frau bezog, die doch von seinen eignen Beiträgen bezahlt wurden. Die Verurteilung war ungesetzlich, in andern gleichen Fällen erfolgte Freisprechung. Doch unterließ S., Berufung einzulegen, weil man ihm Bewährungsfrist zubilligte. Wieder ein Argument gegen diese Danaer-Einrichtung.
Niederschönenfeld, Mittwoch, d. 13. September 1922.
Kälte, Wind, Regen in schöner Abwechslung, zumeist alles miteinander, und die Kälte überhaupt ununterbrochen, währt fort. Jeder hat sein dickstes Zeug angetan, viele Genossen laufen in Winterüberziehern und mit Halstüchern durchs Haus. Und noch ist der Sommer nicht vorbei. Das kann nett werden, zumal wir vom Personal erfahren haben, daß bis jetzt nur ein ganz kleiner Bruchteil des zur Heizung nötigen Kohlenmaterials beschafft werden konnte, sodaß garnicht auszudenken ist, wie wir hier drinnen den Winter überstehn sollen. Daran, daß man in Christlich-Bayern politische Gefangene, sofern sie keine Mörder sind, lieber freigeben als erfrieren lassen würde, ist nicht zu denken. Hat man doch in den bayerischen Gefängnissen schon im vorigen Jahr zugesehn, wie der Frost die Gesundheit der Eingesperrten zerstörte: Heiß kam von Amberg mit erfrorener Nase, Pfaffeneder mit erfrorenen Zehen zu uns. – Ich persönlich glaube vorläufig noch nicht an derartige Gefahren für uns, sondern eher, daß man noch die nötigen Koksmengen auftreiben wird. Aber viele Genossen sehn dem Winter recht besorgt entgegen. Die nachhaltigen starken Regengüsse aber verderben noch zuguterletzt gründlich die Kartoffelernte, auf die die Wutzlhofer und übrigen Ernährungsmeister in diesem Jahre alle Hoffnung setzten. Bis jetzt sieht es nicht danach aus, als ob die Herren mit ihrer Weisheit der drohenden Frost- und Hungersnot in Deutschland – selbst nicht in der bayerischen Ordnungszelle – werden zu begegnen wissen. Es wird auch kaum lange ohne Unruhen abgehn, und die Frage ist nur, ob die Arbeiter endlich gelernt haben werden, den Henkern der Reaktion ihr Geschäft dadurch schwer zu machen, daß sie nicht wieder in lokalen Einzelaktionen – eine Gruppe nach der andern – niedergeschlagen werden können, sondern daß sie sich zu gleichzeitigem Vorgehn verständigen müssen, um der Schupo und den Geßlerhorden an ihrer Tüchtigkeit Zweifel beizubringen. Freilich haben wir vorerst viele Gründe zum Zweifeln, ob sich das deutsche Proletariat endlich auf seine natürlichen Waffen, zu denen in erster Linie der durchgreifende soziale Generalstreik gehört, besinnen wird. Liest man die sogenannte Arbeiterpresse, dann kann einen jeder Mut verlassen. In den Reihen der Unabhängigen zeigt sich schon – vor der Selbstkastration – die hoffnungsloseste Versumpfung in demokratischer Kapitalsretterei. Die „Freiheit“ – die vom 1. Oktober ab ins wohlverdiente Grab des „Vorwärts“ gebettet wird – mahnt z. B. die widerstrebenden Bergarbeiter, sie möchten doch die Überstunden auf sich nehmen, die die Kohlenmagnaten und ihre gewerkschaftlichen Schnallentreiber verlangen. Melodie: Nur die Arbeit kann uns retten; – nämlich die Arbeit für Hugo Stinnes und August Thyssen. Immerhin zeigen sich auch erfreuliche und hoffnungweckende Regungen. Etliche oppositionelle Betriebsräte, denen der gute Name dieser Institution mehr besagt als der schlechte Zweck, dem er dienen muß, haben den Beschluß gefaßt, in Berlin solle ein allgemeiner Betriebsrätekongreß stattfinden und über alles Partei- und Gewerkschaftsgetue hinweg von sich aus die notwendigen Beschlüsse fassen. Das Erfreulichste dabei ist, daß sich zu dieser Aktion endlich einmal parteikommunistische, syndikalistische und unionistische Arbeiter zu gemeinsamen Beratungen zusammenfinden. Mögen sie sich recht beraten! Mögen sie keinen Augenblick irre werden an der Einsicht, daß nur der Betrieb die Grundlage sein kann, von der aus proletarische Unternehmungen wirksam erfolgen können! Die Vereinigungsmeier der beiden Amsterdamer Parteien zetern natürlich Mordio über die Abenteuerei dieser „Wirrköpfe“. Schon das zeigt, daß sie richtig handeln. (In Parenthese: mein Seppl schreibt mir von Buchloe eine Karte, er sei unterwegs zur Bezirkskonferenz seiner Organisation. Das ist die A. A. U. der konsequenten Essener Richtung. Davon hat er mit ein paar Münchener Arbeitskameraden in Bayern eine Sektion gegründet, und jetzt sind sie also schon so weit, daß sie Bezirkskonferenzen veranstalten. Ich bin stolz auf meinen braven Schüler und Sohn.) – Ich übersehe dabei nicht die trübe Entseelung des revolutionären Elans durch die von Moskau inspirierte Politik der Kommunisten. Die besten Genossen hier drinnen sind grade im Augenblick ganz Jubel und Seligkeit wegen des Ausfalls von Stimmzettelwahlen in Thüringen, bei denen die Kommunisten einen „Wahlsieg“ errungen haben. Sie haben nämlich gegen das letzte Mal ein paar tausend Stimmen mehr erwischt und schneiden auch besser ab, als die „vereinigten Sozialisten“. Das letzte ist begreiflich, da sehr viele Arbeiter natürlich der Parole der USP, die gemeinsamen Kandidatenlisten mit den Nosketieren abzugeben, nicht gefolgt sind und lieber kommunistisch gestimmt haben, womit sie ja durchaus noch kein Herzensbekenntnis für die Räterepublik abgelegt haben, sondern nur ihren Willen bekundeten, es solle durch Parlamentsgeschwätz „Arbeiterpolitik“ getrieben werden. Dafür hat denn ein andrer Wählerteil, der früher den Scheidemännern aus der Bourgeoisie zugelaufen war, vor der „Radikalisierung“ durch die Gemeinschaft mit den Uspeleuten Bollen gekriegt und ist reumütig zu den Rechtsparteien zurückgegangen. Ein dritter Teil – und das gibt die Rote Fahne offen zu – hat sich von der Zettelrevolution ganz zurückgezogen, und das ist jedenfalls der beste Teil, wenn er sich jetzt auch von den Wahlrossen als „indifferent“ bezeichnen lassen muß. Vom Standpunkt der Parlamentsbanausen ist aber die Thüringer Wahl eine Niederlage. Denn das Muster aller „sozialistisch“ regierten Länder Deutschlands, Thüringen, dessen „Bolschewismus“ besonders in Bayern als rotes Tuch durch alle reaktionären Pfützen geschleift wird, hat wieder eine bürgerliche Mehrheit und mit der republikanischen Schutzpolitik dort ist’s vorbei. Was erfreulich ist, denn die Arbeiter werden erkennen, daß mit dem Herumreden ihrer Abgeordneten kein Brot ins Haus kommt und daß sie bisher mit radikalen Phrasen statt mit wirtschaftlicher Hilfe bedient wurden, und werden sich auf wirksamere Mittel besinnen als auf die Parlamentsquängeleien ihrer Bonzen. Die Folgerungen, die die Kommunisten aus dem Ausfall dieser Wahlen auf die Verfehltheit der Parteienverschmelzung ziehn, sind natürlich richtig. Die „Einigkeit des Proletariats“ wird gewiß nicht dadurch gefördert (mit meiner Ansicht, daß die auch garnicht nötig ist, und daß man totfroh sein darf, wenn einmal der revolutionäre Teil des Proletariats – und zwar ohne Zentralisation und „Disziplin“ – einig ist, stehe ich ohnehin allein). Die Arbeiter müßten ja total blind sein, wenn sie nicht sähen, wohin sie die Advokaten mit unwandelbarer Einsichtslosigkeit bis jetzt mit ihrer Art „Sozialismus“ geführt haben. Ihr in den Berliner Straßen herbeigeplärrtes Gesetz zum Schutz der Republik wirkt sich ja nachgrade in seiner ganzen Schönheit aus. Schon verlangt die Staatsanwaltschaft vom bayerischen Landtag die Aufhebung der Immunität für die annoch zur USP zählenden Abgeordneten Neumann und Niekisch, – wegen Beschimpfung der „republikanischen“ Regierung Bayerns aufgrund dieses Gesetzes, der Regierung der Herren Schweyer mit seinem angestammten Königshaus und Kahr mit seinem „Vivat Rupertus rex!“ – Nun, der Blumenfreund Arcos und Vizepräsident ihres Landtags wird ja jetzt ihr Parteigenosse und wird sich vielleicht, tolerant wie er nun mal ist, für die Verweigerung der Auslieferung verwenden, wenn nicht sein Charakterkonkurrent, unser Rätekomplize, der Minister Wutzlhofer seine Manneskraft für den freien Lauf bayerischer Gerechtigkeit in die Wage wirft. Zur Zeit ist die Person Auers übrigens Gegenstand allgemeiner Erörterung, und man diskuriert eifrig die Frage, ob nicht die Arco-Rosen seine Entfernung aus den Reihen der „geeinigten Sozialisten“ wünschbar machen sollten (Von seinen übrigen Taten, etwa seine Begrüßungsreden an die Frontsoldaten 1918 und allen sonstigen Bekenntnissen seiner treuen Seele redet kein Mensch). Daß die Uspisten die Entfernung des Kerls zur Bedingung machen, ist nirgends zu lesen; im Gegenteil, die „Münchner Morgenpost“ findet, daß die Einigung keine Personenfrage sei. Wahr ist’s: ob Auer, ob Endres, ob Ebert, ob Noske, ob Schneppenhorst, ob Hörsing, ob Heine, ob Wels – es ist ganz einerlei: kopfüber rein ins Jauchebad! – Und es ist auch gut so: mag sich der Sumpf mit dem Kot vermischen, je besser der Boden unter ihnen stinkt, je eher werden die Arbeiter merken, daß er morastig ist. Leid tut’s mir nur um die einzelnen guten, ehrlichen Menschen, die mit hineinrutschen in den allgemeinen Dreck. Nach einem Bericht des Nürnberger „Sozialdemokrat“ scheint sich auch der Fischer-Gustl zum Übertritt entschlossen zu haben. Er wird, wenn er von den Auerochsen mit seinen guten Absichten dauernd überstimmt werden wird, wenn er dauernd gegen sein Gefühl wird handeln müssen, böse Enttäuschungen, böse Gewissensqualen erleben. Mein freundschaftliches Gefühl für ihn und andre Eingeseifte wird dadurch nicht berührt. Aber schade ist’s für die Menschen, wie’s auch um Radbruch schade ist, daß er mit der ehrlichen Anständigkeit seiner Natur gezwungen ist, im Namen dieser Partei die Geschäfte aller Volksfeinde zu besorgen. Wir sitzen noch, und unsre Aussichten sind schlechter als je. Wir danken unsre Situation eben der Partei, mit der viele Freunde von uns sich jetzt verbinden. Gewiß: bei der nächsten Amnestiedebatte wird die „Vereinte Sozialdemokratische Partei“ für unsre Freilassung stimmen. Die Fischers aus ehrlichem Herzen, die Roßhaupters in der sicheren Überzeugung, daß sie doch überstimmt werden, nachdem sie jahrelang die Kahr-Roth-Gesellschaft gegen eine Änderung unsrer Lage ermutigt haben. Mit dem Herzen werden sie sich auch ferner nur der politischen Gefangenen annehmen, die ihnen nicht noch einmal unangenehm werden können, und auch davon nur derer, die um der Bekämpfung revolutionärer Sozialisten willen gefangen sind. Das Geschrei der deutschen Sozialdemokraten wegen der Russischen Sozialrevolutionäre ist die erbärmlichste Heuchelei, die ich kenne. Sie haben auch garkein Mitleid mit ihnen, sondern benutzen sie – und hier erst sind sie mit dem ganzen Herzen dabei – um dem russischen Sowjetsystem Unannehmlichkeiten zu machen. Ich bin gewiß tief unzufrieden mit der Prozessierung der Gotz und Genossen, 4 Jahre nach begangener Tat, nach längst erlassener Amnestie, aufgrund des Verrats beteiligter Renegaten – und grade nach der Rückkehr aus Genua vom Händedruck mit einem König und von der Auslieferung der russischen Jugend an die Jesuiten. Aber ich begebe mich damit in keine Entrüstungsrivalität mit den deutschen Sozialdemokraten à la Stampfer, Landsberg und Südekum. Jetzt hat Timofejew sich im Gefängnis erhängt, und die übrigen zum Tode (mit Bewährungsfrist für ihre Gesinnungsgenossen) durch Hinrichtung Bestimmten sollen ultimativ verlangt haben, daß man sie entweder ins Ausland entlassen soll oder sie erschießen möchte. Das ist sehr unerfreulich zu lesen, und meine Antipathie gegen das Verhalten der rechten Sozialrevolutionäre in der Oktoberrevolution und in der Zeit nachher veranlaßt mich nicht, Brutalitäten zu billigen. Hätte man sie gleich verurteilt und meinetwegen erschossen, als man sie vor Jahren festnahm, hätte ich’s als Revolutionsnotwendigkeit anerkannt. Da Rußland keine Revolution mehr gelten läßt – im Gegenteil, alle wirklichen Revolutionäre drangsaliert – hat es auch keine Revolutionsnotwendigkeiten mehr, und der Tod Timofejews wirkt erbitternd, mag der Mann als Politiker gewesen sein, wer er mag, mag er selbst ein Gesinnungskamerad der Scheidemänner und demnach deren Tränen würdig sein. – Der Tod des französischen „Sozialisten“, Exministers und Kriegsdurchhalters Marcel Sembat mag nur registriert sein und daß sich seine treue Lebensgefährtin an seiner Leiche erschoß, mögen andre Leute rührend finden. Ich würde mich bedanken, wüßte ich, daß Zenzl an meiner Bahre einmal diese Torheit begehn sollte. Sie möge, wenn ich falle, aufrecht stehn, leben und genießen, soweit sie dazu imstande ist und wenn sie überdies sich meines Nachlasses annimmt, so wird sie Nützlicheres für mich tun, als wenn sie mir vorzeitig im Grabe Gesellschaft leistete. – Aber bewegt bin ich vom Tode einer andern Frau, die ebenfalls den Revolver zu Hilfe nahm, um die Freuden dieses Dasein abzukürzen. Elsbeth Bruck hat sich, wie die „Rote Fahne“ berichtet, in Berlin erschossen. Das war eine feine, kluge, charaktervolle, von Idealismus erfüllte Frau. Sie tat während des Krieges treu ihre Pflicht und wirkte, ohne Gefährdung und Haft zu scheuen, gegen das Gemetzel und für Aufklärung im Sinne pazifistisch-sozialistischer Ideen. Später stellte sie ihr schönes Rezitationstalent in den Dienst revolutionärer Bestrebungen, und auch von mir hat sie in München und in Berlin Kampfverse vor Arbeitern vermittelt. Persönlich kannte ich sie nur flüchtig, doch war sie, glaube ich, ein paar Mal bei uns in der Georgenstraße, und ich habe sie als stille, liebenswürdige Person im Gedächtnis. Über den Grund zu ihrem Freitod weiß ich bis jetzt nichts. Das arme Mädel wird eines der zahllosen Nachkriegsopfer sein, zu anständig, um das Brot mit den Mitteln zu erwerben, die heute die einzig aussichtsreichen sind und daher zum Hungern und Darben verurteilt – mit der Aussicht, völlig zu verschulden und zu verelenden und vielleicht verzweifelt an der Verwirklichung ihrer sozialen Träume. Da mußte die Pistole helfen, – ein Fall mehr unter den tausenden gleicher Fälle in dieser Zeit. Aber so wertvolles Leben wie dieses mag unter ihnen selten auslöschen. Ein Schicksal – für die Tote. Ein Appell ans Gewissen, eine Mahnung zur Pflicht, ein Signalschuß zum Kampf für uns Überlebende!
Niederschönenfeld, Donnerstag, d. 14. September 1922.
„Kreuzerhöhung“. Wir erhielten infolgedessen zwar Braten, aber keine Zeitungen und keine Briefe, denn die Christlichkeit in Niederschönenfeld, die in der Behandlung politischer Gefangener die Rolle der Kreuziger bevorzugt, überbietet an Frömmigkeit in der Innehaltung katholischer Feiertage scheinbar den heiligen Vater selbst. – Der liebe Gott scheint aber noch immer zu grollen. Wenigstens ist das Wetter bis jetzt wenig besser geworden. Zwar scheint zeitweilig wieder die Sonne, aber die Temperatur ist alles eher als sommerlich und Sturm und Regen – sogar Schneeflocken gab es heute mittag – wechseln mit der Himmelsbläue ab. Hoffentlich müssen Zenzl und die kleine Kathl morgen in der „Besuchs“-Zelle nicht garzusehr frieren. Ich bin sehr nervös in der Erwartung. Die Freude aufs Wiedersehn wird durch tausend Beängstigungen, welcher Art die Bitternisse sein werden, die für dieses Mal ausgesonnen sind, stark getrübt. Ich bat Hartig, mir ein Blumenbukett vom Garten zusammenzustellen – er ist der Betreuer der Beete der Mehrheit (die „Grundfesten“ haben natürlich ihre eignen Anlagen), das ich Zenzl zum Hochzeitstage überreichen möchte. Jetzt erfahre ich, daß man Blumen nicht selbst hergeben darf, sie werden in Abwesenheit des Gefangenen mit Beendigung des Besuchs dem Gast übergeben. Ehrenhaft. – Ich will heute, zumal sehr kalt ist in meiner Bude – nicht lange schreiben, zumal wir ja nichts Neues erfahren haben. Morgen werden wir mehr wissen, vor allem, ob das Scheitern der Verhandlungen mit den Belgiern als endgiltig anzusehn ist – was die Feststellung einer „Verfehlung“ der Deutschen und damit Zwangsmaßnahmen zur Folge hätte, – oder ob die Entsendung zweier Staatsräte nach Paris wieder einen Aufschub zustande bringt. Es dreht sich um die Frage, ob die verlangten Schatzwechsel 6 Monate Laufzeit haben sollen, oder, wie die Wirthsleute verlangen, mindestens 18 Monate, wodurch denn das abgelehnte Moratorium doch so ziemlich perfekt wäre. Inzwischen wird Österreich augenblicklich vom „Völkerbund“ pfleglich behandelt, und die sehnsüchtig erbetene Notenbank wird wohl Tatsache werden. Dann kann die „Devaluation“ losgehn, und eine Gans wird bald nicht mehr 200.000 Papierkronen kosten, sondern „bloß noch“ 50 000 gedeckte Kronen, die der Arme aber am Ende noch schwieriger zum Ausgeben haben wird, als heute die Wische. In München sitzen die Eisenbahner beisammen und fordern, wie sie’s von ihren Bonzen täglich hören, „Preisabbau“. Mit dergleichen platonischen Forderungen wird Arbeiterpolitik getrieben; von der Regierung wird Preisabbau verlangt, aber von irgend gangbaren Wegen, wie denn die Lebensmittelpreise wirklich verbilligt werden können, hört man kein Wort. Gelegentlich mal meint einer: „Erfassung der Goldwerte“, sagt aber auch nicht wie! – Übelste Charlatanerie, wohin man sieht, – und wenn nicht das wütende Temperament der ewig Geprellten in die Höhe fährt, dann darf man von den Theoretikern und Taktikern gewiß keine Besserung erwarten. Die Rettung liegt bei den Arbeitern selbst; nur sie können die Wirtschaftssubstanz erfassen, nur sie die Produktion dem Bedarf anpassen und die Verteilung rationieren. Solange sie von den Regierungen des Kapitals Hilfe erwarten, werden sie gefoppt sein. – Heute früh ist nun also unser Seebauer Sepp ins neue Domizil nach Neuburg übersiedelt (ob auf dem Schub oder auf eigne Verantwortung habe ich noch nicht erfahren). Ein braver, harmloser Mensch, naiv und ohne Falsch. Ich habe ihn immer ganz gern gehabt. – Auch Popp hat heute den Bescheid erhalten, daß er am 19. Oktober unter Nachlaß der letzten 3 Monate seiner 21monatigen Strafe auf Bewährung frei wird. Es scheint also sicher, daß Radbruchs Besuch in München zu dem elenden Kompromiß geführt hat, daß das Reich zusieht, wie Bayern auch das Amnestiegesetz bricht und dafür diejenigen, die auf seine Anwendung Anspruch haben, mit Nachlaß von ein paar Wochen und lebenslänglicher Verschuldung und auf die Gefahr hin „begnadigt“, den ganzen Knast nachmachen zu müssen. Wie lange die deutschen Arbeiter wohl noch zusehn werden, bis sie sich einmal entschließen, Bayern unter Druck zu setzen und ihm die Kohleneinfuhr zu sperren? – Wie wir hören, soll in der nächsten Woche der Prozeß gegen Karpf in Augsburg verhandelt werden. Wiedenmann wird als Zeuge hintransportiert. Die Anklage gegen Olschewski scheint fallen gelassen zu sein. Thekla Egl hingegen, jetzt Karpfs Frau, soll aus der Untersuchungshaft entlassen sein. Viele schließen daraus, daß der oft laut gewordene Verdacht, sie sei Spitzelin, hierdurch erwiesen sei. Ich finde, man kann mit solchen Verdächtigungen nicht vorsichtig genug sein, wenn man auch, solange nicht volle Aufklärung da ist, Zurückhaltung üben soll. Von Eugen glaub ich’s ganz gewiß nicht, daß er Verräter ist. Vorläufig fürchte ich sehr, daß man ihm in Augsburg schwer aufbrummen wird. Wenn’s glimpflich abgeht, soll’s mich – trotz allem – von Herzen freuen.
Niederschönenfeld, Sonnabend, d. 16. September 1922.
