Tagebücher

XXXVI

 

11. Januar – 1. März 1923

 

 

 

Niederschönenfeld, Donnerstag, d. 11. Januar 1923.

Bis jetzt sind über die Entwicklung der Dinge in Westdeutschland noch keine neueren Berichte bei uns angelangt. Nur daß der Dollar die ersten 10.000 überschritten hat steht schon fest (was mich heute mittag zu der besonders von dem Weisesten der Hausweisen Klingelhöfer sehr belachten Prophezeiung veranlaßte: bis Ostern 40.000!). Im übrigen werden die vom Kriege her noch nicht ganz verrosteten Burgfriedensglocken mit fabelhaften Kraftaufwendungen wieder in Schwung gesetzt, und es ist nicht bloß wieder erlaubt sondern wird krampfhaft von oben vorgemacht, Frankreich als Vertragsbrecher, Friedensstörer, Gewaltimperialisten zu beschimpfen. Knilling hat im bayerischen Landtag das ganze Register gezogen vom Versailler Sklavendiktat ab (von Brest-Litowsk und Bukarest schwieg er) bis zur ungeheuerlichsten Lüge der Weltgeschichte von der deutschen Schuld am Kriege (dieses Volks glaubt längst, die Österreicher seien von den Serben überfallen worden; darauf habe Rußland und Frankreich den Krieg an Deutschland erklärt und Belgien habe, um nur mittun zu dürfen, den Fetzen Papier, der es zur Neutralität verpflichtete, zerrissen). Für das Präsidium dieses Recht und Wahrheit repräsentierenden Parlaments aber sprach Herr Erhard Auer und bewies, daß er die nationalistische Phraseologie so gut beherrscht wie die übrigen Verbündeten der Ludendorff und Hitler, die ihm nur vorläufig noch nicht gestatten, ebenfalls als Ehrengast in ihren patriotischen Faschingsparadeversammlungen zu reden, wobei nachzutragen ist, daß bei dieser ersten gemeinsamen Kundgebung die bayerische Regierung (außer Herrn Knilling selbst nahmen teil der Innenminister Schweyer, der Kultusminister Matt und der Handelsminister Meinel) mit den Pogromleuten Kahr sich für die Monarchie, Ludendorff für die Farben schwarz weiß rot und Hitler sich für den Tag aussprach, den er für dieses Jahr ankündigte, an dem es hart auf hart gehn werde. Alle aber waren unbeugsam entschlossen, dem französischen Frevel die Spitze zu bieten, was vermuten läßt, daß sie mit den an proletarischen Landsleuten vielfach erprobten Waffen ihrer Mordorganisationen ins Feld ziehn wollen, um Revanche zu üben (oder wollen sie die allgemeine Wehrpflicht zu diesem Zwecke wieder einführen und sich selbst unabkömmlich erklären?). Ebert der Taktvolle hat seinerseits ein von ihm und Cuno unterzeichnetes Manifest in den bedrohten Ruhrbezirken anschlagen lassen, worin er den Einwohnern sozusagen die staatsrechtliche Lage – wie sie der augenblicklichen Berliner Regie entspricht, – auseinandersetzt, sie zur Treue ermuntert und ihnen seine landesväterliche Liebe ausdrückt. Nicht müßig sind auch die Gewerkschaften, und bereits haben sie die Arbeiter des Ruhrgebiets zu einer wahrhaft heroischen revolutionären Abwehraktion eingeladen. In Essen soll nämlich am Tage des Einmarsches gestreikt werden – eine halbe Stunde lang! Wenn die Franzosen da keine Angst kriegen, hilft garnichts mehr. – Was nun wirklich werden wird, läßt sich immerhin aus mancherlei Erfahrung voraussehn. Die Kohlenarbeiter, die grade im Augenblick in ernsthaften Konflikten mit den Zechenbaronen sind – wegen des Überschichtenabkommens und wegen der immer rücksichtsloser befolgten Tendenz, bei ständiger Anpassung aller Preise an den Weltmarkt die Löhne auf möglichst niedrigem Papierstand zu halten – werden kaum Lust haben, den Streik, zu dem sie die Arbeitgeber mit dieser Verknechtungstaktik wahrscheinlich provozieren wollten, um die Besatzungsbehörden von Anfang an vor große Unbequemlichkeiten zu stellen, – auch dann noch zu beginnen, wenn ihr Lebensunterhalt sich zu ihrer Überraschung durch die Besetzung heben sollte, und es ist den Franzosen immerhin soviel kluge Psychologie zuzutrauen, daß sie das als beste Kampftruppe des deutschen Proletariats bekannte Ruhrvolk dadurch zu ködern suchen werden, daß sie ihm bessere Lebensbedingungen schaffen als vorher. Daß die französischen Imperialisten in dieser Beziehung geschickter sind als ihre Konkurrenz in Deutschland, haben sie im Saarland bewiesen, wo die Arbeiter sogar schon gestreikt haben, um ihre Lohnzahlungen in Frankenwährung zu erreichen. Ich glaube also nicht an eine irgend nachdrückliche Sabotage der Zechenbesetzung durch die Arbeiter des Bezirks. Andrerseits wird sich auch der nationalistische Spektakel im ganzen Reich bald legen, und das deutsche Volk, das nie gelernt hat selbständig politisch zu denken und einfach die Parolen befolgt, die es entweder von der Regierung oder von ihrer Parteileitung kriegt, wird in kurzer Zeit garnicht mehr wissen, daß Essen und Dortmund mal nicht zum besetzten Gebiet gehört haben, wie es dies in Hinsicht auf Ruhrort, Duisburg und Düsseldorf ja auch schon längst vergessen hat. Außenpolitisch wird ein widerliches Greinen und Schachern einsetzen, bei dem – gleichviel ob der Reichskanzler Cuno heißt oder Wirth oder Scheidemann oder selbst Hergt – Amerika und England würdelos umbettelt und unentwegt weiter „Erfüllungspolitik“ getrieben werden wird, mögen auch jetzt die Reichs-Oberbonzen erklären, daß sie nichts mehr leisten können, – und bei dem schließlich eine Offerte der Ausbietung Deutschlands als Kolonie wie sie Österreich mit Erfolg gemacht hat, jedenfalls auch nicht ausbleiben wird. Im Innern werden natürlich die Nationalsozialisten eine riesige Stärkung erfahren. Sie können sich mit Recht darauf berufen, daß sie die Wirkungen der ewigen Erfüllerei richtig vorausgesagt haben, daß nämlich Deutschland dadurch immer tiefer in den Bruch geraten müsse, ohne die imperialistischen französischen oder englischen Pläne im geringsten beeinflussen zu können. Daß auch wir das schon immer gesagt haben und auf diese Vorhersage unsre ganze revolutionäre Politik – für Aufgabe der westlichen und Aufnahme der östlichen Orientierung – gestützt haben und dann dafür vor 4 Jahren verfolgt und dann eingesperrt und verurteilt wurden und heute noch unter dauernd verstärkten Qualmethoden festgehalten werden, wird man dem Volk natürlich verschweigen, das seinerseits – mit Einschluß fast der gesamten Arbeiterschaft die Tatsachen einfach nicht mehr weiß, wie es seine eignen Erlebnisse stets schon nach Eintritt irgendeiner neuen Konstellation vergißt. Auf diesem Wege – dem dank der Bestätigung ihrer Weissagungen und der täglich unerträglicher werdenden Lebensbedingungen besonders des kleinbürgerlichen zur Verzweiflung gebrachten Mittelstands rapiden Zulauf zu den Nationalsozialisten – glaube ich, wird die Entladung der überheizten Atmosphäre kommen. Es wird, wie Hitler gesagt hat, hart auf hart gehn, und es wird davon abhängen, ob die Arbeiter von den marxistischen Autoritätswucherern wieder übers Ohr gehauen und um ihre Stunde geprellt werden oder ab sie, wenigsten im Gegenstoß, aufs Ganze gehn und die Revolution über die Parteiinteressen hinweg bis zur sozialen, gesellschaftlichen und sittlichen Erneuerung Europas und der Erde emporzustoßen wagen. Hier kann niemand prophezeien, hier gibt es nur willigen Glauben und gläubigen Willen.

 

Niederschönenfeld, Freitag, d. 12. Januar 1923.

Allem Anschein nach ähnelt die Stimmung im Lande der der letzten Julitage 1914. Ob Fränkischer Kurier oder Frankfurter Zeitung, ob alldeutsche oder sozialdemokratische Presse, alles überschlägt sich in nationalistischem Paroxysmus und die Phrasen der Mannhaftigkeit und der Treue zu Volk und Vaterland von ehedem sind alle wieder da. Ganz verrückt muten die hysterischen Ereiferungen etwa des Miesbacher Anzeigers an, der in Prosa und Poesie (die dort eine Dame verübt) dem letzten Franzosen den Tod schwört, der aber nicht in Ersäufen bestehn soll, da der deutsche Rhein nicht durch französische Leichname beschmutzt werden solle. Was aber die offizielle Regie betrifft, so habe ich den Eindruck, daß wieder in erstaunlicher Verblendung und Unbelehrbarkeit mit Entstellungen, Vertuschungen und Falschmeldungen gearbeitet wird. Herr Cuno hat im Auswärtigen Ausschuß eine neue Rede gehalten. Es ist nicht feststellbar, ob ein Angeordneter ihn aufgefordert hat, endlich mal die Garantievorschläge, von denen er in Hamburg gesprochen hat, und die bis jetzt nicht bekannt gegeben sind, detailliert zu bezeichnen. Von sich aus hat er aber darüber verblüffende Aufklärungen gegeben, aus denen zu schließen ist, daß garkeine formulierten Vorschläge da sind, und daß alles, was die deutsche Regierung zur Pariser Konferenz beisteuern wollte, Herrn Dr. Bergmann zum mündlichen Referat anvertraut war, sodaß nicht etwa, wie wir bisher belehrt wurden, die Konferenz die deutschen Anträge von vornherein zurückgewiesen hat als der Erörterung nicht wert, sondern im Gegenteil das Verlangen der Konferenz, zuvor zu wissen, was man ihr zu sagen habe, nicht erfüllt war. Wenn Cuno erklärt, man habe Deutschland nicht aufgefordert, seine Pläne schriftlich vorzulegen, so widerspricht das den Wolff-Berichten, die die Reichsregierung doch veranlaßt oder mindestens kontrolliert, daß die Konferenz Bergmann – der trotzdem anschmeißerisch antichambrieren mußte – nicht zugelassen habe, weil sie in diesem Verlangen den Versuch der Deutschen sah, sich als Verhandlungspartner einzuschleichen und gefordert habe, man solle die Vorschläge in einer Form ausarbeiten, die mündliche Kommentare erübrige. Das ist doch erst eine Woche her, aber die deutschen Parlamentarier haben noch immer alles gläubig und kritiklos hingenommen, was ihnen die bestellten Politikmacher erzählten (das typische Beispiel dafür gab Bebel auf dem Jenaer Parteitag 1911, wo er in der Marokkosache einfach den Regierungsstandpunkt vertrat, ohne im geringsten nachzuprüfen, was es mit dem „Panthersprung nach Agadir“ eigentlich auf sich hatte). Das Publikum – und die parlamentarischen Politiker sind durchaus von der gleichen Qualität – liest die inspirierten Zeitungsartikel, vergleicht aber deren Inhalt nie mit dem Tatsachenmaterial, und so kann die Regierung – zur Zeit also die Sachwalter der Industrie – jederzeit Vorstellungen erwecken und Stimmungen erzeugen, wie sie sie grade braucht. Jetzt wird die französische Note an Deutschland im Wortlaut veröffentlicht, in der die beabsichtigten Maßnahmen gegen das Ruhrgebiet angekündigt werden. Die „Frankfurter Zeitung“, also ein für seine Objektivität und Selbständigkeit besonders gerühmtes Blatt (das in Wahrheit ein Organ für kapitalistische Börseninteressenten ist), leitet den Abdruck der Note mit einem Artikel ein, der den Eindruck erweckt, er sei ein gedrängter Auszug aus der Note mit gleich hineinredigiertem Kommentar, sodaß der Durchschnittsleser nach dessen Lektüre das Blatt in dem Gefühl weglegt, nun genau Bescheid zu wissen. Der politisch und journalistisch gewitzigte Leser aber konstatiert Betrug. In der französischen Note wird erklärt, daß wegen der Verfehlungen in den Holz- und Kohlenlieferungen eine Mission von Ingenieuren und eine Wirtschafts-Kontroll-Kommission zu den Ruhrzechen entsandt würden, die nur von soviel Truppen begleitet sein würden, wie zu ihren Schutz erforderlich wäre. Es heißt in präzisester Form, daß demnach von einer politischen Besetzung nicht die Rede sei und daß der Bevölkerung des Gebiets jede Rücksicht zugesichert werde, sodaß die normale Ordnung nicht beeinträchtigt würde. Die Vollmachten der Kontrolleure werden genau angegeben. Sie beschränken sich auf das Recht, sich über alle wirtschaftlichen Verhältnisse des Gebiets genau zu informieren, wozu ihnen alle öffentlichen und privaten Korporationen auf Verlangen zur Hand zu gehn haben, die auch alle Anordungen der Kommission befolgen müssen. Daß das ein höchst rigoroses Vorgehn ist, versteht sich, und daß die betroffenen deutschen Profitmacher sich dagegen wehren, daß ihnen der Profit nachgerechnet und unter Umständen gekürzt werden soll, ist sehr begreiflich. Daß aber von der „Frankfurter Zeitung“ und außer wenigen linksradikalen Blättern von der gesamten deutschen Presse sicherlich 95 % der deutschen Bevölkerung durch Unterschlagung der wesentlichsten Stellen der Note in den Stimmungskommentaren in den Glauben versetzt werden, es gehe um die militärische Annexion des ganzen Ruhrlandes – „Annexion in Etappen“ überschreibt das Blatt seinen Artikel – ist ebenfalls begreiflich – für den, der begreifen will und kann. Die Schwerindustrie will die „Erfüllungs“-Politik abbremsen, da sie die Gefahr mit sich führt, allmählich zu einer Stabilisierung des Geldkurses zu führen, was für sie bedeuten würde, außer den Warenpreisen auch die Lohnzahlungen einem Goldkurs anpassen zu müssen. Die Fortdauer ihrer ungeheuren Profite hängt ab von der Fortdauer der Inflation. Sie benutzt jetzt die Sanktionen und die dabei in Erscheinung tretende Uneinigkeit der Alliierten, um mit der Neubelebung der Massenpsychose der ganz verwegenen Außenpolitik, die eingeleitet werden soll, die Popularität zu sichern. Der Sinn der jetzt inaugurierten Regierungsmethoden des deutschen Reichs ist: Los vom Versailler Vertrag! Man sagt also: Frankreich (von dem man dem deutschen Volk einredet, es sei isoliert, obwohl es in Gemeinschaft mit Belgien und Italien operiert; also ist im Gegenteil grade England isoliert) habe den Versailler Vertrag gebrochen (was daran richtig ist kann ohne intimste Kenntnis des Vertrags, den ich leider nicht zur Hand habe, nicht beurteilt werden. Es geht da um formal-juristische Auslegungen). Infolgedessen verpflichte der Vertrag auch den Partner nicht mehr. Darum hören von jetzt ab alle Leistungen – wenigstens an die an der Ruhrokkupation beteiligten Mächte – auf, und die deutschen Botschafter werden von Paris und Brüssel (ob auch von Rom, ist vorerst nicht erkennbar) abberufen, sodaß die diplomatischen Geschäfte, die inzwischen von je einem Botschaftsrat versehn werden, auf den Fortgang der laufenden sachlich-formalen Obliegenheiten beschränkt werden (also kein direkter Abbruch der Beziehungen; Halbheit von der ersten Stunde ab). Davon die Wirkung, – die aber wahrscheinlich so von der Industrie beabsichtigt ist – wird selbstverständlich die tatsächliche – politisch-militärische – Besetzung der Ruhr sein, was dann dem Volk ja garnicht mehr bewußt wird, das sich sonst am Ende gegen die Aufgabe der Erfüllungspolitik wenden würde. So wird also schon jetzt Ursache und Wirkung vermantscht, und was endlich aus alle dem folgen wird, bleibt der Zukunft überlassen, für die man wohl – wie das im Kriege die Hoffnung aller Durchhalter war – ein Wunder erwartet. – Ob nun wenigstens ein Teil der Arbeiterschaft bereit und fähig sein wird, die wieder durchaus labil gewordene Situation revolutionär auszunutzen, ist die große aufregende Frage. Bei den französischen Kommunisten ist jedenfalls ein guter Geist spürbar. Es ist eine kühne Leistung gewesen für die Agitatoren aus Paris, in Essen selbst den deutschen Proletariern Abwehr und Widerstand gegen den französischen Imperialismus zu empfehlen. Nur davor habe ich Angst, daß das Befolgen dieser Ratschläge den deutschen Kapitalisten und der Cuno-Regierung überaus erwünscht wäre, und daß es die deutschen Proletarierführer nicht verstehn werden, die Manifestationen der Ruhrarbeiter von national-pazifistischen Tendenzen freizuhalten. – Bis zur Stunde ist nach den Blättern, die wir haben, alles noch im Werden, wenn auch unmittelbar bevorstehend. Ich lasse daher alle weiteren Betrachtungen vorderhand beiseite, bis neue Ereignisse als geschehn bekannt werden. Die Luft ist geladen mit Explosivstoffen, und das in aller Welt. Ein Symptom für diese Atmosphäre war wieder das Attentat in Prag das ein angeblicher „Anarcho-Kommunist“ auf den Finanzminister der Tschechoslowakei Raschin unternommen hat. Es scheint mir besonders charakteristisch für die Unmöglichkeit, eine Geldpolitik innerhalb der kapitalistischen Agonie zu treiben, die der arbeitenden Bevölkerung die Existenz nicht ruiniert. Grade die Tschechen haben erreicht gehabt, daß ihre Krone stabilisiert wurde, ja ihre Geltung dauernd stieg, und die Folge war unaufhaltsam wachsende Erwerbslosigkeit, da das Land für die Exportkundschaft als Lieferant aufhörte, die Weltpreise zu unterbieten, sodaß also die Deflation das Proletariat erst recht benachteiligte und ins Elend zog. Daß das Ziel der Kugel grade der tschechische Finanzminister war, illustriert demnach die Verworrenheit der wirtschaftlichen Lage Europas ganz frappierend. – Man wird den Proletarier, der den Schuß abgab, einkerkern, wie die französischen Kommunisten, die zum Ruhrproletariat sprachen bereits inhaftiert sind: wegen Vergehen, deren Aufzählung schon kennzeichnet, was das für ein „Friede“ ist, den wir seit 1918/19 haben: unter ihnen ist ausdrücklich genannt „Einverständnis mit dem Feinde“. Soweit sind wir also wieder, – in Deutschland und in Frankreich. Nur eins unterscheidet diese Gegenwart von der Begeisterungsepoche von 1914: daß die Regisseure der Einigkeitsphrase ganz genau erkannt haben, daß für dieses Volk mitsamt seinen „Klassenkämpfern“ in der Sozialdemokratie das Wort: Ein Volk! Eine Not! genügt, und daß man ohne Furcht über all die Bruderküsse hinweg die eingesperrten Volksgenossen, die vor Jahren eine unerwünschte politische Gesinnung betätigt haben und seit Jahren für einen der Rütligefährten das Opfer ihrer Freiheit und all ihres privaten Glücks gebracht haben, getrost weiterhin in ihren Käfigen leiden lassen darf.

 

Niederschönenfeld, Sonnabend, d. 13. Januar 1923.

Ich habe noch eine knappe Viertelstunde vor dem Essen Zeit und will sie fürs Tagebuch nützen, um den Nachmittag zum Schreiben einer schon begonnenen Satire („Die Affenschande“) für die Wiener „Muskete“ freizuhalten. Dabei will ich den Fortgang der Ereignisse in Westdeutschland zunächst zurückstellen und Hausangelegenheiten notieren, die leicht vergessen werden könnten. Es handelt sich um Dinge, die wieder die Krankenbehandlung betreffen. Zunächst der Fall Amereller: der Arzt ließ sich, obwohl er täglich da war, nach dem Anfall, über den ihm natürlich berichtet werden mußte, an zwei Tagen nicht blicken, und Amereller meldete sich deswegen zum Rapport beim Vorstand, um seine Entlassung wegen Haftunfähigkeit zu beantragen und über den Arzt Beschwerde zu führen. Der Vorstand ließ ihn auch kommen und empfahl ihm vor allen Dingen Ruhe – da A. die Befürchtung äußerte, derlei Anfälle würden sich in kurzer Zeit wiederholen. Dabei ironisierte Herr Hoffmann uns Freunde Hagemeisters, die wir wegen seiner Rippenfellentzündung schon den größten Aufstand gemacht hätten (als ob eine trockene Rippenfellentzündung eine Kleinigkeit wäre, und als ob Menschen deshalb lächerlich wären, weil sie wegen eines kranken Genossen in der Gefangenschaft Besorgnisse zeigen). Er empfahl dann Amereller, sich ins Spital legen zu lassen. Am nächsten Tag kam dann auch der Arzt zu ihm und ließ ihn nachmittags wie Hagemeister hinunterbringen, und zwar ins Parterre in eine als Tobsuchtszelle hergerichtete Zelle, mit zwei Matratzen, einem Nachttopf aus Papiermaché, sonst aber keinerlei Sicherung, sodaß ein wirklich Tobsüchtiger sich ohne weiteres den Kopf an der Wand einrennen könnte. (Ich wurde gestört, und nun kommt das Essen. Ich muß also doch noch nachmittags fortfahren). – – So. Jetzt ist der Nachmittag da, und – obwohl mir die inzwischen gewordenen Zeitungsnachrichten in den Fingern jucken, soll die Anstaltshygiene weiter behandelt werden. Amereller nahm zuerst an, er solle in seinem angenehmen Aufenthalt nur warten, bis man ihn definitiv unterbringe. Doch war er müde und schlief auf der Matratze ein. Als er aufwachte, war es Nacht und er hatte Durst, klingelte also und verlangte, als jemand kam, Wasser. Das wurde ihm durch die Kostklappe gereicht und erklärt, eine andre Verbindung sei nicht zulässig. So blieb er also hinter Extremverschluß bis zum Morgen, wo der Arzt kam und ihm auf Einspruch erwiderte, einen andern Raum habe er nicht für ihn zur Verfügung, und er habe ja selbst seine Verlegung verlangt. Es stehe ihm aber frei, wieder hinauf zu gehn. So kehrte Amereller denn in seine Zelle zurück, neuer Anfälle gewärtig und im Bewußtsein, daß ein kranker bayerischer Ehrensträfling tief unter jedem kranken Gefängnis- oder Zuchthaus-Sträfling rangiert. – Unser August H. ist immer noch unten, hat immer noch Zeitungs- und Besuchsverbot – wegen eines rein körperlichen Leidens und obwohl ihm doch auch der Besuch seiner Frau nicht geschadet zu haben scheint. Heut mußte der Ferdl mit ihm Frauenhilfe-Angelegenheiten besprechen (August ist der Vertrauensmann und Ferdl vertritt ihn zur Zeit). Nachdem dazu die „Genehmigung“ glücklich erteilt war, fand der Besuch – natürlich unter Aufsicht! – statt. Als das Gespräch beendet war, machte Herr Fetsch Anstalten, die Zellentür abzuschließen, was zur Folge hatte, daß der Kranke aus dem Bett sprang in den kalten Flur hinaus und protestierte. Darauf unterblieb zwar die Einsperrung, Herr Fetsch aber wird nun dem Vorstand rapportieren, daß auch dieser Besuch eines Genossen wieder Anlaß zu Aufregung gegeben habe, was die weiteren Wirkungen unschwer erraten läßt. Übrigens bat Hagemeister Luttner, ihm illustrierte Zeitschriften hinunterzuschicken, die der Arzt ihm ausdrücklich erlaubt habe. – Herr Fetsch hörte das Verlangen mit an und sagte nichts. Als der Ferdl dann die Blätter hinunterbrachte, weigerte er sich, sie Hagemeister zukommen zu lassen. Ihm habe der Arzt nichts davon gesagt, und solange das nicht der Fall sei, werde er auch nichts übermitteln. Die Absicht ist überall deutlich genug erkennbar. Da der Arzt erst Montag frühestens wieder herkommt, hat der Herr Oberscherge, der von jeher gegen Hagemeister ganz besonders jede Gelegenheit zu Peinigungen benutzt hat, erreicht, daß der Mann in seiner Krankheit wieder 48 Stunden länger sich mit der Beobachtung seiner Schmerzen unterhalten kann und jede andre Beschäftigung vereitelt ist. Gute Menschen sind mit unsrer Bewachung betraut, das muß man sagen. (Genossen, die Herrn Fetsch als Jungen-Aufseher kennen gelernt haben, als sie irgendwelche Streiche im Jugendgefängnis, das früher hier betrieben wurde, abbüßen mußten, erzählen, daß er die armen Buben in der scheußlichsten Weise malträtiert und den ganzen Tag mit Ohrfeigen um sich geworfen habe). – Eben war Uhrmann bei mir, der vorhin überraschend hinunterzitiert wurde, wo der Arzt mit einem „Münchner Professor“ seiner harrte. Es war offenbar ein Psychiater, den die Verwaltung zur Untersuchung Uhrmanns hatte kommen lassen. Uhrmann ist mit seiner vibrierenden Aufgeregtheit, die sich bei den kleinsten Anlässen entlädt, unzweifelhaft haftunfähig. Es ist immerhin anzuerkennen, daß man zum ersten Mal in solchem Fall eine begutachtende Kapazität zu Rate zieht (ich vermute, der Walter-Fall wird die Behörde veranlaßt haben eine Wiederholung der Blamage zu vermeiden, daß ein Festungsgefangener sich als besserer Psychiater erweist als der Anstaltsarzt und wegen seines Gutachtens erst diszipliniert wird, bis es sich als richtig herausstellt). Ich bin jetzt sehr gespannt, ob Uhrmann wenigstens nach Erlangen kommt oder ob er die 15 Monate, die er noch vor sich hat, hier vollends kaput gequält wird. Nachdem man im Fall Köberl den Präzedenzfall geschaffen hat, einen für geisteskrank gehaltenen Gefangen auf Bewährungsfrist plötzlich ganz zu entlassen, wird man ja am Ende einen schwer nervenleidenden Mann wenigsten[s] erträglicheren Verhältnissen zuführen. Auf Entlassung hat der arme Teufel, der nichts als Rotgardist in der Bewegung war, im christlichen Bayern natürlich nicht zu rechnen. Ich möchte mal wissen, wieviel Urlaub Arco schon „aus Gesundheitsgründen“ gehabt hat, – ungerechnet, daß seine Strafverbüßung ohnehin kaum in etwas anderm als kachiertem Urlaub besteht. – Nun doch noch ein paar Bemerkungen zur politischen Situation. Die große Aktion der Franzosen ist erfolgt. In Essen und Hamborn sind französische bzw. belgische Truppen einmarschiert und man las von ungeheuren Kolonnen auf der ersten Seite und von ein paar Tausend Mann auf der folgenden und von einer Kompanie Belgier in Hamborn. Nach Poincarés Rede in der französischen Kammer sind die Truppen in größeren Massen außerhalb Essens für alle Fälle zusammengezogen, die Besetzung der Stadt aber nur von soviel Kräften vorgenommen wie zur Besetzung der Verkehrsanlagen (Post, Bahnhof, Industriewerke etc) nötig sind. Die Sensation ist, daß die Industrie-Magnaten das Kohlensyndikat mit allen Archiven von Essen nach Hamburg überführt und seine Auflösung angekündigt haben. Poincaré erklärt nun, das sei mit Einverständnis der deutschen Regierung geschehn, da aus dem Archiv deren Verfehlungen hervorgehn müssen. Infolgedessen werde man außer Essen auch Bochum und Dortmund und die östlichen Teile des Ruhrgebiets besetzen. Daß es sich in Essen nicht um eine politische Okkupation handelt, zeigt sich darin, daß die deutsche Polizei in Funktion belassen, keine Zeitungszensur eingeführt und das öffentliche Leben in keiner Weise beeinträchtigt wird. Allerdings schützen sich die Franzosen energisch genug gegen Aggressivitäten, indem sie Kriegsgerichte einsetzen, die hauptsächlich Aufreizungen durch Presse, Theater und Kino zu Angriffen gegen die Besatzungstruppen und -Kommissionen ahnden sollen. – Bei uns im Lande ist indessen alles auf „große Zeit“ gestimmt. Ebert, Cuno und der ganze Wilhelmstraßenclub veröffentlicht einen Aufruf an das deutsche Volk, der an schmalziger Verschmock[t]heit wohl den Rekord aller bisher geleisteten Kundgebungen des Taktvollen darstellt. Ich hebe ihn mir zu Erinnerung an den „Geist“, der jetzt über dieser Republik leuchtet, auf. Morgen aber ist „Trauertag“ im ganzen Lande, alles ergibt sich bei Halbmastbeflaggung – wobei hoffentlich die Taktlosigkeit unterbleibt, daß auch die republikanischen Landesfarben Schwarzrotgold gehißt werden – und Glockengeläut in stillem Abscheu über den landfremden Imperialismus patriotischen Gefühlen. Die vaterländischen Abonnentinnen verlangen zum Zeichen ihrer Unbeugsamkeit Wiederaufrichtung des Burgfriedens (sofern niemand von Amnestie spricht, versteht sich) und die Alldeutschen verlangen Prozessierung der Kommunisten wegen Hoch- und Landesverrat, weil sie die Besteuerung der Reichen und eine „Arbeiterregierung“ verlangen und berichten glückstrahlend von der Opposition der französischen Kommunisten gegen Poincarés Verruchtheit. Kurzum: es ist wie vor 8½ Jahren. In München aber haben vor den Hotels Massenansammlungen stattgefunden, und die französischen Reisenden wurden gezwungen einzupacken und abzureisen. Das Hotel 4 Jahreszeiten, worin die Ententekommission wohnt, mußte zugesperrt werden, um der Nationaille die Begeisterung zu verbauen, doch soll ein Verbindungsoffizier – welcher Nationalität, wird nicht gesagt – zum „Volk“ gesprochen und gedroht haben, falls einem Mitglied der Kommission etwas geschehe, werde München binnen zwei Tagen mit Fliegerbomben begrüßt werden. Wollen sehn, was die bayerische Eigenart uns in ihrer vaterländischen Aufwallung noch beschert. Die Rechnung für die Austreibung französischer Hotelgäste wird wohl schon gepfeffert genug ausfallen. (Heute hat mir ein „Wahrtraum“ das Datum verraten, wann wir frei werden: den 9. April. Zwar haben bis jetzt diese Prophetenträume noch immer falsch geweissagt, aber wenn die Auswirkungen der bayerischen Dummheiten den normalen Verlauf nehmen, so ist es nicht unmöglich, daß dieser Verlauf so ungefähr bis zum geträumten Datum auch dies letzte Unglück noch über das Orgeschland bringen kann). – Um noch ein paar historische Gegenwartsgeschehnisse zu fixieren: die Litauer bedrängen das Memelland in der schon gewöhnten Taktik, die d’Annunzio in Fiume einführte und die Ungarn im Burgenland und die Polen in Wilna kopierten. Sie haben gewiß Aussicht zum Erfolg zu kommen. Und endlich ein Todesfall: Exkönig Konstantin von Griechenland ist in Palermo plötzlich gestorben. Es heißt, er habe einen Gehirnschlag erlitten. Ob da niemand nachgeholfen hat?

 

Niederschönenfeld, Montag, d. 15. Januar 1923.

Liebknecht-Luxemburg-Gedächtnistag, der hier durch die Anlegung der Feiertagskleidung von den meisten in stiller Demonstration begangen wird. – Meine Zeit ist heute wieder ziemlich knapp bemessen, weil ich die gestern beendete Prosa-Erzählung dem Ernst Ringelmann in die Tollersche Schreibmaschine diktiere, welche Arbeit wir während der letzten Hofstunde, die der Ernst benutzt, unterbrochen haben. – Die politische Situation, die sich so plötzlich zu kriegerischer Hochspannung zugespitzt hat, entwickelt sich weiter in der Richtung des Konflikts. Die Reichsregierung hat den französischen und belgischen Regierungen eine Verwahrungsnote zugehn lassen, deren Tendenz in die nun amtlich kun[d]gegebene Weigerung mündet, der Aufforderung an das deutsche Reich, die Maßnahmen der Sanktionsmächte zu unterstützen, zu entsprechen und in die Erklärung, sämtliche aus dem Versailler Vertrag resultierenden Zahlungen und Sachleistungen an die an den Sanktionen beteiligten Staaten (also wohl auch Italien) einzustellen. Verschärft wird die Obstruktion noch durch die Ankündigung der Regierung, sie werde die inzwischen für Reparationszwecke geförderten Kohlen, die ja nun unmittelbar beschlagnahmt werden, nicht mehr bezahlen, was Einstellung der Lohnzahlungen an die Bergarbeiter bedeutet. Die Sabotage des ganzen französisch-belgischen Unternehmens wird also in größtem Stil und in straffer Zusammenarbeit der Industrie und der Reichsregierung durchgeführt. Die Engländer erklären sich dabei „neutral“, sind aber in allen übrigen Kommissionen und Missionen unverändert vertreten, während die Amerikaner ihre Besatzungstruppen vom Rhein abkommandiert haben und einschiffen. Aber auch das ist ein schwacher Trost für alle unsre Patrioten, die schon glaubten, in den angelsächsischen Staaten Verbündete finden zu können; denn es wird ausdrücklich hervorgehoben, daß die „Repko“ ohne Veränderung weiter funktioniert, unter aktiver Mitwirkung der Engländer also und unter passiver Teilnahme eines „beobachtenden“ Vertreters der Ver. Staaten. Das nationalistische Geheul in allen unsern Blättern ist so dumm und widerwärtig wie stets in solchen Fällen. Die Veranstaltung der Entrüstung ist überall durchsichtig, was natürlich nicht hindert, daß die Massen der urteilslosen Philister mit vollem Erfolg davon überzeugt werden, daß Poincaré aus purem Sadismus den Versailler Vertrag zerrissen hat (in seiner Rede hat übrigens Poincaré schon darüber gespottet, daß der „Schandvertrag“ von Versailles plötzlich in Deutschland wie ein heiliges Dokument verehrt wird und erst recht über die Drohung, nicht mehr zu erfüllen, was ja nach seiner Meinung noch nie geschehn sei). Vom Verlauf der gestrigen Demonstrationen wissen wir noch nichts. Zu verwundern wärs nicht, wenn der Riesenapparat der Stimmungsregie einen Haufen Dummheiten in Schwung gesetzt hätte. Aber zum Kotzen ist, wenn man z. B. im „Fränkischen Kurier“ die direkte Aufforderung an die Ruharbeiter findet, jetzt sollten sie nur kräftig die Lohnschraube anziehn, damit die Franzosen ihr Abenteuer nicht zu billig hätten. Das ist dasselbe von Industriekreisen ausgehaltene Blatt, das sonst über die dieselben Arbeiter, wenn sie halbwegs existenzsichernde Löhne für ihre schwere und gefahrvolle Arbeit fordert[fordern] oder sich gegen die Unternehmerversuche wehrt[wehren], sie zur Verlängerung der Arbeitszeit zu zwingen, in der rohesten Form herzieht. Als ob es den Proletariern nicht völlig egal sein kann, was für Kapitalisten ihnen die Haut vom Leibe ziehn. Daß die Sozialdemokraten in dem nationalistischen Rummel am lautesten mitbrüllen, wundert in aller Welt niemand mehr. Cuno hat sich jedenfalls als kluger Politiker erwiesen, soweit seine Leistung innerpolitisch zu werten ist. Er brachte es fertig, die Sozi mit einem Fußtritt aus der Regierung hinauszuexpedieren was sie mit schrecklichen Drohungen der Opposition quittierten. 6 Wochen nach ihrem Hinauswurf hat Cuno sie schon so weit, daß die „Opposition“ nicht bloß völlig verstummt ist, sondern sie bereits wie zur Zeit des 4. August in patriotischem Begeisterungstaumel wie ein Mann hinter dem Kabinett Cuno stehn. – Alldeutschland steht da: unbeugsam entschlossen, und die Einigkeit aller Volkskreise! ist das Schlagwort links und rechts. Aber, daß schon jemand die Forderung erhoben hätte: laßt wenigstens erst mal die politischen Gefangenen frei, die schon vor 4 Jahren gegen die Erfüllungspolitik geeifert haben und wegen des Hochverrats gegen eine Verfassung sitzen, die es damals noch garnicht gab! – das hat man bis jetzt nicht erfahren. Dagegen proklamiert Hitler in München: nicht gegen den äußeren, sondern gegen den inneren Feind! Ehe wir gegen Frankreich gehn, müssen wir mit den Lumpen zuhause, mit den Novemberverbrechern aufräumen! – Das ist wenigstens ehrlich ausgesprochen, was sie ja alle denken – die bayerischen Auerochsen mit inbegriffen.

 

Niederschönenfeld, Dienstag, d. 16. Januar 1923.

August Hagemeister ist tot. Ich fühle mich noch nicht imstande, Tatsachen und Gefühle hinzuschreiben. Mein ganzes Ich ist ausgefüllt mit Schmerz und Haß. – Bis morgen schiebe ich alles auf.

 

½ 4 Uhr. Es wird doch richtig sein, die Ereignisse gleich in kurzer Aufeinanderfolge niederzuschreiben, solange sie ganz frisch sind. Hoffentlich läßt meine Sammlung in der Stunde bis zum Dunkelwerden nicht aus. Kurz nach 8 Uhr kam Fetsch zu mir in die Zelle – es war noch dunkel und ich lag im Bett – und forderte mich auf, mich sofort flüchtig anzuziehn, der Herr Oberregierungsrat wolle mich sprechen. Ich dachte daher noch nichts Arges. Erst als Fetsch gleich nocheinmal hereinkam und sagte, auch Luttner solle mitkommen, wußte ich sofort Bescheid, hoffte aber noch, es handle sich um Aufnahme letztwilliger Verfügungen, wobei wir als Zeugen genannt wären. Unten erwarteten uns im Rapportzimmer Oberregierungsrat Hoffmann, Regierungsrat Englert und Dr. Steindl. Schon ihre Haltung verriet mir alles. Hoffmann sagte etwa folgendes (ich glaube, es ist wörtlich): „Meine Herren, ich habe Sie als die nächsten Freunde des Festungsgefangenen Herrn Hagemeister rufen lassen, um Ihnen mitzuteilen, daß die Krankheit heute in der Frühe ganz überraschend in einen sanften Tod übergegangen ist. Wenn Sie den Wunsch haben, Ihren Freund, so wie er gestorben ist, noch einmal zu sehn, dann bitte ich Sie mitzukommen.“ Wir wurden dann hingeführt in eine Zelle, die der gegenüberliegt, in der ich August gestern vor 8 Tagen zum letzten Mal sprach. Er saß im Korbstuhl, völlig zusammengesunken, vom Kopf war nur die Glatze, davor die vorderen Haare und der große Bart zu sehen, vom Gesicht selbst nur ein ganz schmaler Streifen. Die rechte Hand hing von dem auf die Stuhllehne gelegten Arm ausgestreckt hinab. Ferdl und ich sprachen kein Wort und ich glaube, ich habe lautlos geweint. Oben unterrichteten wir die Genossen und nun brach lauter Zorn los, das Gefühl, das auch in mir rasch die Oberhand über den Schmerz gewann. Ich schloß mich gleich in meine Schlafzelle ein und weinte heftig, dann wusch ich mich und machte mich fertig. Die Aufregung im Hause war und ist noch sehr groß. Gegen den Arzt herrscht kochende Wut, zumal bekannt wurde, daß gestern bei seinem Besuch wieder die größte Aufregung beim August entstand, der die Behandlung weiterhin ablehnte. Der Arzt hat das selbst vorhin Daudistel, der ihn konsultierte, bestätigt. Er hat ihn also nicht mehr behandelt, aber trotzdem nicht seine Hinaufschaffung zu uns veranlaßt. August ist, wie Fetsch Ringelmann erzählte, um 2 Uhr von dem wachehaltenden Aufseher, da er eingeschlafen war, verlassen worden, und um ¾ 7 Uhr fand man ihn tot im Stuhl. Er hat also offenbar unter großen Schmerzen das Bett verlassen und im Sitzen Linderung gesucht. Da seine Freunde, die ihn hier oben bei den Anfällen stützten, damit er Luft bekomme – und er wird uns gewiß gerufen haben – nicht da waren und sich niemand um ihn kümmerte, blieb dann wohl das Herz stehn. Er ist ohne Beistand, allein in der schändlichsten kahlen Gefängniszelle gestorben; man hat ihn einfach seinem Schicksal überlassen. – Von ½ 11 – 11 war ich im Hof. Als ich hinaufkam, wurde mir mitgeteilt, mir, Luttner, Sauber und Toller (den beiden andern Landtagsabgeordneten) werde gestattet, der Aufbahrung in der Leichenhalle beizuwohnen. Das war wohl das erste Entgegenkommen auf unser schriftlich eingereichtes Verlangen, die Leiche bei der Überführung nach München zu begleiten und dort dem Leichenbegängnis beizuwohnen. Unser trauriger kleiner Zug bewegte sich hinter der mit einem Leintuch verdeckten Bahre her, die von Aufsehern getragen und von Fetsch begleitet wurde, in ein kleines Gemach im vorderen Gebäude mit Eingang direkt vom gemeinsamen Hof aus. Man hatte in aller Eile das Zimmerchen schwarz ausgeschlagen und die schwarz belegten Bretter, auf denen August liegen sollte, mit Gewächskübeln umstellt. Schrecklich war mir das Hinüberlegen des Toten von der Bahre auf den Schautisch. Diese arme Hilflosigkeit, mit der die Glieder sich den Griffen anbequemten, die die Umlegung bewirkten! Die Leiche wurde wieder überdeckt, doch ließ man das Gesicht frei, das so kurz nach dem Einschlafen garnicht wie das eines Toten aussah. Es wurde auch jetzt kein Wort gesprochen, bis Fetsch laut zu uns hinein das Kommando gab: „So, meine Herren, jetzt müssen wir weitermachen!“ – Wir haben beschlossen, am Tage der Bestattung demonstrativ 24 Stunden hindurch die Nahrungsaufnahme zu verweigern, ferner werden fast alle fortab den Arzt völlig boykottieren. Justizministerium und Landtag sollen ausführlichen Bericht über die Umstände erhalten, die der Katastrophe vorangingen und zu ihr führten. Dazu ist wichtig, daß Schiff, der bis gestern in Einzelhaft auf demselben Gang mit August war, so klug war, datierte Aufzeichnungen über die Beobachtungen zu machen, die er treffen konnte. Vom 12ten hat er Rufe von August vermerkt: „Das ist keine Krankenpflege hier! Man bringt mir nichts zu trinken! Seit 3 Tagen ist nicht gelüftet worden, seit 4 Tagen ist der Urin nicht ausgeleert. Wenn ich rufe, kommt niemand! Ich habe Anspruch auf Festungsbehandlung; dies ist Disziplinierung“ u. s. w. Kurz, jeden Tag gab es nun schreckliche Aufregungen, und der Musterarzt hier (gegen den wir Strafanzeige nach § 222 St. G. B., Abs. 2 stellen wollen) hat Daudistel gegenüber heute noch erklärt, er habe zwar keine Herzgeräusche gehört – er hat übrigens sicher eine Fehldiagnose gestellt, indem er erst auf Rheumatismus, dann auf trockene Rippenfellentzündung riet; draußen haben schon früher Ärzte mit Röntgenuntersuchungen eine Verwachsung des Herzbeutels konstatiert –, aber Herr Hagemeister hätte sich nicht aufregen dürfen. Angeblich hat er ihn ja hinunterschaffen lassen, damit wir ihn nicht aufregen; wir alle sind aber überzeugt, daß er nicht hätte zu sterben brauchen, wenn man ihn oben gelassen, uns Nachtwachen erlaubt und ihm die entsetzlichen Aufregungen erspart hätte, die der Arzt bei jedem Besuch und Fetsch bei jeder Gelegenheit ihm verursachten. Daß der Todkranke die ärztliche Behandlung schließlich verweigerte, um nicht unnötig gequält zu werden, spricht ja für sich. Eine von dem Glasarbeiterverband zur Verteilung für uns gesammelte Spende von 20.000 Mark wird zur Stellung eines Kranzes benutzt, und ich habe Zenzl schon entsprechende Anweisungen gegeben. – „Die Fünf“ wollten wieder mal etwas Besonderes, und ich wurde zur Verhandlung mit Schlaffer in Klingelhöfers Zelle eingeladen. Man stellte uns das Ansinnen, anstelle des 1tägigen Demonstrations-Hungerstreiks die Forderung zu stellen, es solle je ein Landtagsabgeordneter der kommunistischen und der sozialdemokratischen Partei herkommen, denen Bericht erstattet werden sollte. Solange diese beiden Parlamentarier nicht zugelassen werden, solle gehungert werden. Auch wollte man gleich weitere Forderungen, wie die unsrer Freilassung mit der Sache verquicken. Ich habe Schlaffer sehr schroff geantwortet, daß ich es mir überlege, ehe ich meine Frau zur Witwe mache – denn mein Herz droht mir nach ein paar Tagen Hunger schon Augusts Los an –, und daß wir hier wohl die Möglichkeit zur Demonstration, nicht aber zur Pression haben. Am wenigsten wäre ich für eine solche Aktion zu haben, damit 2 Parlamentsleute hier mit Rechten hereinkämen, die unsern Frauen verwehrt würden. Natürlich wollte ich nur „aus Bequemlichkeit“ mich drücken, und als ich darauf verwies, daß mein bisheriges Leben wohl kaum Anlaß biete, mir Bremserei aus Bequemlichkeit vorzuwerfen, hieß es, mancher ändere sich halt. Schließlich griffen meine Freunde ein und verboten die Verschiebung des Gesprächs auf Persönliches. Mich ekelte, daß diese Menschen einen so erschütternden Anlaß benutzten, um wieder mal ihre revolutionäre Unerreichtheit ins Licht zu stellen. – Als ob nicht die Behörden, denen der Fall Hagemeister unermeßlich fatal sein muß, gradezu glücklich sein müßten, wenn die Erregung, die sich draußen bestimmt scharf äußern wird – denn der August ist in München sehr populär und für die Aufdeckung dessen, was man ihm angetan hat, wird gesorgt – auf ein Nebengleis geschoben würde. Ich habe dem Vorstand auch das Ersuchen gestellt, Frau Hagemeister namens der Genossen bei ihrem Hiersein begrüßen zu dürfen. Es wäre ja eine nicht auszudenkende Tortur, wenn sie hier die ganze Zeit nur unter den Peinigern ihres Mannes sein müßte. – Den Beamten hier werden einige Bitternisse wohl kaum erspart bleiben. Vor allem nicht dem Herrn Fetsch und dem Dr. Steindl. Am Samstag hatte August vom Arzt die Erlaubnis bekommen, illustrierte Blätter zu sehn. Herr Fetsch aber verweigerte deren Überbringung, und nun berichtet Schiff, er habe seine Zeitungen von der Einzelhaft aus Hagemeister täglich senden können. Er hat also nicht als Kranker sondern als Gemaßregelter seine gewohnte Lektüre entbehren müssen. Ziemlich kurz nach der ersten Mitteilung ließ ich den Vorstand noch einmal antelefonieren, er möge den Toten auf unsre Kosten photographieren lassen, was zugesagt wurde. Ekelhaft war dabei die Schmalzigkeit des Fetsch, der mir versicherte, das sei ein sehr guter Gedanke. „Er sitzt ja auch so sanft da!“ meinte er und wiederholte tartuffehaft: „So sanft!“ – Jetzt sind sie die rührsame Güte selbst, diese Henker, die meinen armen Freund bis zum letzten Tage schikaniert und gequält haben, wie es ihnen nur möglich war. Und leider war es ihnen in einem grauenvollen Maße möglich. – So ist August Hagemeister denn der Erste von uns, der den bayerischen Foltermethoden gegen politische Gefangene erlegen ist. Der Strafzweck an ihm ist erreicht! Fluch uns Überlebenden, wenn wir’s je vergäßen!

 

Niederschönenfeld, Mittwoch, d. 17. Januar 1923.

Allmählich legt sich die große Aufregung ein wenig, bei allen – und so auch bei mir. Die Aufmerksamkeit auf das, was jetzt unsre Pflicht ist, lenkt von der seelischen Bewegung ab. Ich begnüge mich wieder, die wesentlichsten Tatsachen zu registrieren, damit einmal alles beisammen ist. Hier erst die Abschrift des Schreibens, das Ferdl und ich gestern gleich hinuntersandten: „Eilt! An den Herrn Festungsvorstand. Wir ersuchen um Befragung der Justizbehörde auf dem schnellsten Wege (auf unsre Kosten), ob wir beide Unterzeichneten als Vertreter der Freunde des verstorbenen Abgeordneten Hagemeister in der Festung Niederschönenfeld zugelassen werden können zur Überführung und Bestattung. Wir erklären uns bereit, uns den für den Zweck für nötig erachteten Bewachungsmaßnahmen zu unterwerfen. Erich Mühsam. F. Luttner.“ Später wurde ich hinuntergerufen: ich solle mich genauer ausdrücken, was mit „Überführung und Bestattung“ alles gemeint sei und ich machte die Anmerkung auf das Schreiben: „Gemeint ist die Begleitung der Leiche vom Sterbehaus aus zur letzten Ruhestätte und im Falle des Leichenbegängnisses in München auch Teilnahme auf dem Friedhof dort.“ – Der Bescheid darauf wurde uns heute schon vorgelesen: „Dem Antrag der Festungsgefangenen Mühsam und Luttner um Urlaub zur Teilnahme am Leichenbegängnis des Abgeordneten Hagemeister kann eine Folge nicht gegeben werden. Gürtner, Justizminister.“ – Klingelhöfer hatte beim Vorstand angeregt, er solle uns die Leichenwacht beim August halten lassen, in der wir uns, je 2 oder 3 Mann, in dreistündigem Wechsel ablösen würden. „– kann mit Rücksicht auf die Aufbahrung der Leiche im vorderen Klostergebäude nicht nähergetreten werden –“ Dabei ist der Eingang zu der zur Leichenhalle hergerichteten Waschküche (es ist ein öder, gekalkter, isolierter Raum) von der Rückseite des Vorderhauses aus, sodaß man von unserm Käfig aus kein andres Gebäude zu durchlaufen hätte. – Sehr merkwürdig ist, daß ich auf mein Ersuchen, mit Frau Hagemeister sprechen zu können, keine Antwort erhalten habe, aber bisher auch nicht zur Begrüßung gerufen wurde. Vielleicht ist die arme Fanny in einem Zustand, der ihr das Herkommen überhaupt verwehrt und sie hat Vertreter (etwa Hans Köberl oder Augusts Onkel oder Parteifreunde von ihm) geschickt, um die Überführung u. s. w. zu veranlassen. – Ich habe eben eine Eingabe verfaßt, die gleichlautend an den Eingabe-Ausschuß des Landtags und ans Justizministerium gehn soll. Darin habe ich den Vorwurf der schuldhaften Vernachlässigung des Kranken mit Todesfolge gegen die Verwaltung und den Arzt erhoben und zwar unter Aufstellung von 12 Punkten, die unsre Behauptung begründen sollen. Dann folgen unter B unsre Forderungen, (sofortige Entsendung einer Untersuchungskommission, die uns als Zeugen hören soll, Einleitung von Disziplinarverfahren gegen Hoffmann, Fetsch und Steindl, Amtssuspendierung Steindls bis zur Erledigung des Disziplinar- und Strafverfahrens, Einrichtung einer Krankenabteilung wie in Zuchthäusern und Gefängnissen, Nachprüfung unsrer früheren Eingaben und Herstellung gesetzlicher Zustände. Dann unter C unsre Erklärungen: Nahrungsverweigerung am Bestattungstag und Versicherung, daß wir die Sache nicht ruhen lassen würden, bis nicht alles geklärt und gesühnt und Garantieen für die Zukunft gegen eine Wiederholung solcher Entsetzlichkeit geschaffen seien. – Ich glaube, das ist im Augenblick alles Sachliche. Was meine Empfindungen angeht, davon mag später mal die Rede sein und auch darüber, was ich ganz persönlich mit diesem Freund verloren habe. Es ist viel, sehr, sehr viel. – Vielleicht bringe ich morgen schon wieder Kraft und Interesse auf, die politischen Ereignisse, die unaufhaltsam einer elementaren Eruption entgegen zu drängen scheinen und die ganz besonders in Bayern wieder eine unmittelbare Gefahr durch Ereignisse heranschwemmen, wie wir sie schon im November erwarteten – diese Dinge alle schriftlich zu ordnen. – Heut begnüge ich mich mit den Daten, die zur Hauschronik gehören. Das ist die Entlassung Bedachts auf Bewährung heute früh, der zwar bei der Würzburger Erhebung 1919 eine gute Rolle spielte, hier aber so völlig der Obrigkeit genehme Wandlungen durchmachte, daß man ihm die degradierenden Bedingungen für seine Bewährungs-Begnadigung stellen konnte, die er annahm (vielleicht angeboten hatte) und die mir die weitere Beschäftigung mit dem sonst ziemlich gleichgültigen Manne überflüssig machen. – Es ist aber schon wieder Ersatz geschaffen: ein durch irgendeine Kriminalhandlung „rückfällig“ gewordener Sünder, ein gewisser Sebastian Wagner, der seinerzeit von St. Georgen bedingt entlassen wurde und jetzt 8 Monate Gefängnis hinter sich hat, traf heute zur Erledigung der 6 Monate Rest hier ein. Wir sind jetzt 28 Mann im Hause – und ein Toter!

 

Niederschönenfeld, Donnerstag, d 18 Januar 1923.

Vorläufig ist garnichts andres für mich möglich, als mich mit Augusts Schicksal zu befassen. Ich fahre einfach in der Notierung der Ereignisse fort. Wir beschlossen, den Fasttag gleich heute – und zwar von 11 Uhr mittags bis morgen 12 Uhr mittag – anzusetzen, und so sind wir denn schon ohne Mittagessen geblieben. Die Eingabe an den Landtagsausschuß fand erstaunlicherweise die Unterschrift sämtlicher Festungsgefangenen – ohne jede Ausnahme. Selbst der neuangekommene Genosse Wagner gab eine Extraerklärung ab, in der festgestellt wird, daß er unsre Behauptungen, da er die Tatsachen nicht kennen kann, nicht mitverantworte, sich aber unsern Forderungen und Erklärungen anschließe. Eine solche Einstimmigkeit hat es, seit ich auf Festung bin, noch nie gegeben, und die demonstrative Wirkung wird kaum ausbleiben. Von 11 bis ½ 12 Uhr gingen wir alle in Feiertagskleidung, die den ganzen Tag getragen wird, in den Hof und dort in geschlossenem Zuge bis zum Torschluß herum. Gegen ½ 2 Uhr fanden wir alle uns im großen Speisesaal zu einer Feier zusammen. Es wurde die 1. Strophe der Internationale gesungen (trotz Verbot), dann hielt ich eine kurze Gedächtnisrede, die bei allen – auch den fünf – sichtlichen Beifall fand. Die hatten zuerst – durch Olschewskis Einrede gegen das ursprüngliche Programm, wonach zuerst Eisners „Wir werben zum Sterben“ gesungen werden sollte – ein wenig Mißstimmung verursacht. Meine Rede kittete das wieder. Ich vermied dabei nicht den Hinweis auf die Spannungen im Hause, die ich auch nicht pastoral zu versöhnen versuchte, sondern ich sprach von den Trennungen, die wir „zurückstellen“ sollten hinter das, was uns heute verbindet, nämlich das Andenken Hagemeisters. Den Inhalt der Rede gründete ich auf die Formel: Hagemeister war der versöhnlichste Mensch in allem Persönlichen, der unversöhnlichste in allem Unpersönlichen. Die Vorgänge, die der Katastrophe vorangingen, streifte ich mit dem Hinweis auf die Daten 15. Januar 1919 und 16. Januar 1923, an denen der erste und bislang letzte Leichenstein am Passionsweg der deutschen Revolution gesetzt sei. Ich weiß nicht, ob jemand, die ganz improvisierte Rede stenographiert hat. Jedenfalls war der Eindruck offenbar gut. Darauf folgte die letzte Strophe der Internationale. Es ging dann ein gemeinsames kurzes Begrüßungsschreiben an Fanny Hagemeister ab. – Ganz kurz nach der Feier wurde ich gerufen und von Herrn Fetsch ins Vorderhaus hinübergeführt, wo ein Herr mich zu sprechen wünsche. Im Zimmer des Regierungsrats Englert erwartete mich – Vater Thierauf. Meine Freude, ihn zu sehn, war groß. Er ist von den Münchner Kommunisten und vom Leichenverbrennungsverein geschickt wurden, um die Überführung zu leiten. Das Gespräch war ziemlich kurz, doch konnte ich dem guten Genossen beibringen, daß wir heut fasten und daß die Eingabe an den Landtag an Adolf Schmidt mitgeteilt werden müsse. So wird die Öffentlichkeit also jedenfalls von dem furchtbaren Skandal erfahren, der dies Opfer gefordert hat. In den Zeitungen wird die Nachricht von Augusts Tod je nach Richtung glossiert. Die „Neue Zeitung“ hatte noch keine Auskünfte und teilt nur auf der ersten Seite groß die Tatsache selbst mit. Die Auersche „Münchn. Post“ bringt auch nur die Tatsache mit der Bemerkung, daß der Gewerkschaftsverband die Kosten für die Überführung nicht gleich bewilligen konnte, – sonst keine Silbe (wir wissen, warum). Natürlich geht die bürgerliche Presse gleich wieder gemein vor. Im „Fränkischen Kurier“ wird berichtet, das Würzburger Standgericht habe „den Verdacht festgestellt“, Hagemeister habe am 21. Januar 19 im Landtag, wenn auch unabsichtlich, den Abg. Osel erschossen. Der „Bayerische Kurier“ aber beschäftigt sich ausgiebiger mit ihm und erklärt, daß es „unzweifelhaft“ sei, daß Osel von Hagemeister erschossen wurde. Die Absicht ist auch hier durchsichtig: man ahnt, daß Anklagen kommen werden (wenn man auch gewiß noch nicht ahnt, wie schwer sie sind), und spielt Praevenire. Werden Vorwürfe laut, schreit man: Mörder! gegen August Hagemeister. Solange er lebte, wagte man es nicht, weil er sich’s nicht gefallengelassen hätte. Jetzt kann nichts mehr berichtigt werden. – Aber es wird noch richtig gestellt werden, daß die Behauptung eine der niederträchtigsten Gemeinheiten ist, die politische Rachsucht je ausgeheckt hat. August hat garkeine Waffe gehabt, geschweige jemanden erschossen.* Er hat nach Lindners Schüssen von der Tribüne des Landtags hinuntergerufen: „Das ist das Werk der Reaktion“. Daraus haben gehässige Auerochsen damals schon gemacht: „Das ist die Rache des Proletariats!“ und daraus geschlossen (der „Vorwärts“ tat sich am meisten in Verdächtigungen hervor), August und darüber hinaus wir alle vom RAR hätten Lindner zum Mord angestiftet, und das wurde dann jetzt glücklich dahin umgebogen, August habe Osel – vorläufig unfreiwillig, sobald die Schurkereien gegen ihn bekannt sein werden, wird er den Mord vorbereitet gehabt haben – erschossen. Dabei war auch die Tat Lindners eine reine Affekttat, und das Urteil gegen ihn ist schreiender Rechtsbruch. – Nach unsrer Feier mußte ich auf dem Gang noch eine Rührszene über mich ergehn lassen, die Olschewski veranstaltete, indem er mir seine freundschaftlichen Empfindungen für Hagemeister gestand und mir die Hand hinstreckte. Natürlich konnte ich in diesem Augenblick die Hand nicht verweigern, aber die Sache war mir sehr peinlich, und ich habe auch nicht die Absicht, die Beziehungen wieder irgendwie enger werden zu lassen. – Ich wurde eben von Sandtner abgerufen. Der Sarg wurde vorübergefahren. Er stand auf einem zweispännigen Lastwagen ohne Wände, und war mit Segelleinen bedeckt. Hinten am Wagen hing Augusts Koffer, den der Ferdl heut gepackt hat. Ein kläglicher Anblick. So ist denn jetzt der gute August unterwegs auf der Reise nach München, die er so sehr ersehnte, – unter solchen Umständen! Ich muß sehr bleich geworden sein, als ich dem traurigen Gefährt nachblickte. Denn mehrere Genossen kamen auf mich zu und wollten mich stützen. Aber ich halte mich schon noch aufrecht, wenn mir auch das Herz zum Zerbrechen schwer ist. – „Nicht sterben!“ bittet Zenzl in ihrem letzten Brief, den sie mir nach Empfang der Todesnachricht schrieb. Nein, ich möchte gern noch leben, möchte gern kämpfen für unsre, für Augusts Sache. Aber mein Leben unter bayerischen „Festungs“-Verhältnissen ist nicht für lange Dauer verbürgt. Ob es dem Warten noch lange standhält?

 

* Er betrat die Tribüne überhaupt erst, als Lindners Schüsse schon gefallen und Osel schon tot war. Ferdl Luttner war in Augusts Begleitung und will seinen Eid anbieten.

 

Niederschönenfeld, Sonnabend, d. 20. Januar 1923.

Wir haben die bayerischen kommunistischen Zeitungen der letzten Tage nicht erhalten. Sie werden offenbar zurückgehalten, bis das Leichenbegängnis vorbei ist; wir sollen nicht wissen, wann es stattfindet. Für Montag aber erwarte ich Siegfrieds Besuch, da werde ich gewiß alles erfahren, besonders auch, ob man schon weiß, unter welchen Umständen August sterben mußte. Auch hoffe ich dabei selbst einiges anbringen zu können, was der Klärung dienlich ist. Die Wirkung im Hause macht sich immer noch jede Stunde fühlbar. Zuerst versuchte die Verwaltung, uns zu ködern, indem sie allerlei überraschend Freundliches tat, dazu gehört die Zusage, die Leiche photographieren zu lassen (das Bild haben wir bis jetzt freilich noch nicht), dann die Erhöhung des Taschengelds, das erst vor 14 Tagen auf 200 Mark festgesetzt wurde, auf 600 Mark, bei gleichem Arbeitslohn, also auch da Einlenken. (Allerdings ist bei dem rasenden Sinken des Kurses – der Dollar steht ungefähr bei 25000 – diese Erhöhung wohl nur für ganz kurze Zeit eine spürbare Erleichterung). Im Verhalten der Märtyrer ist seit dem Ereignis das Bestreben zu großer Höflichkeit augenfällig. Doch ist nicht sicher, ob das Entgegenkommen lange vorhalten wird. Nachdem jetzt den Herren bekannt ist, was für rigorose Schritte wir unternommen haben, scheinen sie schon wieder zur Gegenoffensive entschlossen zu sein. Dafür ist folgender Vorgang bezeichnend. Schwab schrieb gestern dem Vorstand, er brauche ärztliche Behandlung, da er Herzklopfen und Übelsein spüre, ein Zeichen, daß sein Herz- und Lungenleiden, mit dem er sehr häufig zu tun hat, wieder akut zu werden droht. Er lehne es aber ab, sich von Dr. Steindl behandeln zu lassen nach den Vorfällen der letzten Tage. Noch gestern abend erschien Bastian bei ihm und maß Temperatur und Puls. Heute früh wurde Schwab zum Vorstand gerufen, der ihm – übrigens in konzilianter Form – erklärte: Als Festungsgefangener habe er sich in Erkrankungsfällen nur an den Arzt zu wenden, der von der Behörde als Anstaltsarzt verpflichtet sei. Dr. Steindl sei beschuldigt worden, am F. G. Hagemeister ein Vergehen der fahrlässigen Tötung begangen zu haben. Aber ein Beschuldigter könne doch nicht wie ein Verurteilter betrachtet werden, und solange kein Urteil gegen ihn vorliege, käme eine Verweigerung seiner Hilfe keinem Gefangenen zu. Sollte sich Schwab gleichwohl weigern, den Beistand des Bezirksarztes anzunehmen, dann besage das für die Verwaltung soviel, als ob garkeine Krankmeldung vorliege (Dabei hatte Hoffmann den zweiseitigen Bericht des Sanitäters vor sich liegen, aus dem er augenscheinlich sah, daß keine demonstrative Aktion, sondern ein Befund ernster Art vorliege). Schließlich fragte er, ob Schwab über Geldmittel verfüge und setzte hinzu – nachdem die Frage verneint war –, in dem Falle würde die Verwaltung sofort einen Spezialisten kommen lassen; andernfalls müsse sich der Gefangene an den Arzt halten, der ihm von der Justizbehörde gestellt werde. – Der Fall ist prinzipiell natürlich ungeheuer wichtig für uns. Wir stehn vor der Situation, daß zur Zeit uns allen ein Arzt als einzige Hilfe im Krankheitsfall zur Verfügung steht, den wir selbstverständlich ablehnen. Es kann doch billig keinem Kranken die Konsultation eines Arztes zugemutet werden, der weiß, daß der Patient ihm eben schwerste Pflichtverletzung, durch die der Tod eines nahen Menschen verursacht wurde, zum Vorwurf macht und seine Bestrafung dafür verlangt. Im Falle Schwab handelt sich’s aber obendrein um ein ganz ähnliches Leiden wie Hagemeisters. Der Kranke muß sich doch sagen: unter solchem Beistand wird’s mir nicht besser gehn als dem Genossen, ich sterbe aber lieber in meiner Zelle unter den Augen meiner Freunde als unten wie ein verendendes Vieh. (Der Vergleich stimmt allerdings nicht ganz. Vor einigen Wochen wurde ein schweres Zugpferd von der Lastbespannung der Verwaltung krank. Der Häuter hat, wie beobachtet wurde, Tag und Nacht Wache bei sich gehabt und wurde schließlich, als keine Rettung mehr möglich war, getötet). Ich habe nun vorgeschlagen, die beiden Landtagsabgeordneten Sauber und Toller sollen dem Parlamentspräsidenten noch eine Separatmitteilung machen und ihn zur schleunigen Erledigung unsrer Eingabe (die Quittung, daß sie abgegangen ist, habe ich gestern erhalten) drängen, damit wir nicht durch die Zumutung, etwas seelisch unmögliches zu tun, in Gefahr geraten, bei jeder Krankheitsattacke Augusts Los erleiden zu müssen. Sehr bezeichnend ist, daß der Arzt heute Schwab, statt wie sonst ihn einfach rufen zu lassen, bloß die Mitteilung in die Zelle sandte, er sei oben und zu seiner Verfügung. Man sieht: es soll die Verantwortung von der Verwaltung auf die Festungsgefangenen selbst abgewälzt werden. Natürlich hat Schwab, und wie ich höre, auch Amereller, zu dem ebenfalls geschickt wurde, erklärt, er habe kein Interesse für die Anwesenheit Herrn Dr. Steindls. – Soweit die Weiterentwicklung der Beziehungen zwischen uns und den Herren vorn. Unter den Festungsgefangenen selbst hat der schreckliche Vorfall eine eigenartige Veränderung insofern hervorgerufen, als die „Wuchtigen“ (sie haben den Namen von unserm Toten) sich mit ungeheurem Eifer bemüht zeigen, die Beziehungen zu uns aufzunehmen. Gestern früh erschien Schlaffer bei mir, um mit mir weitere Schritte zu besprechen, die evtl. gegen den Arzt und gegen Fetsch unternommen werden könnten. Ich erklärte ihm meine Ansicht folgendermaßen: ich fände, daß es der „Aktionen“ nun genug sei, da alles getan sei, was unter den obwaltenden Verhältnissen nötig war. Grundsätzlich sei ich der Meinung, daß wichtige Anlässe besondere Aktionen rechtfertigen, daß aber alle Aktionen zu unterbleiben haben, zu denen die Anlässe erst gesucht und die Begründungen konstruiert werden müssen. Ich lehnte alle weiteren Maßnahmen – ausgenommen den selbstverständlichen Boykott des Arztes – ab, bis wir wissen, was auf unsre Eingaben hin geschehn werde. – Abends erschien plötzlich, als ich wie stets mit Ernst Ringelmann bei ihm Tee trank, Schiff, um mir eine Broschüre Losowskis über die französische Gewerkschaftsbewegung leihweise zur Verfügung zu stellen, worin er auch sehr interessante Angaben über Anarchismus etc. mache. Ich schob ihm das Buch höflich zurück, mit der Bemerkung, ich sei zur Zeit mit Lektüre überhäuft und würde mir Losowskis Schrift später vielleicht mal ausbitten. Ich denke, Schiff hat verstanden, daß ich den Köder zurückgewiesen habe. Wir sind aber alle darin in Übereinstimmung, daß die 5 isoliert bleiben sollen, nicht bloß wegen der einzelnen unsolidarischen Akte, die sie auf dem Gewissen haben, sondern vor allem, weil mit ihnen kein Verkehr geselliger Art für uns möglich ist. Sie reden dauernd in Broschürensätzen. Ihre angelesene Halbbildung ist für jemanden, der sich sein eignes Urteil erhalten hat und, sei er Marxist oder nicht, überall den eignen Verstand fragt, ehe er ein Axiom aufnimmt, unerträglich. Wir fühlen uns als Menschen und brauchen den Umfang mit Menschen. Sie aber sind nur Marionetten papierner Herrgötter. – Ich will, ehe ich zu den grade im Augenblick eminent dramatischen Vorgängen draußen übergehe, doch noch die häuslichen Angelegenheiten niederlegen. Was in Rheinland-Westfalen die Franzosen, was in Bayern – vielleicht – in diesen Tagen die Nationalsozialisten, was im Memelland die Lithauer und was in der weiten Welt die Proletarier tun oder unterlassen, das kann später mal aus den Zeitungen wieder rekonstruiert werden. Was dies Haus bewegt – Wichtiges und Unwichtiges: wie will ich das in den Stunden des Werdens und Geschehns auseinandersortieren? –, dafür wird mir selbst einst dies Buch die Quelle sein, auf die ich allein angewiesen bin. – Heut wurde Luttner von der Verwaltung ersucht, Liebls Sachen zusammenzupacken. Ferdl hat das abgelehnt und die Verwaltung an Liebls Freunde verwiesen. (Soviel ich weiß, ist Schlaffer jetzt mit der Arbeit beschäftigt). Ein Brief Liebls an Schlaffer soll gestern zu den Akten genommen sein. Wie wir hören, ist er noch in einem Krankenhaus. Das Fortschaffen seiner Effekten bedeutet natürlich, daß Liebl hierher nicht zurückkommen wird. Vermutlich hat Augusts Tod die Justizbehörde veranlaßt, ihm sofort die Entlassung zuzustellen, sodaß der Patient nun auf eigne Gefahr krank sein darf. Eine ausführliche Charakteristik dieses sehr wenig erfreulichen Haftgefährten kann ich mir ersparen. Als Kameraden haben ihn hier wohl nur noch sehr vereinzelte Genossen eingeschätzt. – Endlich ist noch von Schiffs letzter Disziplinierung mancherlei nachzutragen. Sch. hatte einen Brief geschrieben, in dem er sich beklagte, daß keine Rücksicht von der Verwaltung auf die Kriegsfolgen genommen wird, die bei vielen Festungsgefangenen noch zurückwirken. Er selbst hat an den bekannten Nervenanfällen Verschütteter zu leiden. Er soll resumiert haben: „Das ist der Dank des Vaterlands.“ Darauf habe Hoffmann ihn kommen lassen und soll ihn gradezu unglaublich zusammengeputzt haben, er sei ein „Bürschchen“, dem es zu allerletzt zukomme, sein Vaterland zu beschimpfen, da er ja garkein Vaterland habe. Es sollen dann krasse antisemitische Aeußerungen gefallen sein (was ich vorerst bezweifle; ich halte den Vorstand unten für zu gewitzigt, als daß er sich Blößen geben sollte). Schließlich wurde Schreibverbot verhängt, das zuerst – in der Einzelhaft – voll durchgeführt wurde, seitdem und noch immer auf die Beschränkung auf einen Familienbrief in der Woche reduziert wurde. Der letzte Brief, der ziemlich lang und eng geschrieben war, hatte die Mitteilung zur Folge, Schiffs Briefe, die länger als zwei Seiten seien, würden von der Zensur künftig nicht mehr befördert. – Damit wäre ich wohl mit Niederschönenfeld wieder mal ungefähr in der Reihe. Doch wird jedenfalls noch manches, was mit dem Tode unsres August zusammenhängt, nachzutragen sein, wenn sich ein voller Überblick über die ganze Tragödie werfen läßt. Jetzt wird der Freund vielleicht schon ein armes Häufchen Asche sein. Es ist grade 3 Uhr, und ich denke mir, daß man die Feier heute und zu einer Zeit angesetzt hat, zu der die Arbeiter ohne Versäumnisse in den Betrieben in Massen auf dem Ostfriedhof antreten können. Über all dies werde ich ja von Siegfried Auskunft erhalten. Jetzt bin ich mit all den schmerzlichen Bildern dieser Woche noch garnicht in mir fertig. Am Sterbemorgen erst der Anblick des eben Gestorbenen in der Haltung, in der er den letzten Atemzug tat, hilflos im Stuhl zusammengefallen, den gottseidank seine Genossen für ihn hinuntergeschickt hatten; die Verwaltung hatte nicht einmal dafür gesorgt, – dann unser kläglicher Leichenzug hinüber zur Aufbahrung, August, weiß überdeckt auf der von den Quälgeistern seiner letzten 3 Jahre getragenen Bahre, dann wir 4 mit den Mützen in der Hand, und schließlich Herr Fetsch, der die letzte Lebenswoche des Mannes benutzte, um dem Sterbenden, dem Atheisten, den Glauben an die Hölle durch Anschauungsunterricht beizubringen. Darauf das Hinlegen aufs Schaugestell, wie ich zum letzten Mal die ganze Gestalt des Freundes sah, die losen Gelenke wie die einer Gliederpuppe schlenkernd, ehe sie notdürftig gestreckt Ruhe fanden, – und dazu dieser Raum mit den schludrig hingewergelten Gazefetzen, die die schmutzigweiße Kalkwand durch die schwarzen Maschen scheinen ließen, den salopp hingruppierten Oleanderkübeln, – alles so gezwungen, so gemacht, so zugerichtet für ein paar Stunden, um den Schein zu wahren und damit doch niemand was aussetzen kann. Hinter uns aber die Aufseher, mit gefalteten Händen, zur Erde gerichteten Augen, – betend und sentimental, weil nun Einer von denen wirklich tot vor ihnen lag, denen das Leben zu verleiden all ihr Trachten, seit Jahr und Tag all ihr Berufstun ist. Nichts widerlicheres in der Welt als die larmoyante Wehleidigkeit, in die umzuschlagen die brutale Herzenskälte jederzeit fähig und bereit ist, wenn es sich grade so „schickt“. Und der trostloseste Eindruck war doch vorgestern die jammervolle Fuhre mit dem Koffer hinten drangehängt und den beiden Kisten unter dem Segeltuch, in der einen Bücher und Gerümpel, in der andern ihr toter Besitzer, voran die beiden dunkeln Gäule in faulem Trott, am Kutschbock ein uninteressierter Fuhrmann und nicht ein Mensch im Gefolge oder ein Zweiglein, das angedeutet hätte, was hier zur Bahn gefahren wurde.* Ich dachte an Segantinis Arme-Leute-Begräbnis, an das kümmerliche Ochsengespann, das da zwischen den riesigen Bergen auf hölzernem Stellwagen einen Sarg führt. Aber das Gemälde zeigt die paar trauernden Menschen, die hinter dem Toten gehen, zeigt etwas Grün, das dem Toten gespendet wird; es spricht von der Armut, die bescheiden auf Prunk verzichtet, aber doch auch von den Tränen, die den Reichtum des Gestorbenen ausmachen. Unserm August folgten unsre Blicke vom Fenster aus, aber die Menschen, die ihm hätten folgen mögen, fehlten. Sie erwarteten ihn erst am Ende der Fahrt und bis dahin sorgten politische Feinde, herzlose Rachemenschen, die sich aber rühmen Christen zu sein, dafür, daß ein edler guter tapferer Mann auch im Tode noch als Verbrecher behandelt wurde, dieselben, die ihn zwar in den Stunden der Todesnot sich selbst überließen, beim letzten Wiedersehn mit der Gattin aber uniformierte Büttel genug zur Hand hatten, die die letzten Mahnungen und Besorgnisse um die Kinder, die den letzten Kuß zwischen Mann und Frau beobachten, behorchen und vergiften mußten. August Hagemeisters Leben hat einen bitter häßlichen Abschluß gehabt. Uns erwächst die Pflicht, seinen Namen dem Leben der Späteren zu erhalten, damit sie, die seinen Kampf zu Ende und Sieg führen sollen, an dem Namen gutmachen, was an seinem Träger Schändliches verübt worden ist. Gute Ruhe, Freund, ich will dir treu bleiben!