Ich weiß nicht ob ich sagen soll: Leider habe ich Zenzl nun gestern wieder für lange Zeit das letzte Mal gesehn, oder – Gott sei Dank! Es war wieder erbaulich. Schon als ich sie den Feldweg daherkommen sah, wurde mir das Hinauswinken verboten, selbst ohne Taschentuch mit der leeren Hand: Verboten! Sie kam allein, und mein Verdacht, warum die kleine Kathl nicht bei ihr war bestätigte sich bald. Als sie nämlich schon im Hause war, wurde ich zu einer Eröffnung hinuntergerufen, die mein Ansuchen beantwortete, meine Gäste und mich bewirten zu dürfen. Ich war diesmal so vorsichtig, gleich zu schreiben: eine Kanne mit warmem Getränk, enthaltend je eine Tasse für meine Frau, das Kind und mich selbst. Die Antwort – unterzeichnet Englert, lautete ungefähr so (ich glaube, ich bringe dies wundervolle Dokument noch wörtlich zusammen, und das ist es wert): „Warmes Getränk darf je eine Tasse pro Kopf des Besuches verabreicht werden, soweit solcher zugelassen werden kann.“ „Solcher“ aber konnte für das 10jährige Kind nicht zugelassen werden, und zum Glück hatte Zenzl rechtzeitig vorher angefragt, sodaß ihr der Bescheid von der Verwaltung aus noch zuging. Sonst hätte man – daran ist garnicht zu zweifeln – das arme Wurm nicht hereingelassen zu mir, und Zenzl wäre dann vermutlich ebenfalls nicht eingetreten. Also die Sicherheit dieser Ehrenanstalt (oder die des bayerischen „Freistaats“ selber?) gerät in Gefahr, wenn ein 10jähriges Mädchen seinen Onkel besucht. Das Kind war, wie Zenzl mir erzählte, schrecklich enttäuscht, – und ich übrigens auch. Ich hätte so gern mal wieder ein Kind auf dem Schoß gehabt und das Geplapper eines solchen unverdorbenen Geschöpfs mit angehört. – Legt’s zum übrigen! – Also Zenzl kam, und es gab sogleich größten Verdruß mit dem Aufseher, der uns bewachen mußte. Man hatte für mich wieder den unsympathischsten, gehässigsten und borniertesten Beamten der Anstalt ausgesucht, der das letzte Mal schon seine körperliche Nähe derartig an uns herandrängte, daß wir dauernd mit Ekel kämpfen mußten. Ich glaube, der Mann heißt Sauer (oder Bauer). Er ist durch zwei lange blaurote Narben, die der Länge nach über die ganze rechte Gesichtshälfte laufen, entstellt, Franke seiner Sprache nach – die Franken waren von jeher die bayerischen Preußen – und soll die Narben im Kampf gegen die Räterepublikaner als Weißgardist erworben haben, wodurch denn ja seine rücksichtslose Pisackerei, wo er Gelegenheit dazu findet, erklärlich wird. Zenzl saß an der Schmalseite des Besuchstischs, und ich wollte mich nach der Begrüßung an die Längsseite des Tisches neben sie setzen. Das sei nicht erlaubt, und der Märtyrer wies mich an die gegenüberliegende Schmalseite. Ich forderte nun Zenzl auf, neben mir, also an der Längsseite Platz zu nehmen. Auch das sei nicht statthaft. Wir mußten gegenüber an den Schmalseiten sitzen, und der Mann zog seinen Stuhl zwischen uns an den Tisch. Auf meine Frage: von wem diese neue Bestimmung rühre, meinte er: das war schon immer so! Worauf ich verlangte, er solle Herrn Fetsch rufen. Da er dazu keine Anstalten machte, ging ich selbst ohne weiteres aus der Zelle und rief den Oberwerkmeister, der erklärte, die Frau dürfte an der Längsseite neben dem Mann sitzen. Der Aufseher behauptete dreist, das hätte er auch garnicht beanstandet und erklärte pathetisch: „Herr Mühsam, Sie müssen doch bei der Wahrheit bleiben!“ Zenzl bestätigte natürlich den wirklichen Vorgang, und ich sagte bloß noch: „Also stellen Sie fest, Herr Fetsch, daß das Ehepaar Mühsam lügt. Ein Beamter hat selbstverständlich immer recht.“ – Daß der Aufseher seinen Stuhl zwischen uns rückte, konnte ich nicht verhindern, da sein Vorgesetzter das ausdrücklich als seine Pflicht bestätigte (die demnach jeder andre Aufseher stets verletzt). Es war dem Mann nicht zu dumm, die ganzen 6 Stunden – mit ½ Stunde Mittagspause für ihn, während der ein andrer Beamter da war und sich abseits setzte – uns so dicht auf dem Leib zu sitzen, daß er näher an Zenzl saß als ich, zeitweilig aber auch stand und uns von oben herunter auf die Münder sah. Zu Zärtlichkeiten hatten wir infolgedessen außer den Küssen bei der Begrüßung und beim Abschied keinerlei Bedürfnis. So verlief unser siebenter Hochzeitstag, der zweijährige Gedenktag unsres letzten Beisammenseins unter 4 Augen in meiner Ansbacher Zelle. Ich hab’s mir wieder geschworen, daß es keinem der bayerischen Christen vergessen werden soll, die vom heiligen Sakrament der Ehe faseln und dabei jede raffinierteste Kunst aufwenden, um glückliche Ehen zu zerstören, Familien zu sprengen, wenn sie dabei für ihre niedrige Rachsucht gegen Menschen mit politischer Gesinnung Befriedigung schaffen können. Im Landtag sind’s zumeist Pfaffen, die sich in dieser – wahrhaftig von jedem sittlichen Gesichtspunkt aus so zu nennenden Gotteslästerung gefallen. Hätten sie eine Spur von dem Glauben, den sie naiven Herzen einimpfen, daß es eine Gerechtigkeit jenseits dieser Welt gibt, die Schandtaten gegen den heiligen Geist der Liebe in Ewigkeiten rächt, dann wäre es unmöglich, daß sie dermaßen freveln. Sie haben den Glauben nicht, sie sind vollständig zynisch von der Märchenqualität ihrer religiösen Behauptungen überzeugt und glauben daher, ihren sadistischen Launen, zu quälen, wo Menschen die Ehe kennen und heilig halten, da doch sie dieses Glück nie erfahren dürfen, nach Belieben nachgeben zu können. Darum wird man sie noch während ihres irdischen Lebens strafen müssen, um ihren armen Gläubigen zu zeigen, daß diese Menschen selber alles in der Welt fürchten und nichts außer ihr, am allerwenigsten Gott und die christlichen Gebote. – Von Zenzl erfuhr ich allerlei Interessantes über Stimmungen, Zustände, Aussichten. Die Teuerung und die Angst vor dem Winter beherrscht alles. Die Leute redeten wieder von nichts anderm als von der Notwendigkeit radikaler Änderungen. Die Erregung sei der vom Oktober 1918 ganz ähnlich. Auf den Straßen, in den Geschäften – vor denen sich wieder die Wartenden zu langen Queues anstellen, wenn etwa mal „Inlandszucker“ (das Pfund 30 Mark) da sei, (während Auslandzucker 90 Mk kostet; und schon machen die Geschäftsleute auch wieder den Schwindel, Inlandszucker für Auslandsware zu verkaufen oder die Abgabe eines Pfundes des deutschen von gleichzeitigen Kauf eines des ausländischen Zuckers abhängig zu machen) – in den Straßen und Eisenbahnen, überall wird geschimpft, gedroht, politisiert. Es ist offenbare Katastrophenstimmung. Auch die Beurteilung unsrer Räterevolution habe sich sehr geändert. Viele Leute sagen schon offen: die haben ganz recht gehabt, die haben schon vor 3½ Jahren die Wucherer packen und die Beziehungen zu den Russen aufnehmen wollen. Hätten wir sie nur machen lassen, statt uns die Noskegarden aus Preußen ins Land zu ziehn! Auch die Hitlerbande verliere an Boden. Zwar werde noch überall auf „die Juden“ geschimpft, die an allem, am Krieg, seiner Dauer, seinem Ausgang, die an der Revolution vom November und April, die an Not, Teuerung, Elend, Wucher und Verrat schuld seien; bei den Arbeitern aber sei eine gesunde Abwehr aller dieser Verhetzungen zu spüren, und sie hätten auch die Furcht vor den Studenten und den Nationalsozialisten verloren, die bekanntlich das Vorrecht haben, stets bewaffnet in den Versammlungen zu erscheinen. Aber schon öfter sei es jetzt vorgekommen, daß die Arbeiter ihnen ihre Kampfbegier gelegt haben, indem sie ihnen die Revolver mit Schlagringen aus der Hand schlugen und sie mit den eignen Gummiknüppeln, die sie sich von den Unbewaffneten aus der Hand reißen ließen, elend verhauen haben. Ob die Xylander-Tafel-Gesellschaft (für die neuerdings sogar schon ihr Escherich eines ängstlich bremsenden Aufrufs wegen als Verräter gilt) überhaupt noch zum großen Schlage ausholen wird, sei vielen sehr zweifelhaft geworden. (Ich rechne noch damit. Das sind nicht die Leute, die einfach verzichten. Sie müssen aber sehn, daß sie schnell handeln müssen, wenn’s nicht zu spät sein soll). – Die politischen Gefangenen seien zur Zeit sehr aktuell. Grade gestern sollte eine große, von der KPD einberufene Kindlkellerversammlung stattfinden mit 3 Referenten, und zwar, der, erst 2 Tage* zuvor aus dem Landsberger Gefängnis entlassene Genosse Eisenberger (der seine 2 Jahre tatsächlich bis auf den letzten Tag absitzen mußte), der ebenfalls erst kürzlich aus dem Straubinger Zuchthaus entlassene Bethge (ein übler Patron persönlich; vielleicht hat ihn das schreckliche Haus innerlich ein wenig geläutert) – und Adolf Schmidt, als erst jüngst aus Niederschönenfeld entlassner Festungsgefangener. Ob Zenzl nach ihrer Ankunft in München, um ½ 10, noch munter genug war, in den Kindlkeller zu gehn, ist fraglich. Hoffentlich erfahren wir doch noch etwas vom Verlauf. Der Zulauf wird riesig gewesen sein, schon Eisenbergers wegen, der äußerst populär ist und sich zum ersten Mal wieder vor dem Proletariat zeigt. Ein tapferer aufrechter Kerl. Lerchenfeld wird sich wenig freuen, ihn wieder in Freiheit zu wissen. Vielleicht wird er in seiner Partei auch ein wenig Dreck wegspülen. Da stinkt’s immer noch grausam. Allerdings berichtete mir Zenzl, daß Duske und sein Freund Fritz Eberlein (der Bruder Hugo E.’s, sonst ohne Verwandschaft mit ihm) endlich wirklich aus der Partei ausgeschlossen seien wegen der ewigen persönlichen Stänkereien und Angebereien, mit denen sie guten Genossen zusetzen. Zenzl selbst ist von ihnen und ihrem Anhang in ihrer Arbeit zugunsten der Russenhilfe dauernd belästigt und gestört worden, indem sie alle paar Tage unmanierlich in die Wohnung eindrangen, um zu „kontrollieren“. Weigel habe die Arbeit hinschmeißen wollen wegen dieser dauernden Quängeleien und Verdächtigungen; doch ließ Zenzl sich der hungernden Kinder wegen alles gefallen und diesen Schurken wurde ihr Plan, die Hilfsaktion zu hintertreiben, zuschanden gemacht. Dagegen scheint die Verweigerung des Passes in die Schweiz für Zenzl, die die Erholung dort so nötig gebraucht hätte, das Werk dieser „Genossen“ zu sein. Zenzl konnte darüber nur in Andeutungen reden, doch sagte sie klar heraus, daß nicht etwa das Schweizer Konsulat die Einreise nicht gewollt hätte, sondern daß das von Bayern aus so veranstaltet worden sei, und zwar stehe damit in Zusammenhang die letzte Verdächtigung der Duskiden gegen sie, sie leite jetzt die Partei in München. Da sie garnicht Mitglied der Partei ist, sollte damit die Aufmerksamkeit der Eidgenossen auf sie gelenkt werden: sie gehöre zur illegalen Abteilung der Kommunistischen Partei und sei umso gefährlicher. Wie die Fäden nun genau gelaufen sind, weiß ich natürlich nicht. Aber daß sie vom Duskelager zur Polizei gingen und von da dann nach Bern, ist sehr wahrscheinlich. Und ganz sicher, daß die Duskiden ihre Direktiven immer noch großenteils hier aus dem Hause empfangen, von wo die „Grundfesten“ mit allen Mitteln Einfluß auf die Besetzung der Parteiämter zu nehmen suchen (eben durch Platzhalter für sie selbst), was allmählich draußen völlig bekannt ist. Sie verlangten denn zuletzt die Entfernung Weigels, Auwecks und Kummerows aus der Partei wegen „Reformismus“, und Duske und Eberlein traten als Vertreter dieser Reinigungsaktion hervor. Die Mitglieder haben darauf mit großer Mehrzahl den Ausschluß dieser beiden Herren beschlossen, und die Zentrale hat ihn bestätigt, zumal auch in Erinnerung an die Weihnachtsoffensive gegen Zenzl und mich (die 26000-Mark-Geschichte), die der Partei in München eine Unmenge Mitglieder gekostet hat. Die Sauber-Schlaffer-Kompanie hat halt wenig Glück mit ihren Vertrauenspersonen. Duske ist also erledigt, und nun höre ich auch gleich was von dem andern Ehrenmann Elbert. Die Geschichte ist so drollig, daß ich sie im ganzen Verlauf festhalten will. Zenzl saß jüngst mit Fritz Weigel in einem Lokal und kam mit einem am Tisch sitzenden Herrn ins Gespräch, das im Verlauf auf die politischen Gefangenen überging. Der Bürger, ohne Ahnung, wen er vor sich hatte, legte gegen uns los; es gebe denn doch garzu suspekte Gestalten unter den Festungsgefangenen, so wisse er z. B. von dem Mühsam, daß der ein ganz perverser Wüstling sei. Die Frage Zenzls, wieso und woher er seine Kenntnisse habe, wurde erstaunlich genug beantwortet: Er habe kürzlich in der Bahn zwischen Nürnberg und Augsburg die Bekanntschaft eines Herrn gemacht, der selbst lange in Niederschönenfeld in Festung gesessen hätte und Mühsam also in der Nähe kenne, eines gewissen Elbert. Es sei ganz haarsträubend, was der alles erzählt habe, wie Mühsam die ganze Anstalt mit seinen Perversitäten verseuche. Zenzl meinte dann, daß sie davon doch auch etwas wissen müsse und gab sich als Frau Mühsam zu erkennen. Der Herr glaubte ihr nicht, und schließlich kam er der Einladung zu einer Tasse Tee bei Mühsams Frau nach und überzeugte sich, daß sie’s wirklich war, wie hübsch und wohnlich dort alles ist und daß am Ende der Mann dieser Frau, der Besitzer dieser Bücher und Bilder, doch das Schwein wohl kaum sein werde, als das er ihm geschildert war. Der Herr, ein Bankdirektor, sandte am nächsten Tag an Zenzl einen großen Blumenstrauß. Das ist also die revolutionäre Tätigkeit des großen Kommunisten in der Freiheit, daß er in den Eisenbahnen den Bourgeoisreisenden, Bankdirektoren und ähnlichem, die von ihm selbst in Niederschönenfeld gezettelten Mißhelligkeiten ausbreitet und Menschen verleumdet, die in der Revolution im Gegensatz zu ihm vornedran zu sehn waren und nicht wie er 2½ sondern 15 Jahre dafür aufgebrummt gekriegt haben. Ich bin mir ja über die Eigenschaften des Elbert schon lange im Klaren. Aber wissen möchte ich eins: reisen heutzutage die Bankdirektoren schon III Klasse um zu sparen, oder sind die Auftraggeber Elberts so nobel, daß sie ihm gestatten, für die Erfüllung der Pflichten, für die er engagiert ist, bei den jetzigen Preisen Spesen für Reisen II Klasse in Rechnung zu stellen? – Diese Notizen mögen zur Erinnerung an diesen Besuch meiner guten Zenzl genügen. Ich hatte die Freude, wenigstens feststellen zu können, daß sie mit ihren 38 Jahren immer noch eine Frau von vielen Reizen und prächtiger lebendiger Regsamkeit ist. Fluch den Halunken, die sie zwingen, ein Witwenleben zu führen! (Und sähen es doch am liebsten, daß sie es nicht führte und sie könnten sie, die sie schon unglücklich gemacht haben, auch noch im Kot herumwälzen). – Aber Gerechtigkeit! Diese guten Menschen wissen augenblicklich garnicht, wohin sie mit der Überfülle ihrer Gnade sollen. Nachdem vorgestern Popp den Bescheid erhielt, er komme am 19 Oktober heraus (aber nicht auf „bedingte Begnadigung“, sondern auf „Strafunterbrechung mit Bewährungsfrist“, sodaß sie ihn also jeden Moment ohne Grund wieder schnappen können), haben heute wieder 3 Mann aus der Mitteldeutschen Sache ähnliche unerwartete Eröffnungen erhalten. Bay ist dabei derjenige, der am besten davonkommt: ihm wurden 6 Monate erlassen, und er verläßt uns am 9ten Oktober. Liebl dagegen bekam die erstaunliche Mitteilung, daß er statt am 9. Oktober des nächsten Jahres „schon“ am 9. April 1923 – mit 4jähriger Bewährungsfrist! – gehn darf. Über ein halbes Jahr muß er sich halt hier noch „gutes Verhalten“ sichern. Die Gnade der bayerischen Christen! – Der dritte Begnadete ist Otto Reutershan, der zu der „freudigen Mitteilung“ zum Staatsanwalt gerufen ward, ihm würden die letzten 2 Monate bei vierjähriger Bewährung erlassen. Der brave Genosse (einer der prächtigsten Menschen, die wir hier drinnen haben) replizierte auf diese „freudige Mitteilung“ damit, daß er erklärte, er nehme die „Gnade“ nicht an. Er beanspruche die Anwendung der Reichsamnestie als sein Recht und verzichte auf den Ersatz. Hoffmann habe seine „Freudigkeit“ sofort verloren und geantwortet, das gehe ihn nichts an, er habe nur die Eröffnung zu machen, alles weitere soll Reutershan mit dem Münchener Volksgericht direkt abmachen. Vor Monaten richtete Otto ein Bewährungsfristgesuch an das Gericht, seine Frau sei krank, seine große Familie in schwerster Not. Vor wenigen Wochen erst bekam er die Antwort: Die beklagenswerte Lage der Familie werde zugegeben, doch müsse die Rücksicht auf sie hinter den staatlichen Belangen zurückstehn. Reutershans Vergehn sei schwer, er sei „gemeingefährlich“ und das öffentliche Wohl verlange, daß er seine ganze Strafzeit absolviere. Das waren die Juristen Bayerns ohne Schminke. Jetzt ist inzwischen das Reichsamnestiegesetz in Kraft getreten. Natürlich brechen und beugen es die Bayern, wie jedes Recht, das irgend mit menschlicher Empfindung in Übereinstimmung ist. Sie wissen, daß sie es brechen und erleichtern es sich Berlin gegenüber, indem sie auf einmal „gnädig“ werden. Otto Reutershan hat recht, tausendmal recht, daß er ihnen drauf spuckt, und ich hoffe, dies erste Beispiel männlich kräftiger Ehrenhaftigkeit wird Eindruck machen. Ich bin froh, daß sich ein solcher Charakter gefunden hat. Man lernt wieder gläubig werden bei solchen Beispielen opferfroher Gesinnung. Mag es dem Mann einmal vom Proletariat gelohnt werden!
* nach Zeitungsmeldungen erst am gleichen Tage
Niederschönenfeld, Montag, d. 18. September 1922.
Kälte und Nässe dauern – mit der kurzen Unterbrechung von einem Tag – immer noch fort. Der Zustand ist in dem kalten Hause kaum erträglich, und bei der bürokratischen Pedanterie aller und zumal der bayerischen Preußen wird die Anstalt nicht geheizt, wenn’s die Temperatur verlangt, sondern erst am 1. Oktober. – Die Wirkungen der Witterung auf die Wirtschaft des Landes werden sich im Winter zeigen. Vorläufig macht man sich wohl in München wenig Gedanken um das, was werden wird. Da die Oktoberwiese wieder in Betrieb ist, ist ja in Gschnasien ohnehin für 14 Tage das Interesse von Hefe und Elite auf Wichtigeres als Daseinssorgen abgelenkt. Unsereiner hat ja nach 3½ Jahren mönchischer Weltentfremdung einigermaßen die Maßstäbe verloren, um noch abmessen zu können, wie überhaupt Lebensführung und Individualbudget draußen noch halbwegs ausgeglichen wird. Doch bekam ich von Zenzls Erzählungen den Eindruck, als ob das Leben, das ich 10 Jahre lang faute de mieux geführt habe – wenn mal Geld in der Tasche ist: ausgeben, genießen, nicht nach dem nächsten Frühstück fragen, wenn keins da ist, eben hungern oder pumpen oder die letzte Hose verpfänden – als ob dieses berüchtigte Bohèmeleben heutzutage den besten Bürgern – sofern sie keine Schieber oder Niederlagegewinner sind, Vorbild und allgemeine Norm geworden sei. Was soll man auch Geld in der Tasche behalten, wenn man sich sagen muß: heute kann ich vielleicht noch dreimal soviel dafür kaufen wie morgen? So begreift man leicht, daß der Arbeiter, der zwar jede Hoffnung verloren hat, sich seine defekte Wäsche und Kleidung zu ergänzen, trotzdem 10 Mark für eine Zigarre aufwendet oder 1000 Mark an einem Oktoberfestbummel ausgibt, die im Grunde ja nur etwa 3 Mk Friedenswert haben. Die eigentliche Kalamität wird da sein, wenn der Winter sich mit seinen ganzen Qualen einstellt. Der Zentner Kohlen: 400 Mark, Holz für einen Ofen täglich 20 – 30 Mark: da hören die Möglichkeiten auf. (Meine Sorge um Zenzl in dieser Hinsicht konnte sie erfreulicherweise vollständig beruhigen. Hans hat nach seinem Besuch bei ihr ungefragt 20 Zentner Kohlen gekauft und ihr bringen lassen. Das ist ein Geschenk von 8000 Mark, wie sich mein Bruder überhaupt immer mehr als ein nobler, anständiger und vorurteilsloser Kerl ausweist. Ich beurteilte ihn lange Zeit sehr anders und bin herzlich glücklich, einmal ein Urteil nach der vorteilhaften Richtung hin revidieren zu müssen). – Ich mag nicht mehr Revolution prophezeien. Aber ich kann schwerlich glauben, daß die deutsche Arbeiterschaft, die Revolution und Konterrevolution kennen gelernt hat, noch lange zusehn wird, wie diejenigen, die sie um die Früchte des Novembers 18 betrogen haben, der Profitsicherung weniger Kapitalisten wegen, ihr noch die letzte Lebenshaltung unmöglich machen. Ich glaube jedenfalls sicher, daß ausgedehnte Teuerungskrawalle sehr bald die öffentliche Aufmerksamkeit mehr erregen werden als das dauernde Hin- und Hergezottel der Bourgeoisregierungen über Reparationen, Moratorien, Schatzwechsel, beabsichtigte Verfehlungen, Goldgarantieen, Konferenzen zwischen Diplomaten, Bankiers oder Gewerkschaftsbonzen, Sanktionen und faule Kompromisse. – In ein akutes Stadium werden alle Fragen der politischen und wirtschaftlichen Pleite wohl sehr rasch in Österreich treten. Die paar hundert Millionen Goldkronen, mit denen die westlichen Großbanken das Finanzchaos – das durch den Index eher vergrößert als geordnet wurde – halbwegs wieder in Bahnen lenken will, werden – abgesehn von der problematischen Wirkung der Kur selber – jedenfalls an Bedingungen geknüpft werden, die den österreichischen Arbeitern bitter zum Bewußtsein bringen werden, was sie ihren Bremsern in der Not, den Adler und Renner und dem ganzen marxistischen Geschmeiß zu danken haben. Sie haben dafür gesorgt, daß keinerlei kräftige Aktion zur Bezwingung der Ausbeutung und damit der Not unternommen wurde, damit nur ja die „Errungenschaften“ der Revolution (die keine war, da alles was kam aus der Niederlage kam und nichts erkämpft wurde) erhalten blieben. So hat man denn in Wien noch den Arbeiterrat, neben dem Bourgeoisparlament und in der „Volkswehr“ Soldatenräte, während für den Sozialismus nicht das geringste geschehn oder auch nur versucht wäre. Die Bourgeoisie stöhnt: Halbbolschewismus (es ist etwa der Zustand, mit dem uns im März 19 das von Haase, Kautsky und Barth geschobene „Nürnberger Kompromiß“ abspeisen wollte, und wir hätten sowas ähnliches gekriegt, wenn nicht Neurath ernste Versuche zur wirtschaftlichen Reorganisation im Sinne des Sozialismus gemacht hätte; da schlug die geeinte Bourgeoisie, geleitet von den Auerochsen, mit Noskehorden zu). Jetzt scheint das Pfaffentum Österreichs mit der Hochfinanz der Siegerstaaten verbündet zu sein, um den vernichtenden Schlag auf das Proletariat führen zu können. Man spricht von einer Kontrolle über Österreich, und jetzt zeigt sich, daß nicht etwa bloß die Finanzen und der Staatsetat kontrolliert werden sollen, sondern daß die „Ordnung“ unter internationale Obhut gestellt werden soll, indem eine besondere Gendarmerie – wohl in Form gewissermaßen einer Fremdenlegion – nach Österreich gelegt werden soll, die mit den „Nebenregierungen“ aufräumen, vor allen Dingen also mal die Arbeiterschaft entwaffnen soll. Österreich hat aus Angst vor Kämpfen die Revolution vermieden; die Konterrevolution wird ihm nun doch nicht erspart bleiben, und wenn sie – was in absehbarer Zeit der Fall sein wird – in Ungarn und Bayern an ihrem eignen Gestank krepiert sein wird, dann hat Wien grade eine neue Pflegstätte für sie geschaffen. Marxisten-Erfolge. – Mir ist zu kalt, um noch am Schreibtisch sitzen zu mögen. Nur noch ein paar Anmerkungen vom Hause. Otto Reutershan bat mich um Abfassung seiner Erklärung an das Volksgericht, daß er die „Gnade“ ablehne: Ich hoffe, daß meine Begründung, die ich genau seinen Wünschen entsprechend formulierte, wirksam und für die, die es angeht peinlich genug ausgefallen ist. Unsre Verwaltung leistete sich ein neues Stück. Mehrere Genossen beschäftigten sich hier oben privat mit Buchbinderei, ohne bisher darin gehindert zu sein. Plötzlich hat man ihnen die Pappe und das übrige zur Arbeit nötige Material nicht mehr hereingelassen, sodaß die ganze Anzahl Bücher, die zum Binden auseinandergenommen sind, ruiniert ist. Bis jetzt wurde – im Fall Thierauf – das berufliche Handwerkzeug nicht ausgehändigt, weil Mißbrauch mit den Instrumenten zu besorgen sei. – Mit Pappe und Kleister wird das wohl nicht der Fall sein. Also jetzt ganz offen: wer arbeiten will, muß es unten und im Dienst der Verwaltung tun, also für 10 Mark täglich – so mächtig ist der „Lohn“ erhöht worden. Sonst hat ein Festungsgefangener zu faulenzen. Aber Erpressung ist das natürlich nicht! – Sandtner hatte nachgesucht, Hanna Ritter zu heiraten. Herr Staatsminister Dr. Gürtner hat ihm geantwortet, daß ihm für die Dauer seiner Strafe die Erlaubnis zum Heiraten nicht gegeben werden könne. Damit ist jetzt von oberster Stelle die Strafe der Entmündigung, die es nicht mal für Zuchthäusler gibt, für uns bayerische Ehrenhäftlinge nachträglich ausgesprochen. Die erste persönliche Amtsäußerung des neuen Justizministers von der Rothschen Richtung. Nur weiter so. Je dicker es kommt, umso besser. Die Quittung wird nicht ausbleiben für alle Schandtaten dieser armseligen Schinder.