 

* Ich muß trotz der Eindringlichkeit des Anblicks in meinem Schmerz falsch gesehn haben. Die Genossen erklären einmütig, Augusts Kisten seien von einem Mann mit einem Handkarren dem Wagen auf der verschneiten Landstraße nachgefahren worden.

 

Niederschönenfeld, Sonntag, d. 21. Januar 1923.

Endlich soll auch die politische Situation hier wieder in meinem Spiegel aufgefangen werden. Ich hatte zwar in der vergangenen Woche wenig Sammlung, die Zeitungen mit der Aufmerksamkeit zu lesen, die ich ihnen sonst zuwende. Aber die Ereignisse dieser Woche sind denn doch zu bedeutsam und treten zu lärmend auf, als daß sie nicht selbst den Indifferenten aufhorchen ließen. Ganz Deutschland treibt schon wieder im Strom nationalistischer Wallungen. Die Besetzung des Ruhrbeckens geht ununterbrochen weiter, Dortmund, Bochum, Gelsenkirchen – eine Stadt nach der andern wird einbezogen und der „Matin“ kennzeichnet die ganze Aktion Frankreichs und die Gegenmaßnahmen Deutschlands wohl ziemlich zutreffend als „Wirtschaftskrieg“. Die Einzelheiten der Vorgänge hier nachzutragen, wird nicht möglich, auch kaum nötig sein, weil sich vorerst alles in einem einheitlichen, fest umgrenzten Konfliktkreis bewegt. Nach Feststellung der böswilligen Verfehlungen in der Holz- und Kohlenlieferung durch die Repko, die von den Vertretern Frankreichs, Belgiens und Italiens getroffen wurde – England stimmte dagegen – beschlossen die drei Majoritätsstaaten die „Sanktionen“ in Form der Pfändernahme, und „die Ingenieure“ kamen – wenigstens mußten sie den Titel für die Truppen hergeben, die die eigentlichen Ankömmlinge waren. Das deutsche Reich begann mit organisierter Obstruktion. Nachdem schon der Sitz des Kohlensyndikats von Essen nach Hamburg verlegt war, siedelte auch Stinnes seinen ganzen Stab von Mülheim dorthin über. Die Zechenherren – geführt von Thyssen jun – und das Reich – vertreten durch den Sozialdemokraten Grützner – arbeiten in engster Verbindung miteinander. Zuerst erklärten die Industriellen, die Kohlenlieferungen an die Alliierten könnten nur fortgesetzt werden, wenn die auch die Lohnzahlungen an die Arbeiter übernähmen und nur unter der Voraussetzung, daß das Reich die Lieferungen überhaupt gestatte. Darauf erfolgte prompt das formale Verbot des Reichskohlenkommissars, es dürfe keine Kohle mehr an eine der an der Besetzung beteiligten Mächte abgeführt werden. Bis jetzt ist noch nicht klar, was nun werden wird. Die Zechenherren haben dem französischen General rund heraus erklärt, daß sie nur deutschen Befehlen gehorchen und ungeachtet aller Konsequenzen – man droht ihnen kriegsgerichtliche Verfolgung an – nichts liefern würden. Die Note Cunos an die Repko, worin er offiziell alle Leistungen aus dem Versailler Vertrag an Frankreich, Italien und Belgien verweigert und das Verhalten der Thyssen und Genossen hatten selbstverständlich zu Folge, daß daraus neue Verfehlungen konstatiert wurden, für die weiter und immer neue Pfänder genommen werden. Man hält sich an Forsten und beschlagnahmt Rheinkähne, doch sah es bis gestern so aus, als stockten die Lohnzahlungen an die Bergarbeiter. Ich glaube freilich kaum, daß sie am Sonnabend ohne Wochengeld heimgeschickt worden sind. Die Franzosen werden sicherlich Wege finden, die nötigen Papiermilliarden aufzutreiben und sich deren Erstattung durch die deutschen Unternehmer zu sichern. Vorerst haben sie einmal die Kohlensteuer einzutreiben begonnen, die, wie man jetzt erfährt – es handelt sich angeblich um 43 Milliarden Papiermark – von der deutschen Regierung – dem „sozialistischen“ Wirth-Minister Schmidt – den Industriellen gestundet waren. Von den Arbeitern aber treibt dieselbe Regierung alle Steuern rigoros durch direkten Abzug vom Lohn ein, und das Proletariat leistet allein 72 % aller Steuern dieser „sozialen Republik“. – Der ganze Vorgang im Ruhrgebiet läuft also auf den Versuch Frankreichs hinaus, den Kohlenbergbau Deutschlands in die eignen Hände zu bekommen und auf den gleichzeitigen Versuch Deutschlands, das zu verhindern und dabei von den Versailler Verpflichtungen loszukommen. Dieser Streit zwischen den Sieger-Imperialisten und den besiegten Möchtegernwieder-Imperialisten ist natürlich in jeder Hinsicht höchst interessant: Den beteiligten Arbeitern dort müßte es nun natürlich darauf ankommen, aus dem Zwist der Kapitalisten für sich soviel wie möglich herauszuschlagen. In der Tat scheint ein sehr großer Teil der Ruhrarbeiter eine nur sich selbst wohlwollende Neutralität in der Sache bewahren zu wollen. Dagegen arbeitet nun die Ebert-Cuno-Regierung mit einer Kriegsregie, die in garnichts der der „großen Zeit“ nachsteht, und es braucht kaum gesagt zu werden, daß die Sozialdemokraten, die die Industrie wegen ihrer Verschmelzung mit der USP eben mit einen heftigen Rippenstoß aus der Regierung hinausgefeuert hat, jetzt trotz dieser Verschmelzung mit Horridoh und Hussassa allen übrigen Nationalisten voran Burgfrieden schalmeit, patriotische Räder schlägt, hetzt, höhnt, jammert, fleht und lügt, lügt, lügt. Dies unglückliche Volk scheint tatsächlich schon wieder in einem Zustand nationaler Besoffenheit zu sein, der rein geschäftliche Handel zwischen den Volksau[s]powerern westlich und östlich des Rheins ist ihm eine Angelegenheit nationalen Stolzes und deutscher Würde. Mätzchen wie das allgemeine Verbot des Tanzens in diesem Fasching bewirken nach allen Erlebnissen in den Jahren 14 – 18 die beabsichtigte Angst beim gläubigen Bürger – und beim gläubigen Arbeiter. Man erzählt dem Zeitungsleser im Leitartikel, daß die ganze Welt von Sympathie für die gerechte deutsche Sache zittert, und in den nicht fett gesetzten Berichten liest man, daß der Sekretär Bonar Laws im Auswärtigen Amt Englands öffentlich erklärt hat, England und Frankreich lebten nach wie vor in bester Freundschaft, ihre Differenz erstrecke sich nur auf das taktisch für richtig befundene Verhalten Deutschland gegenüber und England wünsche Frankreich bei seiner jetzt praktizierten Taktik guten Erfolg. Übrigens stehe den Deutschen verflucht schlecht an, über Vergewaltigung zu jammern, wobei der Mann an den Einbruch in Belgien, an die Picardie-Verwüstung und Bergwerkersäufungen und auch an die Brutalität erinnerte, die 1871 gegen Frankreich zur Eintreibung der Kriegskontribution beliebt wurde. Ich habe ganz den Eindruck, daß die Deutschen in diesem Augenblick nicht nur in der Umwelt keine Sympathieen ernten, sondern daß im Gegenteil der tätige Nachweis, daß sie als Republikaner genau den gleichen hysterischen Rummel aufführen wie ehedem als Monarchisten – bloß aus einem ungleich unernsteren Anlaß – die allerübelsten Gefühle in aller Welt wecken muß. Denn was man überall, nur hierzulande nicht, sieht, dazu gehört auch die Tatsache, daß die ungeheuerliche Geldentwertung ein glänzendes Geschäft für eben die Industriellen und für eben den Staat ist, mit denen ein Herz und eine Seele zu sein die Sozi zu versichern nicht aufhören und daß die irregeleiteten Proletarier, die auf diesen ruchlosen Schwindel hereinfallen, von denen, denen sie ihre Hurras widmen, grauenhaft betrogen werden. Die Industrie paßt die Preise ihrer Produktion von Tag zu Tag dem Weltpreis an, rechnet also hier nur mit Goldwert, weigert sich aber, auch die Löhne auf den Welttarif zu bringen, sodaß ihre Gewinne ins Märchenhafte wachsen, während zugleich die Verelendung des arbeitenden Volks katastrophische Formen annimmt. Der Staat aber profitiert bei der hemmungslosen Inflation den Vorteil, daß alle innere Verschuldung automatisch verringert und binnen kurzem ganz eliminiert werden kann. Die armen Kriegsanleihezeichner bekommen ihre Goldeinzahlungen in wertlosen Papierfetzen – und ohne jede angleichende Umrechnung – verzinst und amortisiert, sodaß jeder Kurssturz der Mark eine Sanierung der Staatsschuld auf Kosten der Patrioten bewirkt, denen die Tirpitze und Scheidemänner täglich vorgerechnet haben, eine sicherere Kapitalsanlage als in Beleihung des Vaterlandes zur Fortsetzung des Weltgemetzels könne nicht ausgedacht werden. Nun stimmen aber im Augenblick alle psychologischen Berechnungen nicht, auf denen das Vabanquespiel der Cunöden beruht. Die rein physische Macht ist bei Frankreich, das wird von niemandem geleugnet. Dagegen wird aufgestellt, die sittliche Macht ist bei uns, und ethische Momente leihen einer guten Sache bessere Kraft als rohe Waffen. Ich bin gewiß der Allerletzte, der das leugnet. Aber ich schaue im Kreise herum und finde absolut nichts, was den Anspruch der Deutschen begründen könnte, bei dem Handel von höherem Ethos beseelt zu sein als die Franzosen. Dort wird auch gelogen, sicherlich. Dort dreht sich’s auch ums Geschäft – ohne alle Frage. Aber am Ende können die Geschäftemacher dort denen, die die Rekruten für das Unternehmen stellen, immer noch bessere ethische Gründe vorsalmen als die Cunos den deutschen Arbeitern. In Frankreich liegen infolge der Rückzugszerstörungen der Deutschen die besten Kohlenzechen brach, und man rechnet dem Volk vor, daß die, die das verschuldet haben und die vertragsgemäß den Schaden decken sollen, nicht zahlen mögen, daher französische Steuerzahler bislang dafür herhalten mußten. Mit diesem Argument werden die Kleinbürger dort gern militärischen Zwangsvollstreckungen zustimmen. Wenn man den deutschen Proletariern aber sagt, ohne die Ruhrbesetzung brauchte es euch nicht so dreckig zu gehn, so darf man nicht gleichzeitig verlangen: seid mit den schmierigen Papierlöhnen zufrieden, aber arbeitet länger für uns! Diese Ethik ist nicht nur brüchig, sie wird über kurz oder lang auch durchscheinend. Dennoch könnte man sagen: Einigkeit macht stark! Vertragen wir uns wenigstens für diese kurze Zeit, bis wir die Einbrecher rausgeschmissen haben! Schlagt sie tot, das Weltgericht fragt euch nach den Gründen nicht! – Aber während in allen Meinungskloaken im politischen Hauptpissoir das Volk in seiner Eintracht gepriesen wird, stinkt hinten der Öffnungskübel die widerlichsten Dünste der Parteibesudlung aus. Nationalisten, Demokraten, Sozialdemokraten – alles giftet einander Ekel und Pest an; einer wirft dem andern „Landesverrat“ vor, einer macht den andern für Jammer und Unglück verantwortlich. Die bayerischen Hakenkreuzdesperados aber wittern Morgenluft. Die gehn wenigstens deutlich und offen heraus mit der Sprache. Die drohen den „Novemberverbrechern“ – und dazu gehört alles, was seit 1918 republikanische Gesinnung heuchelt – Mord und Rache an, und selbst die friedliche „Germania“ meint, Ableugnen habe keinen Zweck mehr; es stehe was bevor in München (worauf die Regierung Knilling selbstredend nicht anders zu reagieren weiß als durch – Ableugnung). Zenzl fährt heut abend nach Cöln zum Besuch meiner Genossen, die dort einen Mühsam-Abend arrangieren, und so mags meinetwegen gern anfangen. Einmal muß diese ewige Spannung sich ja doch wohl lösen. Daß wir kurz vor Ereignissen stehen, die, so oder so, auch unser persönliches Schicksal entscheidend beeinflussen müssen, sagt mir ein deutliches Gefühl. Der Gedanke läßt mich nicht los, als ob der traurige Auszug unsres August Hagemeister von Niederschönenfeld unser aller Verlassen dieser Schreckenskammer signalisiert habe: Er selbst spottete gelegentlich über sein beispielloses Pech und meinte mal: „Es sähe mir ähnlich, wenn ich noch kurz vor der allgemeinen Freilassung hier drinnen sterben müßte.“ Heut nacht fiel mir das Gespräch wieder ein und nun läßt mich der Gedanke nicht los, als ob’s eine Prophezeiung gewesen wäre. Und, wenn die Hitler-Leute tatsächlich losschlagen, ist diese Wirkung sehr möglich. Sie wollen zunächst den Staatspräsidenten (wahrscheinlich Kahr) auf den bayerischen Horthythron setzen. Gelingt das, dann ist eine umfassende politische Amnestie allen Traditionen nach sehr wahrscheinlich, denn sonst spräche sich die gewaltsam entstandene Neuherrschaft ja selbst der Strafen schuldig, von denen sie andre, die vor ihnen Gleiches taten, nicht absolvieren will. Mißlingt aber der große Coup, dann ist’s aus mit dem ganzen derzeitigen Regime in Bayern und kein Auerochs könnte sich dann der Arbeiterforderung länger entziehn: Heraus mit den politischen Gefangenen! Alles treibt Entscheidungen entgegen, der Ruhrkrieg wie die innere Situation. Zu den Faktoren aber, die auch unser Los zu bestimmen geeignet sind, gehört nicht zuletzt der Tod August Hagemeisters selbst, dessen Begleitumstände sich bestimmt nicht lange werden geheim halten lassen. Und so ist es möglich, daß die wahnwitzige Prophezeiung damals grade als Ergebnis von Ursache und Folge eintreffen wird. Könnte ich die Ursache ungeschehn machen – wie gern würde ich die Folge dann hingeben! Da aber das Schreckliche eingetreten ist, will ich heiß wünschen, es möge das Freudige nach sich ziehn. Wie schön würde uns das Bild des Toten durchs Leben begleiten. Seine Manen selbst wären versöhnt, wenn mit dem Opfer seines Lebens die Bresche gelegt wäre, durch die wir – wie die Kampfgefährten Winkelrieds, – den Ausgang fänden zu neuem Kampf und zur Sühnung seines Todes.

 

Niederschönenfeld, Dienstag, d. 23. Januar 1923.

Siegfried kam gestern mittag und war 3 Stunden da. Aufsicht: Märtyrer Helbe, derselbe, der mir bei dem furchtbaren Anfall Augusts am 7. Januar die Verständigung des Vorstands verweigerte. Von der Münchner Trauerfeier konnte Siegfried ungestört erzählen. Sie fand Samstag nachmittag um 4 Uhr in der Aussegnungshalle des Ostfriedhofs statt. Die Beteiligung war zwar stark (schätzungsweise 2000 Personen), doch hatte die Regie nicht richtig geklappt, und die Neue Zeitung (die hier in allen letzten Exemplaren zurückgehalten wurde) hatte die Bekanntgabe der Zeit ungeschickt abgefaßt oder plaziert; sonst, meinte Siegfried, wären sicher 10 – 12000 Teilnehmer dagewesen. Die Hauptrede am Sarge hielt Adolf Schmidt. Doch verstand man den bei der schlechten Akustik der Halle fast garnicht. Den von uns gespendeten Kranz legten der Wittmann-Seppl und der Weigand-Biebs nieder, wobei der letztere ein paar gut gesetzte Worte sprach. Unter den Kranzspenden befand sich auch eine von der Sozialdemokratischen Partei und eine vom – bayerischen Landtag mit weißblauer Schleife, der mit unwilligen Bemerkungen ganz hinten hingelegt wurde. (Ein bayerischer Volksspruch heißt: „Wenn der Schimmi hin is g’wen, hams eahm an Schippi Heu viri ge’m.“) Nach der Feier fand ein Umzug im Ostfriedhof und eine kurze Feier beim Denkmal der Revolutionsopfer statt. Dagegen wurde die Einäscherung noch nicht vorgenommen, sondern soll erst heute erfolgen. Angeblich seien die Papiere noch nicht dagewesen. Ich halte es für wahrscheinlich, daß die Behörde die Obduktion der Leiche angeordnet hat, um Angriffe wegen unsrer Mitteilungen an den Landtag abwehren zu können. Ich wollte dem Jungen dann einiges von hier über den Fall sagen, wurde aber beim ersten Satz unterbrochen, darüber dürfe ich nicht sprechen. Ich fragte: „Ist Ihnen das extra gesagt worden?“ – und erhielt die unüberlegte Antwort: „Ja, das ist meine ausdrückliche Vorschrift.“ Noch ein kleines Intermezzo. Ich fragte nach dem Schicksal meiner Denkschrift über die Rechtsverhältnisse bei unserm „Hochverrat“ und meinte, ihre Veröffentlichung müßte unsre Aussichten auf Befreiung mehr als alles andre bessern, und ich erfuhr, daß Seffert in der Sache sehr bemüht ist. Dieses Gespräch blieb unbeanstandet. Später kam ich auf das schofle Verhalten der Bauernbündler zu sprechen, die damals alles mit uns mitgemacht haben und jetzt jede Amnestie mit niederstimmen helfen. Dabei erwähnte ich speziell den jetzigen Minister Wutzlhofer und sagte, bei der Veröffentlichung meiner Denkschrift würde ja mal dieser Herr hinlänglich durchschaut werden können. Auch das blieb zunächst ohne Rüge. Erst etwa eine Viertelstunde später ermannte sich Herr Helbe zu der Frage, ob die Denkschrift, von der ich gesprochen hätte und die veröffentlicht werden solle, die Zensur passiert habe. „Ja, freilich“ antwortete ich, was den Mann zu beruhigen schien – und es ist tatsächlich wahr, daß der Zensor Gelegenheit hatte, sie einem Genossen bei der Entlassung abzunehmen. Daß er es nicht tat – wahrscheinlich war die Durchsicht seiner Effekten etwas flüchtig vorgenommen worden – ist nicht meine Sache. Aber ich hätte auf die geistreiche Frage wohl in jedem Falle „Ja, freilich“ geantwortet. – Wenn Siegfried mich und ich ihn richtig verstanden habe, dann ist anzunehmen, daß Vater Thierauf meinen Auftrag, die Landtagsgenossen auf unsre Eingabe aufmerksam zu machen, gut ausgerichtet hat, sodaß man draußen über die Umstände, die Augusts Tod bewirkten, einigermaßen orientiert ist. Wüßte man aber alles, dann glaube ich, müßten die Arbeiter doch einmal in Wut geraten. Leider war es grade Bedacht, der am Tage nach dem Unglück herauskam, und von dem kann kaum erwartet werden, daß er seine persönlichen Ängste und Vorsichtigkeiten hinter die Pflicht zurückgestellt hat, das Land über die Scheußlichkeit aufzuklären. Der nächste aber, der frei wird, geht erst in 2 Monaten – die Mitteldeutschen scheint man stillschweigend um ihre vom Reichstag beschlossene Freilassung zu prellen –; dann allerdings wird noch einiges nachgeholt werden, z. B. auch die Information darüber, daß auch die Papiere und Bücher des Verstorbenen erst durch die Zensur mußten, ehe sie hinausgelassen wurden: Fortsetzung des Strafvollzugs noch nach dem Tode der bayerischen „Ehren“-Sträflinge! – Der Besuch des Jungen war eine lichte Unterbrechung in diesen trüben Tagen. Er ist ein Prachtmensch geworden, und mir und Zenzl mit so dankbarer Liebe zugetan, daß ich sehr gerührt war. Im übrigen ging die Unterhaltung natürlich wieder meist um die grotesken Lebensverhältnisse draußen, das Steigen der Preise, die Erbitterung der Massen, die Möglichkeiten und Aussichten für einen nationalsozialistischen Putsch, mit dem immer noch gerechnet wird. Vorerst soll das Hindernis in internen Streitigkeiten – zwischen Hitler und seinen Unterführern – liegen. Einer von denen ist unser Ansbacher „Genosse“ Weber, der grade im Augenblick auch dadurch von sich reden macht, daß er sensationelle „Enthüllungen“ über seine als Mitglied der südbayerischen Bezirksleitung der KPD erlangten Kenntnisse von Mord- und Gefangenenbefreiungsplänen der Kommunisten ankündigt. Natürlich weiß der Bursche garnichts, zumal solche Pläne sicher überhaupt nicht bestanden haben. Aber wer den Halunken kennt, weiß, daß er nicht die geringsten Bedenken haben wird, schreckliche Moritaten zu erfinden, geschickt mit glaubhaften Einzelheiten auszustatten und, wenn’s nötig ist, zu beschwören. Und was der Eid eines Hitler-Commis vor bayerischen Haß- und Volksgerichten gegen Revolutionäre alles „beweisen“ kann, darüber wird man keine Zweifel zu hegen brauchen. Solche Lumpen aber geben heutzutage in der „Ordnungszelle“ den politischen Ton an. Herr Schweyer befindet sich in Berlin; es heißt, um dort mit der Reichsregierung die innere Lage zu besprechen. Vermutlich wird ihm Herr Oeser die der Republik von den Hitlärmmachern drohende Gefahr explizieren, aber Herr Schweyer wird kaum so aufrichtig sein, zuzugeben, daß er längst alle Macht des Staates in die Hände dieser Pogromleute abgegeben hat. Vielleicht wird man auch versuchen, den Bayern die Staatspräsidentenidee auszureden (ich las kürzlich den Vergleich: es sei, als ob plötzlich die Behörden von Massachutes erklären würden, sie würden jetzt neben Harding noch einen Präsidenten für ihren eignen Gebrauch einsetzen). Auch wird man ein wenig von der schlechten Behandlung der Sozialdemokratie abgeraten haben, die grade im Augenblick die lautesten Schreier im nationalistischen Wettbewerb und die bewährtesten Bediener des Kriegslügenapparats abgeben. Man kann nicht gut die Fiktion von der Einigkeit aller Stände in ganz Deutschland aufrechterhalten, wenn die bayerische Regierung tagtäglich alle ihre Organe zur Unterstützung jedes gegen demokratische, speziell sozialdemokratische Politiker gerichteten Unternehmens waffenstark zur Verfügung stellt. Jetzt möchten die geschäftsklugen Herren in Berlin doch gern den Schein retten, als hätte die Ruhrkampagne wenigstens die zuverlässig staatserhaltenden Parteien zusammengeschweißt. Leider werden die kommunistischen Blätter (wohl wegen der an Hagemeisters Tod geknüpften Betrachtungen) fast garnicht mehr hereingelassen, und die sozialdemokratischen färben offenkundig alle Mitteilungen aus der Arbeiterschaft patriotisch um. Es wäre ja zum Verzweifeln, wenn die Behauptung richtig wäre, daß die Verhaftung der 6 Zechenherren, darunter Fritz Thyssen, bei den Arbeitern einen wahren Taumel solidarischen Eifers für die Herren hervorgerufen habe. Ausgerechnet für Thyssen werden die Leute streiken, der erst vor ganz wenigen Wochen den Feldzug gegen den 8Stundentag mit der Erklärung offen proklamierte, die Mehrarbeit fürs Kapital müsse von der Arbeiterschaft auch gegen ihren Willen und Widerstand erzwungen werden, – also das Blut des Proletariats für die Steigerung des Unternehmerprofits forderte. Kommunisten und Syndikalisten fordern den Generalstreik für ganz Deutschland, natürlich mit verschiedenen Zielen: die Moskauer werden sich wohl mit ihrer famosen „Arbeiterregierung“ begnügen wollen, also den Kampf aufnehmen, damit der kapitalistische Staat von den Noskes und Auers in Gemeinschaft mit den Brandlers und Böttchers regiert wird, während die Syndikalisten denn doch wohl aufs Ganze gehn möchten, also jedenfalls nicht jeden Elan von der ersten Stunde an durch ein „Minimalprogramm“ totmachen wollen. Aber sie wissen ja auch nicht, was sie wollen. Sie bilden sich ein: heut wird generalgestreikt, morgen kapituliert der Kapitalismus, übermorgen haben wir eine wundervoll funktionierende entstaatete sozialistische Gesellschaft, die keine Justiz, keine Waffen, keine Sabotage der syndikalistisch organisierten Warenerzeugung und -verteilung mehr kennt. Ziemlich trostlos sieht’s also auch bei denen aus, die etwas Wirkliches unternehmen möchten. Sozialdemokraten und Gewerkschaften aber schreien und toben nur gegen die Franzosen und sind schon für Streik, aber nur im Ruhrland und soweit die Reichsregierung ihn wünscht. In der Münchner Post gab’s einen Aufruf zur Gründung einer „vaterländischen Streikkasse“, es soll für die Arbeiter gesammelt werden, die aus lauter nationaler Würde niemals, niemals, niemals ihre Arbeitskraft vom welschen Erbfeind ausbeuten lassen wollen, da doch das Thyssen-Konzern das Monopol zu ihrer Ausbeutung von Gottes und Rechts wegen besitzt. Nun scheint es aber, als ob sogar die Amsterdamer Internationale das Reagieren ihrer deutschen Angehörigen gegen den französischen imperialistischen Versuch denn doch garzu anschmeißerisch an bourgeoise Machenschaften empfindet. Der Leitartikel der heutigen „Fränkischen Tagespost“ (des Nürnberger Organs der Sozi) läßt darauf schließen, daß der Gedanke eines Generalstreiks in den Ruhrzechen keine Bewilligung in Amsterdam finde. Denn da wird plötzlich flau gemacht, indem auf die Eventualität verwiesen wird, daß die Franzosen Eisenbahn und Bergbau des Reviers einfach von ihren Soldaten betreiben lassen könnten. Schon wurden in München italienische Streikbrecher angehalten, die von ihrer Regierung ins Ruhrgebiet entsandt waren. Meine Ansicht, daß es jetzt nicht Sache der deutschen Ruhrarbeiter ist, in eine Aktion für die Unternehmer überzugehn, die rein nationalistischen Charakter haben müßte, daß dagegen für das französische Proletariat außerordentlich viel Anlaß besteht, dem Expansionszug seiner Imperialisten entgegenzutreten, scheint auch die der französischen Revolutionäre zu sein. Marcel Cachin, der in Essen zu deutschen Arbeitern sprach und der deshalb von seiner Regierung wegen Hochverrats gerichtet werden soll, hat in der Kammersitzung, in der über die Aufhebung seiner parlamentarischen Immunität verhandelt wurde (die selbstverständlich beschlossen wurde, denn das Geschmeiß in den Parlamenten ist überall das Gleiche; und wenn man Cachin hinrichten sollte, werden ihm seine Kammerkollegen sicher auch einen Kranz auf den Sarg legen, wie der bayerische Landtag es unserm August gemacht hat) – Cachin hat da selbst gesprochen, übrigens sehr tapfer und aufrecht und hat dabei ausdrücklich erklärt, daß er die deutschen Genossen nicht zum Streik aufgefordert habe. – Was nun also werden soll, ist garnicht abzusehn. Herrn Cuno muß zugegeben werden, daß er bis jetzt seine renitente Haltung konsequent durchführt. Nur bekommt sein Heroenstolz ein etwas komisches Licht durch die Tatsache, daß grade in diesen Tagen die Repko – die zu drei Vierteln von den rührigen Ruhrigen besetzt ist – sich mit der Petition der deutschen Regierung um ein Moratorium zu beschäftigen hat (die am 15ten fällige Entscheidung wurde auf den 31ten verschoben). Dieser Tatsache gegenüber wird der kriegerische Ton der Proteste und Forderungen wenig Eindruck machen. Wenn man nur ermessen könnte, was der ganze patriotische Spektakel auf die Massen der deutschen Arbeiter für einen Eindruck macht. Der von den Zeitungen mächtig aufgepulverte Fall, daß in Bochum in die Wacht am Rhein singende Sozialdemokraten hineingeschossen und dabei ein 17jähriger junger Mann tötlich getroffen wurde, fordert doch zu Vergleichen mit viel krasseren Vorgängen in Deutschland selbst heraus, (man braucht ja nur etwa an die 50 Opfer des elenden Bauer bei Annahme des Betriebsrätegesetzes zu denken; an Noskes Tafeln: „wer weitergeht wird erschossen“ und an zahl- und endlose andre Fälle), zumal der für die Bochumer Schießerei verantwortliche Oberst sofort abberufen und die Truppe abgelöst wurde. Aber unsre bürgerliche und sozialdemokratische Presse tut so, als wäre in Deutschland etwas ähnliches Greuelvolles noch nie geschehn, und das Ekelhafte dabei ist, daß man deutlich merkt, daß hier nicht das mindeste Mitleid mit dem armen gemordeten jungen Menschen waltet, sondern die reine Genugtuung, daß man die andern Mörder! schimpfen kann. Sie pumpen sich sogar auf, daß das französische Militär mit Kampfwagen und Tanks, Minen- und Flammenwerfern paradiert. Sie scheinen auch die Bedrohung des Volks mit dergleichen Apparaten für das geheiligte Privileg der eignen Landesobrigkeit zu halten. Denn im Deutschland der Noske, Hörsing und Schneppenhorst sind doch solche Aufzüge für keinen Proletarier etwas Fremdes mehr. Man muß sich aber erinnern, daß die deutschen Regierungsnoten seinerzeit, als es um die Entwaffnung ging (unter sozialdemokratischen Kanzlern natürlich) die würdeloseste Bittstellerei an die „Feinde“ waren, Artillerie, Flugzeuge für Bombenabwurf, Gasgebläse etc. zur Bekämpfung des „inneren Feindes“ bewilligt zu kriegen. – Siegfried sagte mir, die Arbeiter draußen seien keineswegs so patriotisch wie die Blätter berichten. Sie meinen einfach, sie wüßten Besseres als für die Zechenbesitzer noch einmal in einen Krieg zu gehn. Ob die Mehrheit der Arbeiter in den unmittelbar betroffenen Gebieten anders denkt, glaube ich noch nicht. Vermutlich werden Einzelfälle verallgemeinert und aus berechtigten Abwehraktionen etwa gegen das direkte Einfallen militärischer Kräfte in die Arbeitsstätten und entsprechenden Kundgebungen nationalistische Volkskundgebungen gemacht. Auf jeden Fall ist das was jetzt im Werk ist, seit 4 Jahren das Schicksalhafteste, was dem deutschen Proletariat entgegentritt. Möge es von klarem Geiste in seinen Entschlüssen erleuchtet sein!

 

Niederschönenfeld, Mittwoch, d. 24. Januar 1923

Mittags wurden so wenige Zeitungen ausgegeben, daß neue Tatsachen kaum zu registrieren sind. Die Reichsregierung scheint aber, nach allem, was wir lesen können, tatsächlich ihre Politik der passiven Resistenz, bei der sie vollkommen auf die Arbeiterschaft angewiesen ist, bis jetzt durchführen zu können. Sie verbietet schroff jede Mitwirkung der deutschen Beamten an den Maßnahmen der Franzosen und Belgier, jedes Befolgen von Befehlen der Besatzungsmächte, die deutschen Befehlen entgegenstehn. Die Folge ist die Fortdauer von Verhaftungen, Ausweisungen und Repressalien aller Art, und jeder, dem etwas zustößt, ist natürlich ein Held wie keiner je erschaut ward. Besonders das Erbarmen mit den 6 verhafteten Multimillionären ist ergreifend. Man hat sie in verhängten Eisenbahnwagen I Klasse abtransportiert (wenn Deutsche selbst verhaften, transportieren sie in Schubkupees); man hat sie – oh Schande! – sogar photographiert (zwangsweise? uns schon!), man gibt ihnen in Einzelhaft Casinokost (uns gab man nach der Verhaftung – als „Schutzhäftlingen“ – in Zuchthaus-Einzelzellen – Zuchthauskost). Ein argentinischer Schmock, der sie sprechen wollte, wurde abgewiesen! (Wie es dem Mann wohl in Niederschönenfeld ergangen wäre?). Nicht mal unter den Augen eines Offiziers durfte er den Besuch machen (das dürfen bei uns auch nahe Verwandte nicht, meine 10jährige Nichte Kathl würde, wenn sie mich unter Aufsicht eines früheren Unteroffiziers besuchte, die Sicherheit Bayern gefährden). Aber – die Hauptsache ist, daß dies alles den furor teutonicus gewaltig weckt, und daß die Sozialdemokraten, die das Schuhriegeln von Revolutionären zu einer in aller Welt nicht erlebten Virtuosität in Deutschland gesteigert haben, den Kampf für die Zechenbesitzer mit größter Begeisterung organisieren und unterstützen. Der „Vorwärts“ schlägt in jeder Spalte Purzelbäume nationalistischer Empörung, obwohl er doch auch irgendwo Platz findet für die ganz richtige Feststellung, daß es sich bei dem ganzen Ruhrhandel darum dreht, ob die deutschen oder die französischen Stahl- und Montan-Industriellen bei der von beiden geplanten Vertrustung die besseren Bedingungen kriegen werden. Jedenfalls: sie sind höchst kämpferisch gesonnen, unsre lieben Arbeiter-Vertreter, wie immer, wenn die Kapitalisten von ihnen Kampfgesinnung verlangen. Erhard Auer als Streikkassen-Organisator, – das ist immerhin ein neues Bild in Deutschland, wobei aber zu bemerken ist, daß er bei den eignen Parteiinstanzen keine große Gegenliebe zu finden scheint. Sein Nürnberger Parteiblatt wenigstens meint, daß solche Schritte doch wohl nicht der Initiative eines Einzelnen überlassen sein dürften. Aber vom Auervater zu verlangen, daß er sich, wenn die Gelegenheit sich bietet, mit dem angesehenen bürgerlichen Professor zusammen seine patriotische Gesinnung in die Auslage zu stellen, zurückhalten solle und nicht einmal dem Proletariat mit dem herrlichen Beispiel vorangehn solle, 10.000 Mark in die Kasse einzuzahlen (das ist nicht ganz der Wochenlohn eines ungelernten Hilfsarbeiters, für den Nutznießer der Staatsrente für Lindners Schüsse und Aufsichtsrat etlicher großkapitalistischer Unternehmungen nicht eben imponierend; Brentano zeichnete 25.000), das wäre reichlich viel verlangt. Bei dieser Gelegenheit: Auervaters Leibblatt, die „Münchner Post“, hat ihren Glanzleistungen in Lügen und Fälschungen ein neues Ehrenblatt hinzugefügt. Sie bringt es fertig, in einer der letzten Nummern es als einen Schwindel zu bezeichnen, daß die bayerische Räterepublik mit dem Beistand der Mehrheitssozialdemokratie zustandegekommen sei! Dies Gesindel ist weiß Gott schamloser als die menschliche Phantasie faßt. An den ersten Beratungen über den „Hochverrat“ nahmen die sozialdemokratischen aktiven Minister Segitz und Schneppenhorst persönlich teil und gaben ihre Einwilligung, sie als provisorische Volksbeauftragte öffentlich zu benennen. Die Verhandlungen wurden unter Vorsitz Niekischs geführt, der damals Mehrheitssozialdemokrat war und erst zu den Unabhängigen übertrat, als er den schmutzigen Verrat seiner Parteigenossen durchschaute. Er war auch Vorsitzender des Zentralrats immer noch als Auers Parteigenosse, und in diesem Zentralrat saßen mit Einwilligung ihrer Parteileitung 10 Mitglieder der SPD. – Dies alles wird jetzt schlankweg abgeleugnet, und die Arbeiter, die doch das alles miterlebt haben, glauben nicht dem, was sie wissen, sondern dem gedruckten Wort. Und so glauben sie auch dem Zeitungswort, das ihnen beibringt, sie müssen für 6 Industriemagnaten, die beim Raufen mit ihresgleichen unter deren Fäuste geraten sind, die Befreiung durch den Verzicht auf ihren Lebensunterhalt erwirken, wogegen sie für die Befreiung derer, die für ihre eigne Befreiung unter die Fäuste ihrer Unterdrückter geraten sind und seit Jahr und Tag von denen schändlich entrechtet und weil sie proletarische Rechte erkämpfen wollten, niederträchtig kujoniert werden, noch nie mehr gewagt haben als billige und eindruckslose Versammlungsresolutionen. Mag sein, daß sich in unserm Käfig eine gewisse Monomanie der Beurteilung öffentlicher Dinge bei einem entwickelt hat, aber ganz unberechtigt ist es kaum, wenn wir, täglich neu gequält und grade jetzt unter dem frischen Eindruck des Todes unsres an Verwaltungsschikanen zugrundegegangenen Freundes, bei den weinerlichen Tiraden sogenannter Proletarier wegen der Gefangensetzung ihrer rücksichtlosesten Auspowerer, in Erbitterung und Zorn geraten. – Aber trotz allem: ich kann’s bis jetzt noch nicht glauben, daß die Arbeiterschaft in Deutschland aus den Kriegserlebnissen garnichts gelernt haben sollte. Ich hoffe immer noch, daß die neue imperialistische Prügelei in Rheinland-Westfalen, mag sie äußerlich enden wie sie möge – vermutlich wird eine Vermittlungsaktion von England oder Italien über kurz oder lang Poincarés Erfolg verbürgen, indem sie ihn stutzt, und dann wird man das bei uns einen deutschen Sieg heißen –, daß dieser ganze schäbige Handel schließlich auch vom deutschen Proletariat als das erkannt wird, was er ist, als eine kapitalistische Jobberei um Leiber und Seelen der arbeitenden Menschen und daß diese Erkenntnis der Aufklärung über den Betrügercharakter der Sozialdemokratie und der gewerkschaftlichen Zentralverbände weiterhin vorwärtshilft. Wenn eines Tages der Aufruhr der Unterdrückten elementar aus den Tiefen bricht – und die Anführer machen Unterschiede zwischen den Kapitalisten und ihren Zuhältern beim Proletariat, dann wird – wieder einmal – unendliches Sehnen und unendliches Leid zu einem banalen Brei von Elend und Dürftigkeit verkochen. – Auch wir haben verteufelt viel Anlaß, mit den „Novemberverbrechern“ abzurechnen.

 

Niederschönenfeld, Donnerstag, d. 25. Januar 1923.

August Hagemeisters schreckliches Ende ist noch immer nicht in mein Inneres und in mein Äußeres eingeordnet. Der Gedanke an den Freund beschäftigt mich in jeder unbeschäftigten Minute, das Mitleid mit ihm, der sich so innig nach der Freiheit sehnte, so bitter unter dem Mitfühlen mit den Seinen litt, wächst in mir statt abzuflauen. Auch meine täglichen Lebensgewohnheiten haben sich noch nicht umgestellt auf die neugeschaffenen Notwendigkeiten. An seiner Zelle gehe ich immer mit einer Empfindung frischen körperlichen Schmerzes vorbei. Die Abende, die ich stets bis zum Vorbereiten des Zubettgehens – genau eine Viertelstunde vor Abruf der Zeit ging ich regelmäßig von ihm – mit ihm in seiner Zelle verbrachte, haben noch keinen Inhalt bekommen. Von ½ 7 – ½ 8 saßen wir über Zolas „Paris“ zusammen und übersetzten, Wort für Wort, Satz für Satz. Dann ging ich, nachdem ich mein Heft weggebracht hatte, wieder zu ihm und blieb bis Schlag ½ 9; die letzten 2 Monate schon waren wir dann allein beieinander, da sich der dritte, sein Schwager Köberl zurückzog, weil wir nicht immer bloß von Amnestie und Zitherspiel reden mochten. August, der so schwer aus sich herausging, zeigte mir grade in dieser letzten Zeit mehr von seinem Selbst, als vielleicht früher irgendwem. Er besprach mit mir die Sorgen, die ihm aus der schwierigen Nervenveranlagung seiner Frau und aus dem starken, eigenwilligen Temperament seines Jungen erwuchsen. Bei den vielen politischen Auseinandersetzungen war es mir in den letzten Wochen gelungen, ihn wieder optimistischer zu stimmen und seine nahezu verzweifelte Einschätzung der proletarischen Kampfgesinnung wieder zu beleben. August war eher als irgendeiner seiner Parteigenossen hier drinnen fähig und bereit, meine prinzipiellen Einwendungen gegen die autoritäre Parteidoktrin der Kommunisten und gegen die gewerkschaftliche Organisationsform der Arbeiter aufzunehmen und auf Erörterungen einzugehn, die ich mit allen übrigen – selbst meinen besten Freunden vermeiden muß. Gewiß: ich habe noch den Luttner, der mir innerlich neben Ernst Ringelmann hier am nächsten steht; ich habe noch Sandtner und Toller, die ich wohl auch als gute Freunde ansprechen darf, und grade mit Ernst Ringelmann bin ich nun fast regelmäßig jeden Abend zusammen und habe ihn sehr gern in seiner schrankenlosen Aufrichtigkeit und kindlichen Klugheit. Aber den gleichaltrigen und im eigentlichen Schicksal so nahe verwandten Gestorbenen kann mir niemand ersetzen. Er fehlt mir mehr als je ein Mensch mir gefehlt hat. Die Empfindung aber, daß sein Tod zu verhüten war, daß ihn kalte Paragraphenseelen, um nur ihrem Rächeramt und ihrer Buchstabengeschäftigkeit nichts vergeben zu müssen, in unvorstellbaren Qualen des Leibes und der Seele hilflos verenden ließen, erfüllt jeden meiner Erinnerungsgedanken an den Toten. Da ist nun das Verhalten dieser Beamtennaturen nach dem gemeinsamen Schritt der Festungsgefangenen gegen sie umso charakteristischer, als sich daraus zeigt, daß sie auch nach der entsetzlichen Wendung, die ihre Teilnahmslosigkeit zur Folge hatte, absolut nicht fühlen, daß sie anders hätten handeln müssen und nach wie vor in uns gefühllose Menschen sehen, die nichts andres wollen und planen, als ihnen den Dienst zu erschweren. – Nach dem neuen Anerbieten der Verwaltung, unter bedeutend erhöhten Lohnzahlungen wieder Arbeiter zu beschäftigen, sind einzelne Genossen in die Werkstätten hinuntergegangen. Von ihnen wandte sich Fischer an Fetsch mit dem Anliegen, er solle bei der fühlbaren Kürzung unsrer Kost von der Verwaltung die Lieferung einer Speckzulage für die Arbeiter bewirken. Die Antwort des Herrn Fetsch war ablehnend: er werde überhaupt nichts mehr für die F. G. tun, wenn das der Dank sei (der tüchtige Mann bildet sich stets ein, daß er unser Wohltäter sei und nannte ja auch sein Opfer Hagemeister „undankbar“, weil der die Schikanen nicht wortlos hinnahm). Er sprach von der „Gaudi“ im Fall Hagemeister und davon, daß man ihm, der stets alles für die Festungsgefangenen getan habe, nun „von hinten den Dolch hineinstößt“ (Herr Fetsch liest jedenfalls mit Erfolg die nationalistische Presse). Aber die Herren würden es schon verantworten müssen, daß sie ihn so ungerecht beschuldigen. – Auch Klingelhöfer hat er erklärt, daß er es ablehne, noch irgendwas für uns zu tun, was für uns einfach die Konsequenz ergibt, daß wir uns mit jeder Kleinigkeit direkt an den Vorstand wenden werden, da der Mittelsmann – ein gelehriger Schüler Cunos – „passive Resistenz“ übt. Dann wird er seine „Gefälligkeiten“ eben einfach par ordre du Muffti ausüben. Mir gegenüber spielt Herr Fetsch den Beleidigten. Sieht er mich kommen, so wendet er mir den Rücken zu und stampft ab; vielleicht glaubt er, dadurch an mein Gewissen zu rühren. Auf jeden Fall können wir merken, daß unsre einmütige Aktion nicht eindruckslos an ihren Objekten vorübergegangen ist. Wie sich die Dinge weiter entwickeln werden, werden wir ja sehn. Der Arzt wird von allen boykottiert und so ist z. B. der Ferdl Luttner, der wieder mal mit seinem Beinleiden krank zu Bett liegt, ohne ärztlichen Beistand. Toller und Sauber haben an den Landtagspräsidenten eine eigne Eingabe (als Abgeordnete) gerichtet, worin sie auf schleunige Erledigung unsrer Mitteilung an den Beschwerdeausschuß drängen, hauptsächlich auch mit dem Hinweis darauf, daß uns fernerhin zugemutet wird, unsre ärztliche Hilfe bei einem von uns der fahrlässigen Tötung eines Genossen beschuldigten Mann zu suchen. Daß man einfach wieder über die ganze Angelegenheit hinweg zur Tagesordnung gehn wird, ist doch kaum anzunehmen, da es sich um ein Mitglied des Landtags selber handelt. Ich glaube also diesesmal doch nicht recht, daß Herrn Fetschs Hoffnung, den Angriff von sich auf uns überleiten zu können, Erfolg haben wird. Doch müssen ja, da Toller gegen Dr. Steindl auch Strafantrag gestellt hat, demnächst hier die Zeugenverhöre beginnen, die uns wohl darüber orientieren werden, wie die Geschichte angefaßt werden soll. – Natürlich wird auch die politische Gesamtsituation in dieser Sache Einfluß üben, und da wir das Glück haben, in Bayern zu leben, sind grade hier die größten Überraschungen nicht unmöglich. Die hysterische Überreiztheit des „Volksgemüts“ tobt in München so toll, daß mit außenpolitischen Komplikationen schon in den nächsten Tagen zu rechnen ist. Nach den patriotischen Karnevalssurrogaten am 18. Januar – Reichsgründung! (aber es war ein ganz andres Reich als das, das sich jetzt feiert) – gab es wieder mal Umzüge, und diesmal hielt der „König“ Rupprecht es an der Zeit, persönlich mitzuwirken. Er erschien hintereinander in den verschiedenen vaterländischen Versammlungen, umbuckelt von Kahr und den Seinen, umraschelt von Generals-Säbeln und -Gehänge, umwogt von Untertanenjubel. Man zog vor das wieder von ihm bewohnte Palais des Herrn, wo unter Befehl von Reichswehroffizieren große Huldigung mit Präsentiermarsch und Erscheinen des Gefeierten am erleuchteten Fenster stattfand. Das ist aber noch nicht alles. Die bayerische Regierung hat der Reichsregierung mitgeteilt, daß sie sich nicht mehr imstande sehe, die Sicherheit des französischen Gesandten Dard zu garantieren, ferner hat das gesamte Personal der 4 Jahreszeiten erklärt, jede Bedienung der französischen und belgischen Kontrollmissionsmitglieder abzulehnen, wie denn Hoteliers und Kellner wie 1914 dem deutschen Volk am lebhaftesten mit politischem Heldenmut vorauseilen. Die Schauspieler weigern sich, französische Autoren aufzuführen, und in Innsbruck gab es einen Theaterspektakel wegen einer Molière-Aufführung! Allerdings war das den Zorn der Innsbrucker erregende Stück der Tartuffe. Vielleicht haben die Herrschaften sich weniger durch die Heimat des Dichters als durch das Spiegelbild getroffen gefühlt, das ihnen das eigene Gesicht so zeigte, wie sie es nicht gern sehn mögen. – Es ist noch viel über den Stand der Angelegenheiten zu sagen, sehr viel. Doch habe ich noch andres zu tun heute, und eben erschien Toller bei mir mit folgender Mitteilung. Er sei hinuntergerufen und ihm vom Regierungsrat Englert folgende Eröffnung des Oberstaatsanwalts Kraus, Augsburg, als Oberaufsichtsbehörde vorgelesen werden: Herrn F. G. Toller als Antragssteller zur Kenntnis. „Die Beschwerde“ (bezieht sich auf die am 17. Jan. abgegangene, von Klingelhöfer verfaßte Beschwerde zum Tode Hagemeisters) „gibt keinen Anlaß zu dienstaufsichtlichen Maßnahmen gegen Anstaltsarzt, Vorstand und andre Anstaltsbeamte.“ – Das ist alles. Aber das ist vollauf genug. Jetzt wissen wir, was diesen Leuten, denen unser Leben anvertraut ist, unser Leben gilt. Herr Kraus hält’s mit Epikur: Ό δανατὸς μηδέν προς ήμᾶς! – nämlich, wenn’s der Tod politisch Unbeliebter ist. Ich bin nicht der Meinung, daß wir’s bei diesem Bescheid bewenden lassen dürfen.

 

Niederschönenfeld, Freitag, d. 26. Januar 1923.

Im bayerischen Landtag hat der Präsident Königbauer des Todes des Abgeordneten August Hagemeister gedacht. Was er über das Mitglied des „hohen Hauses“ selbst oder über die schmerzerfüllten Gefühle derer gesagt hat, die ihren Parlamentskollegen ein Dutzendmal als „Verbrecher“ beschimpft, seine Freilassung ein Dutzendmal abgelehnt, die Nachprüfung seiner und seiner Genossen Behauptungen über die Rechtsbrüche bayerischer Abgeordnetenschinder und deren Verleumdungen gegen ihre Opfer verweigert haben, das ist aus den Zeitungen nicht zu entnehmen. Wohl aber hat der Herr den aufhorchenden Gesetzgebern erzählt, was auf dem Friedhof vorging. Als der Parlamentsdiener (die Entsendung einer Abordnung von Abgeordneten wurde also nicht beliebt) dort mit dem Kranz erschien, rissen „Frauenspersonen“ die weißblaue Schleife herunter und schmissen das Grünzeug, mit dem diejenigen, die an Augusts furchtbarem Ende einen Riesenanteil der Schuld tragen, ihr Verbrechen zudecken wollten, in eine entlegene Ecke. Wir werden den stenographierten Bericht der Sitzung abwarten müssen, um zu erfahren, ob Herrn Königbauers Bericht von den Parteigenossen des Toten mit den gehörigen Zurufen begleitet wurde oder ob, wie es in den Berichten scheint, die sittliche Entrüstung jenen Christen überlassen wurde, die da meinen, ein Kranz auf dem Sarg müsse einen Toten mit denen versöhnen, die ihn vorzeitig hineingebracht haben. – Die Konfiskationen kommunistischer Blätter dauern hier drinnen an, und daß man sich draußen mit dem Fall Hagemeister beschäftigt, erkennen wir auch aus Mitteilungen, die Herrn Gollwitzers Scharfblick entgangen sind, so aus einer Rede Rosi Wolffsteins im preußischen Abgeordnetenhaus, die davon sprach, daß man Hagemeister in Niederschönenfeld „verrecken ließ“, ferner aus einer kommunistischen Anfrage im Nürnberger Stadtrat, warum dort eine Versammlung von der Polizei verboten wurde, in der zum Tode des Abg. H. Stellung genommen werden sollte. Was den Bescheid des Herrn Kraus betrifft, so habe ich vorgeschlagen, zunächst nur die höhere Instanz, also das Justizministerium selbst, anzurufen mit der Begründung, daß hier der Oberstaatsanwalt als freisprechender Richter in eigner Sache aufgetreten sei. Als unmittelbares Aufsichtsorgan der Festung war er für die Einrichtung sanitärer Vorkehrungen selbst mitverantwortlich, außerdem hätte er bei einem Eingehn auf die Beschwerde auch verurteilen müssen, daß er in der Zeit seiner eignen Amtstätigkeit als Vorstand hier die Verfehlungen, die seinem Nachfolger vorgeworfen werden, genau so begangen hat. – Heute wurde zu allgemeiner Überraschung ganz plötzlich Wiedenmann entlassen: „Strafunterbrechung bis auf weiteres.“ Der Bescheid, er müsse sofort zusammenpacken, kam, als wir um 11 für die halbe Stunde vor Tisch in den Hof gegangen waren. Da das die einzige Zeit am Tage ist, wo das Luftschnappen unter einer vollen Stunde möglich ist, wird diese halbe Stunde von besonders vielen zum Hinausgehn benutzt. Außer Wiedenmann selbst waren seine sämtlichen Freunde von der Gruppe Wuchtig draußen. Man ließ nun die Hoftür volle 10 Minuten über die Zeit geschlossen, damit das Abschiednehmen verhindert würde. Doch gelang es Wiedenmann, die Vorbereitungen trotzdem so zu verzögern, daß er noch mit den Hofgängern zusammentraf. Zu unsrer aller großem Erstaunen klapperte er auch unsern Gang zum Adiösagen ab und gab uns allen die Hand. Ich wollte sie ihm in dem Augenblick nicht verweigern, wo der Mensch das Herz voll Freude haben mußte, und – man wird ihn ja jetzt ohnehin hier nicht mehr sehn. Seine Anwesenheit in unsrer Mitte war nicht immer erfreulich und sein Verhalten gegen mich gewiß nicht kameradschaftlich. Doch war in den letzten Wochen – schon seit zuerst das Gerücht auftauchte, er erwarte seine Entlassung – sein Bestreben deutlich erkennbar, sich jeder Aggressivität zu enthalten, und durch Augusts Tod ist ja tatsächlich eine Atmosphäre bemerkenswerter Friedfertigkeit im Hause zu spüren, wenn wir auch deutlich zeigen, daß wir eine Verkleisterung des Trennenden nicht wollen. Offenbar habe ich den Händedruck speziell dem Eindruck zu danken, den meine Gedächtnisrede auch auf diesen Kreis gemacht hat, und schließlich ist’s erquicklicher, auch von einem Nichtfreund mit einem spontanen Händedruck als mit Ohrfeigen zu scheiden. – Wenn es noch nötig sein sollte, ist’s ja auch ganz gut, wenn einer von uns jetzt hinauskommt, der die Vorgänge bis zu Augusts Tod hier gut kennt, Herrn Kraus könnte dadurch doch vielleicht bald die Einsicht aufdämmern, daß man aus einer ungemütlichen Sache nicht stets dadurch herauskommt, daß man erklärt, die Beschwerde, die auf die Ursache der Ungemütlichkeit eingeht, „gibt keinen Anlaß –“. Die allgemeine Lage draußen führt wieder mal tausend Möglichkeiten herauf, die auch unser Schicksal in sich tragen können. Zwar scheint es der Bourgeoisie nicht im erhoffen Maße zu gelingen, die Augusttage 1914 mit all ihrem kriegerisch-burgfriedlichen Geängste und Getue zu repetieren. Die „Rote Fahne“ teilt mit, daß die Betriebsräte der Stinnes-Betriebe – und die setzen sich aus allen Arbeiterorganisationen zusammen – beschlossen haben, ihre Mitglieder aus den Kommissionen zurückzuberufen, die von den französischen Generälen die Freilassung der Zechenherren durchsetzen sollten. Sie haben sich also auf ihre proletarischen Interessen doch noch besonnen. Im übrigen ist das Martyrium der Herren schon wieder passé. Sie wurden vor Gericht gestellt und zu Geldstrafen von überraschend geringfügigem Ausmaß verurteilt, die Beamten der Regierung aber, die Herren Schlutius und Raiffeisen erhielten je ein Jahr Gefängnis – bei Aussetzung der Strafe. Alle wurden sofort in Freiheit gesetzt, ließen sich aber nach diesem Theater wie die Nationalhelden anhochen, und in München bereitete man dem aus der Pfalz ausgewiesenen Regierungspräsidenten Ovationen, als habe er soeben den Weltkrieg gewonnen. Dies ganze Trara macht natürlich in aller Welt den denkbar schlechtesten Eindruck, – aber Weltpsychologie war von jeher den Deutschen ein böhmisches Dorf. Sie meinen immer, mit möglichst lautem Heulen können sie – wie bei den eignen Landsleuten, wo es immer gelingt – auch bei den Polen, Serben, Rumänen und bei all denen Mitleid wecken, denen sie als Sieger gezeigt haben, wie wenig sie selbst sich von derlei Empfindungen in ihren Zweckmäßigkeitsberechnungen stören lassen. – Die Sozialdemokraten machen übrigens nach wie vor den ganzen nationalistischen Tamtam mit, und sehr trübe ist das Verhalten der „Komintern“. Diese angeblich proletarische Internationale sieht überhaupt keine andern Aufgaben mehr als russische Staatspolitik zu treiben, und zwar völlig im Stil der übelsten europäischen Diplomatenpolitik. In ihren Proklamationen nimmt sie einseitig gegen Frankreich Partei, verschwiegt, daß es sich um einen Konflikt deswegen handelt, daß die am geplanten Stahltrust beteiligten Franzosen dem deutschen Partner nur 40 % des Ausbeutungsvertrags gönnen wollen, während Stinnes auf seiner wohlgezählten Hälfte besteht. Darum der Krieg, bei dem das einzige Glück das in Deutschland als teuflischstes Unglück beweinte Begleitmoment ist, daß er nicht mit Waffen derProletariate gegeneinander ausgetragen werden kann und daß somit wenigstens Häuser, Dörfer, Städte und Felder stehn bleiben und nicht aus Millionen Frauen und Kindern Millionen Witwen und Waisen werden. – Belogen werden wir, daß sich die Balken biegen. Nachdem man zuerst in allen patriotischen Kapitalistenblättern den Generalstreik der Arbeiter propagiert und auch schon annonciert hatte und dann keiner kam, erklärt man jetzt, in ganz Deutschland habe niemals ein Mensch an sowas gedacht und die Franzosen sollten sich ja nicht einbilden, daß sie ihn verhindert hätten. Aber das bolschewistische Rußland erstrahlt mal wieder im Lichte des Tugendengels. Denn man weiß von dort zu melden, Rüstungen würden beschleunigt, Reden für die Unterstützung Deutschlands gehalten und den Franzosen ein Rachefeldzug präpariert. Leider sind diese nur reichlich tartarenmäßig übersteigerten Ankündigungen nicht ganz aus dem Leeren geholt. Tatsächlich hat Bucharin schon erklärt, Rußland dürfe sich gegebenenfalls gern mit einem kapitalistischen Staat militärisch verbünden und dabei deutlich genug auf den derzeitigen Konflikt zwischen Deutschland und Frankreich hingezielt. Wenn unsereiner in dem Falle auf seinem antimilitaristischen Nein! bestehn bleibt, da alles, was da an revolutionären Begründungen versucht wird, natürlich öde Phrase ist, dann werden wir selbstredend Verräter und Konterrevolutionäre sein, unsre armen kommunistischen Proletarier aber werden sich mit revolutionärem Gesang hinter Ludendorffs Fahnen stellen und geknechteter erwachen als sie je geträumt haben. – Die Franzosen verfolgen inzwischen ihre sehr unsentimentale Politik der kräftigeren Muskeln konsequent weiter. Jede Weigerung, ihren Befehlen zu gehorchen, beantworten sie mit neuen Maßregeln – und zwar, klüger als die Deutschen sich in ähnlichen Situationen stets verhalten haben – fortiter in re, suaviter in modo. Der Triumph, daß die geförderten Kohlen aus dem Ruhrgebiet vorerst ausschließlich ins unbesetzte Deutschland gerollt sind, wird nicht mehr lange dauern. Die schon angekündigte Zollgrenze um das ganze Fördergebiet wird zweifellos in den nächsten Tagen errichtet sein, die Kohlenblockade wird da sein. Und dann? Wo wird dann die dicke Geste bleiben, mit der jetzt Cuno den Starken markiert? Dann wird die Vermittlung des Auslands kommen, aber nicht etwa der Versuch, Frankreich umzustimmen, sondern der, den Deutschen die völlige Nutzlosigkeit ihres Beginnens klarzumachen und sie wieder zum Anerkennen der Versailler Verpflichtungen zu bewegen. Und können sie dann noch zurück? Die Nationalisten sind mitten im patriotischen Revancherausch. Die verbotenen Erhardbünde treten schon wieder offen ans Licht. Durch ihre unüberlegte Protestpose hat die Reichsregierung erreicht, daß sich das Volk einbildet, keine von Versailles herrührende Verpflichtung bestehe noch, mit dem „Erfüllen“ sei für immer Schluß gemacht, – woran Cuno natürlich garnicht entfernt denkt. Schon gibt es in Bayern keine dringlichere Frage mehr als die der Wiederaufrichtung der Orgesch, und die arme Masse bildet sich ein, durch die Vertreibung der Kontrollfranzosen und -Belgier von München – die meisten sind wirklich abgereist – hätte Deutschland sozusagen den Krieg gewonnen. Morgen feiern in München die Vaterländler und Hakenkreuzler große Fahnenweihe. Ob es diesmal noch ihren Bremsern gelingen wird, sie von den allergrößten Dummheiten zurückzuhalten, ist mehr als zweifelhaft. Ich wünsche sehr, daß sie sich nicht mehr zurückhalten lassen. Mögen sie ihren Rupprecht zum König proklamieren. Mögen sie ihre Diktatur durch Hitler oder Kahr oder Xylander aufrichten. Mögen sie selbst den Bürgerkrieg in seinen verwegensten Formen entfesseln, – einmal muß ja die Explosion der überladenen Atmosphäre doch kommen. Ich habe auch garnichts gegen Xylanders Sieg. Er würde keinen langen Bestand haben, mit seinem Zusammenbruch müßte aber der ganze „Ordnungs“bau zusammenkrachen, der nun seit Jahr und Tag dies Land zum Gespött und zur Verachtung der ganzen zivilisierten Welt macht. Ob wir politische Gefangene dabei vom stürzenden Mauerwerk erschlagen und begraben werden oder ob uns der Luftdruck des Aufruhrs ins Freie wirft und von neuem in den Kampf stellt, das hat nur persönliches Interesse, kein prinzipielles. Vielleicht entscheiden schon die nächsten Stunden über unsre nächsten Jahre.

 