Niederschönenfeld, Dienstag, d. 19. September 1922.
Die Wirrnis dieser Zeit ist so ungeheuer und zugleich so grotesk, daß der Chronist bei den täglichen Notierungen vergißt, von Dingen zu sprechen, die zugleich alle Scheußlichkeit der 4 Jahre großer Zeit wieder aufrühren und die Gefahr, diese große Zeit könne sich plötzlich, womöglich in gesteigerter Auflage, wiederholen, unmittelbar in sich bergen. Der türkisch-griechische Krieg ist entschieden. Die englischen Griechen sind von den französischen Türken vernichtend geschlagen. Kemal, der Sieger, triumphiert auf der ganzen Linie und Dschingis Khan findet in ihm seinen Meister. Kleinasien ist eine Wüste, Smyrna ein Schutthaufen. In Griechenland herrscht Verzweiflung. Die Truppen meutern, desertieren, schmeißen die Gewehre weg und lassen Lenin und Trotzki leben. Lenin und Trotzki aber gratulieren den für ihre „Freiheit“ – lies für ihre Satrapen-Abhängigkeit von Frankreich siegenden Kemalisten in jubelnder Bruderliebe und die Telegramme von Angora nach Moskau und umgekehrt werden nur noch vergleichbar sein denen von Paris nach Angora und von Angora nach Paris. Zugleich erklärt Radek in der Roten Fahne und Trotzki vor seinen Gläubigen in Moskau, daß Frankreich der Feind Rußlands aus dem Grunde sei, und daß der französische Kapitalismus Kemals Auftraggeber sei. Und zugleich wieder proklamiert Kemal in Namen der türkischen Nationalisten den russisch-türkischen Vertrag von 1921 (dessen Ergebnis bisher der Aufstand Enver Paschas in Buchara war, – welcher übrigens nicht gefallen ist, sondern in Afghanistan neue Lumpereien sinnt) als immer noch bindend, sodaß Tschitscherin die Beteiligung Rußlands an den Friedensverhandlungen fordert, um den Griechen ad oculos zu demonstrieren, wie man die Forderung: Friede ohne Annexionen und ohne Kontributionen versteht, wenn man mit einem nationalistischen Siegerstaat verbündet ist. – Die Besiegten aber schreien: Hoch Lenin! Hoch Trotzki! – Sie wissen’s nicht besser; sie glauben noch alles, was ihnen erzählt wird; sie halten noch für wahr, was vor 4 Jahren ja wirklich wahr gewesen ist; sie ahnen nichts Arges von denen, die sie zur Revolution rufen gegen ihre Regierung, um diese Revolution dann dem Imperialismus „befreundeter“ Gewaltstaaten nutzbar zu machen statt der Welterneuerung durch Sozialismus und Kommunismus. Sie wissen ja nicht mal, daß sie nur als Prügelknaben für englische Spekulanten gekämpft haben und besiegt wurden, und werden das erst erkennen, wenn die Briten jetzt ihre eignen betrogenen Soldaten und Matrosen ins Feuer schicken werden, um zu retten, was noch zu retten ist. England findet sich nicht ohne weiteres ab mit dem Siege der Kemalisten. Es verlangt Respektierung der „neutralen Zone“, d. h. Lokalisierung des Kriegs auf der asiatischen Seite. Kemal aber will Konstantinopel – und wird’s bekommen. Da wird dann wieder die Meerengenfrage akut, die unlösbaren Probleme, aus denen die Balkanschrecken die Jahrzehnte und Jahrhunderte hindurch erwuchsen, stehn wieder auf. Die Fiktion der „Entente cordiale“, die bisher noch als Kulisse vor allen imperialistischen Gaukeleien hielt, – hier wird sie zusammenbrechen. Denn Frankreich will die Herrschaft in Syrien ausüben und braucht dazu eine Türkei mit Machtstärke als ihren Vizewirt; England aber braucht „die Freiheit der Meere“, d. h. sein eignes Durchfahrtsmonopol zum Schwarzen Meer. Schon daß die Russen – pares inter pares heute unter den Ausbeuterstaaten nach ihrer eignen Rechtsdeutung – gegen England stehn, um ihren Handel vom Schwarzen zum Mittel-Meer treiben zu können, zeigt, was die „Freiheit der Meerengen“, wie England sie fordert, wert ist. England also hält die Kriegsflotte da unten unter Dampf und verlangt von den „Verbündeten“ Hilfe zum Schutz der Dardanellen, findet sich aber schon ab mit der Rückgabe Konstantinopels an die Türken – und nun kommen die Yugoslawen und fühlen ihre Kriegsresultate bedroht. Die Griechen können Adrianopel für sich nicht retten und die Bulgaren kündigen Ansprüche an. Der Vertrag von Sèvres ist zerfetzt. Die Deutschen-Satrapie am Bosporus hat sich an die Franzosen verdungen und ist vom Besiegten zum Sieger geworden. Inzwischen setzt sie die Orgien des Christenmassakers fort gegen Armenier und Griechen und gegen die Europäer im ganzen Umkreis. Aber das wird ihnen am wenigsten verübelt von den Europäern, die jetzt mit ihnen als Verbündete teils, zum andern Teil als Besiegte zu tun haben. Und ringsum blitzen die Vorzeichen naher neuer Kriege mit veränderten Gruppierungen auf. – Frankreich aber sonnt sich erst mal im Triumph der Siege seiner Waffenknechte und nimmt teil an dem Jubel der griechisch-orthodoxen und jüdisch-atheistischen Russen und der mohammedanischen Welt von Indien bis Marokko über den gewaltigen Pogromerfolg, den grade der Panislamitismus erzielt hat und fragt dabei nicht mehr nach Christentum und Moral, sondern nach den ausmünzbaren Vorteilen, die sein Kapitalismus über den britischen erzielen kann. Die ersten Wirkungen der türkisch-französischen Siege über Griechen-England werden sich in der Alliiertenpolitik gegen das besiegte Deutschland zeigen. Der Abbruch der Berliner Verhandlungen mit den Belgiern wird von den Franzosen als Faktum gewertet, auf das man das Urteil „schuldhafte Verfehlung“ stützen und das man demnach zur Proklamation der „Freiheit des Handelns“ gegen Deutschland benützen kann. Der Fall für neue Sanktionen schien schon unmittelbar gegeben. Doch scheint plötzlich doch noch ein Kompromiß zustande kommen zu sollen, – und zwar charakteristischerweise wie im Stinnes-Lubersac-Vertrag wieder durch das Eingreifen privater Finanzleute. Man sandte von Berlin den Reichsbankpräsidenten Havenstein mit dem Auftrag nach London, für die – autonome – Reichsbank aus englischem Bankkapital die Unterlagen zu schaffen, die der Reichsbank das Girieren der belgischen Schatzwechsel ermöglichen. Es heißt jetzt, das sei Herrn v. Havenstein gelungen. Er habe – ohne mit der britischen Regierung überhaupt zu reden, von der Bank von England die Goldgarantieen erlangt, die nötig seien, um den belgischen Forderungen auf Erlegung der Goldsicherheit für die Reparations-Schatzwechsel zu entsprechen. Die Frage, ob nun die Wechsel auf 6 Monate oder auf 18 Monate ausgestellt werden, verliert damit an Bedeutung, und möglicherweise kommt das Kompromiß mit 12 Monaten heraus. Gerettet und geholfen ist mit dem allen natürlich garnichts, aber es kann mal wieder für kurze Zeit weitergewurstelt werden. Die glorreiche Regierung Wirth wird als Erfolg für sich buchen, was in Wahrheit ein kolossales Geschäft von ein paar englischen und deutschen Finanzmagnaten ist. Frankreich aber wird, davon bin ich überzeugt, auch wenn es mit diesem Konflikt nichts mehr anfangen könnte, neue Gelegenheiten schaffen, um sein Prae vor England gegen Deutschland auszunutzen. Es soll mich nicht wundern, wenn in allernächster Zeit wieder jene politische Notenoffensive von Paris losgeht, die immer dann kam, wenn Frankreich sich leidlich stark fühlte. Und ich denke immer, einmal wird wohl auch der bayerische Zunder in Paris in Gebrauch genommen werden, – etwa im Zusammenhang mit der Kriegsbeschuldigtenaffaire oder mit der Entwaffnungsfrage; die Hindenburgtage in München werden gewiß nicht ohne schmerzhafte Nachwirkungen für ihre Veranstalter bleiben. Aus Liebe zur Freiheit und Gerechtigkeit wird man allerdings den Bayern nichts tun. Dessen ein Beweis ist, daß man jetzt in Genf, wo der famose Völkerbund tagt und vor Menschlichkeit tropft, Horthy-Ungarn einstimmig für würdig befunden hat, diesem Bunde beizutreten. Habeant sibi! – Mit Bayern hat man keinen Grund, so liebenswürdig zu sein, und wenn man Gründe zur Unliebenswürdigkeit hat, tropft man stets von Menschlichkeit und entrüstet sich moralisch. Die Bayern von heute aber haben die preußischen Junker nicht nur in Person bei sich aufgenommen, sondern ihre Methoden, die Andern immer mit dem zu reizen, was am teuersten kommt, auch vollkommen übernommen. Eines Tags wird’s auf sie niederfahren von Frankreich her – und dann ist Schluß, ganz anders, als Dr. Heim in Tuntenhausen meint, wo mal wieder die große Heerschau der bäuerlichen Reaktion war. Wir dürfen unsre Hoffnungen getrost auf die Dummheit unsrer Drangsalierer setzen, – nicht aber auf jenen politischen Humbug, der sich gegenwärtig als „Einigung der Arbeiterschaft“ ausgibt. Die Unabhängigen in München sind den Mehrheitlern tatsächlich Auers wegen noch mal unangenehm geworden und die Münchner Post veröffentlicht nun das Ergebnis der Außerordentlichen Generalversammlung (ob mein Brief dabei vorgelesen oder erwähnt wurde, steht nicht da). Die Eisner-Mannen Kämpfer und Ferkel brachten ihre Anklagen ziemlich dürftig und ohne genügende Vorbereitung vor und verlangten gründliche Untersuchung des Materials. Dann gingen sie wieder, und die Auerochsen mit ihrem Oberbullen, der in der Rolle des Delinquenten anscheinend durchaus noch den Apparat in der Hand behielt, „untersuchten“ allein. Sie brachten denn auch das erwünschte Ergebnis zusammen. Nachdem alle Vorwürfe, die dort vorgebracht waren, formuliert waren – und es war trotz ihrer Unvollständigkeit eine schöne Liste, in der weder die von den Oberkommandos in der Revolutionsnacht angeforderten 500 Mann gegen die Arbeiterschaft noch das geplante Kupfer-Attentat gegen Eisner, noch überhaupt Eisners Ansicht, daß Auer ihn beseitigen lassen wolle, noch der Lotterputsch und die Arco-Weihnachtsfeier fehlte –, danach erklärte man, daß gegen Auer garnichts bewiesen sei, daß man nur das Rosenbukett an Arco mißbillige, das aber keine politische Angelegenheit sei und auch nichts beweise. Und im übrigen danke man Auer für alle seine dem Proletariat geleisteten Dienste und bitte ihn unter Bekundung des heißesten Vertrauens seine bewährte Kraft fernerhin auch in den Dienst der geeinigten beiden sozialdemokratischen Parteien zu stellen. Dies geschah in Anwesenheit Auers, nachdem eben in seiner Abwesenheit die Sozialdemokraten in Nürnberg ihm das schärfste Mißtrauen ausgesprochen und ihn aufgefordert hatten, seine Funktionen als Landesvorstand der Partei niederzulegen. Man sollte meinen, daß ein Mann, gegen den eine derartige Serie tollster Anklagen überhaupt erhoben werden können, dem von allen revolutionären Arbeitern alle diese Handlungen ohne weiteres zugetraut werden und der schließlich 2 Dinge, die durchaus zum Ganzen passen – seine Weihnachtsflucht zu Arco und sein Rosenstrauß an ihn, der inzwischen der Mörder Eisners geworden war (von dem Rosenstrauß seiner Tochter an die Majestäten in Sendling, an den heute übrigens auch der Miesbacher Anzeiger erinnert, sprach man garnicht, auch nicht von seiner niederträchtigen Rolle beim Januarstreik und während des Kriegs überhaupt) zugeben mußte, daß der Mann ein für alle Mal von jeder Tätigkeit unter der Arbeiterschaft ausgeschlossen sein müßte. Kommt hinzu, daß irgendwelche Untersuchung garnicht vorgenommen wurde, und daß man vielleicht in manchen Fällen von einem non liquet, in keinem Fall von einem non olet sprechen kann. Aber der Mann wird gehalten, und die dummen Teufel von der USP werden die Noskepartei mitsamt diesem als Konterrevolutionär und Zuhälter der ärgsten Arbeiterfeinde überführten Auer-Vater schlucken. Amüsant aus dem Bericht sind einige Einzelheiten, die nicht verloren gehn dürfen. Seine Getreuen rechneten Auer seine Beweise von menschlicher Toleranz und verzeihender Gesinnung nach. Er habe sich sogar und zwar mehrfach mit Erfolg für die Bewährungsfrist politischer Gefangener aus der Rätezeit eingesetzt. Stimmt: für Göpfert und Murböck! – Sonst hat er alle Energie aufgewendet, um Herrn Dr. Roth nicht einmal in der Malträtierung der kleinsten Rotgardisten behindern zu lassen. – Und dann noch etwas, was unsern großen Oberradikalen der Gruppe Wuchtig im Mittelgang, Fritz Sauber, betrifft. Der Auerochse Rösch, ehedem Soldatenrat und Leiber, schilderte die unerhörten Gefahren, die dem großen Auer in den Weihnachtstagen 18 drohten, und die ihn, nachdem er mannhaft erklärt hatte: „Ich weiche dem Gesindel nicht aus!“ (damit meinte er natürlich mich und die Kameraden von den revolutionären Internationalisten), veranlaßten, dann doch die Weihnachtsfeier in „seiner Kompanie“ mit Frau und Töchtern und Arco und Rösch zu verbringen, – und zum Beweise, wie gefährlich es damals in München war, zitierte Herr Rösch den tüchtigen Sauber selbst, der im Rätekongreß versichert habe: „Meine Herren! Wenn damals die Frontsoldaten nicht gewesen wären, dann hätten wir Weihnachten in München eine zweite Bartholomäusnacht gehabt!“ – Ich werde sehn, ob ich die ganze Rede Saubers finde. Ich glaub die Richtigkeit des Zitats aufs Wort und möchte nur wissen, wer ihm die Vokabel „Bartholomäusnacht“ eingesagt hat. Daß er keine Ahnung hatte, was das für ein Ding ist, davon bin ich überzeugt. Dieser Mensch, der hier drinnen die Rolle des Radikalsten Revolutionärs mimt, hat draußen, als er das Militär in der Hand hatte und revolutionär hätte beeinflussen können, den schleimigsten Helfershelfer der „Ordnungs“-Halunken gemacht. Einer der roten Jungs hat ihn mir schon in Ebrach mal ausgezeichnet charakterisiert in seiner Dreckpositur damals in München. War’s Koberstein? War’s Fürbacher? – Ich weiß nicht mehr, aber seine Worte weiß ich noch: „Sauber – der war ja nur der Schnürlhanswurst von Dürr und Schneppenhorst!“ – Und Schneppenhorst selbst hat als Zeuge in seinem Würzburger Prozeß gesagt: „Er kann seinen Beruf nie verleugnen. Er serviert gern was andre gekocht haben.“ – Ich nannte ihn draußen schon eine Kompromißgeburt, und die Absicht, einmal alle seine Maßnahmen, Reden, Kundgebungen zusammenzustellen, die zu dieser Frontsoldaten-Belobigung passen (und man muß die infame Haltung der Frontsoldaten in der Münchner Revolution erlebt haben), wird und muß noch einmal ausgeführt werden. Wer von einem Saulus zu einem Paulus wird, seine früheren Sünden bereut und wieder gutmacht, in Ehren. Wer aber seine schäbige Vergangenheit dadurch auskratzen will, daß er Menschen, die eine reine Vergangenheit haben, mit Kot beschmiert, der soll verantworten, was er von Anbeginn an getan hat. Sauber ist verzweifelt dumm, das mag ein mildernder Umstand für ihn sein. Auch ist keine seiner Gemeinheiten je auf seinem eignen Mist gewachsen, – auch das mag ihn entlasten. Aber er hat sich in der Revolution und in der Gefangenschaft von seinen Einsagern und von seiner Blödheit zu Dingen verführen lassen, die er verantworten muß, falls er es nicht vorzieht, seine Pfoten in Zukunft von öffentlichen Dingen zu lassen. Das Proletariat braucht Köpfe, die denken können, Herzen, die ohne Falsch sind, Waffen mit blankem Schaft.
Niederschönenfeld, Mittwoch, d. 20. September 1922
Es ist ganz infam kalt, naß und stürmisch. Jeder spürt allmählich, wie der wochenlange Mangel an Wärme am Körper zehrt. Der kleine Kochherd im Gang ist den ganzen Tag von frierenden Genossen umlagert, und jeder jammert: noch 11 Tage bis geheizt wird! Ich fragte vorhin einen der wenigen Aufseher, die als anständige Menschen in dies elende Gewerbe geraten sind und mit dem daher auch mal ein persönliches Wort geredet werden kann (ich werde mich hüten, ihn namentlich zu bezeichnen, der Mann käme wohl sofort um sein Brot, falls eine Durchsuchung bei mir ergäbe, daß er nicht als Märtyrer und Rachegeist sondern als Mensch empfindet, auch wenn er Leute mit der Überzeugung sich gegenübersieht, daß die Welt noch schöner eingerichtet sein könnte, als in der derzeitigen deutschen Ordnungszelle Bayern), den also fragte ich, ob denn garnicht gehofft werden kann, daß geheizt würde, auch wenn der Kalender noch nicht den 1. Oktober anzeige, da die Kälte einen ja völlig kaput mache. Der Mann antwortete, daß er und seine Kollegen ebenfalls jammervoll frieren, daß die Verwaltung aber noch zögere, nicht, weil sie sich auf den Kalendertag kapriziere, sondern weil es ja noch wieder wärmere Tage geben könne. Auf den Gedanken, daß man ja, wenn es wieder warm werden sollte, nicht nachzuschüren braucht, ist die Verwaltung scheinbar noch nicht verfallen. Wenn man durch Massenerkrankung an Gelenkrheumatismus oder Bronchitis erkennt, daß es wohl keinen Zweck mehr habe, auf die bessere Einsicht des lieben Gottes und seiner Wetterengel zu warten, wird das Einheizen wohl angeordnet werden, um dann vor aller Welt zu rühmen, wie opfervoll der Staat selbst für die verwahrlosten Verbrecher in Niederschönenfeld sorgt. Dieser Tage erfuhren wir, wie teuer dieser Staat uns den Aufenthalt hier berechnet. Dr. Mayer, der seine Haftkosten in regelmäßigen Raten zahlt, bekam die Rechnung, aus der ersichtlich ist, daß wir neuerdings für unser Quartier hier und Verpflegung die Kleinigkeit von täglich 64 Mark angerechnet bekommen (das macht ca. 2000 Mark monatlich, gegen 1000 Mark bisher und etwa 200 Mark vor einem Jahr). Mit dieser Summe verglichen kriegt die Geldpolitik, die die Anstalt gegen uns treibt, erst das richtige Gesicht. 50 Mark Taschengeld wöchentlich und für 6stündige (erpreßte) Arbeit im Dienst der Verwaltung 10 Mark, – also noch nicht ein Sechstel dessen was der Staat selbst für das tägliche Existenzminimum aussetzen muß. Nun ist zwar gegen unsre Beköstigung wenig einzuwenden; sie war zeitweilig sogar hervorragend gut und ist immer noch durchaus zufriedenstellend in Qualität und Quantität, aber die bedeutende Ökonomie, die mit der Anstalt verbunden ist und mit aufs Schlimmste ausgepreßten Strafgefangenen fast umsonst arbeitet, kann die gute Verpflegung leicht leisten, auch ohne unsre Pensionskosten in so scharfem Tempo zu steigern. Ich bin gespannt, wann man mir vorrechnen wird, daß die gepfändeten 40500 Mark meines Häuseranteils überschritten sind und eine neue Zwangseintragung ins Grundbuch verlangt. – Ich bin aber auch gespannt, wann einmal – wenn auch nur aus Sparsamkeitsgründen – eine beschleunigte Entlassung der kleineren Sünder vorgenommen werden wird, da ja doch mit wenigen Ausnahmen alle Genossen keine Haftkosten zahlen können noch je nachzahlen werden und überdies der Verwaltungsapparat mit immer größeren Spesen arbeitet, die eo ipso auf die Staatskasse drücken. Wir sind jetzt noch 44 Festungsgefangene hier. Wenn selbst die Mitteldeutschen (wohl mit Ausnahme der 4 in Idealkonkurrenz mit einem Vergehn gegen das Sprengstoffgesetz Verurteilten) vom Reichsbegnadigungsausschuß als amnestieberechtigt anerkannt werden, ohne daß Bayern daraus einen neuen Konfliktfall macht – was selbstverständlich riskiert werden könnte, da das Reich sich noch immer unterworfen hat – wenn also wirklich mit Bay und Popp auch Schiff, Thierauf, Luttner, Zäuner und Reutershan gehn sollten, würden nach meiner Rechnung ohne weitere Bewährungsfristbegnadigungen immer noch 22 Mann hier sogar noch ins Jahr 1924 mit hinübergehn. Zu denen kommen aber noch die Nachzügler, die ihre Bewährungsfrist verwirkt haben, oder denen man, wie Renner, Strafunterbrechung gab, um sich auszukurieren, und es heißt wirklich, er soll wieder hereingeholt werden. Mairgünther muß sein Jahr Gefängnis bald hinter sich haben, in Amberg sollen noch 4 Mann hocken, die noch einen Festungsknast nachzumachen haben, in Straubing sitzt mein armer Josef Fürbacher, der nach seinen 4 Jahren – Anfang 1924 – noch 6 Monate Unbewährtheit büßen muß, und über Karpf erfahren wir grade heute überraschenderweise, daß er längst verurteilt ist und seine Strafe, die er in Laufen absitzt (dort hat man die meisten der aus der Räterevolution – wegen Bandenbildung, Landfriedensbruch und sonstigen hergesuchten Delikten zu Gefängnis verurteilten Genossen verwahrt: und es sind Strafen bis zu 7 Jahren dabei!) im November hinter sich haben wird; dann werden also wir ihn hier zurück zu erwarten haben. Das Gerücht, sein Prozeß finde im Laufe dieser Woche statt, hat also nicht gestimmt. Wiedenmann ist allerdings gestern abtransportiert worden, aber nicht als Zeuge zum Karpf-Prozeß sondern als Angeschuldigter in einer ihn selbst betreffenden Sache, die – soweit ich unterrichtet bin – wohl eher vor ein Gericht revolutionärer Genossen als vor ein bürgerliches Straftribunal gehört. Ich mag mich darüber nicht äußern, weiß ja auch nicht, ob ich zutreffend orientiert bin. Wir werden wohl aus den Zeitungen erfahren, was ihm vorgeworfen bzw. nachgewiesen wird und welche Schlüsse für sein und andrer Leute Verhalten in der Revolution wir zu ziehn haben. Was Karpf anlangt, so hält man ihn ja jetzt in der Gruppe Wuchtig (Hagemeisters Prägung, die mir bezeichnender scheint als jede frühere) für einen Spitzel. Ich bin immer noch vom Gegenteil überzeugt, nehme vielmehr an, daß Elbertsche Intrigen am Werk sind, die diesen Verdacht erregt und geschürt haben. Über Thekla, die zum mindesten eine schwer hysterische Intrigantin ist, ist mein Urteil unsicher. Es wäre ja gradezu tragisch für Eugen, wenn er sich von einer Frau hätte heiraten lassen, für die zu diesem Entschluß das Bestreben maßgebend war, sich für ihren polizeilichen Dienst reichere Quellen zu erschließen. Ich hoffe vorerst noch, auch sie wird zu Unrecht verdächtigt. Aber die Zustände sind derartig, daß man zu jeder Sekunde und im nächsten Umkreis Verrat wittern muß. Sinclairs 100 % übertreiben nicht, und wenn man Ropschins „Als wär es nie gewesen“ kennt, weiß man, wie grauenhaft die russische Revolution 1906/7 und die folgenden Jahre von Spitzelei durchseucht war, wobei das Grauen am tollsten gesteigert wird durch die Kenntnis dessen, was aus dem Verfasser später wurde. Das Pseudonym Ropschin verbirgt nämlich keinen andern, als den späteren Kerenski-Minister Sawinkow, eine der übelsten Figuren der Revolutionszeit nach dem Zarensturz. Sawinkow hat in der Oktoberrevolution schon eine traurige Rolle gespielt, dann aber, mehr noch als Kerenski selbst, vom Ausland her Weißgardistenzüge gegen die Arbeiter- und Bauernmassen seiner Heimat organisiert, er hat mit Denikin, Judenitsch, wie vorher schon mit Koltschak und dann auch mit Wrangel konspiriert, um die russische Revolution zu ersticken und mag heute irgendwo in Frankreich oder Tschechien sitzen, und[um] neue Heldenzüge dieser Art vorzubereiten oder die Vergiftung von innen heraus zu betreiben. Solche Gestalten müssen gelegentlich genannt und bezeichnet werden, die von entschlossenen Idealisten aus enttäuschter Eitelkeit zu jämmerlichen Schurken werden. Es gibt sie überall, und wenn die Festungsjahre ja Wert gehabt haben für die Bereicherung unsrer Erfahrungen, so ist es dadurch, daß wir Menschen, die in der Bewegung vornedran waren und das Maul weit aufrissen und solche, die in der Bewegung draußen still ihre Pflicht taten und kaum gesehn wurden, solche auch, die da waren, als sie glaubten, der Erfolg sei gesichert und vorher von keinem gekannt waren, und solche, die nicht mehr da waren, als es brenzlich zu riechen begann, hier ganz in der Nähe in ihrem täglichen legeren Bewegen und Lassen zu beobachten Gelegenheit haben und einigermaßen lernen Charaktere zu unterscheiden. Einmal wird der Tag kommen, der uns vor größere Verantwortung stellt als wir sie vor 3½ Jahren trugen – und ich glaube nicht, daß Klingelhöfers neueste Süßmeierei: in 15 Jahren werde das Proletariat soweit sein, daß es die Macht übernehmen könne, – mehr ist als eine Prophetie zur Bekundung der bedeutenden Persönlichkeit des Propheten; denn wenn es schon noch 15 Jahre dauern soll, warum nicht 50, warum nicht 250, warum überhaupt? Und was ist das: die Macht übernehmen? – Auch solches Geschwätz gerngroßer Phraseure charakterisiert Personen und Strömungen und mahnt zu Vorsicht und zu Abwehr. Ich prophezeie nicht mehr auf Daten und Jahre. Aber das Zukunftwissen, das ich in mir habe, ist besser als Prophezeiung und marxistische Rechenkunst. Ich weiß die Revolution unterwegs, die große Reinigung der Welt von der Seele aus – und das hat nichts zu tun mit Schöngeisterei, sondern die Seele: das ist die Verzweiflung an dem Höllenwust der Staaten und der Politik, das ist der Abscheu gegen Ausbeutung, Betrug und Knechtung, das ist der Wille zum Aufräumen und zur gründlichen Arbeit im Niederreißen. Aus dem Schleim heraus! – und wenn der Weg auch durch Blut führt! – Ich weiß, daß dieses Gefühl nicht nur in mir so heiß und lebendig ist, daß ich niemals daran irre werde kann. Ich weiß, es ist das Gefühl, das bewußt oder instinktiv in jedem Arbeiter lebt, der das Elend nicht bloß am eignen Leibe spürt, sondern die Augen offen hält für die Not des Ganzen – und Gott sei Dank, diese Arbeiter sind nicht mehr vereinzelt! – und so weiß ich auch, daß der Tag der Rache und der Reinigung, der Zerstörung und der Befreiung kommen wird: in 15 Tagen, in 15 Monaten wahrscheinlicher als in 15 Jahren. Aber was geht mich das Wann? an! – Meine Arme sind ausgebreitet.
Niederschönenfeld, Donnerstag, d. 21. September 1922.
Herbstanfang – und als ob die Natur der Kalendermacher spotten wollte: plötzlich ein schöner warmer Tag, daß einem ganz wohl in seiner Haut ist. Grade heute aber hat die Verwaltung endlich für die arbeitenden Genossen die Winteranzüge herausgerückt, wohl selber schon verzweifelnd, daß der Sommer noch wiederkommen könnte. Die Verwaltung: mehrere Genossen hatten angesichts der Möglichkeit, daß unsre Nachtruhe demnächst wieder um ¾ 9 Uhr ausgebrüllt wird, Eingaben gemacht, man möge ihnen doch Beleuchtung der Zellen auf eigne Kosten gestatten, wegen der Arbeit, wegen der Schlaflosigkeit. Aber man weiß ja unten grade, wie unsinnig die Quälerei dieses Dunkelarrests auf die Nerven erwachsener Menschen drückt, infolgedessen selbstverständlich: Ablehnung; und zwar begründete. Denn eines Teils müßten Einsparungen an Kohlen gemacht werden, andernteils seien früher Mißbräuche vorgekommen. Sonderbar. Wir wissen garnichts von solchen Mißbräuchen. Die Einführung des Zubettschickens und unmittelbar nachfolgenden Lichtausdrehens erfolgte ebenso unvermittelt und ohne irgendwelchen äußeren Anlaß wie ein paar Tage später das Verbot, eigenes Licht zu brennen. Aber die Kühleweinschen Landtagslügen müssen vorbereitet werden. Er wird behaupten, was er immer behauptet hat. Drangsalierungen der Niederschönenfelder Gefangenen gibt es erstens nicht und zweitens haben sie sie selbst verschuldet. Und darum erklärt die Verwaltung den Festungsgefangenen selbst: es sind Mißbräuche vorgekommen! Wer es bestreitet, wird sich hüten müssen, dabei nicht auch noch in Ungelegenheiten zu geraten. – Im Fall Sandtner steigert sich die Ungeheuerlichkeit noch. Hanna kam bei der Verwaltung um Besuchserlaubnis ein, um sich mit ihrem Verlobten über die Schritte zu beraten, die sie zur Erreichung der Heiratserlaubnis weiter tun sollten. Sandtner erhielt heute die Eröffnung: der Besuch des Frl. Ritter könne nicht zugelassen werden, da keinerlei Verwandtschaft zwischen ihr und Sandtner festzustellen sei, und da die Eheschließung ja ohnehin nach der Entscheidung des Ministers nicht mehr in Betracht komme. Also abgesehn davon, daß man einem zu Ehrenhaft verurteilten Politiker das jedem Staatsbürger garantierte Recht, das selbst Zuchthäuslern, denen man nur die Ehrenrechte (Wahlrecht etc) nehmen kann, bleibt, abschneidet, sich zu verheiraten, wann und mit wem er will und somit schon aufgelegte Amtsverbrechen durch Amtsmißbrauch und durch Verhängung unzulässiger Strafarten begeht, – abgesehn davon dekretiert man jetzt schon in Bayern, daß Brautleute keinerlei Verwandschaftsbeziehung zu einander haben. Das widerspricht dem Recht des Bürgerlichen Gesetzbuchs kraß, und man staunt nur immer, bis zu welchem Grade der Unverfrorenheit sich die zur Wahrung des gesetzlichen Rechts bestellten bayerischen Eigenartisten aufschwingen können, ohne dabei die Balance zu verlieren, die sie zur Wahrung des Scheins, als ob ihnen die Wahrung des Rechts obläge, zu halten vorläufig noch für nützlich halten. Vermutlich wird man, wenn Sandtner jetzt hoffentlich Lärm schlägt, das Verlöbnis der Beiden leugnen, wie man es seinerzeit beim Seppl tat. Damals erwischte man aber noch den Vorwand, daß die Angehörigen nicht einverstanden seien (was natürlich völlig gleichgiltig war); jetzt handelt es sich aber um zwei Menschen, die früher schon ehelich zusammengelebt und die in aller Form bereits um die Erledigung der zur Eheschließung nötigen Maßnahmen nachgesucht haben. Man lehnt also die Eheschließung – ohne Rechtsgrund nicht nur, sondern sogar ohne auch nur einen Rechtsgrund zu suchen – aus einfacher Machtanwendung ab und benutzt dann diesen ersten Rechtsbruch, um aus ihm den juristischen Vorwand zu schöpfen, gleich weitere Rechtsbrüche daran anzuknüpfen. Hoffentlich wird Hanna Pestalozza sofort zu sehr energischen Schritten und zur Alarmierung der Öffentlichkeit veranlassen. Kein solcher Fall dürfte ungenutzt gelassen werden, um die Arbeiterschaft darüber aufzuklären, wie die Zustände hier grade erst nach Radbruchs schneidiger Versicherung im Reichstag geworden sind, er werde in Niederschönenfeld rechtliche Zustände schaffen, – wie, solle man ihm überlassen. Zu erwähnen ist auch eine Eröffnung, die Toller heute davon in Kenntnis setzte, daß ein Brief vom Ende Juli hier am 1. August zu den Akten genommen wurde. Ohne die Rückfrage des Absenders an die Verwaltung hätte Toller von dieser Konfiskation nie erfahren. Der Erklärung des Regierungsrats, die Mitteilung der Beschlagnahme sei durch ein Versehn der untergeordneten Stelle unterblieben, kann man glauben oder nicht. Die Tatsache, daß auch Briefe an uns gerichtet werden, von denen die Adressaten überhaupt nichts erfahren, ist in diesem Falle ersichtlich geworden. Eben wurde ich unterbrochen und mußte hinunterkommen. Ein Gerichtsvollzieher: ich soll schon wieder 600 Mk 90 Pf. für die Eintragung ins Grundbuch zahlen. Natürlich kann ich’s nicht und muß nun wieder an Loewenfeld schreiben. Ich möchte mal wissen, wie lange diese Schraube ohne Ende noch angezogen werden soll. Daß man mein Vermögen mit 40500 Mark gepfändet hat, weil meine Behauptung, die Beauftragten des Staats hätten bei mir geplündert, absolut unbewiesen sei (während zugleich ein andres Gericht entschied, ich hätte für diese Plünderung keinen Pfennig Entschädigung zu erhalten, weil sie durch Soldaten im Dienst, also durch Beauftragte des Staats vorgenommen wurde), ist Grund genug, mich und die arme Zenzl in alle Ewigkeit mit Forderungen zu drangsalieren, die erst aus dieser Pfändung erwachsen. – Und gleich noch eine Eröffnung: ein Brief von Hanna Ritter an mich wurde wegen agitatorischen Inhalts zu den Akten genommen. Das gute Mädel sandte mir grade eine herrliche Kiste Zigarren. Nun muß ich ihr im Dankbrief gleich die Unannehmlichkeit mitteilen, daß sie mir vergeblich geschrieben hat. So ist dauernd für Ärger gesorgt. Darin sind unsre Christen Meister. – Die zahl- und bedeutungsreichen Geschehnisse der großen Politik – von der Kriegs-Atmosphäre in der Levante bis zum deutsch-sozialdemokratischen Einigungsrummel in Augsburg und Gera – morgen. Aus dem Hause nur noch, daß Wiedenmann schon wieder von der Verhandlung zurück ist. Er soll freigesprochen worden sein, (ob es stimmt und was dem ganzen Prozeß zugrunde lag, konnte ich noch nicht kontrollieren). Damit wäre jedenfalls die Angelegenheit in einer von jedem Standpunkt aus erfreulichen Weise aus der Welt geschafft. Über allerhand kommunistische Partei-Interna, die mit der Ausschließung der Duske und Eberlein aus der Partei zusammenhängen, und die hier in der Gruppe Wuchtig ihre stinkenden Quellen haben, will ich lieber schweigen. Umso lauter wird später mal davon zu sprechen sein. Wahrlich, ich sage euch: euer Geruch ist nicht fein!
Niederschönenfeld, Freitag, d. 22. September 1922.
Zum Wiedenmann-Prozeß erfährt man durch Hausklatsch: die „Straftat“ hing zusammen mit einer Gewehrbeschlagnahmung bei einem Münchner Kommerzienrat, die W. als Sektionsführer der Kommunistischen Partei mit seinem Adlatus Ertl auszuführen hatte. Wie bei Mairgünther versuchte man, diese Einzelhandlung innerhalb der revolutionären Tätigkeit in der Rätezeit nachträglich noch herauszuschälen, um Vorwand zu einem neuen Prozeß zu haben (denn das Grauen der Bourgeoisie vor den „Greueln“ jener Tage darf nie aufhören). W. wurde vom Polizeigefängnis zum Justizpalast unter Bewachung von 15 Polizisten zu Fuß überführt. Im Gericht trat sofort Graf Pestalozza auf ihn zu, um ihn als sein Verteidiger zu begrüßen. Erster Krach: die Schutzleute suchten die Unterredung zwischen Klienten und Anwalt zu hindern. Die Verhandlung begann dann mit Pestalozzas scharfem Protest gegen die verbrechermäßige Aufmachung des Transports und gegen seine Behinderung, sich mit dem Klienten zu verständigen. Zugleich schärfste Anklage gegen die Schandwirtschaft von Niederschönenfeld, wo man ihn um sein Anwaltsrecht prellt, sich unter 4 Augen mit seinen Klienten zu beraten. Es sei unter seiner Würde, sich dabei von einem Wächter kontrollieren zu lassen. In der Verhandlung verlangte Pestalozza dann die Verlesung des Urteils im Hochverratsverfahren zur Feststellung, daß die Gewehrkonfiskation damals schon behandelt und demnach als Teilhandlung des Hochverrats abgeurteilt sei. Widerspruch des Staatsanwalts, die Verlesung wurde aber beschlossen. Mehrmals versuchte der Vorsitzende sie mitten im Text abzubrechen, doch erzwang Pestalozza die ganze Verlesung, die die Unzulässigkeit des neuen Strafverfahrens so schlagend bewies, daß der Staatsanwalt dann selbst auf Stellung eines Strafantrags verzichtete und die Freisprechung erfolgte. Als Zeuge trat Ertl auf, der zwar Wiedenmanns Darstellung des Falls bestätigte, für seine Person aber erklärte, er teile politisch durchaus dessen Meinungen nicht: also ein demütiges Reuegejammer vor den bürgerlichen Herren. Aus dem Publikum, in dem (außer den Spezis Wiedenmanns Duske, Eberlein und Taubenberger) viele Arbeiter aus seiner Sektion von der Schwanthalerhöhe gewesen sein sollen, seien Ertl sehr offenherzige Zurufe darauf zugeflogen, wie „Schuft miserabliger“ etc. Pestalozza aber habe sich ganz glänzend in seinem Plädoyer für die Räterepublikaner eingesetzt und den Vergleich gezogen zwischen ihnen, deren Haussuchung bei einem Kommerzienrat sich in höflichsten Formen hielt (ich habe allerdings den Verdacht, daß diese Formen allzu „höflich“, nämlich etwas unsauber unterwürfig waren) und mit der Beschlagnahme der Waffe endeten, während die Waffensuchen der Weißgardisten bei Arbeitern regelmäßig mit Plünderungen verbunden waren und im Falle, daß Waffen gefunden wurden, die Tötung des Arbeiters nach sich zogen. Je übersichtlicher das Bild werde, das von jenen Tagen sich gestalte, umso reiner und anständiger ständen die Revolutionäre da im Vergleich zu den Weißgardisten, die die entsetzlichsten Greuel verübten. – So wird der Verlauf des Prozesses hier herumerzählt. Pestalozza hat sich auf jeden Fall wieder als ein Prachtmensch erwiesen. Der Mann will nur Christ sein und hält sich ernsthaft und ohne Falsch an seine religiöse Idee. Es ist zu verstehn, daß er bei allen Pfaffen und Juristen mehr gehaßt wird als der polterndste kommunistische Parteirechtsanwalt. Denn Furcht haben sie vor keiner politischen Rabulistik – der sie ihre eigne entgegensetzen können; sondern vor der Wahrheit, und ein Rechtsanwalt, der die Wahrheit hochhält, ist in der Tat ein so pervers anmutendes Geschöpf in diesen Zeiten, daß man begreift, wie peinlich der Mann speziell in Bayern empfunden werden muß. – Genug davon. In der Welt passiert so viel, daß man sich mit garnichts beschäftigen kann, ohne von der Fülle des Ganzen aus der Sonderbetrachtung gedrängt zu werden. Nichts ist so weit geklärt, daß ein Urteil möglich wäre. Jede Klärung aber kann sich nur aus der Entwicklung aller noch so fernliegenden andern Ereignisse ergeben. Ob aus dem syrischen ein neuer Balkankrieg erwachsen wird, wie dabei die Gruppierung der Kriegsteilnehmer sein wird, wie sich das Wiederaufbauproblem und die Währungsfragen regeln werden, was aus Rußland in Beziehung auf das kapitalistische Europa und auf das revolutionäre Weltproletariat werden soll, sogar welche Konsequenzen sich aus der Vereinigung der Internationale II und II½, die in Augsburg-Gera-Nürnberg eingeleitet wird, nach und nach ergeben werden, – alles das ist so ineinander verwurzelt, so von einander abhängig, daß es immer schwieriger wird, aus dem ungeheuren Gären in aller Welt die rechten Symptome auszuwählen, um sich danach zu orientieren. Es bleibt immer ein Sackgreifen, und so überlasse auch ich die Auswahl meiner Betrachtungen dem Zufall und weiß, daß ich vielleicht in 10 Jahren bei der Durchsicht erstaunt sein werde, die überwältigendsten Ereignisse – wie etwa die allmähliche Zersetzung des britischen Imperiums durch die gewaltig zunehmenden Autonomieansprüche der Dominions – die unausgesetzten Kämpfe in Irland und Ägypten, die Gärungen in Indien (die sicher das Bedeutungsvollste der ganzen gegenwärtigen Geschichte sind, leider aber durch die jammervolle Zeitungsinformation grade darüber garnicht zu verfolgen sind), jetzt die Widerspänstigkeit Canadas in der Frage der Meerengenverteidigung, im Gegensatz zu Australien, das England Hilfe anbietet; alle diese Dinge kommen zu kurz, wenn die Chronik einigermaßen bei den Tagesvorgängen anknüpfen will. Und nur selten gelingt es, einmal einen Faden so zu fassen, daß gewisse Verknüpfungen im Weltgeschehn, die der erste Blick übersieht, damit vorgenommen werden können. (Unsre gesamte Presse läßt in allen derartigen Fällen vollständig im Stich, die großbourgeoise ebenso wie die angeblich revolutionäre, weil das objektive Urteilen ja längst nicht mehr als Aufgabe der Publikationen gilt sondern das Zweckerfüllen, wie es entweder die Börse und die Industrie oder das Parteiinteresse oder – bei den Kommunisten – die russische Regierung verlangt). So finde ich die Gleichzeitigkeit dreier wirtschaftlicher Vorgänge höchst charakteristisch und lehrreich: das ist der Stinnes-Lubersac-Vertrag, der Vertrag Havenstein-Englische Bank und der Vertrag Krassin-Leslie Urquarth. In allen drei Fällen zeigt sich die völlig gleiche Tendenz der ökonomischen Gestaltung ohne Revolution: das Privatkapital handelt über die Staaten und Regierungen hinweg bis zu dem Maße, daß es sich der Staatsverträge bemächtigt und sie als Privatverträge praktisch ausführbar macht. „Stinnesierung“ heißt der schon eingebürgerte terminus technicus dafür. In dem Reparationsabkommen zwischen Reichs- und Englischer Bank treten die beteiligten Staaten immerhin noch als Statisten auf; sie haben den Privatfinanziers sozusagen Vollmacht gegeben, für sie zu handeln und bleiben einander als Kontrahenten verantwortlich. Der Stinnes-Lubersac-Vertrag dagegen ist völlig über den Kopf der Regierungen geschlossen worden, die erst nachher wohl oder übel dazu mit dem Kopf nickten. Die deutsche Verpflichtung zum Wiederaufbau konnte schlechterdings nicht erfüllt werden, solange das Privatkapital in seiner internationalen Vertrustung keinen Profitanreiz darin fand. Das ist durch Privatinitiative erreicht worden, und jetzt ist die Wiederherstellung der verwüsteten Gebiete gesichert. Am Interessantesten ist der Urquarth-Vertrag. In Rußland hat die rückläufige Bewegung der verschandelten Revolution noch nicht soweit geführt, daß Urquarth dort schon einen kapitalistischen Privatpartner für seine Ausbeutungspläne fände. Er geht also forsch an den Staat selbst heran und schließt mit dem den Vertrag, der ihm die Ausbeutung des russischen Volks in bisher noch nicht gesehenem Umfang gestattet. Die Russen beruhigen die Arbeiter aller Welt mit der Versicherung: dem Kapitalisten gehört garnichts, er ist nur Pächter, und der arme europäische Proletarier liest das mit großer Befriedigung und ahnt nicht, daß der Pächter genau wie der Besitzer aus seinem Unternehmen Grundrente und Unternehmerprofit herauswirtschaften muß, um den Arbeitslohn danach zu bemessen; daß also die Form der Ausbeutung unverändert ist und nur insofern für die Arbeiter ungünstiger, als jeder Pächter beflissen sein wird, die Zahlung der Grundrente an den Verpächter (Staat) zu kürzen und also auf Kosten der Fruchtbarkeit des Unternehmens nach Ablauf seiner Pacht (falls er nämlich wirklich damit rechnen sollte, daß er nur provisorischer Ausbeuter sein darf) seinen Profit zu steigern. – Ich will in diesem Zusammenhang den Vertrag vom russischen (kommunistischen) Standpunkt aus garnicht kritisieren. Es geht nicht an, rebus sic stantibus jede Konsequenz aus der allgemeinen nachrevolutionären Konzessionspolitik zu beschimpfen. Wer A gesagt hat muß B sagen. Wer kritisieren will, muß da einsetzen, von wo das ganze Unglück herkommt, und das ist die Entsowjetisierung und Verstaatlichung der russischen revolutionären Verwaltung. Und höchst widerwärtig ist der Hohn der deutschen Sozialdemokraten und Unabhängigen über die Preisgabe aller sozialistischen Grundsätze dort. Hätten die deutschen Arbeiterführer das deutsche Proletariat nicht zum Verrat an der russischen Revolution vermocht, dann wäre weder die Parteidiktatur über die Sowjets noch die Wiederzulassung der Profitgaunerei in Rußland möglich gewesen. Sie haben Ursache, das Maul zu halten, die vor aller Geschichte die Weltverbrecher am Proletariat bleiben werden. Aber die Gestaltung der Verhältnisse in Rußland bestätigt mir ganz überraschend die Richtigkeit meiner im „Abrechnungs“-Fragment aufgestellten Theorie, daß nicht der Kapitalismus den Staat geschaffen hat, sondern daß der Staat – wie er auch sei – auch[aus] sich heraus notwendig Kapitalismus entwickeln muß. In meiner bisherigen Ablehnung des marxistischen Akkumulationsgesetzes muß ich zweifellos meine Ansichten etwas revidieren. Es findet unzweifelhaft eine Konzentration des Kapitals statt, aber die Marxisten begehn den ungeheuren Fehler, daß sie meinen, das Kapital konzentriere sich schließlich beim Staat und diese Entwicklung müsse gefördert werden. Diese Meinung verkennt vor allem den internationalen Charakter des Kapitals, der auf Vertrustung und durchaus nicht auf Nationalisierung des Besitzes und der Ausbeutungsrechte drängt. Auch findet die Akkumulation nicht in immer weniger Händen statt, sondern in immer kompakterer Vereinigung möglichst vieler Hände. (Stinnes’ Kleinaktien-Pläne, die über kurz oder lang in Form des Eintritts der Arbeiterkoalitionen in die Ausbeutungsprivilegien realisiert werden dürften, zeigen, daß die Zahl der Profitierenden nicht wesentlich ist.). Wir stehn aber augenblicklich vor der wahrhaft revolutionierenden Tatsache, daß der Staat als Exekutive der Besitzenden, die er bis jetzt ganz ausschließlich war, abgewirtschaftet hat, daß also das Privatkapital den Staat als sein Verwaltungsorgan nicht mehr braucht (außer in Rußland, wo es vorerst niemand andern hat) und sich infolgedessen von dem ganzen Wust des staatlichen Apparats frei zu machen beginnt. Das aber bedeutet die Abdankung des Staats überhaupt, seine Auflösung, weil er nicht mehr von denen gebraucht wird, die ihm ihre Existenz verdanken. In 50 Jahren wird der Anarchismus vielleicht das politische Ziel des Großkapitals sein – falls die Anarchisten bis dahin noch Großkapital dulden. Die Marxisten aber aller Parteirichtungen werden am Hochaltar des Staates fromme Opfer bringen, wenn ihr Heiligtum längst nur ein Gestell auf tönernen Füßen geworden ist. Aber was man verwaltet, was einen als Beamten ernährt, das läßt man nicht gern als Fetisch bezeichnen. Unsre „revolutionären“ Marxisten von heute, einschließlich der Parteikommunisten, werden die verbissenen Konservativen von übermorgen sein. Die proletarische Revolution wird, wenn sie mit den Kapitalisten fertig ist, noch lange zu tun haben, bis sie ihre eignen Väter beseitigt haben wird. Rußland ist nur ein Meilenstein am Passionswege zur Freiheit.