Niederschönenfeld, Sonnabend, d. 27. Januar 1923

Unsre Nerven sind doch ziemlich gespannt. Man hat wieder das Gefühl, daß jeder Augenblick jetzt voll schicksalsträchtigen Eventualitäten steckt. In München rollen jetzt höchstwahrscheinlich aus allen bayerischen Gauen kriegerisch entflammte und schwerbewaffnete Hakenkreuzjünger in den Bahnhof ein. Heut abend sollen 10 nationalsozialistische Versammlungen steigen, und die Regierung hat ihrerseits Vorsorge getroffen, daß denen, die sie ablösen wollen, keine Hindernisse in den Weg treten. Sie hat zunächst die beiden kommunistischen Blätter Bayerns, die Neue Zeitung (München) und die Bayer. Arbeiterzeitung (Augsburg) für die Dauer von 4 Wochen verboten, ebenso eine Eisenbergerversammlung, die gestern stattfinden sollte, wogegen sie am Tage vorher ein Augsburger Nationalistenblättchen wegen Beleidigung der Reichsfahne für ganze 3 Tage verbot. Der Fall Hagemeister, der den Herrschaften offenbar sehr unbequem ist, wird mit allen Mitteln der Regierungs- und Justizregie abgewürgt. So erhielt Toller heute von der Staatsanwaltschaft Neuburg auf seine Anzeige gegen Dr. Steindl den Bescheid, das Verfahren sei eingestellt. In der Begründung wird der amtsärztliche Befund wiedergegeben, der sich bei der Obduktion gezeigt habe (der Amtsarzt ist doch aber wohl der beschuldigte Dr. Steindl selbst), der die Übereinstimmung der Todesursache mit der Diagnose beweise (Rippenfellentzündung, kompliziert durch eine die Atmungswege verstopfende Verknotung am Herzen). Die Behandlung entspräche durchaus dem Befund, es sei auch nichts vom Arzt verabsäumt worden, und es könne unerörtert bleiben, ob nicht die am Tage vor dem Tode von Hagemeister verweigerte Einnahme der Arzneien und die Ablehnung der Bemühungen des Arztes, die auf H’s „eigenartige Geistesveranlagung“ zurückzuführen seien, den Tod verursacht oder beschleunigt haben. Weitere Beweiserhebungen erübrigen sich. Also auf die offenkundige Nichtbeachtung der gesetzlichen Pflichten für Unterbringung bzw. Verlegung des Kranken geht man garnicht ein. Man fragt nur den Beschuldigten, den Anzeigenden überhaupt nicht, geschweige sonstige Zeugen. Der ungewöhnliche Vorgang, daß ein Sterbender seinen Arzt wegschickt, spricht nicht gegen den Arzt sondern beweist die „eigenartige Geistesveranlagung“ des Kranken. Die Sache ist also in Ordnung. – Sie ist es in der Tat, solange die fürchterliche Wirtschaft, die jetzt in Bayern regiert, fortbesteht. Solange hat selbstredend kein Versuch, Amtsverbrechen klarzustellen, einen Zweck: eine Krähe pickt der andern die Augen nicht aus. Der Fall ist aufgeschoben, nicht erledigt. – Frau Klingelhöfer, die gestern ihren Mann besuchte, berichtete von der Unterredung zwischen Frau Hagemeister und Herrn Dr. Kühlewein über die Überführung. Die Antwort auf die Frage, ob die Behörde Augusts Transport nach München übernehmen werde, lautete gemütvoll: „Die Leiche gehört jetzt Ihnen, Frau Hagemeister, nicht mehr uns!“ – Bei Fanny Hagemeister wohnt als Untermieter ein deutschnationaler Student. Am Todestage trat der junge Arier ins Zimmer der völlig aufgelösten, ihrer Sinne kaum mächtigen Frau, schlug vorschriftsmäßig die Hacken zusammen und schnarrte: „Mein Beileid! Darf ich um den Tee bitten?!“ – Darüber, daß man draußen über die ganze Verruchtheit genau orientiert ist, sind wir jetzt beruhigt. Es ist also zu erwarten, daß die Vertuschungsversuche des Neuburger Staatsanwalts – und Beschwerde gegen seinen Bescheid ist an den Oberstaatsanwalt Kraus in Augsburg zu richten! – nicht ganz so prompt gelingen werden wie bisher alle Regierungslügen in Sachen Niederschönenfeld. – Es soll hier indessen auch angemerkt werden, wenn einmal etwas Angenehmeres vorfällt als wir gewöhnt sind. Das war zu unsrer Überraschung heute der Fall. Es gab nämlich – am Wochentag – ganz unmotiviert Festtagsessen: mittags Braten und für den Abend ist Bandnudel mit Dörrobst verkündet. Selbst Sonntags ist es nicht üblich, beide Mahlzeiten durch Leckerbissen zu verschönen. Des Rätsels Lösung? Wir wissen keine andre als daß heute der 27. Januar – „Kaisers Geburtstag“ ist! Da wir mit den ledigen Aufsehern und den Grünen gleiche Verpflegung haben, kann kaum bezweifelt werden, daß wir von deren – in dieser Republik behördlich vorausgesetzten – monarchistischen Gesinnung mit profitieren. Es paßt zu allem, was in dieser reizenden Republik allgemein vor sich geht. Stützen sich doch z. B. die Versammlungs- und Zeitungsverbote „rechtlich“ auch nur auf das Gesetz „zum Schutz der Republik“, das andrerseits für die offen royalistischen Spektakel, die für heute und morgen in München vor sich gehn sollen, keine Anwendung findet. Der Auftakt zu diesem Spektakel ist schon da. Die Demolierungs- und Plünderungsorgien, wie sie 1914 mit dem Krach im Café Fahrig begannen, haben schon eingesetzt. Ein Gerücht, nach dem die Ententemissionen von den Vier Jahreszeiten ins Hotel Grünewald übergesiedelt seien, hatte zur Folge, daß dieses Lokal fürchterlich zugerichtet wurde: Spiegel, Lüster, Service etc. wurden zertrümmert, die Silberbestecke gestohlen (worauf sich wohl in der amtlichen Beschwichtigungsnotiz der Hinweis beziehen mag, daß die Demonstranten es „gut gemeint“ haben). Natürlich wurden von der Polizei, die sich leider als zu schwach erwiesen habe, die Ausschreitungen – die im Anschluß an den Empfang des Pfälzer Regierungspräsidenten Chlingensberg erfolgten – zu verhindern, etliche Verhaftungen vorgenommen. Man scheint keinen Arbeiter unter den Patrioten gefunden zu haben, denn sämtliche Festgenommene wurden gleich wieder entlassen. Ebenso wie im Hotel Grünewald wurde in einem Café Hungaria in der Dachauerstraße gehaust, wo zwei Nürnberger Arbeiter sich an nationalistischen Gröhlereien nicht beteiligen wollten. Alles wie in der „großen Zeit“. Aber auch die Ultimata von damals sind schon wieder zur deutschen Praxis geworden. Freilich hat die bayerische Regierung auch hier den ersten Platz einem Münchener Hotelwirt überlassen. Der wollte sich von seinen Kellnern und Stubenmädchen von patriotischem Feuer nicht überleuchten lassen und erteilte den Mitgliedern der Ententekommission den ultimativen Befehl, bis zum Donnerstag Abend sein Hotel 4 Jahreszeiten zu räumen. Sie haben es nicht getan und statt ihrer hat die Regierung Knilling dem Verteidiger deutscher Ehre bedeutet, daß er sie nicht rausschmeißen dürfe, weil das den internationalen Gebräuchen zuwiderliefe. Ob der Hotelier nun den Franzosen für seine Person den Krieg erklärt hat, weiß ich nicht. Auch die Jagd auf „feindliche“ Zivilisten ist wieder in die Lebenssitten des Münchner Bürgers aufgenommen. Zwar hat man noch nicht gehört, daß wieder brave dicke Klosternonnen vor den Epigonen ihrer eignen hysterischen Verfolgungsmanie vor 8½ Jahren ihren vollen Vorbau entblößen mußten, um zu zeigen, daß ihre keuschen Brüste keine französischen Sprengbomben sind, wohl aber berichtet Frau Klingelhöfer von der Umstellung eines ganzen Stadtviertels, um 2 französische Studentinnen abzufangen. Man hat die armen Mädels gottseidank nicht erwischt. Wenn Max Weber sie etwa erwischt hätte, der auch für die hübschesten Weiber nichts übrig hat, hätten sie sich nicht zu freuen gehabt. – Nun ist ja gewiß anzunehmen, daß Poincarés Berichterstatter eher mehr als weniger nach Paris melden als wirklich geschieht, und nach den Erfahrungen Passau-Ingolstadt kann man erst recht nicht zweifeln, daß unsre guten Münchner aus ihrem wildgewordenen Spießerübermut recht bald erschrocken aufwachen werden. Ob sich die Pariser Regierung mit einem Ultimatum an Berlin wenden wird oder ob die einfach die Sicherung ihrer Leute in München durch Abkommandierung einer Kompanie Marokkaner in die Maximilianstraße selbst garantieren wird, – das wird man ja sehn. Das erste werden wohl Repressalien sein, die in der Pfalz spürbar sein werden, – was die Liebe der ohnehin nicht eben bayernbegeisterten, aber mit Münchner Liebeserklärungen täglich überfütterten Pfälzer zum „angestammten“ weißblauen Vaterland am Ende nicht sonderlich heben wird. Machen nun die Nationalsozialisten heut und morgen noch weitere Dummheiten – und wer ihren Schneid, wo er gefahrlos ist, wer zudem die Angst der bayerischen Regierung vor ihnen kennt, kann daran schwerlich zweifeln –, dann ist die Prophezeiung wohl nicht allzu gewagt, daß die bayerische Staatskunst unmittelbar vor Aufgaben steht, die garnicht mehr sie zu lösen haben wird, sondern die von ganz andern Gewalten zu meistern sein werden, entweder von den Franzosen – oder, wie ich noch nicht zu hoffen aufgehört habe, von den Arbeitern. Jedenfalls glaube ich an einen kurz bevorstehenden Krach in Bayern, bei dem alles das ins Rutschen kommen wird, was jetzt die „Ordnung“ dieses Landes repräsentiert. Möglich, daß die Nationalsozialisten zunächst wirklich ihren Diktator einsetzen können mit Vollmachten, wie man sie im „Miesbacher Anzeiger“ fordert (wobei das Blatt die interessante Mitteilung macht, daß Herr Epp im Jahre 19 von der Regierung Hoffmann dieselben Vollmachten verlangte und erhielt, nämlich völlige Unabhängigkeit von Regierung, Landtag und allen Instanzen, Alleinverantwortung vor dem eignen Gewissen! Das Bild dieser „Sozialisten“-Horde wird immer runder). Dann darf sich unser Erhard Auer freuen. Dann wird es ihm nicht helfen, daß er vor einem halben Jahr, als Bayern die Anwendung der Schutzgesetze verweigerte, postulierte: niemals dürfen wirtschaftliche Kampfmittel für politische Zwecke eingesetzt werden, und daß er jetzt selbst „vaterländische Streikkassen“ gründet zu dem ausdrücklichen Zweck, mit den wirtschaftlichen Machtmitteln des Proletariats die politischen Geschäfte der Bourgeoisie zu betreiben, dann werden ihm seine Rosensträuße und seine Kahr-Beglückwünschungen und alle seine Schurkereien gegen die Arbeiter und Liebedienereien gegen den Kapitalismus nicht helfen. Die „Bürgerwehr“, die er begründen half, um die Revolution niederzubütteln, wird in den Orgesch- und Oberlandformationen, die sie inzwischen angenommen hat, den eignen Vater packen – und der gewissenloseste Konterrevolutionär wird zu büßen haben, daß er vor den Arbeitern zu mimen versuchte, als meine er es gut mit ihnen. Sie glauben es ihm längst nicht mehr, aber ihre Feinde tun so als ob sie’s ihm glauben. Wahrscheinlich hat er den Koffer schon gepackt, um zu verduften. Ein verdientes Schicksal: ein Kerl, der rechts und links zugleich im Trüben fischte und nun von rechts und links gleichmäßig verachtet und an den Galgen gewünscht wird. – Ich will heute die Eintragung mit einer wichtigen Aufklärung zum Fechenbachprozeß schließen. In Berlin hat die „Liga junge Republik“ eine Versammlung gehalten um zu der Sache Stellung zu nehmen. Nicht der Referent Loewenfeld, der von „Volks“gerichtsbefehls wegen den Schnabel halten mußte, sondern von einem Diskussionsredner wurde der Inhalt des Ritter-Telegramms mitgeteilt, dessen Veröffentlichung Fechenbach das Genick brach. Danach war das Telegramm die Mitteilung des bayerischen Gesandten beim Vatikan Ritter, daß der päpstliche Stuhl das Vorgehn Österreichs gegen Serbien im Juli 14 billigte. Diese Tatsache bekannt zu machen, war also „Landesverrat“. Man muß doch sagen, daß sie die deutsche und österreichische Situation in der moralischen Beurteilung der Welt erheblich zu verbessern geeignet sein könnte. Worin die Schädigung Deutschlands bei der Veröffentlichung gefunden werden kann, ist völlig unklar. Wohl aber wird die päpstliche Diplomatie durch diese Jesuiterei schwer kompromittiert, und da liegt der Hase im Pfeffer. Bayerns gesamte Regierung und Verwaltung liegt in den Händen der Klerikalen, und die Justiz, grade in Bayern, zeigt täglich, daß ihr nur um die Gewogenheit der politischen Tonangeber gelegen ist, die im übrigen wohl auch die „Rechtspflege“ klugerweise ganz den Händen ihrer Parteigänger überantwortet haben werden. Das Urteil gegen Fechenbach konstatiert also „Landesverrat“ da, wo der Vatikan in Unannehmlichkeiten kommt. Der Vatikan als höchste Landesobrigkeit in Bayern-Deutschland! – Er hat sich schon dankbar erwiesen für das Zuchthausverdikt. Von einer großen Spende nach Deutschland hat auf Anordnung des Papstes die Hälfte nach Bayern geleitet zu werden. – Jetzt erklärt sich die Sorge der Richter vor Lautwerden des Ritter-Telegramms zwanglos. Man will noch als Richter in deutschen Diensten gelten. Formal ist ja Rom noch nicht die Hauptstadt Deutschlands und selbst Bayerns noch nicht, wenn auch die römische Kurie schon die Hand in der Schüssel jeder Verwaltung und selbst der Justiz hat. – Vor einigen Tagen hat Bayerns Justizminister, Herr Dr. Gürtner, erklärt: „Wer das Recht beugt, den wird das Recht beugen.“ Er meinte aber nichts, was mit dem Fechenbachprozeß zusammenhängt. Er meinte auch die Festungszustände in Niederschönenfeld nicht. Er sprach nicht von den bayerischen Unterscheidungen in der Rechtsbehandlung von Arbeitern und Nationalisten, von Monarchisten und Republikanern. Er sprach überhaupt von nichts, was in seinem Ressort zuständig wäre; er sprach vom Einmarsch der Franzosen ins Ruhrgebiet.

 

Niederschönenfeld, Montag, d. 29. Januar 1923.

Was mag gestern in München vorgegangen sein? Was mag sich heute, morgen und in den kommenden Tagen dort zutragen? Vorgestern abend erhielt ich ein Telegramm von Zenzl aus Cöln, in dem sie beunruhigt nach meinem Ergehn fragt. Rückformular lag bei. Ich war zuerst ganz perplex, da sie bis Sonnabend noch garkeine Nachricht von mir dort erwarten konnte und nun die unheimlich teure Frage stellte (840 Mark!). Erst heute kam die Lösung des Rätsels, ein Brief von ihr, in dem sie ihre Besorgnis mit der Tatsache begründet, daß in Bayern der Belagerungszustand verhängt sei. Erst nach dem Brief las ich die Blätter und in ihnen die Bestätigung. Es ist also soweit, daß der Kampf kommen muß. Die amtliche Erklärung stellt fest, daß die Regierung angesichts der Notwendigkeit, in dieser Zeit der Not den inneren Frieden zu hüten, die Umzüge und Freilichtversammlungen, die die Nationalsozialistische Arbeiterpartei im Zusammenhang mit ihrem Parteitag und den Fahnenweiheakten plante, verbieten mußte. Die Parteileitung habe darauf erwidert, sie werde ihr Programm auch gegen die Regierungsverbote durchführen. Damit habe die Partei den Boden der Gesetzlichkeit verlassen und der verfassungsmäßigen Regierung Bayerns den Kampf angesagt. Infolgedessen werde der Ausnahmezustand über das ganze rechtsrheinische Bayern verhängt und das Volk zur Aufrechthaltung der Ordnung und Innehaltung der Gesetze aufgefordert. – Nach weiteren Meldungen seien auch die 10 (oder 12) Versammlungen der Nationalsozialisten am Samstag und die von den Sozialdemokraten angekündigte Unterleitner-Versammlung verboten worden. Herr Hitler aber soll der Regierung bereits mit seinen Forderungen ultimativ unter die Nase gestiegen sein. So weit reichen bis jetzt unsre Kenntnisse. Natürlich ist der von Herrn Dr. Schweyer verhängte und von ihm als General-Staatskommissar zu dirigierende Belagerungszustand gewiß nicht als der plötzliche Entschluß zur Aufwendung von Energie zu deuten. Ich bezweifle sogar, daß man die Leute, denen man doch jetzt selbst öffentlich hochverräterische Absichten vorwirft, irgendwie behelligen, geschweige gegen sie Haftbefehle erlassen wird – die durchzuführen allerdings technisch schwierig wäre, da man ja nur Mitverschworene als ausübende Organe zur Verfügung hätte. Die Geste der Regierung wird wohl nur den Rückzug vor Hitler und Xylander decken sollen, als dessen Ziel entweder die Erfüllung des Ultimatums – Staatspräsident mit weitgehenden Vollmachten, Fremden- und Judenausweisungen und ein Wucher- und Schiebergesetz zum Wahren des Scheins werden wohl seine Minimalforderungen sein – also die Unterwerfung oder der Rücktritt mit der Pilatus-Allüre gedacht ist. Für die Beurteilung der Chancen Hitlers müßte man Genaueres wissen. Zwar lasen wir, daß das Reichsverkehrsministerium Herrn Wulle, dem Führer der „Völkischen Freiheitspartei“ den verlangten Sonderzug nach München verweigert hat, – wohl erst in Wirkung des Beschlusses der Betriebsräte vom Anhalter Bahnhof, ihn nicht zu befördern, auch daß ein etwa 400 Mann starker Hakenkreuzlertransport von Mecklenburg in Berlin abgefangen wurde und zurückgeschubt werden soll (doch sei es einigen Trupps trotzdem gelungen, die Bahnhofssperre zu durchbrechen), – doch diese Nachrichten beweisen ja, wie groß das Unternehmen in München gedacht war und daß offenbar der Mussolini-Spektakel von Neapel dort kopiert werden sollte. Es ist sehr wohl möglich, daß es einer großen Mehrheit von Transporten gelungen ist, ihr Reiseziel zu erreichen, und daß hinter den Veranstaltern die ganze legal und illegal bewaffnete Macht des Landes steht, weiß ja ohnehin jedes Kind. Falls die Arbeiter also keine einheitliche und außerordentlich nachdrückliche Gegenaktion organisiert haben, die von der ersten Stunde ab mit äußerster Entschlossenheit klappt – Generalstreik, vor allem der Eisenbahner und in allen „lebenswichtigen“ Betrieben, zugleich aber offensives Vorgehn zur Entwaffnung der Putschisten und ihrer verbündeten Polizisten und Militärs –, dann stehn die Aussichten der Nationalsozialisten für die ersten Tage glänzend. Die Verlängerung des Belagerungszustands kann für sie jedenfalls absolut nicht abschreckend wirken, da sie von absolut machtlosen Instanzen ausgeht, die schon bisher nur die Marionetten derer waren, die jetzt auch formell die Leitung für sich beanspruchen. Ich begrüße diese Entwicklung außerordentlich freudig. Der Kampf mußte ja endlich in eine akute Austragung übergehn und je vollkommener jetzt die Niederlage oder der Sieg der Macher sein wird, umso zuverlässiger werden sie ihren Trumpf das letzte Mal ausgespielt haben. Kriegen sie Keile – und das ist nur durchs Proletariat möglich –, dann haben sie auch in Bayern den Kappputsch verspielt, nachdem sie ihn hier fast 3 Jahre lang hemmungslos fruktifizieren konnten. Aber die Wirkung auf die Arbeiterschaft wäre weit günstiger als die nach der Niederstreikung jener Kapptage in Norddeutschland. Denn die bayerischen Arbeiter haben zwar eine vorerst gründlich verlorene, doch aber eine durchaus richtige Revolution durchgemacht und infolgedessen eine Serie von Fehlern schon hinter sich, die leider jedes kämpfende Volk selber machen muß, ehe es für die Fortführung von Revolutionen davon lernt. Die grauenvolle Rolle, die die Sozialdemokraten grade in Bayern gespielt haben, läßt sich in den Frauen und Kindern ihrer Opfer nicht mehr durch Parteischiebereien in Vergessenheit bringen. Man wird ja auch uns dann herauslassen müssen, – und an mir wird’s nicht fehlen, die Verbrechen derer tagtäglich neu zu plakatieren, die dem Epp den Freibrief zur Ermordung tausender von Arbeitern gaben, demselben Epp, den die Regierung Eisner, dem Herr Hoffmann, sein Anwinsler im April 19, selbst zugehörte, ein Vierteljahr vorher als gefährlichsten Konterrevolutionär hatte verhaften – allerdings nach 2 Tagen schon wieder uns Revolutionären in Stadelheim den Platz räumen lassen und die dem unter Möhls Säbel erzwungenen Terroristenregime seit März 20 bis jetzt geholfen haben, uns „Hochverräter“ gegen eine Verfassung, die es noch garnicht gab, und an deren Ersetzung durch die Räterepublik sie selbst tätig mitwirkten, außerhalb jedes Rechts in infamster Rachewillkür im Straubinger Zuchthaus und in der Niederschönenfelder „Ehrenhaft“ zu martern und zu zerstören (auch Hagemeister haben die Sozialdemokraten auf dem Gewissen!). Unterliegen also die Hakenkreuzler bei ihrem Aufstand, dann haben wir zwar zunächst eine Auerochsenregierung zu erwarten – da die Kommunisten den Kuchen der Revolution von den unfehlbaren Weltfeldwebeln in Moskau in „Phasen“ vorgeschnitten rationiert kriegen – aber das Proletariat, das den Februar und den April 1919 erlebt hat, wird eine Regierung schnell erkannt haben, die jeder betonten Revolutionsgesinnung gegenüber genau so hilflos wäre, wie die Regierung Knilling – und wie ihr würde es jedem ausgesprochen nationalistischen Ministerium gehn – der radikal völkischen gegenüber. – Siegen aber die Leute, dann wäre ihr Bankrott noch sicherer für allemal garantiert. Es würde sich dann zeigen, daß sie psychologisch falsch gerechnet haben, indem sie von italienischen Verhältnissen einfach auf die bayerischen zurückschlossen. Sie könnten dem Volk nichts, schlechterdings garnichts, bieten, natürlich abgesehn von einem Schein, dessen Licht höchstens für Tage leuchten könnte. Ich will selbst die außerordentliche Unwahrscheinlichkeit gelten lassen, daß das Ausland – die Tschechen und die Franzosen vor allen andern – untätig allem zusähen, und daß auch das Reich – was freilich nicht ganz so unwahrscheinlich ist – angesichts der Machtverhältnisse mit ihrer Exekutive nicht so tatfroh da wäre wie damals, als es zwar noch keine Verfassung gab, aber Proletarier niederzuknüppeln waren, und die Firma Noske-Oven Bayern „befreite“ – daß also auch das Reich sich nicht über den Main trauen wird, – dann ist doch 1000 gegen 1 zu setzen, daß die nordbayerische Industrie – die südbayerische erst, wenn die Kohlen ausbleiben – sich dem unvermeidlichen politischen Bruch mit dem Ebertreich aus wirtschaftlichen Rücksichten mit Händen und Füßen widersetzen würde und daß aus diesem wie aus zahllosen andern Gründen ein Zerfall der eignen Kräfte mit einer Schnelligkeit erfolgen würde, von dem selbst wir seinerzeit in dem Maße verschont waren. Sie hätten Gelegenheit, sich bis zur absoluten Pleite zu blamieren, und dann gibts kein Wiederauftreten mehr für sie. Angenommen aber selbst, die Bewegung hätte den ganzen erstrebten Erfolg und auch das Reich müßte die bayerische Restauration über sich ergehn lassen, dann ist – wollen die Leute überhaupt für ein paar Stunden ernst genommen sein – die offene Zerreißung des Versailler Dokuments ihre erste politische Tat. Und dann? Dann wird Deutschland von Franzosen, Tschechen, Italienern, Polen, Belgiern – und wahrscheinlich auch Engländern besetzt und das Theater ist von selber aus. Nur bliebe uns Revolutionären die peinliche Aufgabe, die Spahi und Madagassen und alle die armen Teufel, die dem Zwang gehorchend, nicht dem eignen Triebe bei uns „Feind“ spielen müssen, wieder hinauszuprügeln. Wie die Dinge schließlich auch enden mögen, die sich jetzt ernstlich zu entwickeln und schon im Gange zu sein scheinen: die „Ordnungszelle“ Bayern hat die längste Zeit gewütet. Es wird Tag im Lande. – Über diesen Ereignissen kommen mir die Vorgänge im Ruhrgebiet kaum mehr übertrieben bedeutungsvoll vor. Die Franzosen setzen sich mit einer Nonchalance über die politisch-rechtlichen Umgangsformen hinweg, die früher in Europa üblich waren, die einem nur bestätigen kann, daß sie wirklich alle einander wert sind. In Deutschland wird geweint, geschimpft, gedroht, geschnorrt und gelogen, wie immer, wenn das Geschäft den Zorn des kleinen Mannes braucht. Man boykottiert französische Waren und französische Käufer (ich bin überzeugt, daß die Drahtzieher diese Parolen bei einem guten Glase Bordeaux oder Veuve Cliquot ausgegeben haben), schmeißt französische und belgische Artisten aus den Variétés heraus, schreit, daß das französische Volk selbst alle Schuftereien aussinne, die Poincaré vollstrecke, läßt den allgemeinen Offiziersbund die Unvorsichtigkeit begehn, die Alliierten an die Auslieferungslisten zu erinnern, indem dieser Bund sämtliche französische Offizierskollegen für ehrlos erklärt, pumpt das Volk zugunsten der Ruhrmillionäre mit einem „Volksopfer“ aus, für das jeder Arbeiter einen Stundenlohn in der Woche geben soll; unterschrieben ist der Wisch von sämtlichen Arbeitgeberverbänden in burgfriedlicher Gemeinschaft mit dem Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund und allen übrigen Arbeitnehmerorganisationen, – und schimpft mörderlich auf die Kommunisten, die das Kind immerhin beim richtigen Namen nennen. Im preußischen Landtag nahm man eine vaterländische Resolution à la 4 August an, wobei die ehemaligen USP-Mitglieder in einer Anwandlung von Scham gegen den von ihrer eignen Fraktion miteingebrachten Antrag stimmten. Im Reichstag dagegen hat Remmele Dokumente produziert, die die tollsten Waffenschiebereien hoher Reichswehrstellen an die Orgesch beweisen. Natürlich verschweigt die gesamte Presse, außer der kommunistischen, den Skandal. Die „Einheit“ des deutschen Volks könnte sonst gestört werden. Herr Fritz Thyssen aber wird Ehrenbürger, weil er zwei Tage lang verhaftet war (er hat erklärt, daß er sich über die Behandlung durch die Franzosen nicht beschweren könne; da sollte er mal bayerische Methoden kennen lernen!) und – ein Milliardär – 5000 Papierfranken Strafe zahlen soll – und also sich als deutscher Held bewährt hat. Die Arbeiter streiken, wo man ihnen Militär in die Betriebe setzt, denken aber an kein Streiken, damit Stinnes im Industrietrust mit 50 % beteiligt wird. Die Reichsregierung tut furchtbar charaktervoll und sinnt im inneren Stübchen natürlich schon darüber nach, wie sie aus der Purée herauskommen mag. Die Franzosen lassen sich nicht stören, und in den nächsten Tagen wird wohl keine Kohle mehr aus dem Ruhrgebiet ins übrige Deutschland rollen; womit sich denn der furor teutonicus wieder legen wird. In 4 Wochen wird wieder besser „erfüllt“ als je zuvor. – Dies alles regt mich im Augenblick viel weniger auf als die Ereignisse im engeren Vaterlande Bayern. Soll mich wundern, ob wir hier nicht doch noch eher die Koffer packen können als wir vor ein paar Tagen noch glaubten. Möglich auch, daß vorher Herr Max Weber mit einer Hundertschaft herkommandiert wird, um uns die Gurgeln durchzuschneiden. Die zu unsrer Sicherheit bestellten grünen Polizisten traben seit einiger Zeit provozierender als je in unsern Bezirken herum. Von ihnen brauchten die Mörder keine starken Widerstände zu befürchten. – Es sollen 2 Tote dieser Tage erwähnt werden, da ich schon mal an mögliche Abschlüsse denke. In Paris starb der alte Max Nordau, eine längst verklungene Posaune des deutschen Spießers, von dem er erfuhr, daß mancher, der „sehr angenehm“ sagt, dabei sehr unangenehme Empfindungen hat; und, was betrübender ist, in Wien starb Alfons Petzold, erst 41 Jahre alt. Manches seiner sozialen Gedichte wird ihn lange überleben.

 

Niederschönenfeld, Dienstag, d. 30. Januar 1923.

Es ist noch viel kläglicher gekommen als ich gestern voraussah. Nachdem Herr Dr. Schweyer etlichen Presspiraten erklärt hatte, daß die Regierung sich diesmal auf keine Halbheiten einlassen könne und die Nationalsozialisten gründlichst abtrumpfen werde, nachdem er dabei erzählt hatte, wie der Polizeipräsident Nortz (jetzt Staatskommissar des Belagerungszustands für München) Herrn Hitler gradezu „väterlich“ ermahnt habe, Ruhe zu halten, der aber Gewalt gegen jeden Eingriff in seine Abenteuer angekündigt habe und dann, obwohl ihm Herr Nortz ausdrücklich dazu geraten hatte, nicht zu ihm – Schweyer – gekommen sei, um „Verständigung“ zu suchen, sondern am nächsten Tage 2 seiner Untergebenen geschickt habe, die den Minister jämmerlich zusammenputzten, – nach alledem und der höchst mannhaften Versicherung, daß es nun kein Zurückweichen der Regierung mehr geben könne, geschah folgendes: Die eintreffenden Bahntransporte von Hakenkreuzlern wurden mit Musik empfangen, die von der staatlichen Polizei gestellt wurde, sie wurden trotz der Umzugsverbote in geschlossenen Zügen durch München geleitet, – und daß die Transporte ziemlich zahlreich gewesen sein müssen, obwohl etliche Hundertschaften auch noch in Gera – wo man ihretwegen den Ausnahmezustand ausrief – verhaftet und in Nürnberg von den Eisenbahnern von der Weiterfahrt ausgeschlossen wurden, beweist die Meldung, daß am Sonnabend ein Umzug in München stattfand, bei dem 92 Fahnen und 4 Musikkapellen gezählt wurden. Ob dieser Umzug noch verboten oder schon wieder erlaubt war, ist nicht recht klar. Wohl aber hat die Regierung, die keine Halbheiten macht, amtlich erklären lassen, daß sie die verbotene Fahnenweihe im Zirkus Krone doch gestattet, von den 12 Versammlungen doch noch 6 genehmigt und den Umzug außerhalb der Bannmeile erlaubt habe. Es sei jedoch nicht mehr möglich gewesen, durch Plakate rechtzeitig das Verbot der übrigen 6 Versammlungen bekanntzugeben. Mit dieser Entschuldigung schließt die amtliche Kundgebung. Was sie bedeutet erfährt man durch die Zeitungsmeldung, daß halt doch alle 12 Versammlungen stattgefunden haben. Nur die Versammlungen der Sozialdemokraten und Kommunisten fanden nicht statt, und es wird erklärt, daß deren Veranstalter im Gegensatz zu den Nationalsozialisten nicht extra um die Genehmigung nachgesucht hätten. – So hat Hitler denn so ziemlich erreicht was er wollte: Belagerungszustand – mit außerordentlich scharfen Bestimmungen besonders über die Verhängung von Schutzhaft, – ausschließlich gegen Arbeiter wirksam; Diktator Schweyer, dessen Eignung ja nun erwiesen ist und der die Garantie bietet, nur als ausführendes Organ Hitlerscher Befehle zu handeln. Diejenigen aber, die vorgestern der bayerischen Regierung Gewalt androhten, nachdem sie unter den Augen dieser Regierung massenhaft Waffen, Munition und Handgranaten – von der Reichswehr der Republik zum Sturz der gleichen Republik geliefert – unter ihre Leute verteilt hatten, – kriegen von eben dieser republikanischen Regierung Musik gestellt und absolute Vollmacht, außerhalb der Gesetze nach Belieben zu wirtschaften. Man muß sagen: würdeloser als diese Regierung Knilling hat sich noch nie eine Regierung den Befehlen ihrer Gegner unterworfen. In Italien war, als Mussolinis Stunde kam, die Situation für das Landeskabinett ebenso hoffnungslos wie jetzt in Bayern. Auch dort stand die gesamte gewaffnete Macht nicht mehr zur Verfügung der Verfassungsgewalt sondern ihrer Umstürzer. Daraus zog de Fakta konsequenterweise die Folgerung, zurückzutreten und den wirklichen Machthabern auch nach außen die Verantwortung zu überlassen. In Bayern hält man sich auf Kosten jeder Ehre, jeder Selbstachtung auf dem Ministerstühlchen und erfüllt – als Exekutive der Gesetzgebung – einfach die Befehle derer, die die Gesetze stürzen. „Ordnungszelle“. Und dies 2 Stunden, nachdem man selbst erklärt hat: „Die Regierung wird nicht umfallen.“ – Aber man hat jetzt den Belagerungszustand, mit dem man sich aller übelgesinnten Kritiker erwehren kann. Wie stets, wenn draußen die Reaktion ihre üppigsten Sprünge ausführt, fühlen wir hier drinnen davon peinlich den Reflex. – Heute kamen ganz überraschend die Genossen Zäuner und Beimler in Einzelhaft. Zäuner war zu Fetsch gegangen und hatte für seine Zelle einen beweglichen Tisch erbeten, wie ihn jeder bis jetzt auf Verlangen bekommen hat. Fetsch erklärte patzig: Nein! und fügte neuerdings hinzu, er werde überhaupt nichts mehr für die Festungsgefangenen tun. Daraus entstand eine Auseinandersetzung, bei der Zäuner die Frage herausfuhr, ob F. vielleicht an uns Rache nehmen wolle. Er kam dann wieder hinauf und erzählte von dem Zusammenstoß, wobei Beimler meinte: „Der kommt sich ja hier wie ein Herrgott vor.“ Unvorsichtigerweise hat er die Aeußerung in zu großer Nähe des Gitters und der Märtyrer, der sie hörte, denunzierte sie natürlich keineswegs, erstattete aber pflichtgemäß Meldung. Jetzt sind beide Genossen unten isoliert. Zäuner hat hinaufrufen können, daß ihm Herr Hoffmann bei der Zudiktierung der Strafe auch noch mit dem Belagerungszustand drohte. (!) Was er auf Zäuners Entgegnung, daß der doch gegen die Nationalsozialisten und nicht gegen uns verhängt sei, geantwortet hat, wurde nicht mehr verstanden, da die Märtyrer, als sie die Unterhaltung hörten, die Fenster schlossen. Nun, – daß wir hier allem ausgeliefert sind, was die Reaktion in Bayern ausheckt, wissen wir längst. Jetzt fühlt man sich angesichts des siegreichen Ausgangs der Hitler-Schweyer-Schlacht mit dem Proletariat als Besiegten stark genug, um für unser Rechtsbegehren im Falle Hagemeister mit der Rachefolter einzusetzen. Wir werden also wohl für die nächste Zeit mal wieder nicht auf Rosen liegen. Aber ich glaube zuversichtlich, daß die Bayernknechter, die sich jetzt auf dem Gipfel fühlen, kurz vor dem Augenblick sind, in dem sie merken werden, daß ihr Aufenthalt ein verteufelt gletscherhaftes Glacis ist, auf dem sie notwendig ausrutschen und dann gesäßlings in die Tiefen fuhrwerken werden. Zwar tun die bayerischen Arbeiter anscheinend prinzipiell nichts mehr gegen ihre vollständige Zerpeitschung, und die Sozialdemokratie weiß denn auch schon wieder keine gescheitere Parole als die, die unter allen Umständen und bei allen Vorfällen herhalten muß: Abwarten! Vertraut euern bewährten Führern (den Auerochsen!)! Laßt euch nicht provozieren! Doch scheint der Verlauf der Sache nördlich der Donau überall große Aufregung in Deutschland hervorgerufen zu haben. Man wird vielleicht noch warten, ob die Franzosen und Belgier zu den Treibjagden auf reisende Landsleute von ihnen in Bayern nicht bald etwas unternehmen werden – was eher vermutet als bezweifelt werden kann, – um dann vom Reich aus den Versuch zu machen, evtl mit einem Augenzwinkern zu den Gewerkschaften hin, die Sperre über Bayern zu verhängen, – vielleicht doch halbwegs zivilisierte Gebräuche in diese Domäne der talentlosesten Bramarbasse einzuführen. Es muß ja allmählich den Geschäftemachern im Reich schwer auf die Nerven gehn, wenn täglich neue, immer kompromittierende Meldungen aus München kommen, wie zuletzt die von Ludendorffs Rede gegen die Republik, wo Marxisten an der Spitze jeden Gedanken an eine Einheitsfront vernichteten und die mit dem Aufruf schloß: „Getreu dem König!“ Schon machen sich die Folgen grade da bemerkbar, wo jeder Patriot am kitzlichsten ist, in den Wirkungen auf die Stimmung der deutschen Grenzbevölkerungen. Die Separatistenbewegung in der Pfalz nimmt offensichtlich schon einen Umfang an, der jeden, dessen Nationalgefühl sich an den Maßen der Landkarte orientiert, mit blassem Schrecken erfüllen muß. Vorerst protestieren die Pfälzer Arbeiter noch gegen die Politik der Konterrevolution in Bayern; eines Tages werden sie der geschickten Regie der Franzosen verfallen sein und weniger die deutsche Sprachgemeinschaft als die Währungsgemeinschaft mit dem Frankenreich ihrer Mentalität zugrunde legen. Mit diesem Köder – Einführung der linksrheinischen Frankenwährung – werden die Okkupatoren an der Ruhr wohl auch über kurz oder lang das Ziel erreichen, das Proletariat die Besetzung nicht garso sehr als Härte empfinden zu lassen wie das durch den Anblick der Heeressäulen mit Tanks und Kanonen zunächst natürlich der Fall ist. Die „Einheitsfront“, der „Burgfriede“ wie Anno 14 ist schon jetzt gescheitert, nicht zum mindesten dank Bayern. In den allernächsten Wochen wird nun ohne alle Frage die Regierung Cuno am Ende ihrer Obstruktionsweisheit nach Verständigung suchen. Nicht die Verhaftungen der Verwaltungs- und Verkehrsbeamten im ganzen Rheinland wird das bewirken – die werden im Gegenteil als Stachel zur Hochhaltung der Revanchestimmung benutzt werden; aber die Absperrung des ganzen Kohlenreviers ist fertig, und die Versorgung Deutschlands mit dem Futter der Industriekessel im äußersten Maße gefährdet. Nun aber ist die Antwort der Reparationskommission auf das Ersuchen vom November um Gewährung eines Moratoriums erfolgt. Da wird erklärt, daß die Notifizierung der Reichsregierung vom 13. Januar, wonach alle Zahlungen und Lieferungen an Frankreich und Belgien überhaupt eingestellt werden, die Bedeutung einer Annullierung des Moratoriumgesuchs habe, sodaß sich eine Beschäftigung damit erübrige und die Zahlungsbedingungen vom Mai 1921 (Londoner Ultimatum) automatisch wieder in Kraft treten. Demnach soll Deutschland am 31. Januar (morgen) die Kleinigkeit von 500 Millionen Goldmark (beim jetzigen Valutastand – der Dollar ist 30.000 Mark wert – 3 Billionen Papiermark) bezahlen. Es sind also für die ersten Februartage schon weitere „Sanktionen“ zu erwarten, die voraussichtlich die völlige Okkupation des linken Rheinufers durch Entfernung des ganzen deutschen Beamtenapparats enthalten werden. Dann wird das Gezeter bei uns erst recht angehn, und nur sehr wenige Leute werden die Unehrlichkeit derer dabei durchschauen, die die Stimmgabel dazu schwingen. Das sind die Herren Stinnes und Genossen. Die sind nämlich jetzt drauf und dran, ihr Kriegsziel zu erreichen, das früher hieß: die Erzbecken von Briey und Longwy – zum Zweck der Wirtschaftseinheit dieser mit den Montanindustrieen des Ruhrgebiets –, und das nun – nur unter andrer Staatsfirma – wirklich zustandekommt. Wie optimistisch die Börse die Chancen dieser Vertrustung einschätzt, erhellt aus der Tatsache, daß die Aktien der Ruhrzechen seit der Besetzung um nicht weniger als 1500 % gestiegen sind. Die Interessenten aber an diesem verwegenen Geschäft finanzieren die Völkischen, damit sie die Aufmerksamkeit von den arischen Gaunern weg auf die Juden lenken sollen und unter dem Ruf: „Brechung der Zinsknechtschaft!“ Pogrome unter jüdischen Halbproletariern inszenieren. Kann man gleichzeitig dadurch die Arbeiterkoalitionen zersprengen und aufreiben – tant mieux. Die Sozialdemokratie aber – und an ihrer Spitze Ebert der Taktvolle – machen diesen ganzen ruchlosen Schwindel mit. Aber lange kann die Infamie ja nicht mehr die Larve halten. Fällt sie ab, dann ist’s vorbei mit der Lethargie der Betrogenen. Dann wehe den Betrügern!

 

Niederschönenfeld, Mittwoch, d. 31. Januar 1923.