Niederschönenfeld, Sonnabend, d. 23. September 1922.
Herr Dr. Gürtner beginnt, seine Physiognomie zu enthüllen. Wir spüren wieder mal den „Geist“ des seligen Roth – vorerst noch sänftlich – uns anwehn. Nicht daß es seit Roths Fortgang erheblich schöner bei uns geworden wäre: nur ruhiger. Hoffmann gab die Politik des Kraus, uns fortgesetzt in Unteroffiziersmanier zu provozieren, auf. Dadurch erreichte er, daß die Disziplinierungen aufhörten, weil nämlich allmählich jeder die Unsinnigkeit begriffen hat, in unsrer Lage und Wehrlosigkeit der Brutalität machtnärrischer Streber lärmenden Widerstand entgegenzusetzen. An den Einrichtungen, die Kraus ihm hier hinterlassen hat, an all den kleinlichen, entwürdigenden, quälenden Niederträchtigkeiten hat Hoffmann nicht das Geringste geändert; im Gegenteil, er hat unsre gesetzwidrige Entmündigung erst voll entwickelt, indem er uns sogar die Verfügung über unser Geld, selbst unter Kontrolle, nahm und uns die in der Hausordnung ausdrücklich garantierten Rechte, auf eigne Kosten beliebige Ausgaben zu machen, bis zu dem Maße beschnitt, daß er sogar jede Verteuerung des Briefportos ausnutzte, um unsre Freiheit, in beliebigem Ausmaß Correspondenz zu führen, zu limitieren und immer mehr abzuschneiden. Dazu kommt täglich erbitternder die Tätigkeit seines Gollwitzers. Von den Nadelstichen abgesehn, an die man sich nach und nach gewöhnt (grade heute am Sonnabend wieder foppt er uns durch Ausgabe von nur ganz wenigen, meist veralteten Zeitungsblättern, weil wir danach zwei Tage warten müssen, bis neue Nachrichten zu uns gelangen: das macht er seit mindestens einem Monat jetzt jede Woche so), bekommen wir jetzt den Eindruck, als ob unsre Absperrung von der Welt den Herrschaften noch nicht ausreichend scheint. Die Konfiskationen einlaufender Briefe häufen sich in einem Maße, daß man kaum mehr annehmen kann, daß da jedesmal nur die schon früher maßgebenden Beschlagnahmungsgründe maßgebend seien. Alle von politisch irgend interessierten Absendern einlaufende Post scheint neuerdings für unser Seelenheil gefährlich gefunden zu werden. Seit einer Woche wurden mir hintereinander Briefe vom Seppl, von Hanna Ritter und gestern von Adolf Schmidt nicht ausgeliefert: agitatorisch! Andre Genossen machen dieselbe Beobachtung, – Briefe von Gustl Fischer gehn regelmäßig zu den Akten, und daß Michl Fischer und Männlein überhaupt noch nicht geschrieben haben sollten, glaubt im ganzen Hause kein Mensch. Offenbar streben solche systematischen Beschlagnahmungen darauf hin, daß bei den immer teuereren Spesen – ein Brief kostet vom 1. Oktober ab 6 Mark, 1 Postkarte 4 Mark, ein Paket in der Nahzone 30, in der Fernzone 80 Mark – die unerwünschte Verbindung von Festungsgefangenen mit Politikern, besonders mit denen, die selbst Festungsgefangene waren, ganz aufhören soll. – Ich habe am 19ten die am 19. Juni begonnene Registratur über die täglichen Zeitungskonfiskationen abgeschlossen, da jetzt das System sich soweit entwickelt hat, daß wir mit einer Norm von täglich 5 – 10 beschlagnahmten Blättern täglich rechnen können. In den 3 Monaten (und die Buchführung begann mehrere Tage vor dem Rathenau-Mord, was beweist, daß dieses Ereignis nicht etwa erst die plötzliche Aneiferung des Zensors bewirkt hat) wurden uns als konfisziert mitgeteilt 1233 einzelne Zeitschrift- und Zeitungsnummern; – dabei ist jedes dieser Blätter nur einmal gerechnet, obwohl manche von ihnen in zahlreichen Exemplaren hereingeschickt wurden. Nicht gerechnet sind ferner diejenigen Blätter, die nicht an einen bestimmten Genossen, sondern an die Gesamtheit der Festungsgefangenen adressiert sind, woraus die Verwaltung das Recht ableitet, die Beschlagnahme ohne Mitteilung an irgendwen vorzunehmen. Unter diesen nicht eröffneten Konfiskationen ist die Rote Fahne Berlin am meisten betroffen, ein Blatt, das zweimal täglich erscheint, und von dem hochgeschätzt 10 Nummern im Laufe dieses Vierteljahrs ausgegeben sind. Mit 1500 verschiedenen Blättern dieses Quartals ist die Anzahl gewiß nicht übertrieben. Ich will nun noch, um das Bild abzurunden festzustellen versuchen, wieviel Blätter im ganzen hätten ausgegeben werden sollen, wie hoch also beim Einlauf sowohl der bürgerlichen wie der sozialistischen Presse der Prozentsatz der ausgegebenen Blätter ist. Auch der Schaden, der uns durch Vorenthalten von uns bezahlter Ware erwächst, muß wenigstens annähernd errechnet werden und endlich auch der Nutzen, den die Verwaltung durch die Einziehung des Papiers erzielt (denn ein Zentner Makulatur wird jetzt mit 400 Mark bezahlt, auch wollen mehrere Genossen gesehn haben, daß die Strafgefangenen zum Fensterputzen Zeitungspapier gebrauchen, worunter Blätter der Roten Fahne bestimmt unterschieden sein sollen). Wie weit Gollwitzers vermehrte Forschheit in der letzten Zeit auf persönlichen Einfluß des neuen Justizministers hindeutet, läßt sich noch nicht sagen. Aber wozu hat man denn einen Deutschnationalen an den Posten gesetzt? In Bayern hält man für mannhafte Politik die hemmungslose Unbarmherzigkeit gegen Menschen, denen keine Abwehr möglich ist. Da die Deutschnationalen sich in dieser Art Schneidigkeit das vorteilhafteste Renommée verschafft haben, ließ man sie den Platz besetzen, der am meisten Gelegenheit zur Betätigung von Brutalität bietet. Es wäre also merkwürdig, wenn Herr Dr. Gürtner diesen Lorbeerbaum an seinem Karrierewege ungepflückt lassen wollte. Vielleicht will er sich aber zuerst auf andern Gebieten bayerischer Rechtspflege Ruhm erwerben. Sein Sieg über Radbruch wird ihm ja durch seine eignen politischen Freunde vergällt, die die Bajuwaren mit dem Geplärr über die Berliner Vergewaltigung besoffen machen müssen. Aber am 3. Oktober beginnt der „Landesverrats“-Prozeß gegen Fechenbach, Lembcke (den bisherigen Korrespondenten ausgerechnet der Stinnes-offiziösen Deutschen Allgemeinen Zeitung) und Gargas angeblich wegen Veröffentlichung oder Denunziation von in Bayern verschobenen Waffen. Da können wieder einmal die Franzosen lachen: bessere Gründe als die bayerischen Reaktionäre bieten ihnen ihre eignen Spione nicht, um auf den Versailler Knopf zu drücken. – Dieser Prozeß aber ist auf den gleichen Tag angesetzt, an dem in Leipzig der Staatsgerichtshof die Verhandlung des Rathenaumordes aufnimmt. Während aber die Verbrecher in Bayern in schärfstem Gewahrsam sind und tiefes Schweigen der amtlichen Stellen dem Prozeß vorangeht (so hatte man es bei Leoprechting auch gemacht) macht die Reichsregierung ein mächtiges Getöse vor Beginn des Leipziger Theaters, und das Vorspiel hat schon eingesetzt, indem Tag um Tag die Freilassung bald dieses, bald jenes Komplottgenossen schon aus der Untersuchungshaft gemeldet wird. Es ist halt doch sicherer, wenn man sich die Sympathie der Mordkomplizen nicht völlig verscherzt, und die Ansetzung des Fechenbachprozesses in München am gleichen Termin wird als Demonstration von jedermann verstanden. Es bedeutet unter anderm auch: wir Bayern haben garkeinen Anlaß, euch in Zweifeln darüber zu lassen, wo wir stehn oder in der Rechtspflege das zu verbergen. Die Peinlichkeit von terroristischen Akten wird in Bayern immer erst dann fühlbar, wenn – wie beim Rathenaumord – die Leute so leichtsinnig waren, außerhalb Bayerns zu arbeiten. So ist jetzt wieder der Fall mit dem Handgranatenattentat in der Mannheimer Börse, dessen Ursprung natürlich schon wieder in München festgestellt wurde. Da werden die bayerischen Behörden sich wieder schwer zu plagen haben, um für ihre Rechtsauslegungen in Mördersachen in Baden das nötige Verständnis zu wecken. Aber es wird schon glücken. Als letztes Mittel, wenn kein andres mehr verfangen will, ist der Konflikt gegeben. Seit Deutschland aber Demokratie und Republik hat, kann in dieser Hinsicht jeder Monarchist ruhig schlafen. Denn die Politik der von Sozialdemokraten inaugurierten Anpassung Deutschlands an Europa erschöpft sich in der Weisheit: Tobsüchtige nicht reizen! Und in der Praxis heißt das: Laßt sie toben! was sie entzweischlagen, bezahlt die Republik! Morgen aber einigen sich in Nürnberg die Nosketiere und die Haaseaten (weil denen die Kassen leer geworden sind, nachdem ihre wiedergefundenen Brüder sie ihnen im Kriege unter Unterstützung des Generalkommandos gestohlen haben). Sie einigen sich auf Ebert und auf die Republik der anmutigen Schutzgesetze, und nun muß sich alles zum Guten wenden. Oh, diese Kamele!
Niederschönenfeld, Sonntag, d. 24. September 1922.
Bei den Eintragungen der letzten Zeit ist die allgemeine wirtschaftliche Lage sehr zu kurz gekommen. Nachdem der Geldkurs sich bei etwa 1400 Mark für den Dollar langsam beruhigt hat – wie lange? – passen sich die Preise und Löhne auf allen Gebieten dem Rekordstand von über 2000 Mark an; natürlich die Waren zuerst und die Löhne und Gehälter in bedeutend langsamerem Tempo hinterher, sodaß die Notlage der Festbesoldeten und der Lohnarbeiter dauernd größer wird. Von den freien Berufen garnicht zu reden. Das Elend unter den Schriftstellern, Künstlern, arbeitsunfähigen Kleinrentnern etc. muß bodenlos sein. Kein Mensch kennt sich mehr aus, nur die Bayern, die ja immer die Gescheitesten sind, plärren nach der Todesstrafe für Volksbewucherer, und Staatsanwalt Emminger will die Not mit Gesetzparagraphen, Herr v. Kahr mit ethischen Grundsätzen bekämpfen. Nun ist der Begriff des Wuchers heutzutage überhaupt nicht mehr zu fassen. Hatte man früher eine zwar willkürlich festgesetzte, aber doch einigermaßen klare Definition, indem ausgerechnet wurde, welcher Prozentsatz beim Verkauf einer Ware als Profitzins verblieb, so war der einheitliche Geldwert vorhanden, der als Einheitswert des Gradmessers unzweifelhaft war. Jetzt kauft der Händler x-beliebig eine Ware ein – zum Tageskurs; er verkauft sie unter Zugrundelegung eines einheitlichen Kurses – und verliert natürlich bei den täglich steigenden Preisen für allen Konsum die ganze Differenz des Marktwerts zwischen Ein- und Verkaufstag. Natürlich paßte er allmählich seine Verkaufspreise den Kursen an, und den Juristen blieb nichts andres übrig, als diese Übung anzuerkennen, ohne Wucherrate anzunehmen. Diese Anpassung der Warenverkaufspreise an den Tageskurs der Mark genügte dann aber auch nicht mehr. Der Händler will nicht bloß vom Verkauf seiner Ware soviel Gewinn ziehn, daß dadurch sein eigener Unterhalt garantiert wird; er will auch durch den Handel in der Lage bleiben, sein Geschäft fortzusetzen. Das zwingt ihn, ganz unabhängig von der Währung beim Absetzen der Ware Valutaspekulation zu treiben, damit er sein Lager trotz der voraussichtlichen weiteren rapiden Steigerung der Einkaufspreise stets ergänzen kann. Auch dabei haben die Gerichte nolens volens den Wucherbegriff ausschalten müssen, ausgenommen in Bayern, wo man entsprechend der sozialen Einsicht, mit der dies Unglücksland von preußischen Generälen und Junkern durch ihre eingeborenen Commis regiert wird, den Standpunkt vertritt, ein Kaufmann müsse sich halt darauf beschränken, aus dem Gewinn der veräußerten Ware soviel Ersatz zu beschaffen, wie es dann noch dafür gibt. Hat also ein Tabakgeschäft 1000 Zigarren verkauft und will nichts verlieren, so soll es, um seinen Überschuß zu retten, halt bloß 500 neu anschaffen. Und dafür dann den Preis nehmen, der sich aus dem Einkauf ergab. Danach sind die Zigarren vielleicht im Einkauf um das Fünffache gestiegen: dann soll er eben die 500 Zigarren durch 100 ersetzen und so fort, bis er statt der tausend nur noch eine Zigarre auf Lager halten kann. Das bedeutet natürlich den Zwang zum Ladenschließen für den gesamten Kleinhandel. Noch ärger werden die selbständigen Handwerker betroffen. Ein Beispiel aus der Praxis: Vater Thierauf rechnete mir folgenden Fall vor, der in seinem Geschäftchen als Kleinwerkstatt genau so vorliegt. Er bekam den Auftrag einen Anzug zu machen. Seine Materialkosten berechnete er auf 2000 Mark, und er gab den Anzug für 8000 Mark ab unter Berechnung der Gesellenlöhne, der Werkstattmiete, des Lichts und des Gewinns zur Ernährung seiner Leute. Um einen weiteren Kunden zu bedienen, mußte er sich dann das verbrauchte Material wieder anschaffen: Kosten – 15000 Mark! – So hat er also nach der Annahme bayerischer Richter 6000 Mark an dem Anzug verdient, in Wahrheit aber 7000 zugesetzt. Folge: Er hat seiner Frau Anweisung gegeben, nur noch Flickarbeiten und derartiges anzunehmen, um sich über die Notdurft des Lebens hinwegzuhelfen, aber alle wertvolle Ware um Gottes willen zurückzuhalten und lieber aus dem Fenster zu schauen als einem Kunden einen Anzug zu machen: es sei denn, er brächte dazu selber alles mit: Tuch, Futter, Knöpfe, Zwirn und was noch dazugehört. Denn, argumentierte der alte Schneider ganz richtig –, ich werd doch nicht einen Anzug hergeben, damit ich mir für den Gewinn ein Taschentüchl kaufen kann. – Der Irrsinn unsrer Wirtschaftshelfer mit Wucherer-Köpferei liegt darin, daß sie die Kette der Volksauswucherung irgendwo in der Mitte sprengen wollen, den Produzenten aber das Hinaufsetzen der Preise bei ungeheurer Steigerung ihres Profits widerstandslos konzedieren. Solange man das Tier nicht bei der Kehle greift, ist keine Hilfe möglich: man muß die Produktion nicht bloß in Zwangswirtschaft nehmen, sondern rücksichtslos dem Bedarf unterordnen. Das ist allerdings nicht möglich, solange die Profitwirtschaft gilt. Nur der Sozialismus kann helfen – und zu dem hilft nur der revolutionäre Umsturz. An dem freilich könnte man in Deutschland verzweifeln, wenn man sieht, was hier als „Sozialisten“ sich breit macht. Wir haben ja grade die Parade dieser „Sachwert-Erfasser“ (ohne dem Sachwert-Besitzer weh zu tun, natürlich) in Augsburg und Gera genossen, von wo sie getrennt nach Nürnberg marschieren, um heute dort vereint zu schlagen: nämlich den Rekord des Arbeiterbetrugs. – Unsre in München von ihren jetzigen Gesinnungsgenossen gemordeten Freunde von der USP – nur ein paar Namen: Dorffmeister, Stettner, Bertram, Leib – ach, man könnte ja Dutzende und Dutzende aufzählen – müssen ja ohne Ende in alle Ewigkeit im Grabe rotieren, wenn sie den Spektakel wüßten, der sich da zwischen Noskes und ihren Freunden abspielt. Pfui Teufel! In Augsburg war Wels – der erste Arbeitermörder Berliner Weihnachtsgedenkens – namens der Revolution! – dieser Wels war vorgeschickt, um die Einigung würdig zu begründen. Er hielt eine bezaubernde Rede, deren Höhepunkt die Beschimpfung der Russen war, die „vom Bolschewismus über den Kannibalismus zum Kapitalismus“ übergegangen seien. Dieser Hundsfott macht die entsetzliche Hungersnot, die in dem von den deutschen Welsen tapfer „durchgehaltenen“ Krieg, in dem von den deutschen Welsen hingenommenen Vertrag von Brest-Litowsk, in dem von den deutschen Welsen geförderten weißgardistischen Raubzügen begründet sind, zu einer mit all ihren schrecklichen (von den deutschen Welsen hoffentlich noch zu verantwortenden) Wirkungen zur Komponente des sowjetischen Regierungssystems; als ob nicht die Revolution, soweit sie wirklich zur Hungersnot mit ihrem Schrecknissen und zur Rückkehr zu kapitalistischen Einrichtungen führte, tausend Gründe hätte, die infame Politik der deutschen Welse in ihrer vor keiner Bluttat zurückschreckenden Revolutionsfeindlichkeit vor allem andern für all ihr Leid verantwortlich zu machen. – Ich war im Hof und bin in Zeitnot geraten. Von Herrn Wels und den Seinen wird noch zu handeln sein, ebenso von den unabhängigen Zeltgenossen, die in Gera Antibolschewismus vom Faß zapften. – Ich erwähne heute nur noch die neueste Überraschung: daß Max Huber plötzlich den Bescheid erhielt, er werde am 9. Oktober entlassen. Bewährungsfrist für 4 Jahre. Diesem Genossen werden volle 16 Monate von seiner Festungsstrafe (4 Jahre) nachgelassen, also ⅓ seiner Gesamtzeit. Was für Schlüsse aus dieser Entscheidung zu ziehn sind, wird sich erst zeigen, wenn wir wissen, ob es bei dem Einzelfall bleibt, oder ob weitere derartige Vergünstigungen demnächst folgen werden. Dann wird man auch schließen können, ob Radbruchs letzter Münchner Besuch mit der verblüffenden Sache in Verbindung steht. Darüber und über seine Augsburger Programmverkündung des nächste Mal.
Niederschönenfeld, Montag, d. 25. September 1922.
So toll es ist, die Tatsache ist nicht mehr zu verkennen: Krieg in Sicht! Die Engländer schicken Truppen in großen Massen eilends an die „neutrale Zone“ nach Tschanak, um den Kemalisten um jeden Preis den Übergang über die Meerengen zu verwehren. Gleichzeitig versichern sie, daß sie Frieden wollen. Wenn es aber zum Kriege käme, fügen sie vorsichtig hinzu (und man weiß genug), dann haben die Türken allein die Schuld. Mustapha Kemal aber will unter allen Umständen nach Konstantinopel (wo er – ohne Komik keine Politik! – zunächst den Sultan bitten läßt, er möchte – wenn er (Kemal) an der Spitze zehntausender Bewaffneter siegreich einrückt – das vor 2½ Jahren über ihn verhängte Todesurteil nicht vollstrecken lassen). Kemal will Thrazien besetzen, was die Rücknahme Adrianopels bedeuten würde, und der Vertrag von Sèvres ist schon heute ein zerfetzter Papierwisch. Die Haltung Frankreichs und Italiens im Falle eines großen britisch-türkischen Krieges ist noch nicht genau zu bestimmen; aber daß der Garant der Griechen nach der Katastrophe des protegierten Geschäfts selber mit den Waffen zugreift, eröffnet wüste Möglichkeiten für den Fall, daß der Protégé Frankreichs dadurch auch in die Katastrophe gejagt wird. Ich hebe ausführliche Betrachtungen über diese Ereignisse auf, bis sich erkennen läßt, ob wirklich die Feuersbrunst eines neuen Krieges daraus erwachsen wird, oder ob diesmal noch der Sturm abgefangen werden kann. Bitter ist schon jetzt die Feststellung, daß Rußland bereits große Armeen mobilisiert, die zur Unterstützung der türkischen Nationalisten an die kaukasischen Grenzen befördert werden. In dem Augenblick, wo zum ersten Mal der Gesamtaufstand der Moslim aller Welt zu erhoffen ist, nimmt das revolutionäre Rußland zwar gegen England, aber keineswegs für die soziale Revolution Partei. Die Inder, die diesmal zur Erhebung für sich selbst, für Räterepublik und Kommunismus befeuert werden könnten und müßten, sollen unter nationalpolitischen und konfessionellen Parolen für Muhammedanismus und Kemalismus in den Kampf gehn. Schon sollen sogar neue Verbrüderungsverhandlungen mit dem Abenteurer Enver im Gange sein. Noch ist aber nichts entschieden, und so stelle ich mein Urteil zurück. Vielleicht erfüllt sich bald genug die Hoffnung Eugen Dührings, der in einem Flugblatt während des Kriegs emphatisch verkündete: Wird nicht das englische Imperium durch den Weltkrieg nicht nur gesprengt, sondern in Atömchen aufgelöst, dann ist Gerechtigkeit und Weltgöttlichkeit ein leerer Schaum. Die Folgen des britischen Unternehmens in der Levante können in der Tat unermeßlich werden. Die Weltrevolution würde von Indien aus den entscheidenden Antrieb erhalten, – wenn nicht (und das zu denken ist so unbeschreiblich traurig) Rußland diese Bewegung am Fortwirken hindern sollte. – Also diese Möglichkeiten, die zu gewaltig sind, um sich vor ihrem Eintreten in deutlichen Farben begreifen zu lassen, mögen zurückgestellt bleiben. Ich wende mich wieder näherliegenden Dingen zu. Konfliktsherde gibt es ja auch sonst übergenug in der Welt, – auch in Deutschland. So hätte ich gestern bei Erörterung der Wirtschaftsnot den neuen „Fall“ erwähnen sollen, die[der] die „Sozialisten“ zur Zeit aufregt, die mörderlich schreien, weil die Kompetenzen des Reichstags verletzt sein sollen. Der Fall liegt so: Der Reichstag beschloß bei der gesetzlichen Festlegung der Getreideumlage, daß die Ablieferung des Brotgetreides in drei Raten zu erfolgen habe, und zwar wurde der Preis für die erste Rate des Umlagegetreides zugleich in bestimmter Höhe festgesetzt, während die Preisbestimmung für die beiden Nachlieferungen dem Wirtschaftsausschuß des Reichstags überlassen bleiben sollte. Nun hat der Ausschuß getagt und sich dabei nicht an seinen Auftrag gehalten, sondern unter dem Druck des von der gesamten Bourgeoisie unterstützten Grundbesitzes den Preis für die erste Rate auf das Vierfache des vom Reichstag beschlossenen und also gesetzlichen Satzes erhöht. Die Sozi erklären, sich damit nicht abfinden zu können und eventuell ihr Verbleiben in der Regierungskoalition von der endgiltigen Entscheidung abhängig machen zu wollen. Das würde also das Ende der Wirth-Politik im Reiche bedeuten, und unsre Demokraten ziehn angesichts der drohenden „Krise“ ernsthaft die Stirn in Falten. Es wird so schlimm nicht werden. Die Ebertiner haben ihre Ministersessel denn doch zu lieb. Man wird wohl einen Ausweg finden, indem man im Reichstag anerkennt, daß die Markentwertung seit jener Festsetzung des Brotpreises eine Änderung auf Kosten der arbeitenden Brotesser rechtfertigt und der Reichstag wird alsdann unter seufzender Zustimmung der neuen vereinigten „Arbeiterparteien“ den agrarischen Preissätzen den legislatorischen Segen geben. Mit späteren Kritikern an fraktionellen Verrätereien wird man leicht fertig werden. Auch jetzt in Augsburg mußte sich ja die Reichstagsfraktion gegen ein paar dummdreiste Opponenten wehren, und es gelang ihr, ihre Zustimmung zum Steuerkompromiß und andre Lieblichkeiten ähnlicher Sorte sanktioniert zu kriegen. Es kommt ja alles nur auf richtige Regie an. Und die hat wirklich geklappt. Wels’ infame Rede erregte eine derartige wilde Begeisterung, daß es gelang, die Diskussion vollständig abzuwürgen, wodurch denn auch die Einstimmigkeit bei der Annahme der Vereinigungsresolution erzielt wurde. Ganz so einfach ging’s in Gera ja nicht. Der alte tapfere redliche kluge Ledebour mit Unterstützung einer sehr geringen Minderheit machte den noskefreudigen Genossen doch ziemlich zu schaffen. Mit allen gegen 9 Stimmen wurde auch in Gera die Selbstkastration vollzogen, und heute ist man wohl in Nürnberg auch schon mit allem fertig, und Levi mit den Seinen ist ein Scheidemann geworden. Adolf Hoffmann mit Anhang, der in Halle mit viel Tamtam unter die 21 Punkte kroch und dann mit Paulchen reuevoll zurücktrottete, ist in der alten Hürde eingekehrt, Reuter-Friesland, der Musterkommunist von ehedem tritt in die „Vorwärts“-Redaktion ein, – aber Ledebour macht’s wie in Halle. Er läßt die Mehrzahl seiner Genossen ziehn, wohin sie mag und bleibt auf seinem Posten. Kein guter Politiker wird ihn verstehn, jeder gute Proletarier wird ihn billigen. Der 73jährige Kämpfer bleibt sich treu. Vor dem darf auch unsereiner respektvoll den Hut ziehn. – Ekelhaftes gab’s auf beiden Tagungen genug, und ich kann bei weitem nicht auf alles eingehn. Aber besonders ekelhaft war mir die flammende Entrüstung der grade ihre „Unabhängigkeit“ verschachernden Geraleute gegen die bolschewistische Justiz. Ihre eigenen Parteigenossen in Deutschland hocken noch – im 4ten Jahr! – unter den schandbarsten bajuwarischen Quälereien hinter den Gittern von Straubing, Lauffen und Niederschönenfeld, weil sie sich gegen die Reaktion der Bourgeoisie vergangen haben. Sie haben ihrer – soweit ich sehn konnte – mit keinem Worte gedacht. Die „Amnestie“ vom Juli genügt ihnen ja, um sich als Märtyrer-Befreier brüsten zu können (Dazu ein kleines Charakteristikum: heute erhielten unsre mitteldeutschen Genossen die Entscheidung des bayerischen Obersten Landesgerichts. Darin wird die Auffassung der Volksgerichte bestätigt, daß sie sich nicht gegen das Reich, sondern gegen einzelne Länder vergangen hätten, mit andern Worten: ein Hochverrat gegen das Reich wird von bayerischen Gerichten überhaupt nicht als möglich zugegeben, sodaß das ganze Amnestiegesetz eine Farce würde. Unter den Urteilsfällern aber prangt ein Name, der mir lieb und teuer ist: von der Pfordten, Traunsteiner Lagerkommandant seligen Angedenkens. Der Mann wird also wieder mal mit Gefangenenangelegenheiten befaßt, in denen er ja eine Kapazität war: wir haben bei Gott eine saubere Revolution zustande gebracht!). Diese Geraer Herren hätten in dem Augenblick, wo sie sich mit den Heines, Landsbergs und Konsorten verehelichen, sehr viel Grund, andern Leuten nicht die Verurteilungen von durchaus nicht einwandfreien Menschen vorzuhalten, die mindestens in der Oktoberrevolution eine höchst bedenkliche und ganz gewiß nicht sozialistische Rolle gespielt haben. Wenn wir Anarchisten den Russen den Sozialrevolutionären-Prozeß vorwerfen, geschieht es, weil wir ihnen, die Genueser und Urquartaner geworden sind, das Recht nicht zuerkennen, noch Revolutionstribunale spielen zu lassen und weil sie zuallererst mal unsern Genossen, guten Revolutionären, Gerechtigkeit zuteil werden lassen sollen. Dr. Moses aber, der Ankläger der Russen, geht jetzt hinüber, wo der Sänger sitzt. Und der hat sich in Augsburg in Gerechtigkeit betätigt. Er hat nämlich – oh staune, Welt! – die Niederschönenfelder Schande anerkannt (drauf gestoßen von einem nichtbayerischen Genossen) und zugleich protestiert gegen die Ungeheuerlichkeit von Feldgerichten, deren Schreckensurteile sofort vollstreckt würden. Seht doch, seht! – Ich werde es mir draußen angelegen sein lassen, Alwin Sängers Mitwirkung bei der Auslieferung Bayerns an die Noske-Oven-Horden festzustellen und zu ergründen, was für Proteste er gegen deren „Feldgerichte“ erhoben hat, deren tausend Opfer und mehr ungerächt in bayerischer Erde modern. Ausgerechnet Sänger! – Warum nicht gleich Auer selbst? Bis jetzt hört man nichts von dessen Stäupung in der geeinten Partei, und so leben wir in der ernsten Gefahr, auch dieser Kapitalsknecht könnte einmal Krokodilstränen zu uns herüberspritzen, um Proletarier von seiner Großherzigkeit zu überzeugen. Aber Auers Portrait hat schon wieder eine neue Schattierung erhalten. Bei der Mohrenwäsche vor seinen Münchner Genossen bedauerten die Seinen tief bekümmert, daß sein Hauptankläger, Albert Winter, nicht aufzufinden sei, sodaß am Ende nicht jeder Fleck von seinem Schilde in einem Aufwaschen beseitigt werden könne, und seine Münchner Post mußte andeuten, daß Winter sich wohl gedrückt habe, weil er nichts wisse. Nun hat Winter sich geäußert, und zwar hat er seine Äußerung der Münchner Post Erhard Auers gesandt – und der hat ihr zur Vorsicht die Aufnahme verweigert. So druckt sie jetzt die Morgenpost. Winter rückt zwar sein Material noch nicht heraus, scheint aber allerhand im Köcher zu haben. Vorerst bringt er aber eine wahrhaft herzerfrischende Tatsache zur Kenntnis – und zwar mit Berufung auf Auers eigne Münchener Parteigenossin, die Reichstagsabgeordnete Toni Pfülf, die festgestellt hat, daß im März 1920, als Herr Möhl den Kappputsch in Bayern zum Siege führte und Kahr an Stelle der Auerhähne Hoffmann, Segitz etc. aufs Ministerpräsidententhrönchen setzte, Erhard Auer Herrn v. Kahr zu seiner neuen Stellung höflichst beglückwünschte. – Wenn Kämpfer und Ferkel ihm vorgeworfen haben, er stehe mit einem Fuß im andern Lager, so ist das sicher nicht richtig. Auer steht mit seinem ganzen Gewicht drüben und nur mit einem Fuß im Arbeiterlager, um damit jede sozialistische Regung in Bayern zu zertreten und um seine Bezahlung für seine Anwesenheit beim Proletariat zu sichern. – Es widerstrebt mir eigentlich, nach der Beschäftigung mit diesem Burschen im Zusammenhang mit dem Parteitag auch von anständigen Menschen zu sprechen, die das Unglück haben, das auch Leichtsinn oder Kritiklosigkeit sein kann, mit solchen Charakteren am selben Strang zu ziehn. So hat in Augsburg Hermann Wendel vortreffliche Kritik an der Reichswehr geübt, und dann hat Radbruch Ankündigungen gemacht, die wenigstens Zeugnis ablegen von seinem sehr guten Willen. Sehr interessant ist, daß er von der geplanten und zwischen den beteiligten Regierungen schon beschlossenen Gemeinsamkeit eines Strafgesetzbuchs Deutschlands und Österreichs sprach. Bei der großen Popularität jeder gemeinsamen Politik mit Österreich bekommen damit auch die Entwürfe größere Aussicht auf Annahme. Und der Entwurf will große Verbesserungen bringen: Aufhebung der Todesstrafe, Aufhebung des Ehrverlusts, Aufhebung der Zuchthäuser. Mindestens die Abschaffung der Todesstrafe wird wohl trotz aller preußischen und bayerischen Christen durchgesetzt werden, da anzunehmen ist, daß Österreich, wo sie schon Gesetz ist die conditio sine qua non draus machen wird. Ferner stellte Radbruch die Beseitigung der bayerischen Volksgerichte und ein neues Strafvollzugsgesetz in Aussicht, durch das Niederschönenfeld natürlich erledigt wäre. Es wird aber zweckmäßig sein, äußerst skeptisch abzuwarten, was wird. Radbruchs ausgezeichnete Tendenz steht ja fest – die bayerische Tendenz aber, sich mit den äußersten Mitteln gegen Forderungen der Menschlichkeit und der Güte zu wehren, steht erst recht fest, ebenso, daß die Rohheit der Bayern bis jetzt außerordentlich viel stärker gewesen ist als der gute Wille der Radbrüche. – Ich weiß, daß mein Freund aus der Quarta mich sehr bedauert in meiner Lage, und ich rechne ihm das hoch an: Aber wenn ich lese, wie er von den „bitteren Erfahrungen“ spricht, die in der Angelegenheit der Datomörder gemacht wurden und nun ringt, um sich solche schrecklichen Gewissenskonflikte mit einem neuen Asylgesetz künftig zu ersparen, dann muß ich doch sagen: tausendmal lieber von bayerischen Folterern mißhandelt – und sei es bis zu meinem Lebensende, als einen Tag Reichsjustizminister! Mein Mitleid mit dem armen Menschen, der unausgesetzt seine Gesinnung unter den Huf der politischen Utilitarität legen muß – und noch glaubt, eine sittliche Mission zu erfüllen, ist ohne Grenzen.
Niederschönenfeld, Mittwoch, d. 27. September 1922.
Mein Winkeladvokatenbüro zur Herstellung von juristischen Schrieben erfreut sich regster Frequenz. Eben mußte ich dem Sandtner-Gustl einen langen Brief an Pestalozza diktieren wegen der hanebüchenen Behandlung seiner Heiratsangelegenheit und der Besuchsverweigerung für Hanna Ritter. Und wahrscheinlich wird auch Reutershan noch kommen, dessen Angelegenheit eine humoristische Wendung zu nehmen scheint. Die Verwaltung ignoriert nämlich bis jetzt seine Ablehnung der Bewährungsfrist und macht Anstalten, ihn am 2. Oktober einfach rauszuschmeißen. Gestern wurde er aufgefordert, seine Sachen zur Zensur abzuliefern und ihm auf seinen Einwand, er habe doch die Verbüßung auch der letzten 2 Monate verlangt, erwidert, hier liege nur der Befehl vor, ihn am zweiten Oktober zu entlassen. Solange keine Gegenorder kommt, müsse man sich daran halten. Wenn sie ihn wirklich an die Luft setzen, wär’s natürlich das denkbar Erfreulichste. Der brave Kerl käme zu den Seinigen vor Ablauf der Zeit und hätte sich dabei garnichts vergeben, brauchte sich auch an keinerlei Bedingungen zu halten (z. B. die Meldung bei der Staatsanwaltschaft bei jedem Aufenthaltswechsel) und der Fall wäre propagandistisch hervorragend ausnutzbar zum Beweise, daß es den Bayern durchaus nicht daran liegt, Gnade zu spenden, sondern sich entweder statistisches Material zu schaffen oder bestimmte dem Reichsjustizminister gegebene Verpflichtungen zu erfüllen, wobei auch der Widerstrebende gezwungen wird einzupacken und aus Niederschönenfeld abzuwandern, mag sein „Wohlverhalten“ nun in Aussicht stehn oder nicht. Ich glaube vorläufig aber doch eher, daß man ihn nur mit Ködern zur Annahme kitzeln möchte, wenn er aber festbleibt (und daran ist kein Zweifel bei Otto), im letzten Augenblick anordnen wird, daß ihm seine zensierte Habe in die Zelle zurückgebracht wird. Die plötzlichen Großherzbekundungen deuten sich leicht. In Preußen und anderwärts (zuletzt wurde es aus Baden gemeldet) hat der Justizminister verfügt, daß angesichts der wirtschaftlichen Not des Landes die Gefängnisdirektionen angewiesen werden, gefangene Familienväter in weitem Maße auf Strafunterbrechung oder Bewährungsfrist hinauszulassen, und daß die Gerichte bei Verurteilungen, wo irgend möglich Strafaufschub anordnen sollen. Wahrscheinlich hat Radbruch bei Gürtner ähnliche Zusicherungen auch für die politischen Gefangenen erwirkt, und mit Max Huber hat man den ersten Räterepublikaner daraufhin ausgewählt. In große Ängste wird es die Christlichkeit der Eigenartisten nicht versetzen, denn unter den Niederschönenfelder Räterepublikanern haben wir nur sehr wenige Genossen, die größere Familien zu ernähren haben: Sauber und Hagemeister kommen als Landtags-Diätenbezieher nicht in Betracht, Olschewskis Kinder sorgen alle schon für sich selbst, und so bleibt eigentlich bloß noch Blößl, der allerdings 10 Jahre hat. Wir müssen nun zusehn, ob man ihm vielleicht ein halbes Jahr Strafunterbechung gibt (daß dieser edle Charakter draußen ein „Wohlverhalten“ an den Tag legen würde, das uns das Wiedersehn wohl ersparen könnte, ist allgemeine Erwartung, obgleich der Mann zur Zeit grade auf „radikal“ reist). – Einige Optimisten rechnen schon wieder überhaupt mit einem nicht mehr fernen Umschwung der Dinge. Soweit ihre Hoffnung sich dabei auf die Augsburger Kundgebung (von der wir nur nebenbei in einem Niekischschen Artikel in der „Freiheit“ erfuhren, und mit dem die wieder ziemlich reichliche Zeitungskonfiskation zusammenhängen wird) stützt, teile ich sie gewiß nicht. Aber mit der Möglichkeit großer Veränderungen für unsre Personen zähle ich schon. Rein finanziell betrachtet, kann sich der Niederschönenfelder Riesenapparat schwerlich mehr lohnen, und der spartakistische Wauwau schreckt doch kein Kind mehr. Es ist also nicht unwahrscheinlich, daß man über kurz oder lang sehn wird, durch beschleunigte Entlassungen den Etat zu entlasten, um dann noch uns Schwerste zurückzubehalten. Kommt dann aber das neue Strafvollzugsgesetz – vorher womöglich noch die Verfügung des Reichsbegnadigungsausschusses, daß alle unsre Mitteldeutschen mitsamt den Sprengstoffeln freigelassen werden müssen – und Bayern zieht dann nicht wieder den Konflikt vor (was das Erwünschtere wäre, weil dann die endgiltige Auseinandersetzung zwischen monarchistischen und republikanischen Tendenzen nicht lange mehr zu vertagen wäre), dann hat man es jedenfalls leichter, eine Angleichung der Behandlung unerwünschter Idealisten an die erwünschter Mörder, selbst den allerchristlichsten Gemütern erträglich zu machen, als wenn man unter dem Druck von Berlin plötzlich gesetzliche und zivilisierte Verhältnisse in Bayern einführen müßte. – Zu den Tagesereignissen: im Augenblick scheint es, als ob der britisch-türkische Krieg vermieden würde und zwar ganz auf englische Kosten. England, Frankreich und Italien – das erste jedenfalls unter der Pression der beiden andern – haben der Angoraregierung den Vorschlag zugestellt, eine gemeinsame Konferenz zu veranstalten, die alle Probleme lösen soll. Um Kemal gefügig zu machen, sind ihm von vornherein Konzessionen gemacht worden, die ihm nahezu ein Siegesdiktat ersetzen können. Ihm ist nicht nur Konstantinopel zugesichert worden, sondern zugleich Thrazien mit Adrianopel. Nur soll er die neutrale Grenze respektieren. Tatsächlich haben seine Truppen das Tschanakgebiet aber schon übertreten, und zwar ohne deshalb von den Engländern beschossen zu werden. Er wird nur höflich gebeten, sie wieder wegzubeordern, und ob er das tun wird, steht noch nicht fest. Jedenfalls versteht sich der Mann auf die Fruktifizierung seiner Siegerposition. Er hat sich mit der Konferenz einverstanden erklärt, aber nicht, wie man wünschte, in Venedig oder anderswo im Herrschaftsbereich der Partner, sondern – da er als Führer seiner Truppen bei ihnen bleiben müsse – in seinem Befehlsbereich: und auch das wird ihm anscheinend zugestanden werden. Frankreichs Sieg scheint also verbürgt – fürs Erste. Denn daß der Krieg 1914/18 anders enden wird als bisher jeder große Koalitionskrieg, nämlich ohne Waffenkampf der verbündeten Sieger unter einander um die Beute, glaube ich vorerst nicht. Die deutschen Historiker und Heimstrategen, die nach dem deutschen Sieg noch den zweiten und dritten „punischen“ Krieg (zur Erledigung Amerikas und der übrigen Welt unter „unsre Kniee“) weissagten, werden wohl ganz anders recht behalten, – falls nicht die große Welträterevolution alle Rechnungen wohltätig über den Haufen wirft. Rußland? Das will gern zwischen den kapitalistischen Nationen vermitteln, um, falls man diesen Dienst zuläßt, endgiltig als kapitalistische Nation wieder zu erwachen. In diesen Tagen steht alles auf des Messers Schneide. Fällt die Entscheidung jetzt oder kann sie noch einmal vertagt werden? Wer will die Zeichen der Gegenwart deuten? Wer die Zukunft wecken will, ist der Letzte, dem es gelänge.