Heut früh gab es erregte Diskussionen und der Latrinengeruch der tollsten Vermutungen durchzog den Käfig Niederschönenfeld. Es wurden nämlich eine ungewöhnlich große Zahl von konfiszierten Zeitungen mitgeteilt, darunter die Frankfurter, der Fränkische Kurier, die Münchener Post, die Fränkische Tagespost, der Bayerische Kurier etc. Die Auffassung, daß es in München „aufgegangen“ sei, war allgemein. Da eine gestern hereingelassene Nummer der Berliner Volkszeitung von Verhandlungen der „freien“, christlichen und Hirsch-Dunckerschen Gewerkschaften in München über die Proklamierung des Generalstreiks mit Einschluß der lebenswichtigen Betriebe berichtete, glaubten die Genossen, die Arbeiter dort seien endlich doch zur Aktivität übergegangen. Dagegen wandte ich sofort ein, daß in diesem Falle ja die Münchner Presse in Niederschönenfeld nicht mehr hätte verboten werden können, da sie – mindestens die bürgerlichen – ja schon nicht gedruckt geschweige befördert worden wären. Ich selbst hatte die Befürchtung, daß die Fortsetzung des Nationalsozialistischen Parteitags bei Judenpogromen und Ermordungen von „Novemberverbrechern“ angelangt sei. Einige meinten, die Beschlagnahmungen hingen mit der gestern in einer versteckten Mitteilung eines sozialdemokratischen Blatts entdeckten Tatsache zusammen, daß die Kommunisten und Sozialdemokraten des bayerischen Landtags eine gemeinsame Interpellation eingebracht hätten, die Aufklärung verlange über den „unter eigenartigen Begleitumständen“ erfolgten Tod des Abg. Hagemeister in Niederschönenfeld. – Nun hat sich herausgestellt – und ist durch die Ausgabe einiger weiterer Dienstagnummern von Zeitungen bestätigt worden, – daß es sich in der Tat kaum um ein umwälzendes Ereignis handeln kann, das uns vorenthalten werden soll. Denn die zurückgehaltenen Blätter sind fast ausschließlich Montag-Ausgaben, und die hereingelassenen Blätter späteren Erscheinens enthalten nichts, was auf katstrophische Entwicklungen hindeutet. So kann es also immerhin sein, daß etwa eine amtliche Notiz über Augusts Tod den Eifer des Herrn Gollwitzer beflügelt hat. Man will sich wohl gegen die Unannehmlichkeit panzern, daß wir Möglichkeiten finden möchten, handgreifliche Unwahrheiten als solche der Öffentlichkeit zu denunzieren. Wie emsig man bestrebt ist, uns Tatzeugen von jeder Mitwirkung an der Aufklärung des Falls auszuschalten, dafür ist ein neuer Beweis da. Ich schrieb gestern das Folgende hinunter: „An die Festungsverwaltung. – Am 16. Januar sagte die Verwaltung zu, daß meiner Anregung, unsern verstorbenen Gen. Hagemeister auf Kosten der Fest.-Gef. zu photographieren und uns Abzüge zur Verfügung zu stellen, entsprochen werden solle. – Ich bitte um Mitteilung, ob die Aufnahme erfolgt ist und unter welchen Bedingungen die Lichtbilder den Fest.- Gef. zugänglich gemacht werden. N’feld, d. 30. Jan. 23. Erich Mühsam.” Darauf wurde mir heute eröffnet (von Fetsch vorgelesen): „Der Bitte um Aushändigung der Photographien kann nicht entsprochen werden. Die Aufnahme ist zu amtlichen Zwecken erfolgt.“ – Recht bequem. Immerhin ist’s gut, daß wir jetzt bestimmt wissen, daß der arme August in der Sterbestellung tatsächlich aufgenommen worden ist. Zu ihrer Verteidigung werden die für die sanitären Verhältnisse in Niederschönenfeld verantwortlichen Organe das Bild schwerlich gebrauchen können (sonst hätten sie ihr Versprechen, es uns zu geben, wohl gehalten). Zur Anklage aber wird es auch später noch seine Dienste tun, wenn einmal die Gegenrechnung präsentiert werden wird. Diese Stunde des Abrufs der reaktionären Schuldliste war für unsern toten Freund immer ein Gedanke des Trostes und der Hoffnung wie für uns alle. Sein Zeugnis gegen den Feind wird aus dem Schattenreich lauter tönen als das aller Überlebenden. Denn das haben die großen Übeltäter in aller Geschichte nicht begriffen, daß keines ihrer Opfer einen beredteren Mund hat als das, dessen Mund sie für ewig verstummt glauben. – Zurück zu den Tagesereignissen. Wir wissen also nicht viel, wissen irgendetwas mindestens für uns Bedeutsames bestimmt nicht. Trotzdem bleiben noch gewisse Neuigkeiten aus den paar Zeitungsblättern der Erwähnung wert. So hat sich im Reichstag ein Ausschuß über die Vorgänge in Bayern unterhalten, und da hat Herr Hermann Müller erzählt, wie es kam, daß die Münchner Regierung so prompt in die Retirade geriet. Kürzlich wurde Herr v. Möhl, der schneidige Staatsstreichler von 1920, der die Helden Hoffmann-Endres und Genossen vor Kahr ausreißen hieß, nach Cassel versetzt, angeblich, weil das Reichswehrministerium einen republikanisch zuverlässigen Kommandeur in der Zentrale der Mordvölkischen wünschte, in Wahrheit wohl, um Herrn Scheidemann seinerzeit den Rücktritt von seinem Oberbürgermeisterposten durch eine für solche Fälle erprobte Kraft zu erleichtern. An den Platz des Oberkommandierenden der Reichswehr Bayerns kam aber der General v. Lossow, eine unter Noske schon bewährte republikanische Größe, nach München. Dieser Herr hat jetzt also laut Bericht seines verflossenen Noske-Reichskanzlers Müller sich seiner republikanischen Sendung erinnert, und er war es, der Herrn Dr. Schweyer mit einem zarten Wink (mit dem Säbel) zur Bewilligung der verbotenen Hitler-Unternehmungen bewog. Bekanntlich ist Deutschland von jeglichem Militarismus endgiltig befreit. Der Fall muß nur recht ins Glied gebracht werden. Zusammen mit Herrn v. Möhls Hoffmannssturz Anno Kapp-Kahr und Herrn v. Seekts Besuch bei Ebert, um beim Antritt des demokratenreinen „linken“ Wirth-Kabinetts das Verbleiben des Dr. Geßler am Noskeposten zu bewirken – und jedesmal war der Erfolg der militärischen kleinen Wunschandeutungen augenblicklich da, – wird Herrn v. Lossows erstes Auftreten als Repräsentant der republikanischen Waffenmacht des Reichs im monarchistischer Neigungen verdächtigen Bayern dem Historiker dereinst eine hübsche Randzeichnung auf den Blättern der deutschen Kultur nach der Entmilitarisierung bieten. – Die bayerische Regierung selbst hat ja ihr Zurückweichen – das hingegen keineswegs ein solches gewesen sei – anders erklärt, nämlich damit, daß angesichts des Umstands, daß ⅔ aller Einwohner Münchens hinter den Nationalsozialisten ständen (wer arbeitet, scheint in dieser Ordnungszelle nicht mitzuzählen), die ausführenden Sicherheitsorgane des Staats nicht in einen schweren Gewissenskonflikt gebracht werden sollten. Das ist ja eigentlich deutlich genug eingestanden, daß man eben nicht mehr die Regierung ist, und daß die Machtmittel des Staats nur noch den Befehlen derer gehorchen, die eben diesen Staat gewaltsam ändern wollen. Aber die Meldung, daß Herr Schweyer von seinem Amt zurücktreten werde, wird so lebhaft dementiert, daß man ihn wohl in wenigen Tagen stolpern sehn wird. Er scheint allerdings krampfhaft an dem Posten zu hängen, denn schon heißt es, nicht er, sondern sein Unterorgan, der Polizeipräsident Nortz müsse gehn, der selbst, nachdem ihm Hitler mit der „roten Welle“ gedroht hatte, die über München losfluten werde, den Belagerungszustand verlangt und dann doch – angeblich entgegen dem Willen Schweyers – in allen Punkten nachgegeben habe. Interessant ist nun was der Innenminister Öser vom Reich auf Müllers Behauptungen geantwortet hat. Er bestritt nicht etwa Herrn v. Lossows, des Militärs, Eingreifen in die bayerische Politik, meinte aber, der General habe nur „vermitteln“ wollen, um Zusammenstöße zu vermeiden (deren Organisierung doch sein Gewerbe ist). Ferner gab Öser zu, daß der Belagerungszustand in Bayern nur gegen Sozialisten wirke, also gegen „verfassungstreue“ Elemente, nicht aber gegen die, die ankündigten, sie würden die Verfassung gewaltsam stürzen. Er habe auch nichts gegen die Beseitigung des Belagerungszustands, wolle aber mit ihrer Erzwingung gern noch warten. Erbauliche Zustände! – Und inzwischen geht der französische Imperialismus in den neubesetzten Gebieten an der Ruhr zielsicher seinen Weg vorwärts. Daß die Amerikaner Coblenz geräumt und ihre Besatzungstruppen von Deutschland eingeschifft haben, was Alldeutschland jubelnd vernahm und als Ausfluß höchster Sympathie der USA deutete, ist den Generälen Poincarés natürlich hochwillkommen, da sie nun ihre weißen und farbigen Poilus an den für sie wichtigen Brückenkopf dirigieren können. Die Engländer aber haben beschlossen, ihre Truppen in Cöln und Umgebung zu lassen, und man deutet auch das bei uns zum Besten. Denn natürlich besagt das nicht, daß Großbritannien sich wegen der Lausanner Verhandlungen, die bei Gott immer noch weiter geschleppt werden, mit Frankreich nicht gern in Konflikt bringen will, sondern nur, daß die lieben Freunde Deutschlands jenseit des Kanals um alles in der Welt verhüten wollen, daß Cöln von schwarzer Schmach entsetzt wird (militärisch gesprochen; denn ein Deutscher entsetzt sich nicht!) Der Dollar ist 34000 Papiermark wert, die Preise steigen noch rascher und höher. Der Eisenbahnverkehr wird wegen beginnenden Kohlenmangels eingeschränkt. Im Rheinland und in der Pfalz sollen die großen Coups der Separatisten unmittelbar bevorstehn, und der Ernst der Zeit wird mit Tanzverboten und Kriegslügen jedem Deutschen ins Bewußtsein gehämmert. Ich glaub’s weniger als je, daß diese „Ordnung“ uns noch lange gefangen halten wird. Heute nacht werde ich von meinen 5558 Tagen (13. April 1919 – 21. Juni 1934) das erste Viertel (1389 Tage) geleistet haben. Vivat sequens?

 

Niederschönenfeld, Donnerstag, d. 1. Februar 1923.

Ich habe also sozusagen die erste Hälfte einer Hinterbacke abgesessen und nehme deren andre in Benutzung, um nach weiteren 3¾ Jahren den Rest auf der berühmten einen Arschbacke zu erledigen. Ein Rückblick auf die Ereignisse des ersten Viertels stimmt aber garnicht elegisch. Der Niederbruch der ganzen Herrlichkeit, die man versprach, als man über uns triumphierte, ist in immer rascher aufeinanderfolgenden Etappen soweit gediehen, daß jetzt bei keinem sinnenbegabten Menschen mehr ein Zweifel bestehn kann, daß wir mitten in der Katastrophe drinstecken, deren Vollendung – selbst gegen den Willen derer, auf die es ankommt – die soziale Revolution sein muß. Es ist keineswegs unmöglich, daß zur Vollendung der Katastrophe noch erst die neue Inbrandsetzung des allgemeinen europäischen Krieges gehört. Der Zustand zwischen Deutschland und Frankreich, der zur Zeit besteht, sieht ja in der Tat schon einem Kriege bedeutend ähnlicher als einem friedlichen Geschäft. Brauchen unsre Nationalisten bloß noch ihren Willen durchzusetzen, daß die Reichsregierung den Versailler Vertrag formell als annulliert erklärt (bis jetzt ist ja juristisch nur die Leistung aus seinen Verpflichtungen für einzelne Vertragspartner für Zeit sistiert) – und der casus belli wäre gegeben. Es wird aber nicht bloß von Frankreich aus gegen Deutschland mit dem Säbel gedroht. Rußland scheint gegen Polen, Ungarn gegen die „Kleine Entente“, die Türkei gegen England zu rüsten, – in Ost und West, in Europa und hinüber nach Asien spritzen Fünkchen, die verflucht explosiv aussehn. Die ganze Atmosphäre ist der vom Sommer 1914 ähnlich, und man hat das Gefühl, als ob alle Diplomaten der Welt nur noch auf einen neuen Mord im Stile Sarajewo warten, um ihren Generälen das Signal zu geben. Unsre teuren Landsleute zeigen in dieser Situation, was sie in den letzten 9 Jahren gelernt haben, und wie sie sich psychisch umgestellt haben. Sie sind wieder mal entflammt und je nach Klasse, Kasse und Rasse „würdig gefaßt“ oder teutonisch entfesselt. Die Pazifisten machen den Rummel in gleicher Blödheit mit wie ehedem: Poincaré ist ein Sadist und wir Deutschen waren stets die friedfertigste Nation der Welt. Man brauchte drüben nur die Kriegszieleingaben von Hergt bis Quidde (der den Belgiern „nur“ den Kongo wegnehmen wollte) zusammenzustellen und beweisen, daß die gesamte deutsche Industrie, Landwirtschaft und Börse das Gemetzel bis zu wahrhaft phantastischen Eroberungen fortsetzen wollte, daß Scheidemann namens der Arbeiterschaft erklärte, der Gedanke, Grenzsteine dürften beim Friedensschluß nicht verrückt werden, sei verrückt, daß die Sozialdemokratie nicht gegen den „Frieden“ von Brest-Litowsk stimmte und nach seinem Abschluß nichts gegen die Raubzüge durch die Ukraine bis zur Krim einwandte, aber dem „Frieden“ von Bukarest, der den Rumänen unendlich tolleres zumutete, als jetzt selbst die endgiltige Okkupation des Ruhrlandes durch die Franzosen bedeuten würde, offen zustimmte; man brauchte bloß an die Denkschriften der Erzberger, Stresemann, Helfferich, Zeppelin etc. zu erinnern und das ganze Gekreisch gegen die Franzosen, die ihre Macht nun eben für sich so gebrauchen, wie die deutsche Macht ganz selbstverständlich gebraucht worden wäre, wenn man die Möglichkeit gefunden hätte, wäre als militaristisch-revanchistisch-nationalistische Geschäftsmache entlarvt. Bis jetzt glauben die Reichsregierer noch, ihre Position durch weitere Aufstachelung des passiven Widerstands zu stärken. Die Tatsache schon, daß die Reichswehr – wenigstens offiziell – täglich tausende von Freiwilligen, die in sie eintreten möchten, zurückweist, daß die Roßbach- und andern „verbotenen“ Hakenkreuz- und Selbstschutz-Freikorps, die nationalsozialistischen und völkischen Stoß- und Sturmtrupps ungestört üppiger in die Halme schießen als je, zeigt deutlich genug, wie ernst die maßgebenden Kreise – und die sind in dieser Republik die monarchistischen – die Warnungen nehmen, nur ja keinen aktiven Widerstand zu versuchen. Bis jetzt steht auch übrigens die Antwort der Franzosen auf die bayerische Bekanntgabe aus, daß man in Bayern nicht mehr für die Sicherheit der alliierten Kontrollkommissionen bürgen könne. Eine Wiener Zeitung will wissen, die Reichsregierung habe schon eine Note des Inhalts zugestellt bekommen, daß die geringste Unannehmlichkeit, die Herrn Dard zustoßen sollte, mit den schärfsten Maßregeln gegen Bayern direkt geahndet werden solle. Diese Meldung ist schon dementiert, sie wird auch in der Form nicht richtig sein, sondern bestimmt präzise Forderungen verschweigen, mit denen Bayern zu Maßnahmen zum Schutz der bedrohten Personen angehalten wird. Ein unmittelbarer Konflikt Bayerns mit Frankreich würde ohne Zweifel hierzulande das Faß zum Überlaufen bringen. Denn entweder beugt sich Herr Knilling den französischen Zumutungen, dann halftern ihn die besoffen geredeten Hitlerbanden ab, oder er zeigt Widerstand, dann darf München für Marokkaner und Sudanesen Quartiere frei machen. – Aber soweit ist es noch nicht. Vorerst wird, während man sich insgeheim gegenseitig mit jedem Dreck bewirft, öffentlich „Einheitsfront“ gemimt, und welche Rolle dabei speziell wieder die Sozialdemokraten spielen, braucht nicht gesagt zu werden. Ihr großer Wurf zur Rettung des Vaterlands ist gänzlich mißlungen. Sie wollten nämlich die Amsterdamer Gewerkschaftsinternationale mobil machen und verlangten einen Generalstreik über ganz Europa, damit die Herren Weygand und Degoutte wieder aus Essen abzögen. Sie sind böse ausgerutscht. Man sagte ihnen – und noch dazu die Engländer, die sie doch als edelste Deutschenfreunde anschmachten –, daß das deutsche Volk insgesamt sowenig Sympathie bei den übrigen Proletariaten habe, daß man für eine solche Forderung nirgends viel Verständnis finden werde. (Während doch in Wahrheit die Antipathie gegen die Arbeiter bei uns nur auf der Tatsache beruht, daß sich ein fremdes Proletariat nicht in die absolute Willensabtötung einer Arbeiterschaft hineinfinden kann, deren beamtete Führer die Spekulation auf die unpolitische Veranlagung der Deutschen selbst nach ihren Kriegslumpereien noch erfolgreich weiter betreiben können). Man warf ihnen auch die Dumpingmethoden vor, zu denen sich das deutsche Proletariat durch das sklavenhafte Aufsichnehmen der elendsten Arbeitsbedingungen zugunsten des Kapitals gebrauchen läßt und nannte dies Ansinnen an die Solidarität der übrigen Arbeiterschaften Europas beim rechten Namen: als nationalistische Gaukelei. Der Gegenvorschlag, die deutschen Gewerkschaften sollten – nicht bloß im Ruhrgebiet sondern im ganzen Reich den Generalstreik aufnehmen, fand natürlich keine Gegenliebe, und nachdem Herr Leipart noch vergeblich gebettelt hatte, man möchte doch wenigstens 24 Stunden feiern – er hätte sich schließlich auch mit einer oder einer halben Stunde abgefunden, wenn man sie ihm geboten hätte, faßten die „Arbeiter“prokuristen der kapitalistischen Regierungen der verschiedenen Länder schließlich eine nichtssagende Resolution und gingen wieder auseinander. – So preisen denn jetzt unsre deutschen Sozialdemokraten die Cunosche Politik – trotz ihrer „Opposition“ – über den grünen Klee. Wie steht es mit dieser Politik? Als Cuno Wirth ablöste, stand der Dollar etwa auf 8000 Mark. Cunos Aufgabe war, vom Inland, vom Ausland, von ihm selbst und von allen Schmöcken so verkündet, die Mark schleunigst und rücksichtslos zu „stabilisieren“. Und Cuno ging ans Werk, an dem er sich nun seit 10 Wochen befindet. Der Dollar stand gestern nach den Zeitungskursen schon bei 40.000; heute lautet unsre letzte Kenntnis aber auf – 52000! Ein wahrhaft genialer Staatsmann. Aber freilich: wenn doch die Franzosen ins Ruhrgebiet einmarschieren, unsre Beamten verhaften und ausweisen, eine Schreckensherrschaft aufrichten – wie kann man da die Mark stabilisieren?! – Gewiß. Nur wird die Frage nicht müssig sein, ob es zu alledem – mindestens in diesen Formen – gekommen wäre, wenn Cuno ein besserer Staatsmann gewesen wäre. Aber wozu sollte er denn? Der Marksturz macht in Deutschland alle Großunternehmer fett; mag drüber die Canaille im Elend verrecken! – Der erste Monat des neuen Jahres war also reichlich mit Sensationen garniert, im Leben aller und – leider! (ich habe unsern Verlust noch garnicht verschmerzt) – auch hier drinnen. Aber bis jetzt stehn unsre Patrioten allenthalben noch recht zufrieden vor ihren Spiegeln und bewundern sich darin als rückensteife Germanen. Auch hier bei uns haben nicht nur Herr Fetsch, sondern auch andre Leute ihren bei Augusts Tode etwas klein gewordenen Übermut wiedergefunden. Der Herr Dr. Steindl! er geht zur Offensive über und will die Festungsgefangenen, die ihn boykottieren, zwingen, ihn aufzusuchen. Ich notiere folgenden Fall. Mein Freund Ferdl Luttner hat ein schweres Beinleiden, das Andenken an eine Knochenhautentzündung als Folge einer „Platte“-Nacht als Walzbruder. Er lahmt stark, leidet an dem Bein an Krampfadern und, was das schlimmste ist, an schweren sehr schmerzhaften rheumatischen Anfällen. Der Arzt verordnete ihm zuerst eine Wärmflasche (die Ferdl dann, als Augusts Krankheit ausbrach, ihm gab) und dann eine Extradecke. Erst in der vorigen Woche hatte der arme Kerl eine Attacke zu überstehn, die ihn 2 Tage ans Bett band. Natürlich geht er als einer der Ankläger Dr. Steindls nicht mehr zu ihm. Heute aber meldete sich der beim Ferdl. Er schickte nämlich einen Märtyrer zu ihm mit dem Auftrag, er solle die Decke – laut Anordnung des Arztes, wie ausdrücklich gesagt wurde, – wieder hergeben. Die Decke war ihm nicht befristet gegeben worden; der Arzt hat ihn auch nicht angesehn oder untersucht, ehe er ihm die von ihm selbst zuerkannte sanitäre Hilfsmaßnahme entzog. Auf seinen Einwand aber, er brauche bei seinem Zustand die Decke noch durchaus notwendig, erhielt Ferdl die Auskunft, dann möge er sich zum Herrn Bezirksarzt melden und sie sich neu verordnen lassen! – Der Fall ist in seiner Kraßheit fast unglaublich. Dieser christliche Samariter ist beleidigt, weil wir den Tod unsres liebsten Kameraden, der seiner Pflege anvertraut war und den er so verarztete, daß der Kranke ihn ein paar Stunden vor dem Tode nicht mehr an sich herankommen ließ, diesen finstern Tod in der Strafverschärfungszelle, für die der Arzt nicht mal ein Krankenbett holen ließ, obwohl der Patient auf dem harten Strohsack nicht liegen konnte, dem er nicht einmal einen Stuhl besorgte – der Stuhl in dem August starb, gehört uns Kameraden von ihm (Valtin Hartig vermachte ihn bei seinem Abschied unsrer Lesegruppe) – und daß zuletzt kein Mensch um den Sterbenden war, der hilflos und elend verenden mußte, – er ist beleidigt, weil wir diese Scheußlichkeit nicht gottergeben und von der Weisheit seiner Obrigkeit ergriffen hinnahmen, sondern Aufklärung und für uns die Befreiung von der Pflicht verlangten, unsre Leiden, unsre Leben demselben „Helfer“ anzuvertrauen. Er fühlt den Boykott als Kränkung, und um sich diese peinliche Situation zu ersparen, umsonst zu warten, daß mal einer krank wird und ihm nicht auskommen kann, veranstaltet er das Akutwerden von Krankheit, entzieht er dem Patienten, über den er sich ärgert, die Heilmittel, ohne die er nicht sein kann: willst du nicht, daß es dir geht wie dem Hagemeister, – dann bemühe dich halt zu dem Arzt, dem du die Schuld an dessen Tod gibst. Willst du das nicht, – auch recht; verreck auch du! – Εσσεται ἦμαρ! Ich habe heute wieder eines Toten zu gedenken, und das ist des großen Schauspielers Rudolf Schildkraut. In Amerika hat’s ihn ereilt. Das geht mir nahe. Ich erinnere mich vieler Nachmittage mit ihm im Berliner Café Monopol, mancher Abende in München in der Torggelstube, – und einer unvergeßlichen Aufführung im jiddischen Theater in Berlin, die ich mit Schildkraut und Schalom Asch (oder war’s Ossip Dymoff?) zusammen besuchte. Da sah ich den genialen Mimen als Zuschauer und sah ihn als Menschen, und sah ihn als sein Wahrstes: als Juden. Das war für mich eins der schönsten Theatererlebnisse – und der Schauspieler, dem ich es dankte, saß neben mir im Parkett und schrie vor Begeisterung und mauschelte – und lehrte mich kennen, wie ein großer Darstellungskünstler auf sein Publikum wirken möchte, da hier die Jargonspieler mit ihrem Temperament und ihrer Echtheit auf ihn so wirkten. – Und er konnte dieselbe Wirkung von der Bühne tun, nur mit dem Unterschied noch, daß bei ihm nicht nur das Temperament und die Echtheit des Menschen begeisterte, wenn er auf der Bühne stand, sondern vor allem das Undefinierbare, die Kunst, die ganz große, ganz farbige und schallende Kunst, die man so selten auf dem Theater sieht. Rudolf Schildkraut war einer der allergrößten Bühnenkünstler, die ich sah. Er ist tot und sein herrlicher, sein unsterblicher Shylock wird nie wieder die ganze Tragik des ewigen Juden erregten Menschen zum Herzen tragen. Dieser Mann war eine Welt von Innerlichkeit und Feuer, – eine Welt voll Kunst ist mit ihm gestorben.

 

Niederschönenfeld, Sonnabend, d. 3. Februar 1923.

Tausend Möglichkeiten hängen zwischen den Wirrnissen, zu denen wieder die lächerliche Impotenz der Berufspolitiker getrieben hat. In Lausanne haben die europäischen den türkischen Diplomaten nun monatelang das Fell über die Ohren zu ziehn versucht. Erst galt der „Friedensvertrag“ von Sèvres, ein Meisterstück, so dumm und gierig wie die ähnlichen „Verträge“ von Versailles, St. Germain, Trianon etc. Die türkischen Nationalisten benutzten den stets latenten Orient-Konflikt zwischen britischen und französischen Imperialisten, indem sie auf Frankreich setzten und den Protégé Englands, Griechenland, angriffen und besiegten. Das Paragraphenwerk von Sèvres war kaput, in Mudania wurde ein neues geschustert, provisorisch, bis in Lausanne endgiltig die Weisheit triumphieren sollte. Es gab den nachgrade üblich gewordenen Krach, den die Diplomaten der ehemaligen Sowjetrepublik Rußland um ihren Platz an der Sonne des Weltkapitalismus schlugen; es gab lange und öde Auseinandersetzungen um die ewige Dardanellenbeherrschung, – wobei die Engländer so ins Hintertreffen kamen, daß Lloyd George dabei zu Fall kam; es gab Verhandlungen von unendlicher Breite und Unfruchtbarkeit, die schließlich in den Auseinandersetzungen darüber kulminierten, welches Landes Ausbeuter die Ölreichtümer von Mossul zur Ausplünderung der Völker beherrschen dürften. Zur Zeit sitzen die Engländer in Mossul, doch möchten die Franzosen lieber ihre türkischen Schützlinge das Gebiet für Frankreichs Kapitalisten ausrauben lassen. Man durfte annehmen, daß es der Lausanner Konferenz so gehn werde, wie es Konferenzen derzeit meistens geht: man geht auseinander unter tiefen Bücklingen, verabredet eine neue Zusammenkunft und lädt inzwischen die Haubitzen. Aber es kam zunächst mal etwas andres heraus: die Alliierten einigten sich. England, Frankreich und Italien bauten, ohne Tschitscherins Proteste zu beachten, ein nagelneues „Friedens“dokument mit beträchtlichen Konzessionen an die Türken in allerlei Einzelfragen – Fremdenrecht etc – und mit der Zuerkennung Mossuls ans britische Kapital, – und legten das ganze – das war vorige Woche – den Türken mit der Maßgabe vor, diese „endgiltige“ Regelung aller Fragen bis zum 1. Februar zu akzeptieren. Zunächst erfuhr man nur, daß die Herren Kemal und Ismet Pascha das Ultimatum ablehnen würden; die russische Delegation reiste sogar indigniert ab, und Lord Curzon aus London packte ebenfalls den Koffer. Es schien, als ob nun die britische Flotte, die kriegsbereit um den Bosporus herum manövriert und das zahlreich nach Mossul dirigierte Tommyheer armer geknechteter Araber die widerspänstigen Türken unter mehr oder weniger aktiver Teilnahme Frankreichs und Italiens zur Annahme des „Vertrages“ zwingen solle. Jetzt hat die Geschichte plötzlich eine andre Wendung bekommen. Die Franzosen springen nämlich aus der Reihe. Sie haben den Türken mitgeteilt, daß das Lausanner Dokument durchaus nicht als Ultimatum gedacht sei sondern weitere Verhandlungen zulasse. Darob gewaltige Entrüstung bei den Engländern; das sei tückischste Felonie – und Katastrophenstimmung überall, ganz besonders in Deutschland, wo patriotische Tröpfe schon an frischfröhlichen Krieg Englands gegen Frankreich und – natürlich! – an den deutschen Revanchekrieg gegen den Erbfeind, also an eine Neuaufführung des herrlichen Spiels von 1914–18 mit neu verteilten Rollen und wunderbarer Wiedergeburt des teutschen Aars glauben. Sie werden sich täuschen. Ich bezweifle stark, ob der Mossul-Konflikt große Konsequenzen in Europa selbst haben wird. Die Franzosen spielen das Theater wohl nur, um England zu einer aktiveren Politik gegen Deutschland an der Ruhr zu pressen. Immerhin ist die Situation im nahen Orient mal wieder recht geladen, und ein Krieg, den aber die Europäer jedenfalls wieder von ihren Satrapen und Vasallen auskämpfen ließen, – und der im weiteren Verlauf natürlich auch Westeuropa selbst gefährden könnte – sieht bedenklich parat aus. Keinesfalls werden – ob Lausanne mit oder ohne Krieg endet – unsre Patridioten dabei auf die Rechnung kommen. Die Cunopolitik ist jetzt schon so verfahren und festgeritten, daß bei den Engländern sicher garkeine Neigung besteht, jetzt Hilfe zu bringen. Zuerst müßte man doch wissen, wie sich die Berliner Regierer selbst die Wirkungen ihrer Taktik vorstellen. Wenn sie sich auf den Standpunkt stellen, nicht sie, sondern Franzosen, Belgier und Italiener hätten vertragsbrüchig gehandelt, und solange fremdes Militär im Ruhrgebiet stehe, werde mit den beteiligten Regierungen nicht verhandelt; wenn sie die Bevölkerung des betroffenen Landes zur schärfsten Obstruktion auffordern, den Beamten Befehle geben, die alle Befehle der fremden Gewalten sabotieren und zugleich die Bevölkerungen in einen wahren Taumel nationalistischer Wut hetzen, – solange auf der andern Seite auf diese Taktik mit täglich gesteigerten Repressalien reagiert wird, Verhaftungen, Ausweisungen, rigorosen Befehlen, immer neuen Besetzungen etc. und somit ein Kampf akut ist, der auf der einen Seite mit Waffenmacht, Belagerungszustand, Wirtschaftsblockade, Verkehrsmittelokkupation etc., auf der andern mit Sabotage, Streik, Boykott, Demonstrationen und auf beiden Seiten mir ungeheuerlichen Lügen und Verhetzungen geführt wird, wird sich jeder Dritte vor einem Eingreifen hüten. Vorläufig bombardieren die unmittelbar Beteiligten einander mit Noten, Protesten, Forderungen, Erklärungen aller Art. Es ist ein Papierverbrauch wie sonst nur in großen Zeiten. Jetzt ist’s soweit, daß die Zollgrenze um das ganze Ruhrgebiet gelegt und die Gesamtausfuhr von Kohle ins unbesetzte Gebiet abgeschnitten ist. Herr Stinnes aber, der große Nutznießer auch dieser Not, tut etwas ungemein Nationales: er hat die Wiederaufbaulieferungen, die ihm aus dem Lubersac-Abkommen obliegen, sistiert. Allerdings – und das sagen die Zeitungen, die den opferwilligen Magnaten beschweifwedeln, nicht – hat die französische Regierung schon vorher diesem Abkommen die Anerkennung verweigert. Die Sistierung bedeutet also nichts weiter, als daß sich Herr Stinnes vor der Eventualität schützen will, etwas zu liefern, was er nachher etwa nicht bezahlt kriegt. Jetzt heißt’s, es sei ein Ultimatum von Frankreich und Belgien beabsichtigt, wonach die Reichsregierung alle Befehle an die Beamten der fraglichen Gebiete, den Besatzungsmächten den Gehorsam zu verweigern, zurückzunehmen habe, widrigenfalls sofort weitere Zwangsmaßnahmen in Kraft treten sollen. Sicherlich wird Cuno ein solches Ultimatum ablehnen, denn er kann ja nicht mehr zurück. Eines Tags aber wird durch den täglichen Wechsel von Widerstandsbeschlüssen und Repressalien darauf eine derartige Hilflosigkeit bei den deutschen Behörden sein – und schon machen sich die fehlenden Kohlenzufuhren bemerkbar –, daß man halt doch verhandeln muß, solange die Ruhrbezirke von Franzosen und Belgiern besetzt sind. Und dann? Dann ist man politisch so weit wie man mit ein wenig politischem Blick auch ohne die Widerstandskomödie gewesen wäre, während man wirtschaftlich den Zusammenbruch zu österreichischen Tiefen so rasch bewirkte, daß nun alles, was man als höchstes Unglück bis jetzt ausgeschrieen hat, alles auf einmal passieren wird: internationale Finanzkontrolle in größtem Stil, politische Unselbständigkeit des Reichs und der Länder durch souveränitätsaufhebende Zwangsgarantieen und was sonst noch alles dazu gehört. Irgend ein Pfaff à la Seipel wird sich schon finden, um die Annahme all der Bedingungen, die den deutschen Proletarier zum Heloten der blauweißrot gestrichenen Stinneskompanie machen sollen, der Bourgeoisie mundgerecht zu machen. Fragt sich bloß, ob auf der einen Seite die Nationalisten, auf der andern die Proletarier bei alledem wieder bloß Zuschauer bzw. Objekte bleiben werden. Meine gute Meinung von der Tatkraft der Völkischen hat nun allerdings durch die letzten Münchener Vorgänge einen Stoß bekommen. So kläglich und erbärmlich auch die Regierung Knilling bei der ganzen Gaudi abschneidet – noch kläglicher, wenn man die Ausreden des Ministerpräsidenten im Landtagsausschuß gelesen hat; – so kümmerlich steht doch auch Hitler da. Dieser Fahnenweihe-Parteitag war ja ganz offenbar wirklich und endgiltig zum Losschlagen ausersehn. Und von dem bißchen Ausnahmezustand und von ein paar scheinbar ernstgemeinten Ermahnungen des Chefs der eigentlichen Regierung Bayerns, des „Unterführers“ (Knilling hat ihn selbst mit einem solchen in Parallele gestellt) Nortz – der mit Kahr zusammen dem Vorgesetzten Schweyer nationale Politik vorschreibt – läßt sich der deutsche Mussolini, der über die ganze Waffenmacht des Landes verfügt, den es ein Knipsen mit dem Finger gekostet hätte, die ganze Knilling-Herrlichkeit wirklich, wie er gedroht hatte, in 2 Stunden zum Teufel jagen zu lassen, – läßt sich der ins Bockshorn jagen, bittet „kniefällig“, man möchte ihm doch nichts verbieten und erkennt nicht mal daran, daß man ihm alles erlaubt, wie völlig souverän er in seinen Entschlüssen ist. Jetzt wagt sich sogar der Demokrat Pius Dirr vor und verlangt Auflösung der Stoßtrupps in Bayern. Jetzt erkennen die Schlappschwänze und Jammerkerle im ganzen Lande, daß sie vor Nulpen und Gauklern demütig gewinselt haben. Sie haben die verdienten Maulschellen von den Nationalsozialisten garnicht erst erhalten, vor denen sie seit unsern Tagen die Hosen voll Angst haben (obwohl wir’s weiß Gott unterlassen haben, ihnen nach Gebühr den Arsch zu versohlen), – jetzt trauen sie sich vorsichtig aus den Ducklöchern ans Licht und trauen sich in aller Devotion an die Gesetze zu erinnern. Soweit wirds bei ihnen freilich nicht reichen – auch bei den Sozi kaum –, daß sie nun eine Hochverratsprozessierung gegen Hitler und die Seinen nach Muster 1919 verlangen werden – da jetzt doch eine Verfassung gebrochen werden kann, wozu uns mangels einer solchen garkeine Gelegenheit geboten war, – oder mindestens daß sie unsre Amnestierung befürworten werden. Das werden sie schon ihrem Pimperl Wichtig, der Leviné und 9 Luitpold-Rotgardisten erschießen ließ, nicht antun. Aber es sieht so aus, als ob doch auch unser Schicksal früher oder später wieder Gelegenheit geben wird, den bayerischen Regierungsbütteln Ungelegenheiten zu bereiten. Herr Heinze, der Reichsjustizminister, hat sich über seinen jüngsten Besuch in München ausgelassen. Darüber hatten die Gürtner-Offiziösen erklärt, über den Fall Fechenbach sei nicht ein Wort gesprochen worden. Heinze erzählt dagegen, er hätte natürlich auch über den Fechenbachprozeß verhandelt, könne aber nicht in die bayerische Justiz eingreifen. Man habe auch über die Verurteilten von den Sondergerichten (unsern Mitteldeutschen) geredet. Die meisten von ihnen seien schon frei (aber nicht amnestiert, sondern dauernd von Wiederverhaftung bedroht und dem Staat verschuldet), wegen der übrigen werde noch verhandelt (7 Monate, nachdem sie von Gesetzeswegen schon draußen sein müßten!). Dann erklärte er, die Verhandlungen mit den Ländern über das Reichsstrafvollzugsgesetz stehn vor dem Abschluß, doch solle das Gesetz erst zugleich mit der Reichsstrafgesetzbuchnovelle, deren Entwurf fertig sei, eingeführt werden. Also wieder auf die lange Bank geschoben. Radbruch hatte die Vereinheitlichung des Strafvollzugs, die unsre Strafe in Festung verwandeln soll, für den vergangenen Herbst angekündigt. Wenn wir im nächsten Herbst soweit sind, wollen wir von Glück sagen. Immerhin ist auch das doch wieder mal erwähnt worden. Vielleicht wird noch vorher wegen August Hagemeister, dessen Marterung vor dem Tode kein Kraus, kein Hoffmann, kein Steindl und kein Fetsch auf die Dauer wird vertuschen oder umleugnen können, noch allerlei und verschiedenen Orts über Niederschönenfeld geredet werden. Und auch die Möglichkeit ist nicht ausgeschlossen, daß das nahende Ende der deutschen Regierungsweisheit auch das Ende von Niederschönenfeld sein wird. Dann werden wir die notwendigen Aufklärungen überhaupt keinen Mittelspersonen zu überlassen brauchen. Was dann mich anlangt: ich werde nicht schüchtern sein.