Niederschönenfeld, Donnerstag, d. 28. September 1922.
Ich habe mich hier noch garnicht hinlänglich mit der „Einigung des Proletariats“ befaßt, die in Nürnberg vor sich ging und wie ein Weltereignis größten Ranges von der Presse – nicht nur der beteiligten Parteien – behandelt wird. Ich sehe erheblich weniger in dem Vorgang, der im Grunde nur die äußere Bestätigung dafür ist, daß die vor 5 Jahren in Gotha erfolgte Gründung der Unabhängigen Partei schadlos liquidiert werden kann, nachdem alle Voraussetzungen für die Sonderpolitik einer sozialdemokratischen Gruppe ohne irgendwelche andern Ziele als die Stammpartei beseitigt sind. Als sich Ende 1915 wegen der Kriegskreditfrage die Sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft unter Haase-Kautsky-Bernstein etablierte, übersetzte ich die Initialen S. A. G. gleich: Sezession anständiger Genossen. In der Tat war für die Haltung dieser Leute ausschließlich die persönliche Ehrenhaftigkeit maßgebend, die es ihnen nicht länger gestattete, die durchschauten Lügen der Bethmannschen Durchhalteregie mit ihrem Namen zu decken. Grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten – im Sinne einer Gegensätzlichkeit zwischen sozialistischer und demokratischer Politik – waren zwischen Haase und Scheidemann garnicht vorhanden. Karl Liebknecht, allein unterstützt von Otto Rühle, war aber wirklich prinzipiell woanders, was dadurch auch in die Erscheinung trat, daß die beiden weder der S. A. G. noch der Parteisezession der Unabhängigen beitraten, sondern „wild“ blieben und den illegalen Spartakusbund gründeten, von wenigen außerparlamentarischen Persönlichkeiten (Mehring, Clara Zetkin, Julian Borchard, Rosa Luxemburg etc) unterstützt. Nach der Niederlage war die „Einigung“ im Grunde sofort perfekt, da man sich zusammen der Revolution bemächtigte – Scheidemann und Haase, Landsberg und Barth als Volksbeauftragte – und sie miteinander zur gewaltsamen Niederhaltung der Liebknechtschen sozialistischen Verwirklichungstendenzen umbog. Der im Herzen ehrliche Eduard Bernstein machte es sich als Erster klar, daß die Voraussetzungen für die Trennung nicht mehr gegeben waren und ging zur alten Partei zurück, obwohl grade er ganz sicher gegen die blutige Tätigkeit des widerlichen Abdeckers Noske stärkeren Abscheu empfand als viele Zunftpolitiker, die – spät genug – aus Spekulationsgründen Anschluß bei der USP gesucht hatten. (Ich lese grade Bernsteins vortreffliches Buch „Sozialismus und Demokratie in der großen englischen Revolution“, worin sein einsichtiges Verständnis für intransigente Bestrebungen – hier besonders für die Leveller – in allen Revolutionen zum Ausdruck kommt. Die Frage aber, die mir manchmal von Genossen gestellt wird, woher es kommt, daß die besten Kenner und gerechtesten Beurteiler früherer Revolutionen in der Praxis fast nie die Konsequenzen aus ihren eignen Urteilen ziehn, gehört ins Gebiet der Psychologie. Nur Tatnaturen – und das sind Theoretiker in den seltensten Fällen – überwinden die Scheu vor der persönlichen Verantwortung. Ich kann da ein wenig mitreden, weil ich in entscheidenden Situationen manchen Gewissenskampf durchgemacht – und bei andern, zumal Landauer, gesehn habe. Erst die Festungsjahre waren notwendig, um mir für die Zukunft die Sicherheit zu geben, daß meine Entschlußkraft, wenn sie noch einmal beansprucht werden sollte, nicht wieder von Sentiments gebremst werden wird, wie bei der Demonstration in der Prannerstraße, als ich von Landauer und Levien gegen mein Gewissen bestimmt wurde, die Massen zum Abzug zu überreden, statt sie den Rätekongreß sprengen zu lassen; wie am 4. April, als ich im Auswärtsministerium gegen mein Gefühl mich mit Schneppenhorst abfand, wie dann in der Nacht im Kriegsministerium, als ich gegen meine Einsicht auf Landauers Bitten davon abstand, den R. A. R. zum Verlassen des Saals aufzufordern, um ihn mit den Kommunisten hochzunehmen und die Schneppenhorstbrut gefangen zu setzen). Den Unabhängigen fehlte also von Anfang an die eigentliche Existenzberechtigung als ein Gebilde mit eigenem Innenwert, und es ist eigentlich erstaunlich genug, daß sie sich immerhin volle 5 Jahre überhaupt selbständig halten konnten. Auch Ledebour anerkennt, wie selbstverständlich die Wiedervereinigung ist; nur sieht er die Zeit für verfrüht an, solange die Sozialdemokraten nicht die Reinigung in ihren Reihen vollzogen haben, die eine Rückkehr zu den Traditionen bedinge. Er verkennt – und dies Verkennen zeigt, daß er ein guter Revolutionär ist –, daß der deutsche Marxist bei der Auslegung, die Marx und Engels selbst und Kautsky erst recht der Theorie gegeben haben, durchaus kein Revolutionär zu sein braucht, und daß eben die Traditionen der Sozialdemokratie genau den Weg bezeichnen, den die Partei 1914 eingeschlagen und seitdem ohne Schwanken gegangen ist (Ledebour sollte einmal an seine eigne Kopenhagener Rede denken, in der er die Weigerung der Deutschen Sozialdemokratie begründete, im Kriegsfall zum Generalstreik aufzurufen). Übrigens ist ja das klarste Zeichen für den Geist, in dem sich die Einigung vollzogen hat, das von beiden Kontrahenten – und eigentlich von den Unabhängigen Crispien, Dittmann u. s. w. noch mehr als von den Mehrheitlern – besonders laut proklamierte Stichwort: gegen die Kommunisten! – Die Argumentation zu dieser Parole, die KPD unterstehe völlig dem Befehl Moskaus und daher seien ihre Führer außerstande, selbständige Pakte abzuschließen, ist sachlich wohl richtig, aber trotzdem völlig verlogen, da sich die Landessektionen der II. Internationale ja genau so dem Kommando der Zentrale unterordnen, wie das in der III. Internationale der Fall ist. Wenn aber die Kommunistische Zentrale Direktiven ausgibt, die Brüssler nicht, so beweist das nichts für die größere Unabhängigkeit der Sozialdemokraten. In Wahrheit ist das Trennende zwischen den jetzt vereinten Sozialdemokraten und den Kommunisten in programmatischen Gegensätzen zu suchen, da die Kommunisten wenigstens akademisch noch immer auf dem Standpunkt der Räterepublik stehn (obwohl der Begriff „Diktatur des Proletariats“ ja leider durch die russische Parteihierarchie ganz wieder in seine alte Sumpfbedeutung zurückpraktiziert ist). Mit andern Worten: die Kommunisten treiben die Politik der sogenannten „Radikalen“ der alten Sozialdemokratie mit demonstrativen Bekenntnissen und Schlagworten mit revolutionärem Inhalt (vor 10 Jahren habe ich den Gegensatz mal im „Kain“ bei einer Besprechung des Chemnitzer Parteitags von 1912 auseinandergesetzt), die Sozialdemokraten von heute treiben reine Realpolitik wie sie früher die „Revisionisten“ verlangten, ohne platonische Resolutionen, die theoretisch etwas andres bekannten als praktisch geschah. Da hingegen die Politik der deutschen Kommunisten tatsächlich keine andre ist als die der übrigen Arbeiterparteien – wenigstens nicht der Art, sondern höchstens der Nuance nach –, so werden sie ohne Zweifel in nicht sehr langer Zeit das werden, was Ledebour „verschmelzungsreif“ nannte. In 2 – 3 Jahren wird sich das Nürnberger Versöhnungsfest in größerem Format wiederholen. Die ersehnte „Einheitsfront“ aller wählenden – und also staatserhaltenden – „revolutionären Klassenkämpfer“ wird Tatsache werden; und Ledebour mit seinen 6 Mann (denn von den 9 Opponenten sprang der öde Advokat Rosenfeld im letzten Moment noch nach rechts rüber, da er plötzlich einsah, daß die USP auch mit Noske verbrüdert USP bleibt – und da hat er wohl recht) will halt abwarten, bis es soweit ist. Die Frage, ob durch die Einigung in Nürnberg sich in der deutschen Allgemeinpolitik etwas ändern wird, wird wohl – bei bescheidenen Ansprüchen – zu bejahen sein. Es scheint mir nicht zweifelhaft, daß die alte Partei ihre Vergrößerung mit einer Reihe von Zugeständnissen wird bezahlen müssen. Die Arbeiter, die doch zum sehr großen Teil durch den Zusammenschluß hypnotisiert sind, wollen natürlich greifbare Resultate sehn, und da man ihnen die auf wirtschaftlichem Gebiet kaum sehr rasch wird zu bieten haben (denn die „Erfassung der Sachwerte“ ist vorerst eine Phrase und finden gescheite Köpfe wie Wissell wirklich Möglichkeiten sie zu realisieren, so genügt weder die zahlenmäßige noch die parlamentarische Macht, um sie gegenüber der Souveränität des Kapitals zu realisieren), wird man politische Erfolge schaffen müssen. Man wird zunächst Geßler stürzen wollen und eine Ausmistung monarchistischer Einflüsse in der Reichswehr betreiben: und vielleicht ist das allgemeine Beamtenelend auch da schon weit genug gediehn, um eine bewaffnete Abwehr der Verteidiger dieser Republik gegen ihre Republikanisierung nicht mehr als absolut sicher fürchten zu müssen (eine Meuterei von Reichswehrtruppen in Lötzen gegen ihre monarchistischen Offiziere und für bessere Behandlung und Verpflegung wird schon gemeldet). Vielleicht wird auch der Getreide-Konflikt zur politischen „Krise“ benutzt werden in der Hoffnung, bei Neuwahlen die Mehrheit im Reichstag zu erobern – die Vereinigung und die Parole: gegen Brotverteuerung gäbe ja Aussichten – und dann eine eigne Reichsregierung (allenfalls mit Beibehaltung Wirths, der am Ende in die Partei übertritt) mit Hilferding und Breitscheid zu besetzen, was mindestens Radbruchs Reformpläne der bis jetzt sehr zweifelhaften Verwirklichung zuführen könnte. Aber – was sie auch zunächst unternehmen mögen, für lange Dauer kann ein Wandel zum Besseren von dem Zufluß der Unabhängigen bestimmt nicht erwartet werden. Jede Verschmelzung bedeutet Auflösung der festeren Substanz in der lauwarmen Flüssigkeit. Es wird garnicht lange dauern, und man wird vollständig wieder bei den Methoden der Bauerschen Kanzlerschaft gelandet und gestrandet sein. Vielleicht müssen wir auch diese Entwicklung noch abwarten, bis das Proletariat langsam die Abwanderung von den Parteien (und aus den Gewerkschaften) vollzieht und sich auf seinen eignen Willen und auf seine eigne Kraft besinnt. Mit föderativen Verbindungen, die in den Laboratorien der Arbeit selbst wurzeln – in den Betrieben und auf dem Acker – werden die zentralistischen Verbände der Arbeiterorganisationen und des Staats gesprengt werden. Kein Verschmelzungstheater von Parteidelegierten und Organisationsbeamten, sondern die freiwillige Verbündung entschlossener Proletarier, die keinem Oberkommando gehorchen und keine Regierung über sich aufrichten lassen, wird zur „Einheitsfront“ der Arbeiterschaft führen, die keinen herdenmäßigen Parademarsch mit gleichen Uniformknöpfen und Absatzbeschlägen bedeutet, sondern Kameradenhilfe zur Revolution.
Niederschönenfeld, Freitag, d. 29. September 1922.
Am Bosporus scheint noch immer keine Kanone zugenagelt zu sein. Die Lage sieht verflucht kriegerisch aus. Die Engländer haben eine mächtige Flotte konsigniert und schaffen ununterbrochen Truppen in die zum Schauplatz ausersehenen Gebiete. Kemal hat die Einladungen zur Waffenstillstandskonferenz mit Forderungen beantwortet, deren Annahme die Niederlage der Griechen und Briten vollenden würde. Er verlangt Räumung Thraziens durch die Griechen, Räumung Konstantinopels durch die Alliierten, ehe überhaupt verhandelt werden könnte. In diesem Augenblick tritt plötzlich auch Griechenland wieder als aktiver Faktor auf den Plan. Eine – vorerst scheinbar rein nationalistische – Revolution ist im Gange. Konstantin hat abdanken müssen und soll gefangen gesetzt sein, (in welchem Falle er dem Schicksal Karls I, Ludwigs XVI und Nikolaus II kaum entrinnen wird). Die griechischen Patrioten klagen England des Verrats an und die Armee verlangt Fortsetzung des Kriegs zur Verteidigung Thraziens. Prozessionen, in denen das Bild Venizelos’ vorangetragen wird, und das Schlagwort „Nationale Verteidigung“ bezeichnen den augenblicklichen Charakter der Bewegung. Mir scheint indessen der ganze Verlauf auf eine Entwicklung hinzudeuten, die große Ähnlichkeit mit unsrer Revolution im November 18 hat (hoffentlich mit besseren und schnelleren Resultaten). Die Rolle Rußlands in dem Handel um die Dardanellen wird jetzt deutlich. Der Gehilfe Tschitscherins, Karachan, hat eine Note an die britische Regierung gerichtet, die wieder ganz in dem Stil gehalten ist, der von dorther bekannt ist: es geht um ordinärste Staatsinteressen, wie sie allen Händeln zwischen kapitalistischen Regierungen zu Grunde liegen, und die Redaktion muß durch Überdeutlichkeit der Worte und Aggressivität der Argumente das Bedürfnis der europäischen kommunistischen Arbeiter nach spezifischer Revolutionsstilistik befriedigen. (Meine lieben Genossen hier sind hellauf begeistert. „Hast’s gelesen, was der Karachan für a Note g’schrieben hat? Aber pfundig hat er’s denen hing’rieben“.) Staatspolitisch gewertet sind die Karachanschen Argumente zweifellos richtig. Rußland greift die Engländer mit markierter Naivität an, weil sie sich als an der Meerengenfrage Hauptinteressierte ausgeben und als die Nächstinteressierten Frankreich und Italien, während man doch meinen sollte, als Nächstinteressierte kämen die direkten Anwohner des Schwarzen Meers in Betracht. Unter diesem Gesichtspunkt fordert er für Rußland Gleichberechtigung bei allen Verhandlungen zur Regelung der einschlägigen Verhältnisse; mit andern Worten: Rußland will die Gelegenheit benutzen, um zu erreichen, was in Genua und im Haag noch nicht erreicht wurde: die de jure-Anerkennung seiner Staatsform. England und Italien (angeblich auch die Vereinigten Staaten) sind für die Zulassung der Russen; Frankreich sträubt sich (welche Verworrenheit der Beziehungen! Grade Frankreich ist die Hauptstütze der Kemalisten, die wiederum die Zulassung Rußlands unter allen Bedingungen in erster Linie fordern. Jeder Staat gerät sich bei jedem neuen Problem selbst ins Gehege). Neben Rußland erhebt aber auch Bulgarien Ansprüche auf Gleichberechtigung, und ohne Zweifel mit dem gleichen Recht, da sein Handel im Mittelmeer von dem Bestehn einer unmittelbaren Grenze mit der Türkei und vom Besitz Adrianopels abhängt. Nun hatte Bulgarien vor einigen Wochen erst große Umsturzunternehmungen restaurations-nationalistischer Art abzuwehren, deren Veranstalter unter den Offizieren der Wrangelschen Armeereste zu suchen waren. (Jetzt werden aus Yugoslawien ganz ähnliche militaristische Revolten gemeldet, die vom abgehalfterten Frondeur-Kronprinzen Georg ausgehn sollen). Gelingt den Bulgaren der Wiederanschluß an die Organisatoren der Balkan-Neugruppierung, dann träte damit der zweite Besiegte des Vierbunds in die Reihen der autonomen Länder zurück. Das türkische Beispiel wirkt sehr verführerisch. Mit Bulgarien aber wäre Frankreich einverstanden, dessen Einflußsphäre durch die türkisch-bulgarische Nachbarschaft weiterhin wachsen würde, während England natürlich die Niederhaltung dieses alten Rivalen Griechenlands in seinem Interesse sieht. – Selbstverständlich treibt die akute Kriegslage im Orient unsern einheimischen Nationalisten den Kamm gewaltig in die Höhe. Man preist unsre tapferen früheren Kriegsverbündeten am Bosporus als Vorbilder an: Sie hätten keine „Erfüllungspolitik“ getrieben; sie hätten zum Schwert gelangt und sich die Stellung im Völkerkonzert wiedererkämpft, die ihnen der ruchlose „Feindbund“ geraubt hatte. Sicher ist das ganz richtig, aber ebenso sicher ist es ganz falsch, jetzt noch in Deutschland zu gleichem Tun zu raten. Abgesehn von der ungeheuren Schwächung Deutschlands durch die irrsinnige Politik dieser von sozialdemokratischen Strebern beherrschten Jahre in wirtschaftlicher und politisch-rechtlicher Beziehung, würde sich bei uns denn doch die arbeitende Bevölkerung nicht mehr in den Dienst nationalistischer Revanchekriegsspielerei pressen lassen. Etwas andres wär’s, wenn man 1919 den Versailler Vertrag nicht unterschrieben hätte und mit dem ganzen „Erfüllungs“-Humbug nie angefangen hätte. Dann wäre ohne Zweifel die Besetzung erfolgt, aber noch zu einer Zeit, als das Proletariat aktiv revolutionär war. Die Wirkung wäre auf die französischen Truppen – in verstärktem Maße – dieselbe gewesen, wie auf die Ludendorff-Soldaten der blamable Siegeszug durch das revolutionierte Rußland bis zur Krim. Es wäre in Deutschland zu einer wirklichen Revolution gekommen, die ganz gewiß zu einem andern Ergebnis gelangt wäre als zu einem „Republikschutzgesetz“ mit Erhebung aller Noskes, Fehrenbachs und Auers zu Halbgöttern. Die Beziehungen zum Ausland würden sich nicht aus Versailler Erpressungsparagraphen bestimmen oder aus Stinnes-Lubersac-Schiebereien. Wäre aber wirklich ein neuer Krieg daraus entstanden, dann wäre es ein Revolutionskrieg gewesen, den das deutsche Proletariat gemeinsam mit Rußland und mit dem französischen Proletariat gegen die Bourgeoisieen Frankreichs und Deutschlands ausgekämpft hätte, und der auch Rußland vor den schlimmen Wegen behütet hätte, die es leider gegangen ist. Mit Lenins gewaltiger – damals noch von Enttäuschungen und marxistischen Intellektuellen à la Radek und Sinowjew noch nicht zu „Kinderkrankheiten“ entarteten Genialität wäre Mitteleuropa heute die Stütze Osteuropas bei der Errichtung freier, menschenwürdiger und sozialistischer Institutionen. Die Wirtschaft wäre längst über die „Erfassung der Sachwerte“ hinweg und hätte sich auf die Angleichung von Produktion und Konsum unter dem Gesichtspunkt der nach dem Kriege vorhandenen Substanz an Menschenkraft und Realwert eingestellt. Wir hätten noch Kämpfe – sicherlich. Aber es wären Kämpfe mit bestimmten Ausblicken, revolutionäre Kämpfe, bei denen jeder Tropfen vergossenen Blutes den Boden einer neuen Gesellschaft düngt. – Ja – wir hätten – wir wären – wenn wir –. Aber die Deutschen haben noch nie gelernt, ihre Fehler begreifen. Sie haben noch nicht einmal gelernt, daß man Fehler eingestehn darf, wenn man sie begriffen hat. Sie leitartikeln, und ob man deutschnationale oder kommunistische Organe liest: jeder hat immer recht gehabt, und der Gegner war ein Lump. Aber wir müssen national sein, sofern wir nicht international sein müssen, wir müssen gute Christen sein, sofern wir nicht überzeugte Atheisten sein müssen, wir müssen auf jeden Fall einig sein, immer einig in der Anerkennung der Weisheit des jeweiligen Artikelschreibers. So wird hierzulande Politik gemacht. Wer aber das Geschwätz nicht mag und Taten verlangt, ist entweder ein Verbrecher (wenn er rechts steht für die Sozialisten, wenn er links steht, für die Nationalen) oder ein utopistischer Narr (wenn er rechts steht für die Nationalen, wenn er links steht, für die Sozialisten). Wenn aber Menschen, die etwas Wirkliches wollen, die Gemeinschaft mit den Halbseidenen brechen, die ihnen mit Angstgeschrei bei jeder Aktion die Energie zerschlagen, dann greint alles: welche Schwächung für unsre arme Bewegung! Wieviel „Stimmen“ werden uns wieder verloren gehn! – So geht’s links wie rechts, immer abwechselnd. Momentan sind die Nationalisten dran, und es ist immerhin interessant, daß sich die offene Trennung der Radikalen von den Kompromißlern zuerst grade in München zeigt. Der Eintritt der Mittelpartei in die Lerchenfeld-Koalition mußte natürlich, da es eine Kompromißhandlung war, zu unausgesetzten Kompromissen führen. – Jetzt ist der offene Bruch da. Es fing schon damit an, daß Escherich bremste und von den Völkischen abgeschüttelt war. Jetzt geht’s aber gegen die Partei selbst. Der Kreisverein München der Deutschnationalen Partei wählte den Xylander zum Vorsitzenden, während die Parteileitung (Hilpert) bekannt gab, Ortsvorsitzender sei ein Herr Janson. Einen besonderen Kreisverein München kenne die Leitung garnicht. Xylander erklärt aber, er sei ordnungsmäßig gewählt und bleibe. Das bedeutet also Spaltung der Organisation, und alles wehklagt über die Schwächung. Natürlich ist’s eine Stärkung für die Xylander-Richtung, wie sich konsequente Bewegungen nur dadurch rein und stark halten können, daß sie ohne Rücksicht auf Zahl und Masse das Geschmeiß der Anpassung und der „Realpolitik“ immer wieder verläßt und sich stets von neuem als extremer Außenposten organisiert. Die Gemeinsamkeit in gemeinsamen Dingen wird grade dadurch besser garantiert, wenn man als Verbündeter seine Meinung äußern kann, als wenn man, einer Zentrale unterworfen, sich stets majorisieren lassen muß. Die Auseinandersetzung der Deutschnationalen auf ihrem Parteitag in Görlitz (der sehr wahrscheinlich die endgiltige Abspaltung der Völkischen bringen wird) verspricht sehr interessante Auseinandersetzungen besonders über die Forderung der Extremen, den Parlementsschwindel künftig nicht mehr mitzumachen und statt zu wählen und in Quatschbuden die Regierung zu umnörgeln, lieber direkte Aktionen im Lande zu fördern, die Rolle des „oppositionellen Hanswursten“ aber den Kommunisten zu überlassen. (Diesen Ausdruck fand ich wörtlich so in einer völkischen Auslassung). – Große Unterbrechung, die mich veranlaßt, für heute mit allen politischen Betrachtungen aufzuhören: unser guter Papa Thierauf hat eben seine Bewährungsfrist zugebilligt erhalten. Schon übermorgen geht er und muß morgen abend gleich in den Eiskeller. Da muß er gleich ins Gebet genommen werden, wie er draußen für uns arbeiten soll. Vivant sequentes!