 

Niederschönenfeld, Montag, d. 5. Februar 1923.

Abschrift: „An den Herrn Festungsvorstand. Heute (am 5. Februar) vormittag wurde mir ein Eilbrief ausgehändigt, dessen Umschlag ich hier beifüge. Der Poststempel auf der Rückseite läßt erkennen, daß der Brief, falls nicht eine Verfehlung der Poststelle vorliegt, bereits am Freitag, d. 2. Februar, in den Händen der Verwaltung war. – Die außerordentlich hohen Kosten für eine Eilbestellung werden selbstverständlich nur in Fällen aufgewendet, die den Absendern solcher Briefe äußerst dringlich scheinen. Wenn auch die Zensierung und Auslieferung des Briefs an mich am Freitag nicht mehr geschehn konnte, und wenn selbst am nächsten Vormittage eine Erledigung außer der Reihe für überflüssig gehalten wurde, so glaube ich doch, daß ich sowohl als auch der Absender die Zustellung des Eilbriefs mit der übrigen am 3. Februar ausgegebenen Post hätten beanspruchen dürfen, zumal der Ausfall des Samstag-Nachmittags- und des Sonntagsdienstes den Wert der Eilbestellung völlig illusorisch machen mußten. – Ich ersuche um zweckdienliche Maßnahmen der Verwaltung, um solche schädigenden Verzögerungen im Postbestelldienst der Anstalt für die Zukunft auszuschließen und behalte mir vor, die Weiterleitung dieser Mitteilung auf den Beschwerdeweg zu beantragen. – N’feld. 5. Febr. 23.     Erich Mühsam“. – – Es handelt sich um einen zum Glück nicht übertrieben wichtigen Brief von Ernst Friedrich in Berlin, der für eine Buchpublikation mein mit Unterschrift versehenes Bild eilends haben will. Ich finde es aber wichtig, solche Schlampereien grundsätzlich zu behandeln. Auch haben wir grade jetzt größte Ursache, der Verwaltung zu zeigen, daß ihre Versuche, uns nach unsern Protesten in der Hagemeister-Angelegenheit durch verschärfte Rigorosität einzuschüchtern, vergeblich bleiben. – Da ich reichlich Korrespondenzen zu erledigen habe, die Zeitungen zudem nichts Erhebliches bringen neben den Nachrichten vom Ruhrgebiet, die offensichtlich von einer Lügenzentrale mit Großer-Zeit-Regie tendenziös hergerichtet sind und garkein objektives Urteilen mehr ermöglichen, lege ich das Tagebuch für heute beiseite und vermerke nur noch die Tatsache, daß vorgestern Genosse Beimler aus der Einzelhaft wieder heraufgekommen ist. Zäuners „Sühne“ ist noch am Wirken, – die Herren Fetsch und Dr. Steindl erst recht.

 

Niederschönenfeld, Dienstag, d. 6. Februar 1923.

Zum ersten Mal seit meiner Anwesenheit in Niederschönenfeld hat man mir gestern einen von mir der Zensur übergebenen Brief zu den Akten genommen. Bis jetzt war das nur mit einer Karte an Niekisch passiert, die die sachliche Mitteilung enthielt, daß ich dem Landtag eine Eingabe übersandt habe und mit einer Karte mit Landauers Porträt, in der die sträfliche Mitteilung in der aufgedruckten Bemerkung gefunden wurde: Ermordet am – –; was Kraus’ warmes Herz empörte. Jetzt aber handelt es sich um „politischen und propagandischen“ (so verliest Fetsch regelmäßig die Eröffnungen, in denen das Wort „propagandistisch“ vorkommt) Inhalts in einem an Zenzl gerichteten Schreiben. Das „Propagandische“ kann nur in einer Bemerkung gefunden worden sein, die ich über den Verlauf der neapolitanischen Münchner Faszistenheerschau gemacht habe und deren Sinn war, daß ich mir nach den Sprüchen der Hitler und Xylander dann doch etwas andres von deren Schneid erwartet hätte und ganz verblüfft sei über diese Kümmerlichkeit, die da zutage trat. Von der bayerischen Regierung kein Wort, Stellungnahme also nur gegen eine Partei, die in offenem Konflikt zu ihr stand. Kritische Bemerkungen etwa zur Politik der Kommunisten sind noch nie beanstandet worden. Demnach war Herr Gollwitzer ohne Zweifel in seinen völkischen Empfindungen gekränkt: die Nationalsozialisten stehn unter dem besonderen Schutz der Niederschönenfelder Festungsverwaltung, zumal wenn man ihre Schneidigkeit gegen die Regierung in Zweifel zieht! – Vielleicht wäre eine Aeußerung über die Jämmerlichkeit dieser Regierung weniger übelgenommen worden bei ihren Beamten. Denn die Frage, wer sich in der vorigen Woche tiefer blamiert hat, Hitler oder Schweyer, wird schwer beantwortet werden können. Mir kommt die Geschichte, die sich da in München abgespielt hat, ungefähr so vor wie eine Rauferei unter zwei Schulbuben. Der eine zieht den andern unaufhörlich mit seiner Feigheit und Schwächlichkeit auf. Aus Angst vor Prügeln stellt der sich schwerhörig und tut als ob er garnicht gemeint sei, versichert den andern im Gegenteil fortwährend seiner Freundschaft. Der Angreifer wird immer übermütiger und droht zuletzt offen mit Maulschellen. In diesem Augenblick kriegt der gehänselte Junge einen Rippenstoß von hinten, der ihn dem gefürchteten Buben direkt unter die Fäuste jagt. Unwillkürlich ballt er dabei die eigne Faust, um den angedrohten Schlag vom Gesicht abzuwehren. Diese Bewegung aber faßt der Raufbold als Angriffsgeste auf, läuft laut heulend davon und winselt aus der Ferne um Pardon. Aber der andre ist doch noch feiger. Er ist nicht ganz sicher, ob der plötzlich so furchtsam gewordene Gegner nicht doch vielleicht seinen Mut wiederfinden könnte und versichert ihm, er habe ja die Faust garnicht gegen ihn geballt, sondern gegen den, der ihn von hinten vorgeschubst habe; und weil er noch nicht sicher sei, ob der nicht vielleicht noch dastehe, könne er die Hand noch nicht wieder aufmachen. Das ungefähr ist die Geschichte des Faszistenaufstandes in München und der Verhängung des Belagerungszustands, der immer noch besteht, immer noch ausschließlich gegen links angewendet wird und angeblich in den nächsten Tagen wieder aufgehoben werden soll. Die Heldenhaftigkeit der beiden beteiligten Konkurrenten im Wahren der nationalen Ehrengüter, die da voreinander ausgekniffen sind, wird – das kann vielleicht der Nutzen davon sein – bei vielen Leuten die Aufklärung darüber beschleunigen, was für ein tönernes Gestell in Bayern für einen rocher de bronce von Zucht, Ordnung und rücksichtslosem Willen gilt. Die Arbeiter könnten von dieser Einsicht viel Nutzen haben. Wenn man allerdings die Rede liest, die in Leipzig dem Kommunistischen Parteitag über die Verhältnisse in Bayern gehalten wurde, und leider sogar von dem ausgezeichneten Genossen Eisenberger, dann könnte man den Mut verlieren. Eisenberger erklärt in völliger Verkennung der Tatsachen, daß nach Kahrs Sturz die bayerischen Zustände sich gebessert hätten, ja, daß die Republikschutzgesetze eine Niederlage der Lerchenfeld-Regierung bedeutet hätten. (Er saß zu der Zeit im Gefängnis. Vermutlich hat er dort nur die „Münchner Post“ gelesen und nach diesem Auerlicht seine Orientierung eingerichtet). Er meint außerdem, daß es der Regierung Knilling mit ihrem „Kampf“ gegen die Nationalsozialisten ernst sei, – und das wird von revolutionärer Seite zur Information von Revolutionären öffentlich verkündet! – Wie weit es allerdings mit dem Revolutionarismus der deutschen Kommunisten gekommen ist, zeigt die Episode vom Parteitag bei der Nachricht vom Sturz der sächsischen Regierung. Im Dresdner Landtag haben die Kommunisten ein Mißtrauensvotum gegen die ausschließlich sozialdemokratische Regierung Buck-Lipinski eingebracht, und die Bürgerlichen aller Sorten ließen sich die Gelegenheit nicht entgehn, dafür zu stimmen, obwohl der Grund war, daß Herr Lipinski als Innenminister eine Versammlung des Deutschvölkischen Wulle erlaubt hatte. Die bürgerliche Klassenpolizei war also den Kommunisten nicht schneidig genug im Unterbinden der Versammlungsfreiheit, – und Herr Lipinski und mit ihm das ganze Kabinett wurde „gestürzt“. Nun wird vermutlich die neue Regierung mit ein paar Demokraten garniert werden – was an den Regierungsmethoden schwerlich etwas ändern wird. Aber die Reichstagung der KP war so begeistert von dem ungeheuren Erfolg ihrer sächsischen Parlamentarier, daß der Vorsitzende ein Hoch auf die Weltrevolution deswegen ausbrachte und die gesamten Moskaulquabben stehend die Internationale anstimmten: „Wir sind die größte der Partei’n!“ – Wenn wir wirklich unsre Freiheit von dieser Art Revolutionären erwarten müßten, dann könnte ich wohl sicher darauf rechnen, daß ich dies Schreckenshaus nicht anders verlassen werde als der gute August, – die Füße vorneaus. Aber plötzlich bewegt sich eine neue „Drehscheibe“, und mancher Heimwehgeplagte treibt schon wieder mit allen Gedanken im Kreise ihrer Kurbel. Diesmal haben die Sozialdemokraten im Reichstag einen Amnestieantrag eingebracht, der so gefaßt ist, daß ich in der Tat die Annahme für möglich halte, – eben der Fassung wegen, die, obwohl es sich nur um uns bayerische Verurteilte von 1919 und die 1922 ebenfalls ausgeschlossenen Eisenbahner des Reichs handelt, auch bei einstimmiger Annahme unsre Befreiung noch nicht gewährleisten würde. Der Antrag mutet dem Reichstag nur einen Appell zu: Die Regierung wolle die wegen politischer Vergehen in Bayern 1919 Verurteilten und die verurteilten und gemaßregelten Eisenbahner von 1922 – nicht begnadigen –, sondern auf ihre Begnadigung „hinwirken“. – Wird das beschlossen, so ist natürlich nicht damit zu zählen, daß Bayern nun gleich die Käfige von Straubing und Niederschönenfeld aufsperrt; hat man doch bis jetzt unter offenbarer Rechtsbehinderung noch nicht einmal die längst Begnadigten vom Märzaufstand in Bayern freigelassen! Immerhin läge ein Beschluß des Reichstags vor, von dem der nicht wieder zurückkönnte und es wäre wenigstens ein dauernder Druck unsertwegen auf die bayerische Regierung gewährleistet. – Zudem wären die Demokraten im bayerischen Landtag genötigt in dieser Frage umzustuken, da sie sich nicht gut in Gegensatz zu den Reichstagskollegen ihrer eignen Partei stellen könnten. Es wäre also mit einer weiteren Erschütterung des reaktionären Eigensinns in Bayern zu rechnen, die auf die Dauer unsern Kerker sprengen müßte. Was mich aber erwarten läßt, daß der Reichstag diesen unverbindlichen Antrag annehmen wird, ist die politische Gesamtsituation. Die Regierung Cuno und die Regierung Knilling überbieten einander im Betonen der Notwendigkeit, Burgfrieden zu halten, den Kampfwillen aller Kreise und Parteien auf die französische Gewalttat im Ruhrgebiet zu konzentrieren, und alle inneren Zwistigkeiten zu überbrücken. So wenig ernst das gemeint ist, werden sich die Herren doch schwer tun, zur Rede gestellt, die Komödie zu bestreiten, wenn sie jedes Entgegenkommen ablehnen. Nun kommen die nationalsozialistischen Sprünge in Bayern hinzu. Die Hitlerschen Taten der letzten Zeit sind strafgesetzlich ohne Frage als Hochverratsunternehmen zu taxieren, und schließlich sind sie doch schon bis zu Erstürmungen und Plünderungen gediehen. Ein Vergleich der Straf- und Verfolgungsfreiheit der Umstürzer von heute mit unsrer andauernd verschärften Knebelung noch nach 4 Jahren wird im unbeteiligten Norddeutschland viele Klerikale und Demokraten eine Angleichung durch Amnestie wünschen lassen. Endlich ist der Fall Hagemeister bestimmt in seinen abscheulichsten Einzelheiten draußen bekannt und hält – wie wir aus den wieder sehr zahlreichen Zeitungskonfiskationen der letzten Zeit schließen, die Öffentlichkeit in einiger Erregung. Bei der vorsichtigen Zurückhaltung des Antrags, der wahrscheinlich Radbruchs Werk sein wird, kann also die Annahme in diesem Augenblick kaum zweifelhaft sein. Allerdings gebe ich mich nicht der Illusion hin, nun schon Ostern, wie es meine anarchistischen Genossen hoffen und ich sehnlich wünschte, am internationalen Kongreß in Berlin teilnehmen zu können. Neulich hatte ich den Traum, unter uns Genossen hier wäre eine lebhafte Diskussion gewesen, bei der ich darauf bestand, wir müßten endlich mit dem Packen beginnen, denn wir hätten ja nur noch 10 Wochen bis zum 9. April! Das wiederholte ich fortwährend, obwohl damals noch viel mehr als 10 Wochen bis zu dem Termin zu absolvieren waren. (Wenn ich mich recht erinnere, erzählte ich noch August Hagemeister von dem Traum). Ich will den 9. April hier wenigstens notieren, um nachher Traum und Wirklichkeit vergleichen zu können. Bis jetzt war ich freilich stets ein recht schlechter Traum-Prophet. Aber bei der Verfahrenheit aller Verhältnisse jetzt liegen grundstürzende Änderungen auch im eignen Schicksal ganz gewiß nicht außerhalb des Wahrscheinlichen. – Der Dollar ist wieder auf 35000 gefallen. Die Hausse kann ein Weilchen entbehrt werden, bis die Preise sich ihrem Höchststand von 53000 angepaßt haben werden. Das wird bei der bekannten deutschen Tüchtigkeit nicht lange dauern, und die „sozialistischen“ Burgfriedoline empfehlen dagegen weder aktiven noch passiven Widerstand.

 

Niederschönenfeld, Mittwoch, d. 7. Februar 1923.

Obwohl die Holzböcke so tun, als handle es sich bei den täglichen französischen Repressalien und Sanktionen, bei ihren Brutalitäten gegen Einzelne und Schießereien in Menschenansammlungen, die sich in nichts von den Gepflogenheiten deutscher Machtwalter gegen eigne Landsleute unterscheiden, um ebensoviele weltgeschichtliche Ereignisse, die die beispiellose Niedertracht des „Erbfeindes“ und die nicht minder beispiellose Edelmütigkeit und Lauterkeit aller Deutschen dartun – während hier in Wahrheit ein ganz ordinäres Geschäft mit ganz ordinären Mitteln betrieben wird, bei dem die Partner nicht Frankreichs und Deutschlands Volk sondern Loucheur und Stinnes heißen, – trotzdem finde ich meine Interessen augenblicklich noch weniger durch diese Ereignisse als durch die kleinen Tageserlebnisse in dieser „Festung“ angeregt. Ich stelle daher auch heute für die Eintragung die Empörung des „Vorwärts“ und der „Deutschen Zeitung“ zurück hinter das Gespräch, das ich gestern wegen der Eilbrief-Verbummelung mit dem Regierungsrat Englert geführt habe. Ich wurde zu ihm hinunter beschieden und erkannte aus den ersten Worten, daß die Sache der Verwaltung ziemlich peinlich sei. Der sehr ungeschickte und keineswegs schlagfertige, aber überaus diensteifrige Herr rückte sofort damit heraus, daß die Bummelei der Post zufalle, da der Brief erst Samstag abend Herrn Rupprecht (dem – übrigens beliebten – Aufseher, der den Verkehr zwischen der Kassenverwaltung und uns vermittelt und anscheinend den Postdienst unter sich hat) mit der gesamten übrigen Post bei der regulären Abholung übergeben worden sei. Ich erklärte, daß ich natürlich glauben müsse, was mir gesagt werde, daß nun aber für mich die Frage entstehe, ob nicht die Verwaltung verpflichtet sei, da sie uns, wie ich betonte, nach meiner Meinung widerrechtlich, unter Vormundschaft halte und jeden direkten Verkehr mit der Post unterbinde, dafür zu sorgen, daß die Post die uns gegenüber ihr obliegenden Pflichten erfülle. Da das bestritten wurde, erklärte ich, dann wolle ich bei der Postbehörde Beschwerde führen, was sichtlich unangenehm empfunden wurde: dann würde nur Herr Stapf (der alte Mann, der als Ausgänger fungiert und zugleich den Briefträger von Niederschönenfeld macht) in Ungelegenheiten kommen. Ich replizierte, ich könne mir doch nicht denken, daß der Briefträger zugleich den Bürodienst auf der Post versieht und die Briefe mit Stempeln versieht. Der Beamte, der auf meinem Brief die Tagesstunde aufgestempelt habe, sei verpflichtet gewesen, ihn sofort einem eignen Boten zu übergeben, der ihn in die Anstalt zu bringen hatte. Dafür habe der Absender 60 Mark Botengeld bezahlt. Dann würde das junge Mädchen drüben, das dieses Geschäft besorgt, die Nase kriegen. Im übrigen sei aber die Verwaltung überhaupt zu nichts verpflichtet. Auf diese Bemerkung hakte ich sofort ein: demnach übernehme eine Staatsbehörde den Auftrag, mir einen Brief durch Extraboten außer der Reihe zuzustellen, eine andre Staatsbehörde aber, die zwischen der Post und mir steht, erklärt, das gehe sie nichts an, möge der Absender sein Geld nur hinausschmeißen, das er im Vertrauen auf die Zuverlässigkeit des Staats, der ja das Geld annimmt, bezahlt hat. Herr Englert wollte begütigen: Ich brauche ja die Dinge nicht so prinzipiell zu nehmen, man könne doch auch „von Mensch zu Mensch“ miteinander verhandeln. Meine Antwort war, die Verwaltung stelle sich, wo unsre menschlichen Interessen in Frage kommen, überall auf einen so schroff prinzipiellen Standpunkt, daß jeder Verkehr „von Mensch zu Mensch“ zwischen mir und der Verwaltung ausgeschlossen sei. Ich sei nicht gern hier, zumal eine völlig andre Strafe an mir vollstreckt werde als das Gericht verhängt hat; meine Rechte würden überall verkürzt, da habe ich keine Veranlassung, sie auch da noch kürzen zu lassen, wo der geringste administrative Vorwand fehle. – Ich erfuhr dann, daß der Eilbrief, wenn er etwas ganz wichtiges enthalten hätte, mir sogar des Nachts ausgehändigt worden wäre, was mich sofort zu der Feststellung veranlaßte: ich verweigere der Verwaltung jedes Recht, darüber zu befinden, was in meinen persönlichen Angelegenheiten als wichtig oder unwichtig anzusehn sei. Wenn jemand einen Brief durch Aufwendung ungeheuer teuren Portos (der Brief war auch eingeschrieben, sodaß er mit allen Gebühren 150 Mark Briefmarken kostete) als dringliche Sendung behandelt wissen wolle und die Post nimmt das Geld und also auch alle ihr erwachsenden Verpflichtungen an, dann erlaube ich niemandem, diese Sendung als unwichtig zu bezeichnen. Auch das angemaßte Recht der Zensur erschöpfe sich in der Prüfung, ob die Korrespondenz dem Strafvollzug schädlichen Inhalt habe und ermächtige nicht zur Unwirksammachung der vom Absender bezahlten Vorteile einer Eilbestellung. Das Ende vom Liede war, daß ich – mit Rücksicht auf das Stempelmädchen – erklärte, für diesen Einzelfall von weiteren Schritten absehn zu wollen. Käme eine solche Schlamperei noch einmal vor, würde ich erstens die Post zur Rechenschaft ziehn und bis zur höchsten Stelle gehn, um mich davor zu schützen, auch noch von einer Verkehrsbehörde als Gefangener schlechter als andre Leute behandelt zu werden. Zweitens würde ich dann beim Justizministerium eine grundsätzliche Entscheidung darüber beantragen, ob die Festungsverwaltung in ihrer Mittlerrolle verpflichtet sei oder nicht, außer der Behinderung meines direkten Postaus- und eingangs auch meine Ansprüche auf reguläre Bedienung durch andre Behörden hier am Ort zu vertreten. Leider hatte ich zu früh erklärt, daß ich den Beamten der kleinen Poststelle keine Unbequemlichkeiten machen wolle und daher von weiteren Maßnahmen absehe. Der Eifer des Herrn Englert hat mir die stärksten Zweifel erweckt, ob nicht die Schuld doch an der Festungsverwaltung liegt, und da unten jemandem Unbequemlichkeiten ersparen zu wollen, liegt mir ganz fern. – So. Nun mögen auch die politischen Ereignisse drankommen. Das Neueste ist – außer dem Abbruch der Verhandlungen in Lausanne, der vorerst eher nach einer Pause bis zur neuen Konferenz irgendwo anders, als nach Wiederaufnahme von Krieg aussieht – der „Einbruch“ französischer Truppen in Baden: Offenburg und Appenweier sind besetzt, und zwar gibt die französische Regierung als Grund an, daß die direkten Züge Paris-Bukarest und Paris-München-Prag von den Deutschen sistiert seien und daß man ohnehin zu neuen „Sanktionen“ genötigt sei, da Frankreich jeden Tag neue „Verfehlungen“ feststellen müsse. Der wahre Grund für diese Besetzung ist aber, daß man die Deutschen hindern will, die vom Ruhrgebiet in die Schweiz und nach Italien rollenden Kohlezüge auf unbesetztem deutschen Boden zum eignen Bedarf abzufangen und umzuleiten. Die vollkommene Kohlen- und Kokssperre (deren Wirksamkeit man bis jetzt hier abzuleugnen sucht, aber zugleich als Grund für die Stillegung der genannten Eisenbahnverbindungen anführt), ist sicher schon allenthalben verzweifelt spürbar, und der Kohlenbezug aus England kann die volle Wirkung allenfalls verzögern aber bestimmt nicht verhindern. Wenn jetzt noch Herr Cuno so tut, als werde Deutschland niemals nachgeben, so kann man doch als sicher erwarten, daß die Verhandlungen, wenn sie nicht schon aufgenommen sind, in kürzester Zeit, möglicherweise wieder direkt von Privatkapital zu Privatkapital, beginnen werden, ohne daß das Ruhr- und badensische neubesetzte Gebiet vorher geräumt wäre. Das Cuno-Kabinett wird die Kapitulation wohl nicht mehr vollziehn können, aber die Großindustrie wird es zum Abgang zwingen und braucht sich selbst nicht einmal zu kompromittieren, da sie in den Sozialdemokraten allezeit willige und bequeme Lakaien findet, die bis jetzt noch jedes Odium auf sich genommen haben, wenn sie nur „regieren“ dürfen. – Beim Zeitungslesen packt mich der tiefste Ekel. Die schmierigsten Hetzer gegen deutsche Arbeiter besabbern sich vor Entrüstung darüber, daß auch französische Flinten gelegentlich auf Menschen losgehn, die zu erschießen diesen Dreckkerlen stets das nützlichste Werk der Welt schien und die sie jetzt mit brüderlicher Liebe umschleimen. Gewiß ist es schandbar, daß Kriegshorden auf unbewaffnete Menschen anlegen und schießen, daß dabei friedliche Arbeiter oder sonst Unbeteiligte, ja Kinder und Frauen gemordet werden, und ich bin der letzte, der das nicht als „Schandtat“ betrachtet. Dieses Wort „Schandtat“, „Bluttat“, „Untat“ ziert jetzt plötzlich bei solchen Gelegenheiten unsre Bürgerpresse. Die Empfindung, daß die solche Ausdrücke aber nur wählt, weil sie ein deutsches Privileg gestört sieht, daß dieselbe Meute, wenn das Ruhrland wieder „frei“ ist, auf jeden um sein Existenzminimum kämpfenden Proletarier am liebsten jede Marter hetzte, um ihn möglichst qualvoll zu morden; daß dieselben Giftspritzer eben, wo in einem Kohlenbergwerk bei Beuthen 141 arme Arbeiter durch eine Grubenexplosion getötet wurden, kein Wort des Erbarmens für diese Opfer kapitalistischer Sparsamkeitsmethoden zur besseren Ausbeutung der wertfördernden Klasse haben; ja daß sie – wie die lächerliche tschechisch-bayerische Schneeschuhleutnants-Episode zeigt – sogar jetzt bestrebt sind, aus kleinen Zufälligkeiten ohne jede Bedeutung Kriegskonflikte zu konstruieren – all diese unwahre, künstlich aufgepumpte, in Wahrheit ganz leidenschaftslose Sucht, die Gehässigkeit unsauberer Seelen als heiligen Zorn gekränkter Menschenwürde auszugeben, verstärkt in mir bei jeder Beschäftigung mit der Zeitung – und dieses Kotfressen muß ich als Hauptbeschäftigung treiben, um nicht aus der Zeit zu geraten – den maßlosen Groll darüber, daß die furchtbarsten Verbrecher an Menschheit und Völkern noch immer Lügen über Lügen türmen dürfen, aus denen nur ganz wenige Zeitgenossen die Wahrheit herauszuschälen wissen, die zu kennen genügen würde, um mit der Aufräumungsarbeit in Wirtschaft, Politik und vor allem Presse zu beginnen. – Die Deutschen sind am übelsten dran mit ihren Schmöcken. Sie sind gutgläubig und unpolitisch. Das gestattet denen, die ihnen den Krieg bereitet, sie über seinen Verlauf entsetzlich belogen, ihn ihnen verloren haben, sie selbst um den Gewinn solchen Verlustes zu prellen und sie zu einer Nation zu entwürdigen, die ohne Ideal ist und dadurch befähigt bleibt, der viehischen Vampyrbrut des organisierten Volksbetrugs gläubig und hörig zu sein. Eine künftige Revolution, die der Presse, wie sie bis jetzt ist, nicht am ersten Tage die Gurgel zudrückt, wird keine Revolution sein. Es nützt nichts, einem Vergifteten den Magen auszupumpen, wenn man nicht zugleich hindert, daß ihm das Gift mit jedem Bissen seiner Ernährung neu zugeführt wird. – Am Freitag will Zenzl herkommen. Das wird ein Labsal sein. Und noch etwas Erfreuliches: Rudolf Schildkrauts Tod soll nicht wahr sein. Möge das Dementi umso besser stimmen: vivat!

 

Niederschönenfeld, Donnerstag, d. 8. Februar 1923.

Keine Neuigkeiten von Belang. Aber allerlei Charakteristisches in Kleinigkeiten. Kürzlich war Herrn Hitler vorgeworfen worden, er habe große Summen in französischem Gelde für die nationalsozialistische Bewegung erhalten. Es dauerte lange, bis er sich zu einer Antwort aufraffte. Jetzt ist sie da und besagt, die Behauptung sei „in jeder Form“ eine niedrige Verleumdung. Aber unmittelbar unter dieser Erklärung las ich im selben Blatt eine Mitteilung der Münchener Polizei, nach der ein Herr Lüdecke wegen Landesverrats verhaftet worden sei. Den Namen hatte jüngst eine Anfrage Auers im Landtag bekannt gemacht, die übrigens mehrere hübsche Punkte enthielt, die einen Blick in die abgründige Korruption der bayerischen Staatsverwaltung in ihrer Verbindung mit den Hitler-Xylanderleuten tun ließen, und in der auch davon die Rede war, daß ein Herr Lüdecke, der bereits Waffenlager an die Kontrollkommissionen verraten habe und der bei den Nationalsozialisten eine Rolle spiele, denen einen großen Betrag in Franken verschafft habe. Nun wird also seine Verhaftung mitgeteilt und dabei zugegeben, daß es mit der Frankenzuweisung an Hitler stimme. Die Münchner Polizei aber wahrt ihre bayerische Eigenart, indem sie die kompromittierende Meldung sofort von sich aus mit einer Entschuldigung für die Nationalsozialisten versieht: die hätten das Geld nicht verwendet, sondern, weil ihnen die Herkunft gleich verdächtig schien, unangetastet deponiert. – Also hatten sie das Geld angenommen, obwohl es in Frankenwährung geliefert wurde und obwohl die Herkunft ihnen verdächtig vorkam! Daß sie die Gelder vorerst deponierten (wahrscheinlich auf „Stück-Konto“ – oder gar verzinslich?) war bei der im Gange befindlichen Markentwertung selbstverständlich und beweist nur, daß sie für den Moment ausreichend mit Mitteln versehn waren, um die Franken bis zur bestmöglichen Auswertung liegen lassen zu können. Die „niedrige Verleumdung“ wird also wohl nicht bei vielen Leuten ziehn, noch auch, daß man den Lüdecke nun in die Wüste des Haßgerichts stoßen wird, das zum Beweise der unbestechlichen Objektivität dieser „Volks“justiz ein Exempel à la Leoprechting und Fechenbach statuieren wird. Hitlers Rockschöße werden lange geschüttelt werden müssen, um den Lüdecke davon loszukriegen. – Die Herren scheinen überhaupt nach ihrer kläglichen Selbstentlarvung bei der Verhängung des – schon wieder aufgehobenen – Belagerungszustands Pech zu haben. Sogar die bayerische Regierung ist schon drauf gekommen, daß die dick rollenden Kugelmuskeln der gummiknüppelbewährten Hakenkreuzler Wattebizepse seien, denn sie schwingt sich zu gewaltigen Taten auf, verbietet den „Völkischen Beobachter“ für 4 Wochen – wollen sehn, ob diese widerwärtige Pogromposaune wirklich länger schweigen muß als die kommunistischen Zeitungen* –, und die Herren Schweyer und Gürtner erklären, daß sie Hitlers Taten auf kriminalistischen Inhalt werden untersuchen lassen. Verhaftet wird der Mann natürlich nicht, und daß ihm nichts passiert, weiß ohnehin jeder. Aber ein gewaltiger Fortschritt ist’s doch, daß man ihn nicht von vorherein als Muster aller Tugenden selbst von aller Schuld freispricht, sondern das einem – von Gürtners Befehl abhängigen – Staatsanwalt überläßt, der doch wenigstens einen Akt dazu anzulegen hat. Und nun ist dem höchsten aller Herrgötter der Münchner Patrioten auch noch persönlich ein Malheurchen zugestoßen: Herrn Erich Ludendorff-Lindström. Der sollte in Klagenfurt von völkischen Mannen bayerischer Herkunft angejubelt werden. Offenbar reiste er über Wien dorthin. Denn zunächst las man von einer gestörten Versammlung, in der Magnus Hirschfeld über Sexualfragen sprechen wollte, und wo nationale Zotensammler (die im Deutschland der bevorstehenden Wiedergeburt – und im untrennbar damit verbundenen Österreich – die außerhalb der Stammkneipen und der Puffs dauernd gekränkte Sittlichkeit repräsentieren) den obligaten Krach gegen die Juden und die Jugendverführer schlugen. Es gab Keile im Lokal, in dem auch Herr v. Ludendorff sich befand und „gehuldigt“ wurde. (Ob der Erringer des Weltrekords im Kriegverlieren, den Alldeutschland infolgedessen als siegreichen Befreier des Vaterlands preist, wegen der patriotischen Anhochung seiner Person in Hirschfelds Vortrag gegangen war oder etwa inkognito, um sich von theoretischen Belehrungen an die längst vergangene Praxis Großlichterfelder Kadettenfreuden erinnern zu lassen, weiß ich nicht). Nachdem er erkannt war, wird er sich wohl mit entrüstet haben, daß es solche Schweinereien gibt und fuhr dann nach Klagenfurt, – wie eine bayerische Ententemission, nämlich ohne Wissen der Behörden, jedoch von allen erwartet, die es nicht wissen sollten. Etliche hundert Arbeiter waren am Bahnhof erschienen und begleiteten das Auto, das Schritt fahren mußte, unter Rufen wie: Massenmörder! Bluthund! Verderber Deutschlands! etc zum Hotel, wo sich die Demonstrationen fortsetzten. Ob mit oder ohne blaue Brille – Ludendorff begab sich wieder auf die Reise nach Wien, hatte aber das Unglück, daß ihn einige Stationen davor wieder Arbeiter stellten und ihn zwangen, unter dem Versprechen, Wien nicht zu berühren, die Rückreise zum Münchner Eldorado anzutreten. Gottseidank, dort ist er geborgen, der große Mann, der die schöne Rede gegen Cuno und die Marxisten mit den Worten „Vorwärts lügt“ abgestritten hat. Im Dementieren kann also Hitler noch von ihm lernen. – Was Cuno anlangt, so war er jetzt persönlich im Ruhrgebiet und hat da scharf gemacht und gefunden, daß das ganze Volk mit ihm und dem Kapital einer Meinung ist. Mich interessiert in der Geschichte eigentlich nur noch die Zeit, wielange dieses Resistenz-Theater noch den Vorhang offen läßt. Es wird mit einem Pleitegeheul enden wie noch nie. Doch schon bietet sich Herr Stampfer im Namen seiner für jede Blamage geaichten Partei an, die „schwere Last“ auf sich zu nehmen. Stinnes wird in dem Augenblick von dem Angebot Gebrauch machen, wo die patriotische Geste das Opfer nicht mehr lohnt, das übrigens unter dem Namen „Deutsches Volksopfer“ aus den wohl noch nicht genug geschröpften Massen zur Schadloshaltung der Industriellen herausgelöffelt wird. Poincaré, der keinesfalls nur wirtschaftlich denkt, wie die Marxisten meinen und meinen machen müssen, sondern dem es um politischen Sieg geht, liest vielleicht eines Tages nach, was die Deutschen in ähnlichen Situationen im Kriege getan haben und findet etwa die Anweisung an die belgischen Arbeiter, die zum Protest gegen den Einmarsch die Kohlengruben bestreikten, – na schön, wenn ihr streiken wollt, streikt! Dann dürft ihr aber auch die Notstandsarbeiten nicht machen! – und man ließ die Gruben ersaufen (der alte Ledebour hat das jetzt im Reichstag herangezogen). Fängt Poincaré so an, dann bläst Stinnes ab, soviel ist sicher und nicht einmal das „Volksopfer“, verstärkt durch die Sonderaktion der „vaterländischen Streikkasse“ des Auer-Vaters, wird ihn erweichen. Denn Stinnes denkt im Gegensatz zu Poincaré wirklich nur in wirtschaftlichen Folgerungen. – Der Dollar kreist um 40000 Mark. Ich habe mir eben aus dem Wiener „Abend“ eine interessante graphische Darstellung eines Vergleichs zwischen dem Absturz der österreichischen Krone und der deutschen Mark im gleichen Ausmaß – nämlich von 0,19 des Normwerts auf 0,02 –, ausgeschnitten. Es ergibt sich, daß die Krone diese Senkung im Zeitraum vom 20. November 1921 bis zum 30. Juni 1922 durchmaß, während die Mark dazu nur die Zeit vom 18. Dezember 1922 bis zum 20. Januar 1923 brauchte. Was in Österreich immerhin über 7 Monate dauerte, das brachte man in Deutschland in einem Monat fertig. Die österreichische Krone kostet jetzt noch 36 Pfennige. Da sie aber seit einer Reihe von Monaten stabil ist – innerhalb geringfügiger Wertschwankungen –, ist Österreich heute schon dem Weltkapital kreditwürdiger als dies mit der unabsehbar weiter rutschenden Mark operierende Deutschland, was diesem Lande als Staat übel, seinen Ausbeutern hingegen ausgezeichnet bekommt. Vom arbeitenden Volk natürlich zu schweigen. Das verelendet vollständig. – Noch eine interessante Notiz fand ich im Börsenteil der „Frankfurter Zeitung“. Ein Mannheimer Kraftwerk gibt „wertbeständige“ Leihpapiere aus, deren Stand sich nach dem jeweiligen Wert der Kohle regulieren soll. Ich habe hier früher schon mehrfach meine Ansicht niedergelegt, daß rebus sic stantibus eine anwendbare Preispolitik nur nach dem Gesichtspunkt eingeführt werden kann, daß als Einheit nicht mehr die Goldfiktion dient sondern ein Naturalprodukt, und habe mich gewundert, daß auf diesen naheliegenden Ausweg noch kein Nationalökonom verfallen ist. Jetzt zeigt sich, daß die Großindustrie die Praktizierung der Idee von sich aus unternommen hat. Daß das Kraftwerk Kohle zur Grundlage macht, ist verständlich. Landwirtschaftliche Betriebe werden vermutlich eine andre Einheit wählen. Jedenfalls ist der erste Schritt zur Einführung naturalwirtschaftlicher Wertberechnungen geschehn. Wir haben für den Fall, daß eines Tages an uns die Forderung herantritt: organisiert die Zirkulation!, Obacht zu geben auf jede Sprosse, die das Kapital, um seine Wirtschaft zu balanzieren, in unsre Leiter fügt. Dann werden wir nicht an Abstraktionen herumzuturnen haben, wie es die Marxisten meinen, sondern sehr konkret an Realitäten klettern müssen.