Niederschönenfeld, Sonnabend, d. 30. September 1922.
Schandbar kalt ist’s wieder – oder noch immer. Gottseidank: morgen ist der 1. Oktober, und da wird die Verwaltung wohl endlich heizen lassen, – und auch dann, wenn etwa wirklich plötzlich der Herbst so sommerlich würde, wie er – schon zur Sommerszeit jetzt seit Wochen und Monaten, mit ganz vereinzelten Ausnahmstagen winterlich ist. Von unsrer lieben Verwaltung muß überhaupt mal wieder berichtet werden, damit bei künftigem Studium dieser Hefte nicht der Verdacht aufkommt, in Niederschönenfeld habe sich mit dem Abbau der physischen Peinigungen nach den Rekrutenschindermethoden des Kraus, im System etwas geändert. Das ist nicht nur nicht der Fall, sondern das System wird sogar immer noch ausgebaut; es wird mit den Mitteln unangekündigter Neueinführungen, von denen bis zur praktischen Anwendung keiner von uns eine Ahnung hatte und die dann als Selbstverständlichkeiten behandelt und als immer dagewesen behauptet werden, von Woche zu Woche tückischer entwickelt. Ein Einzelfall: Von morgen ab steigt der Portosatz für alle Postsendungen in ganz schwindelhafte Höhen. Es wurde mitgeteilt, alle Postsachen, die noch zum alten Tarif erledigt werden sollen, müßten bis heute früh ½ 9 Uhr aufgegeben sein. – Die größte Differenz entsteht bei Paketsendungen. Nach München (Nahzone) kostet die Sendung bis 5 Kilo bis jetzt 7 Mark, von jetzt ab 30 Mark, weiter fort adressierte (Fernzone-)Pakete bis jetzt 14 M., von jetzt ab 80 Mark. Entsprechend teurer sind natürlich schwerere Kolli. Gestern gab nun Toller rechtzeitig 3 Bücherpakete nach Landsberg a/W. auf an seine Mutter, um seinen Besitzstand hier drinnen rechtzeitig zu vermindern. Das Paket ungefähr zu 6 – 7 Kilo und einzuschreiben, sodaß ein Kostenaufwand von 66 Mark (Paketsendung über 5 – 7½ Kilo 20 MK, Einschreibgebühr je 2 Mark) dabei herauskam. Gestern nachmittag wurde ihm der Bestellschein, auf dem er die Kassenverwaltung zur Zahlung aus seinem Konto anwies, zurückgegeben: das Porto für Büchersendungen müsse aus dem regelmäßigen Taschengeld bestritten werden, nur Wäschepakete werden aus dem Konto der Festungsgefangenen bestritten. Auf die Frage, wie er denn am Freitag noch 66 Mark von den 50 haben könne, die ihm Dienstag ausgezahlt wären, erklärte man ihm, das ginge die Verwaltung nichts an, und wenn er das Geld nicht noch in Bar bis zum Abend hergebe, müßten die Pakete eben liegen bleiben, – mit andern Worten: der alte Tarif komme nicht mehr in Anwendung, nach dem neuen aber kostet die Beförderung der drei eingeschriebenen übergewichtigen Pakete die Kleinigkeit von 372 Mark (Paket bis 7½ Kilo 120 Mk, Einschreiben je 4 Mark). Zum Glück konnten wir die nötigen 66 Mark noch rechtzeitig zusammenbringen, und die saubere Spekulation da unten, den Juden für nichts und wieder nichts unter Vorschiebung eines verwaltungstechnischen Grundsatzes (den wir ebenfalls erst durch die Anwendung erfahren haben) um über 300 Mark zu schädigen, konnte noch grade durchkreuzt werden. Jetzt aber treten die neuen Portosätze in Kraft (und bevor sie das tun, kündigt Herr Giesberts zum 1. November schon wieder neue riesige Erhöhungen an), und wir werden, wenn wir wieder Bücher wegschicken wollen, eventuell auch die 3 – 400 Mark von den 50 Mark abziehn müssen, auf die man höhnisch unser Wochengeld „erhöht“ hat. 5 Mk täglich durften wir ausgeben, als ein Brief 30 Pfennig und eine Flasche Bier 40 Pfennig kostete. Jetzt, wo eine Flasche Bier 9 Mark, ein Brief 6 Mark kostet, aber dürfen wir 7 Mark täglich ausgeben. Damals aber durften wir uns nach Belieben Briefmarken schicken lassen und Summen über 5 Mark nach Belieben auf Bestellschein von der Verwaltung aus begleichen lassen. Jetzt werden beigelegte Briefmarken ungefragt in Bargeld umgesetzt (das noch dazu unter ständiger Bedrohung des Gerichtsvollziehers steht: Der arme Pfaffeneder hat’s grade wieder spüren müssen, das ihm ein kleines von der Mutter erspartes und ihm übersandtes Sümmchen beschlagnahmt wurde) und jede Ausgabe bedarf der gütigen „Genehmigung“ des Vorstands, der sie nicht erteilt, ehe er sich nicht aufs Genaueste über die Notwendigkeit der Ausgabe orientiert hat, und wann erst er eine Ausgabe für notwendig hält, sieht man ja aus der neuen Verfügung: Bücherpakete dürfen – darauf kommt’s natürlich hinaus – nicht mehr heimgesandt werden! – Das ist die Festungsverwaltung selbst. Aber auch über die Niederschönenfelder Märtyrer in ihrem Dienst wäre allerlei zu sagen. Jeder Einzelne könnte jeden Tag Buch führen, wollte man alle Lieblichkeiten für die Ewigkeit sammeln. Ich spreche garnicht von den „pflichtgemäßen Meldungen“, die sie über jeden Dreck erstatten müssen (wir beobachten z. B. seit langer Zeit, daß der Beamte, der uns vom Dachfenster aus im Hof „unauffällig überwacht“, dabei regelmäßig Buch führt über die Gruppierungen, in denen wir miteinander spazieren gehn, über die Teilnehmer am Reckturnen unter Glassers Leitung, und über die Mitspieler beim Deutschballspiel). Zur Zeit soll Schiff mal wieder Besuchsverbot haben, weil er beim Besuch seiner Frau vor einigen Tagen einen Zusammenstoß mit dem Aufseher hatte (ob es wahr ist, daß die Frau, die sich in der Nähe aufhalte, gestern wieder hier war und vorn fortgeschickt sei, weiß ich nicht gewiß). Aber abgesehn von solchen immerhin noch paragraphierten Schönheiten unsrer Ehrenhaft („genau wie bei Arco“ ist das neueste Schlagwort im Hause) ist es manchmal noch interessant zu sehn, wie sich einzelne Märtyrer (nicht alle, – es gibt große Unterschiede unter den Charakteren dieser geknechteten Knechter) noch das Privatvergnügen machen, selbsttätig unsre Strafe zu versüßen: Ich bekomme seit Monaten auf ärztliche Anordnung jeden Morgen ein lauwarmes Wannenbad gegen meine Herzattacken (die auch tatsächlich seither ausgeblieben sind), und zwar soll das Bad um 9 Uhr fertig sein. Natürlich ärgert es die Beamten, die Extraarbeit täglich leisten zu müssen, und so hat sich da eine Unpünktlichkeit eingebürgert, die wir mal abends beim Ausplärren der Zubettgeh-Stunde erleben möchten. Neuerdings hatte ich öfter das Gefühl, als wolle man mir diese Baderei durch eine Art passiven Widerstand abgewöhnen. Sehr häufig warte ich bis ¾ 10 und frage, wenn man mich immer noch nicht ruft, an, ob man mein Bad denn schon wieder vergessen habe. Dann bequemen sich die Märtyrer denn stets, es anzurichten. Gestern ging’s wieder so. Ich kam ans Gitter und fragte. Antwort: „Ich habe Sie schon gerufen.“ Ich: „Ich habe nichts gehört.“ Das könne er nicht ändern. Ich fragte dann, wie oft er gerufen habe: Einmal! „So!“ sagte ich. „Wenn wir hinunterkommen sollen zu einer Eröffnung oder Disziplinierung, dann rufen Sie 6 oder auch 10 mal. Ich bin schwerhörig und werde von der Verwaltung gehindert, meine Ohren behandeln zu lassen, da kann ich wohl beanspruchen, daß Sie oft und laut genug rufen, auch wenn es sich bloß um meine Gesundheit handelt.“ Der Mann maulte noch, er habe laut genug gerufen und brauche es nur einmal zu tun, und sein Märtyrerkollege grinste dazu, und ich begnügte mich zu sagen: „Die Angelegenheit wird durch eine Beschwerde ins Reine gebracht werden“, hatte aber, da die beiden Beamten im allgemeinen hier nicht die Schlimmsten sind, natürlich nicht im mindesten die Absicht, wegen der Lappalie Geschichten zu machen. Erst wenn die Drohung unwirksam bleibt, muß ich mich wehren. – Früher kam der Aufseher, der etwas auszurichten hatte, zum Festungsgefangenen in die Zelle, klopfte sogar höflich vorher an. Jetzt ist die Kasernenhofbehandlung so vollständig durchgeführt, daß die Märtyrer sogar noch ihr Unteroffiziersgeschrei dazu benutzen, um sich Arbeiten, die ihnen nicht gefallen, vom Halse zu schaffen. Ich bin überzeugt, daß ich überhaupt nicht zum Baden gerufen war, denn als ich runterkam, war die Wanne noch garnicht vollgelaufen. Aber – Schikanen in Niederschönenfeld? Das ist ein so fremder Begriff wie Klassenjustiz in Bayern überhaupt. – Da hab ich mich heute viel ausführlicher in Hausdinge eingelassen, als in meiner Absicht lag. Aber das schadet nicht viel. Vielleicht entwickeln sich die Ereignisse, die jetzt den Orient erschüttern, so schnell und dramatisch, daß das Mitleben mit der Geschichte das eigne Erleben bald völlig verdrängt. Für heute will ich auf die neuen Meldungen nicht eingehn: Kemal kennt keine neutrale Zone und verletzt sie infolgedessen nicht nur, sondern hat sie schon vollständig besetzt, indem er zugleich heilig versichert, daß ihm garnichts ferner liege als mit den Engländern Händel zu suchen. Die erklären ebenfalls, sie möchten um keinen Preis Zusammenstöße haben und verschanzen infolgedessen riesige Truppenmassen in Schützenlinien, sodaß sich die beiden Friedliebenden nun mit allem Mordgerät des Krieges zum Messerkampf nah gegenüberliegen. Alles hängt, scheint’s jetzt davon ab, ob die Engländer den Übergang der Kemalisten über die Meerengen und die Besetzung Konstantinopels und Thraziens auch noch zulassen werden, womit sie zwar einfach kapituliert hätten, wozu sie aber sehr wohl sich gezwungen sehn könnten, da die Franzosen und Italiener (natürlich aus lauter pazifistischem Idealismus!) sie gänzlich im Stich lassen. So rückten die Franzosen schon vor Kemals Vormarsch von der gemeinsam zu überwachenden Neutralitätsgrenze ab, und die Italiener ziehn jetzt ihre Bewachungstruppen aus der interalliierten Polizei aus Konstantinopel zurück. Dort scheint die Lage ziemlich ähnlich wie in Athen zu sein. Alles deutet auf nationalistische Revolution mit dem Ziel hin, die fremde Besatzung hinauszuschmeißen (und da Frankreich und Italien diese Tendenz fördern, blieben auch da nur noch die Briten rauszuschmeißen). Der Sultan soll schon dem Beispiel seines Kollegen Konstantin gefolgt sein, der seinerseits den Thron einem seiner Söhne, (der diesmal nicht Alexander sondern Georg heißt) geräumt hat, während er selbst gefangen sein soll. Vorläufig machen also rebellierende Generäle überall das Revolutionsgeschäft. Sie werden aber wohl bloß kurze Zeit als die Platzhalter proletarischer und bäuerlicher Testamentsvollstrecker der ganzen Sauwirtschaft zu wirken haben. Da unten ist die Ecke, in der der Weltkrieg zur Entzündung kam. Vielleicht ist der Balkan berufen, auch die Keimzelle der endgiltigen Befreiung durch die Weltrevolution zu werden. Diese Tage jetzt sind wieder so zukunftsträchtig, daß wir ausgerutschten Revolutionäre in aller Welt wirklich sehr unrecht täten, daran zu verzweifeln, daß wir wieder auf die Beine zu stehn kommen. Selbst in Bayern ist noch lange nicht aller Tage Abend. Im Gegenteil.
Niederschönenfeld, Montag, d. 2. Oktober 1922.
Gestern war ich wegen der Huberschen Abschiedstheateraufführung wieder ausgesperrt. Es gab Ferdinand Bonns „Drama“ „Das geraubte Millionentestament“, und ich habe mich besser dabei unterhalten als meistens in meiner Kritikerzeit im Theater. Die Genossen spielten sehr nett, und besonders zu bewundern sind die schönen Coulissen, Requisiten etc., die alle hier – wie der hübsch bemalte aus Zeitungspapier geklebte Vorhang – im Hause gemacht worden sind. Dieser fürchterliche Schmarrn des Kaiserlieblings von ehedem, in dem der Held Sherlock Holmes mit Wucht und Schmalz die aufregendsten Taten vollführt, – bei der Primitivität aller Mittel hier und dem anspruchslosen Dilettantismus der Mitwirkenden brachte er tatsächlich Abwechslung und Vergnügen auch für mich abgebrühten Snob. Wenn ich mal über Niederschönenfeld Erinnerungen schreiben sollte, will ich doch auch dieser spärlichen Belustigungen gedenken und hoffe, noch in späten Tagen bei dem Gedanken an einzelne dieser Bühnengestalten – wie Andreas Heiß in der Rolle eines verwegenen Verbrechers, den der schwere Junge, der echteste Lumpenproletarier, der noch in unsrer Festungsgesellschaft war (übrigen besteht Anlaß, das Urteil über Heiß, das bei seinem Eintreffen verbreitet war, erheblich zu revidieren; sein Verhalten beim Geiselmordprozeß ist falsch dargestellt worden, und er ist bei all seinen „Zuchthäusler“-Qualitäten – vom Standpunkt des besitzfrommen Bürgers – durchaus kein übler Kerl, dabei ein witziger und durchaus nicht unkritischer Kopf) mit einer Echtheit spielte, die einen zu Boden werfen konnte – für solche Erinnerungen, denke ich, werde ich noch in späten Tagen ein gutes Lachen finden. – Alles war da – sogar vom Aufsichtspersonal hatten sich dienstfreie Beamte in größerer Zahl diskret hinter uns aufgestellt (viele von ihnen mögen in ihren Kaffs noch nie auch nur solche naive Theaterspielerei gesehn haben), und die Freude war groß. Nur die Waschechten hätten ihrem revolutionären Charakter was vergeben, wenn sie sich auch unter die „Verräter“ gesetzt und zugesehn hätten. Die 5 Kernfestesten der Gruppe Wuchtig (Wiedenmann, Sauber, Schlaffer, Egensperger und der selbst von seinen Freunden als Hanswurst bewertete Schiff) fehlten. Dagegen war die Gruppe Kain, die krampfhaft Anschluß sucht, erschienen, und die beiden zwischen diesen Gruppen schwankenden Charakterheroen aus Augsburg, Blößl und Olschewski, ebenfalls. Schade, daß es mir Kühlewein unmöglich gemacht hat, mich hier mit den Charakteristiken der Mitgefangenen noch abzugeben. Nachdem dieser Herr einmal eine gelegentliche verärgerte Bemerkung über Toller aus meinem Tagebuch im Landtag öffentlich preisgegeben hat, um mich in meiner Kameradschaftsauffassung, Toller durch mein Urteil und die von ihm als Versuchskaninchen für politische Rachegehässigkeit vivisezierten Festungsgefangenen insgesamt durch die Kompromittierung von uns beiden zu kompromittieren, tue ich dem Mann und seinen Seelenverwandten die Gefälligkeit nicht mehr, ihnen durch meine Tagebücher Gelegenheit zu schaffen, die bayerische Regierungsauffassung von Takt, Ritterlichkeit, Amtsverschwiegenheit und christlichem Ethos mehr zu manifestieren als es schon geschehn ist. So werde ich diesen immerhin wesentlichen Teil der Festungszeit-Erfahrungen im Gedächtnis halten müssen, und vieles wird verloren gehn. Doch meine Gewohnheit, beim Abschied von Genossen jedesmal ein paar Gedächtniszeilen zu notieren, wird da manches ersetzen. Dieser Oktober wird – wenn nicht noch weitere Überraschungen bevorstehn – im ganzen 8 Genossen ausspeien, von denen 2 schon fort sind und also ihren Nekrolog haben sollen. Gestern früh ist also unser Alterspräsident Vater Thierauf heimgefahren. Er hat von seinen 15 Monaten (die er dafür bekam, daß er einen Brief, dessen Inhalt er nicht kannte, bei Gelegenheit einer zufälligen Reise, aus Gefälligkeit mitnahm, und richtig abgab; da der Brief von Kommunisten an Kommunisten ging und kommunistischen Inhalt hatte, fand man das überführend genug, um den Beförderer, weil er auch Kommunist ist, schuldig zu sprechen, den Inhalt gekannt und mit beeinflußt zu haben: diese Gefälligkeit, einen geschlossenen Brief aus einer Hand genommen und in eine andre gegeben zu haben, war Thieraufs Beteiligung am Mitteldeutschen Aufstand) – von seinen 15 Monaten hat er 8 hier abgesessen (mit der Untersuchungshaft im ganzen 10). Die Reichsamnestie ist auch auf ihn nicht angewendet worden. Nun – wir haben mit Vater Thierauf das größte Unikum verloren, das wir bei aller Reichhaltigkeit der Auswahl je unter den Festungsgenossen hatten. Ein seelenguter Kerl (er hat, ehe er ging, seine ganze Habe an Tabak, Thee und sonstigen Vorräten mitsamt dem Inhalt des grade an ihn gelangten Pakets aufgeteilt, Kleidung an arme Genossen verschenkt und sich nur mit dem Gedanken aufgeregt, er könnte jemanden vergessen oder benachteiligt haben). Aber neben dieser Herzensgüte ein manchmal unleidlicher Rechthaber, und ein Aufschneider, dessen Münchhausiaden alles was ich je gehört habe, überstiegen. Michel Fischer hat da viel Material gesammelt. Politisch Parteikommunist vom reinsten Wasser. Was die Kommunisten tun, je taten und in Ewigkeit tun werden, ist richtig, was die Russen machen, sakrosankt. Der gute Alte hat aber die Gabe, all dies Tun seiner Partei und seiner Heiligen von Fall zu Fall zu deuten, wie halt alles zu seiner – nicht sehr bedeutenden – Auffassungsgabe paßt. Und er betrachtet alles unter zwei Gesichtspunkten: als Münchner Stadtrat (und da ist es so rührend, wie dieser „Kommunist“ nur immer von „seinen Armen“ spricht, die er als kommunaler Pfleger betreuen muß, also ganz charitativ) und als solider Schneidermeister. Man spricht von ganz großen, allgemeinen Dingen – und manchmal war’s scheußlich, wie unsre Intellektuellen mit verstiegenen Ausdrücken umeinanderschmissen –, dann trat Vater Thierauf wohltätig dazwischen und mit einer Autorität, die durch die stereotypen Wendungen „Verstehst mir?“ oder „Tu di fei ja nich täuschen“ bekräftigt wurde und deren Argumentation mit Belehrungen wie: „Ihr wollt euch ja nich belehren lassen, wenn man euch was sagt“ oder „du bist ein Rindvieh“ lebendige Schönheit bekam, drückte er sofort das Gespräch auf ein Niveau, daß alle Redeblüten kultivierter Schöngeisterei beim Teufel waren. – Jetzt sitzt der gute Kerl wahrscheinlich am Stammtisch in München und renommiert ganz im Stil des Hofbräustammgasts, und eben diese Kreuzung zwischen einem ganz kleinbürgerlichen Bierphilister und einem mordsradikalen Revolutionär (als den empfindet er sich selbst in vollstem Ernst) macht ihn zu dem amüsanten Original, das er ist. Ich vermisse den treuen Vater, der mich übrigens rührend verehrte – und ich hab’s ziemlich selten gehört, daß ich „a Rindviech“ bin – und dann in abgeschwächter Form: „Dees hätt i nich denkt, hast g’hört? – daß du aa no so dumm und rückständig bist“ –, mir fehlt er. Aber draußen, das hatte er sich fest vorgenommen, da will er mal „reinstochern“ und die Gewerkschaften für uns auf die Beine bringen und aufdecken, was das da hinten – die Wuchtigen – für eine parteischädigende Gesellschaft ist. Na, mein alter Thierauf bleibt mir unvergessen, auch wenn er nicht so stark ist wie er glaubt und wenn auch nicht bei seinem Anblick die Arbeiter gleich aufstehn und uns befreien. Ein braver Kerl, sehr unintelligent, sehr beschränkt, aber ein ganz großes, unendlich lustiges Original. – Und nun ist heute früh auch Otto Reutershan herausgekommen. Er hat bis zum letzten Moment seine Rolle brillant durchgehalten, auf keine Aufforderung Widerstand geleistet, aber auch nichts getan, wozu er nicht ausdrücklich aufgefordert worden wäre. Er machte keinerlei Toilette, behielt den Anstaltsanzug bis gestern abend an, setzte sich, als ob der Tag wie jeder andre wäre, zur Theateraufführung unter uns und ließ sich durch nichts aus der Ruhe bringen, bis man ihn direkt herausrief. Offenbar hatte die Verwaltung damit gerechnet, daß er sich widersetzen werde: es stand ein Haufen Märtyrer in Bereitschaft. Aber Otto folgte jeder Aufforderung, ging in die Einzelhaft hinunter und ist heute früh entlassen worden, ohne unterschrieben zu haben, daß er sich „wohlverhalten“ werde, ohne irgendeine Bedingung angenommen zu haben, die man ihm als Voraussetzung der Entlassung mitgeteilt hatte. Das ist prachtvoll. Die Bewährungsfristkomödie ist entlarvt. Dieser simple Mensch, dieser Chauffeur, der neben seiner Familie und seiner gefühlsmäßigen Auflehnung gegen die Staatsautorität nur noch seine Ringkämpfer- und Athletenleidenschaft hat, hat mit Vernunft und Charakter der bayerischen Justizbehörde eine ganz schwere Niederlage beigebracht, und er bei seiner überlegenen Ruhe und Festigkeit wird dafür sorgen, daß sein Fall an der richtigen Stelle richtig verwertet wird. Reutershan ist mir hier einer der liebsten Genossen gewesen in der ganzen Zeit meiner Haft. Klar, besonnen, niemals einer Provokation zugänglich, mit ganz sicherem Urteil über die Menschen um ihn herum und sein eignes Verhalten. Die Demonstration am Schluß kann ihm nicht hoch genug angerechnet werden. Der Einzige bis jetzt, der auf den Bettelbrocken bayerischer Rechtsbrecher verzichtete und den Entwürdigern mit Würde begegnet ist. – Heut keine Politik mehr, damit mag das neue Heft beginnen. Aber die Feststellung, daß genau so kalt ist wie vorher. Denn: es wird nicht vor dem 15. Oktober geheizt! Sie haben es raus, Menschen zu quälen.