 

* Das Blatt wurde schon am Tage nach dem Verbot durch Aufhebung des Ausnahmezustands wieder frei.

 

Niederschönenfeld, Freitag, d. 9. Februar 1923.

Zenzl kam heute nicht, war aber so vorsorglich, trotz der immensen Gebühren, zu telefonieren, daß der Zug, den sie benutzen wollte, nicht mehr fährt, und sie infolgedessen erst am Montag kommen will. So hat sie wieder dafür gesorgt, daß meine Nerven nicht aufgeregt wurden und mir ein Tag voll banger Ungewißheit erspart blieb. Was diese Rücksicht bedeutet, erkenne ich grade jetzt deutlicher als je, wo ich am Beispiel Gustl Sandtners sehe, wie bitter der Mangel an solcher Zartheit wirkt. Seine Freundin Hanna R., die doch selbst in Aichach erlebt hat, wie weh es tut, sich von den Nächsten vernachlässigt zu sehn, läßt selbst leider ganz die Rücksicht auf solche Empfindungen vermissen. Der arme Gustl ist völlig zerrieben vor Aufregung, Sorge und Erbitterung, da er wochenlang von der Braut keine Nachrichten hat. Bis jetzt haben wir ihn noch von der Absicht zurückgehalten, das Verhältnis endgiltig zu lösen, aber ich fürchte, in diesem Falle wird die unbarmherzige Grausamkeit, die sich hier unter der Maske des „Rechts“ austobt, das christliche Ziel, zwei Menschen unglücklich zu machen, wieder erreichen. Sandtner ist vor über 7 Monaten vom Reich amnestiert worden. Die bayerischen Christen, denen jeder Seelenwinkel, wo Klugheit, Verständnis oder gar Milde nisten könnte, von Rachgier und gehässiger Bosheit verklebt ist, weigern sich, diese Tatsache anzuerkennen und schleppen die Verhandlungen mit den Reichsbehörden, sich auf die Erfahrung stützend, daß deren Schlappheit vor jeder bayerischen Tücke kuscht, von Monat zu Monat hinaus, froh, inzwischen Menschen leiden lassen zu können, die das Heil der Menschheit in andern Prinzipien sucht als in denen der Brutalisierung Gefangener. Der Braut haben sie jeden Zutritt zum Bräutigam verwehrt, nachdem sie die Erlaubnis zur Heirat – ebenfalls rechtsbeugend – verweigert haben. So scheint denn tatsächlich jetzt die Sprengung dieses Menschenbundes gelungen zu sein: Ein Fall unter zahllosen gleichen oder ähnlichen. – Mit wie kleinlichen Schikanen sie uns zu schinden suchen, zeigt mir grade wieder ein persönlicher Vorgang. Ich muß eine Schuhsohlenreparatur ausführen lassen und teilte das vorschriftsmäßig der Verwaltung mit dem Ersuchen mit, die Reparatur der Anstaltswerkstatt übergeben zu können. Bei der ganz fürchterlichen Ausbeutung der zwangsweise in diesen Werkstätten beschäftigten Strafgefangenen wurden uns solche Arbeiten bisher außerordentlich billig berechnet, höchstens zu einem Drittel des ortsüblichen Tagespreises. Gestern wurde mir eröffnet, die Genehmigung werde erteilt, jedoch sei ich zuvor zu befragen, ob ich den gewöhnlichen Tagespreis für die Arbeit bezahlen wolle. Es wird mir wohl nichts andres übrig bleiben, und das bedeutet für mich entweder die Hergabe des gesamten Monatstaschengeldes für den Schuhflicken oder die Inanspruchnahme Zenzls und Siegfrieds, die ohnehin krumm genug liegen müssen. Ich glaube kaum, daß dieses Verfahren nun allgemein eingeführt werden soll. Bis jetzt wurde es nur Toller und Mayer gegenüber beliebt, die in finanziell guten Verhältnissen leben. Die Verwaltung weiß ganz genau, daß ich und Zenzl vollständig auf Unterstützungen angewiesen sind. Aber man hat mich ja auch – als einzigen Verheirateten – gezwungen, die Anstaltskleidung nebst Schuhen abzuliefern. Es ist sehr schwer nicht annehmen zu sollen, daß ich diese Extrabehandlung meiner Beschnittenheit zuzuschreiben habe. – Vom Theater der europäischen Politik ist nach wie vor eigentlich nur das Ruhrstück auf der Resistenz-Bühne erwähnenswert, das täglich neue Improvisationen an Verhaftungen, Streiks – ohne großen Umfang und stets von kurzer Dauer –, Ausweisungen, Protesten, Erklärungen und „Noten“ bringt. Was die deutsche Industrie für Opfer bringt, ist wahrhaft großartig, allerdings scheinen die Opfer, die die deutschen Steuerzahler ihr deswegen bringen, ihr die Notierung der Opfer auf der Habenseite mit mächtigem Plus zu gestatten. War schon die Stundung von 40 Milliarden Mark Kohlensteuern – durch den „Sozialisten“ Robert Schmidt –, deren Rückzahlung ohne Umrechnung zur Markentwertung erfolgt und die daher ein Geschenk von mehreren hundert Milliarden an die Hüttenbesitzer bedeutet, ein sehr anständiges Geschäft für den Märtyrer Thyssen und seine Kollegen, so erfährt man jetzt, daß das Reich ihnen über die schweren Stunden ihrer Opferfreudigkeit auch jetzt ganz wirksam hinweghilft. 80 Milliarden Mark haben sie aus der Reichskasse bis jetzt bekommen, damit sie „ausharren“ im Leid (vermutlich wird die Summe aus dem „Volksopfer“ gedeckt). Aber das Vaterland sorgt nicht nur für die Hundertmillionäre, indem es ihnen Milliarden gibt, es sorgt auch für die Armen und läßt vor allen die Säuglinge nicht verhungern. Deshalb wurden auch 3 Milliarden für Milchversorgung ins Ruhrgebiet gesandt, nicht ganz das 25fache[25stel] von dem, was die Magnaten bekommen haben, aber doch was fürs Volk! – Mich würgt der Ekel bei allem was da wieder an Patriotismus gebraut wird, und gradezu befreiend wirkt es, wenn man dann zwischen all der Verlogenheit und Tartufferie das wahre Gesicht der kapitalistischen Auguren erkennt. Da ist jetzt der französischen Kammer ein Gesetzentwurf zugegangen, der sich mit einem sehr lukrativen Geschäft befaßt, daß zwischen der französischen Regierung und der Badischen Anilin- und Sodafabrik abgeschlossen werden soll. Es geht um die Auslieferung und für Frankreich zu monopolisierende Fruktifizierung eines Verfahrens der Stickstofffabrikation, das die deutsche Überlegenheit in der Pulver- und Explosivstoffqualität im Kriege gewährleistete. Die Fabrik redet sich darauf hinaus, daß sie ihren Pakt mit Frankreich schon vor 3 Jahren (Ende 1919) geschlossen habe, der nun bloß ausgeführt werden solle. Aber, man ist doch sehr empört, daß nun alle schönen Patente, deren Verrat durch Angestellte und Arbeiter Hoch- und Landesverrat hieß, von der Direktion verschachert werden – und noch dazu an den Erbfeind! – Ja, man ist sehr empört, was aber nicht tangiert, daß die Aktien der Fabrik, seit der Vertrag in Paris auf die Kammertagesordnung gestellt ist, um mehr als das Doppelte an der (deutschen) Börse gestiegen sind. Im „Vorwärts“ ist man in den ersten beiden Spalten auch sehr empört und in der dritten wird Burgfriede gefeiert. So edel wie dieses Volk stand noch nie eines vor der Weltgeschichte! Ja, Deutschland liefert jetzt das erhabene Beispiel, wie ein geeintes Volk mit gefesselten Händen in seinem friedlichen Willen durch passiven Widerstand die größte Armee der Erde besiegt. – Das klingt hübsch im Munde von Leuten, die so einig sind, daß sie die Vertreter einer ganzen unterdrückten Klasse seit Jahren in Gefängnissen knebeln und die zwischen dem Schleim ihrer friedfertigen Selbsthudelei nur einen Wunsch durch die Zähne zischen: hätten wir doch Handgranaten! hätten wir doch Giftgase! statt Passivität! Grade haben sie schon wieder einen neuen Schrecken überstanden. Seit langem faselten die nationalistischen Gazetten: die Tschechen rüsten! Der „Fränkische Kurier“ brachte seit Wochen Allarmartikel, die Tschechoslowakei wolle bayerische Ostgebiete annektieren: Augen auf! Obwohl die Prager Regierung xmal in eindeutigster Form dementierte, krähten diese Zeitungspanikmacher weiter, und als in der vorigen Woche gar eine kleine Schneeschuhpatrouille aus Versehn über die Grenze geriet und ihr Leutnant sich lachend zurückzog, indem er meinte: na, wir kommen ja sowieso bald! – da gab das Nürnberger Weltblatt schleunigst ein Extrablatt heraus und hetzte seine Leser in schrecklichste Angst und sich selbst feierte es als Warner zur rechten Zeit und als Sieger im voraus. Dann kamen andre Krähwinkler und berichteten, überall bekämen tschechische Staatsangehörige bei uns und in Sachsen Gestellungsbefehle: es war also klar: Bayern kriegt einen neuen Krieg, sogar einen ganz für sich allein und mit einem neuen Erbfeind! – Das kommt nämlich daher, daß unsre Zeitungsschreiber keine Zeitungen lesen. Sonst wüßten sie, daß man in der ganzen Kleinen Entente gegen Ungarn rüstet, wo Herr Horthy allerlei Verdächtiges treibt und besonders mit einem Gesetz „zum gesteigerten Schutz der Ordnung“ zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen zu wollen scheint: Herrn Hejas die Wege freizumachen, noch ungestörter als bisher Juden und Arbeiter zu massakrieren, und den Trianon-Vertrag durch einen kriegerischen Handstreich zu zerreißen. Das türkische Beispiel scheint zu locken. – Die bayerischen Eigenartisten aber sehn sich genötigt, mit entschuldigenden Verbeugungen zu den Tschechen zu erklären, daß es nicht so gemeint war und der Fränkische Kurier druckt da, wo er sonst die täglichen Kriegshetzereien gegen den östlichen Nachbarn hat, eine offiziöse Kundgebung, daß jeder, der die Öffentlichkeit mit allarmierenden Tatarenmeldungen ängstigt, Landesverrat begeht. Das geniert keinen nationalen Journalisten. – Es ist ja auch zu lachen: als ob man es nötig hätte, die bayerischen Radaubrüder mit Kanonen zu bändigen. Links und rechts ein paar Ohrfeigen – und sie sind die bravsten Kinder der Welt. Wo sie wehrlose Gefangene quälen können, sind sie Helden; vor wehrhaften Leuten – und das brauchen nicht einmal Tschechen zu sein, Hakenkreuzler mit Gummiknüppeln tun’s auch schon, scheißen sie in die Hosen. Es lebe die Ordnungszelle.

 

Niederschönenfeld, Sonnabend, d. 10. Februar 1923.

Unsre süße Festungsverwaltung hat sich, scheint’s, jetzt auch zum „Durchhalten“ entschlossen. Die Kosten tragen wir mit unsrer Gesundheit. Man spart jetzt in Niederschönenfeld Kohlen, und wir frieren gottsjämmerlich. Mitten im Februar setzt die Heizung während mehrerer Nachmittagsstunden völlig aus. Ich fürchte, es steht uns ein März und April bevor, ärger als der Oktober war. Trotzdem tut man, falls nicht grade eine Note zu redigieren ist, noch immer so, als ob die Absperrung des Ruhrgebiets noch garkeinen fühlbaren Kohlenmangel bemerkbar mache, und nur durch solche Zufälle wie gestern die Abreiseverhinderung Zenzls erfährt man, daß offensichtlich schon recht weitgehende Einschränkungen nötig geworden sind. Vielleicht wüßten wir hierüber und über andres auch noch mehr, wenn nicht Herrn Gollwitzers Tätigkeit zur Zeit wieder außerordentlich fruchtbar wäre. Von den täglichen Zeitungskonfiskationen werden wieder merkwürdig viele regierungsfromme Blätter betroffen. Erst gestern abend wieder blieb der „Fränkische Kurier“ aus, der mir seit 14 Tagen schon 3mal beschlagnahmt wurde. Wahrscheinlich hängen diese Zurückhaltungen mit Augusts Tod zusammen. Im bayerischen Landtag soll am Dienstag im Anschluß an den Fall wieder über Niederschönenfeld gesprochen werden. Es liegt eine gemeinsame Interpellation der Kommunisten (Adolf Schmidt und Fraktion) und der Sozialdemokraten (Timm und Fraktion) vor, die von der Regierung Aufklärung verlangt. Ferner haben Timm und Genossen noch einen Antrag gestellt, der – entsprechend unsrer Forderung – die Entsendung eines Ausschußes nach Niederschönenfeld zur Prüfung „der tatsächlichen Verhältnisse“ dort verlangt. Kommt hinzu der Reichstagsantrag der Sozialdemokraten, der speziell uns und die Eisenbahner berücksichtigt – und die Presse wird hinlänglich Platz für Kühleweinsche Verleumdungen zur Verfügung zu stellen haben, damit er auch diesmal sein Ämtchen rettet. „Niederschönenfeld muß aus der öffentlichen Diskussion verschwinden!“ – das ist das von Kühlewein endgiltig formulierte Programm des Justizministeriums. Bis jetzt ist es damit gelungen, alle Regierungslügen über uns der Nachprüfung durch Reichstags- oder Landtags- und durch Lerchenfeld-Besichtigungen zu entziehn. Bei der würdelosen Knechtseligkeit, die die bayerische Landtagsmehrheit auszeichnet und bei der sicher geschickten Vorarbeit, die jetzt in der Presse gegen uns geleistet wird – und die wir nicht zu sehn kriegen, damit wir uns nicht wehren können – nehme ich bestimmt an, daß das scheußliche Verbrechen, das an August Hagemeister verübt ist, nicht nur ungesühnt sondern auch ungeprüft bleibt. Man wird eine Krankenabteilung einrichten, und sonst wird alles beim alten bleiben. Gestern haben wir auf die Kraus’sche Entscheidung eine Beschwerde abgehn lassen, die nur von Klingelhöfer, mir, Toller und Luttner als „Veranlasser“ der früheren (vom 18. Januar) gezeichnet wurde. Denn es hat sich herausgestellt, daß eine große Zahl wirklicher und angeblicher Genossen zu weiteren Schritten in der Hagemeister-Sache nicht mehr zu haben sind. Ein Teil meint – ehrlich und richtig –, daß Recht an uns ja doch unter keinen Umständen geübt wird und daß infolgedessen jeder weitere Zeit- und Kraftaufwand verschwendet sei. Diese Genossen verkennen die Wichtigkeit unsrer Deckung gegen den Vorwurf, der uns später von den eignen Kameraden gemacht werden kann, daß wir nicht jede Möglichkeit des Protestes und der Tatsachendokumentierung benutzt hätten, zumal wir in der gemeinsamen Eingabe an den Beschwerdeausschuß uns dazu verpflichtet haben, nichts unversucht zu lassen. Natürlich sind viele da, die unter dem unmittelbaren Eindruck der Katastrophe ihre Unterschrift gaben, weil ein solcher Donnerschlag sie einmal zu den übrigen drängte und sie ihre kleinen egoistischen Bedenken vergessen ließ. Jetzt aber denken sie längst wieder nur noch an sich und berechnen, ob sie sich nicht etwa etwas an ihrer „Führung“ verderben könnten. Die Wuchtigen schließlich haben gesehn, daß sie mit ihren Anbiederungsversuchen verunglückt sind und ziehn sich deshalb auch unter nichtigen Vorwänden von weiteren gemeinsamen Aktionen in der Hagemeister-Affäre zurück. Die oder jene stilistische Wendung behagt ihnen nicht, und Olschewski – ausgerechnet – fand die außerordentlich scharfe Fassung der Beschwerde so „lahmarschig“, daß er deswegen erklärte, nicht zeichnen zu können. Wir haben gemeint, daß es besser sei, nur ganz wenige Namen unter dem Schriftstück zu haben als eine Häufung, die beim Auszählen das Fehlen von vielleicht 10 oder 12 Namen ergeben würde, die zuerst dabei waren. Wir haben also als die Vier, die die erste Eingabe veranlaßt hatten, dem Justizministerium gestern erklärt, daß wir Herrn Kraus als Richter in eigner Sache betrachten und seine Entscheidung zurückweisen und daß wir auf die Verfolgung der Schuldigen, des Vorstands, des Arztes und der untergeordneten Beamten dringen. Eine Abschrift davon ging dem Präsidenten des Landtags zu mit der Bitte, sie als Material für die Interpellation am nächsten Dienstag vorzulegen. – Von Toller läuft eine Beschwerde gegen die Einstellung des Strafverfahrens durch den Staatsanwalt in Neuburg, und ich bin entschlossen, keine Möglichkeit auszulassen, um solange die öffentliche Erregung über die Tötung Hagemeisters wachzuhalten, bis Abhilfe in der Krankenpflege hier geschaffen ist. Mein rechtes Ohr macht mir neuerdings große Sorge, da ich häufig außer dem ständigen Sausen einen schmerzhaften Drück spüre. Dem Zwange, mich noch einmal dem Dr. Steindl anzuvertrauen, kann ich mich aber nicht unterwerfen, und daß man diesen Zwang ausüben will, läßt man uns deutlich genug spüren. Niemand wird z. B. zum Dentisten gelassen, der zweimal wöchentlich ins Haus kommt, um uns zu behandeln, bevor nicht der Arzt die Behandlung für notwendig erklärt hat. Das, obwohl wir doch die Zahnbehandlung, die natürlich nur im Beisein eines Märtyrers ausgeübt wird, selber zahlen. Jetzt hat man – jedenfalls um gegen unsern Arztboykott zu wirken – noch die Verschärfung in Kraft gesetzt, daß eine einmalige Bescheinigung des Arztes nicht mehr zur fortgesetzten Zahnbehandlung genügt, sondern daß der Arzt jedes Mal von neuem konsultiert werden muß. So will man unser Vertrauen zu dem Mann, der am Tode unsres Freundes die Hauptschuld trägt wieder herstellen! – Also in 3 Tagen beschäftigt sich der Landtag wieder mit uns. Er wird neuerdings beschließen, daß wir unglaubwürdig sind, wird den Kühlewein, Kraus und Hoffmann neuerdings plein pouvoir für unsre Entrechtung und Mißhandlung erteilen, und es wird wie jedesmal, nachdem der Landtag es von sich gewiesen hat, die Wahrheit zu hören und zu prüfen, daraufhin ein neuer Hagel von Verschärfungen und frisch erfundenen Brutalitäten auf uns niedergehn, an den wir uns dann – da er natürlich wie alles Bittere hier zur Dauerqual werden wird – wie an alles übrige auch gewöhnen werden. Das Proletariat aber wird nach wie vor finden, alles für uns Erforderliche getan zu haben, wenn es die Münchener Gewerkschaften pro Monat und Mitglied – 10 Pfennig (nur hier gibt es diesen Wert überhaupt noch) für die politische Gefangenenhilfe „opfern“ läßt. Es wäre in der Tat an der Zeit, daß die Schraube, die nun seit 4 Jahren sich unausgesetzt fester zieht, endlich mal sich lockern wollte. Vorläufig können wir alle Hoffnungen darauf nur auf die Entwicklung der politischen Ereignisse bauen. Erst sie können die revolutionären – oder vorerst wenigstens die beunruhigenden – Stimmungen im Lande schaffen, denen Rechnung getragen oder im Kampf gewichen werden muß. Zur Zeit ist vielleicht der schicksalsträchtigste Ereignisbrutofen da, in dem die Nachwirkungen der fehlgeschlagenen Konferenz von Lausanne schmoren. Die Türken machen sehr kriegerische Anstalten, die Engländer nicht minder. Wie die Franzosen in dieser Konstellation operieren, ist mir noch nicht ganz klar. Bis jetzt weiß man von einem Ultimatum der Angora-Regierung an die Alliierten – also auch an Frankreich –, ihre Kriegsschiffe von Smyrna zurückzuziehn und von deren Weigerung. Falls Krieg werden soll, wird also wohl diese Woche noch Anfang sein. – Ich bin „neutral“. Denn ich sympathisiere mit keiner der beteiligten Staatsmächte, auch mit dem „Sowjet“-Rußland nicht, das da revolutionäre Soldaten für imperialistische Zwecke in den Tod jagen will (noch hoffe ich, man wird nicht für die Kemalistische Nationalistenhorde in den Krieg ziehn; aber die rote Fahne scheint in Moskau schon lange nicht mehr als nur proletarisch-revolutionäres Symbol zu gelten). Meine Sympathie ist bei denen, die da wieder einmal zwischen den Stahlplatten unterschiedlicher Eroberer zerquetscht zu werden drohen: bei den Armeniern, diesem Christus unter den Völkern. An diesem armen Volk ist mehr gesündigt worden als je an einem andern. Noch haben die Jungtürken ihre Ausrottung nicht vollenden können, die sie während des Kriegs unter stillschweigender Duldung der Deutschen, nach dem Kriege unter stillschweigender Duldung der Engländer und Franzosen mit fürchterlicher Konsequenz betrieben haben.* Es ist ein entsetzlicher Gedanke, daß sie dasselbe Geschäft im neuen Kriege unter der stillschweigenden Duldung der „kommunistischen“ Russen fortsetzen werden, denen die Erfahrungen mit Enver Pascha als Mene Tekel nicht genügt haben. Wenn es eine Weltgerechtigkeit gibt, dann geht die Rache ihren Weg: sie wird von Armenien den Marsch antreten, und es wird der revolutionärste Völkermarsch der Weltgeschichte werden!

 

* Über das Schicksal und die Behandlung der Armenier bringt die letzte Weltbühne einen sehr schönen, leidenschaftlichen und aufrüttelnden Artikel von Armin T. Wegner.

 

Niederschönenfeld, Sonntag, d. 11. Februar 1923

„Jubiläum“: ich habe heute genau 200 Wochen (= 1400 Tage) Kerkerleben hinter mir. Ob’s noch nicht bald genug ist? Der furchtbare Schlag, der ganz besonders mir durch den Tod meines alten August Hagemeister versetzt wurde, wirkt noch stündlich nach, und der Gedanke, diese Mißhandelskammer einmal ebenso verlassen zu müssen wie er – in einem Transportsarg auf einem rumpligen Leiterwagen – ohne einen nahen Menschen, ohne einen grünen Zweig zur Begleitung, ein verfaulter Krautkopf, den man zum Gerümpel auf den Misthaufen wirft, – dieser Gedanke stellt sich letzthin oft genug bei mir ein. Attacken, wie ich sie gestern mit den Ohren erlebte, sind allerdings nicht geeignet, solche Betrachtungen zu verscheuchen. Die Schmerzen steigerten sich im Laufe des Nachmittags abscheulich, und – was das Bedrückendste war –, sie traten dann im gesunden linken Ohr noch stärker hervor als im ohnehin an dauerndes Sausen und Taubheit gewöhnten rechten. Wenn morgen Zenzl kommt, – was ich ziemlich sicher annehme –, muß ich mit ihr drüber sprechen trotz der Bedenken, die ich dagegen habe, sie neuerdings in Unruhe zu versetzen. Da Watte und Chloroformöl da war, bin ich gegen das Leiden damit selbständig zu Felde gegangen und zwar mit dem Erfolg, daß der Schmerz fast ganz nachgelassen hat. Aber ich kann nicht wissen, ob damit der Krankheitsherd tatsächlich gelöscht ist. Die Kälte und der Zug, in denen ich mich aufhalten muß, warnen mich eindringlich vor vorzeitiger Beruhigung. Was tun, wenn eine ernsthafte Verschlimmerung eintritt? Mich an den Dr. Steindl wenden? Dem widerstrebt mein innerstes Gefühl. Außerdem hat er mein Gehör schon mal untersucht und daß einzige, was bei der Behandlung, die er mir angedeihen ließ, nicht zweifelhaft war, war meine Überzeugung, daß sie auf einer Fehldiagnose beruhte. Ich erlangte ja damals – nach Wochen eifrigen Bemühens – die gnädige Erlaubnis, mir auf eigne Kosten einen Spezialarzt kommen zu lassen, und auch da zeigte der Teufel seinen Huf: es durfte nicht der Arzt sein, den ich auf Dr Schollenbruchs Empfehlung wünschte, sondern ein von der Verwaltung bestimmter. Welchen Grund hätte man haben können, einem Arzt, dem ich Reise und Behandlung bezahlt hätte, hier den Zutritt zu verweigern als die Furcht, er könnte ärztliche Feststellungen treffen, die dem Strafvollzug Unbequemlichkeiten bereiten oder gar eine Heilung als nötig befinden könnte, die nur auf Kosten der mir von der bayerischen Eigenart verordneten Qualen zu erzielen wäre? Und was konnte die Behörde veranlassen, einen ganz bestimmten, ihr also bekannten Arzt für die Konsultation – die ich trotzdem bezahlen sollte – vorzuschreiben, als die Gewißheit, daß er gewiß seine Diagnose und seine Therapie nicht nach dem Befund meiner Ohren sondern stramm nach den Wünschen und Winken der Verwaltung einrichten würde? Die Untersuchung unterblieb damals natürlich, weil ich an dem einen Arzt, der in erster Linie Beamter ist, genügend Erfahrungen habe. Was käme heraus, wenn ich mich jetzt auf solche Konsultation einließe? Womöglich dasselbe, was August das Leben gekostet hat; die Anordnung, mich hinunter zu verlegen, weg von meinen Kameraden, weg von meinen Büchern, in verschärfte Disziplinar-Absonderung. Da würde ich den nächstbesten Stuhl zur Hand nehmen und mich wehren bis zum Letzten, – und das Resultat wäre erst Recht Disziplinierung mit nachfolgendem Prozeß wegen Widerstands oder gar Meuterei und lange Gefängnisstrafe, – wenn ich nicht zuvor dank der vollstreckten „Krankenpflege“ verreckt bin. Lieber nicht! – Ich werde also Zenzl bitten, zum Justizministerium zu gehn und zu versuchen, die große Gnade zu erwirken, daß unter ungeheuren Kosten aus der Privattasche – wie die aufgebracht werden, wird dann noch ein Problem für sich werden – ein Spezialist für Ohrenleiden die „Ehren“pforten von Niederschönenfeld durchschreiten darf, ohne an der Schwelle hinausgeschmissen zu werden, um unter Assistenz von uniformierten Bütteln eine ärztliche Untersuchung vorzunehmen. Ich will nur wünschen, daß bis zur korrekten Erfüllung aller Instanzenentscheidungen mich keine akut gewordene Mittelohrentzündung vorzeitig amnestiert. – Hier interessiert man sich im Augenblick nur noch für die Frage, ob diesmal der Landtag einen Untersuchungsausschuß herschicken wird oder nicht. Manche Genossen meinen, der Tod eines Mitglieds des „hohen Hauses“ stelle die Herrschaften vor eine Zwangslage, der sie nicht werden ausweichen können. Ich halte die bayerischen Christen für robuster. Sie wissen doch ganz genau was hier vorgeht und daß alles was wir nur je darüber behauptet haben wahr ist. Kein Mensch dort hat den geringsten Zweifel daran; sonst hätten sie ja längst, um das Gerede still zu kriegen, nachgeprüft. Das haben sie nie getan, sie haben im Gegenteil stets alles gutgeheißen, was Kühlewein beweislos gegen uns vorgebracht hat, haben selbst die Prüfung der Zustände, die im Reichstag beschlossen war, als Eingriff in ihre Rechte verhindert, ja sie haben es verstanden, den Justizminister Lerchenfeld selbst, als er hierher unterwegs war, zurückzuzitieren und haben statt auf rechtliche Verhältnisse zu drängen, mit Erfolg Verschärfungen gegen uns verlangt, und selber welche angeregt: die Entziehung der Anstaltskleidung. So hat die Mehrheit des Landtags stets bewiesen, daß ihr alles, war hier gegen uns an Quälereien ausgesonnen wird, völlig recht ist, – warum sollte sie also jetzt Beamte desavouieren wollen, die von ihresgleichen ausgesucht sind, nur unter dem Gesichtspunkt, ob sie die genügende Garantie geben, von keiner Sentimentalität, von keiner Barmherzigkeits- und Rechtlichkeitsduselei von dem Prinzip abzubringen zu sein, daß politische Gegner als Gefangene zu martern und außerhalb jedes Rechts zu behandeln sind? Sie müssen sich weiter blind und taub stellen, wenn sie nicht in Konflikt mit all ihrer christlichen Gesinnung kommen wollen und menschliches Gebaren gutheißen sollen. – Und die Minderheit? Die muß freilich jetzt so tun, als ob sie uns wohlwollte. Aber sie besteht zum größten Teil aus Komplizen unsrer Straftaten, aus Sozialdemokraten und Bauernbündlern, die zwar an der Räterepublik aktiv teilgenommen haben, dann aber die waren, die – um nur sich von allen Konsequenzen zu salvieren – unsre Verurteilungen betrieben, uns den Schergen überlieferten, die sie jetzt plötzlich kontrollieren wollen und auch stets gegen unsre Amnestierung gestimmt haben. Selbst der letzte Antrag der Sozialdemokraten, den sie raffinierterweise von dem arg- und ahnungslosen Fischer Gustl begründen ließen, wollte nur die Anwendung der Kappamnestie auf Bayern, die die „Führer“ ausdrücklich ausnimmt, – nachdem die Bourgeoisparteien in Preußen und fast allen andern Ländern – die weitgehenden Rathenauamnestieen beschlossen und durchgeführt hatten. Wir kennen unsre eben entdeckten „Freunde“ zu gut, um ihnen trauen zu mögen. Immerhin soll’s an mir nicht fehlen. Ich habe schon mit dem Ferdl verabredet, daß wir an die Arbeit gehn wollen, um an der Hand meiner Tagebücher Material zusammenzustellen. Wenn die „Volksvertreter“ wirklich hören wollen was los ist, dann sollen sie erfahren, wie in Bayern „Recht“ geübt wird. Es wird schon nützlich sein, festzustellen, was die Justizverwaltung früher mit der Ordnung und dem Recht vereinbar hielt und was davon jetzt noch übrig ist. Daß sie sich schämen werden, wenn sie im Zusammenhang hören, wessen alles sie schuldig sind, glaube ich freilich nicht. Eher ist wahrscheinlich, daß ihre Christenseelen erfreut sein werden, wie gut die Rache in Bayern das Recht ersetzt. Aber trotzdem möchte ich ihnen aufzählen, was sie bisher mitverschuldet und mitvertuscht haben: von der Zerstörung unsrer Ehen und Zerreißung unsrer Familien angefangen bis zur Totpeinigung Hagemeisters. Sie sollen wenigstens Mühe haben, die For[t]setzung all ihrer Infamieen vor der Welt weiterhin mit Rechtsphrasen zu verkleistern. Und dieser und jener wird vielleicht auf die gedankenvolle Frage kommen: wie wird’s uns einmal gehn, wenn unsre Rohheit und Gewissenlosigkeit eines Tages die Bajonette nicht mehr hat, um den Haß, den wir erregt haben, von uns fern zu halten? Sie haben ja im November 18 und im April 19 gezeigt, daß Angst ein Gefühl ist, das ihnen gewiß nicht fremd ist. Wenn schon die Rache ihnen auskommen soll – ach Gott, wir haben’s ja an uns erlebt, wie vorsichtig wir unser Herz befragten, ehe wir unsre Macht gebrauchten (und dem danken sie ihre Macht, nur dem!), – ich will zufrieden sein, wenn ich das, was ihr Gewissen ersetzt, die Furcht vor der Vergeltung, in ihnen lebendig machen kann. Mögen sie also kommen!

 

Niederschönenfeld, Mittwoch, d. 14. Februar 1923.

Man hat mir ein neues Quartier gegeben. Ich sitze, genau so frierend wie im alten, in Bude 171, im Mittelgang, dank der unermüdlichen Hilfstätigkeit meiner Freunde Ferdl und Gustl wohleingerichtet. Jetzt ist’s mir recht, da die größere Zelle immerhin wohnlicher einzurichten war als die beiden jammervollen Löcher, die ich bisher innehatte. Aber das Üble war die Art, wie das wieder gemacht wurde. Gestern früh plötzlich Besuch des Herrn Fetsch bei einer großen Zahl Genossen: „Sie werden verlegt, Sie kommen auf Zelle soundso.“ Ohne Vorbereitung, ohne eine Andeutung zuvor, einfach weil die Bürokratie sich mal wieder was zu tun machen wollte wird man „verlegt“. Früher bezog man die Zelle, die einem paßte, einigte sich mit andern auf Budentausch etc und teilte nach vollzogener Umquartierung einfach der Verwaltung mit: [„]ich habe die Zelle x bezogen.“ Dann die Schwierigkeiten, sich neu einzurichten. Die Hausordnung gestattet uns zwar, unsre „Stuben“ nach Belieben auszuschmücken. Der gegenwärtige Vorstand hat aber schon lange ein Mittel gefunden, uns dieses Belieben sehr zu verengen, indem er die Anschaffung von Nägeln verbot. Natürlich hilft man sich immer noch, zieht die Nägel aus den verlassenen Zellenwänden heraus und klopft sie, da man ja auch keinen Hammer, keine Zange, kein Werkzeug hat, mit Stiefelabsätzen oder irgendeinem in Heimlichkeit geretteten Stück Eisen grade und ein. Na, hoffentlich war dies nun der letzte Umzug in Niederschönenfeld und womöglich in der Gefangenschaft überhaupt. Wenn Zenzl recht behält, darf mans annehmen. Ihr Besuch vorgestern verlief um ein Geringes erträglicher als gewöhnlich. Die Aufsicht war toleranter und unterbrach nur ein einziges Mal mit dem Bemerken, über den Fall Hagemeister dürfe nicht gesprochen werden. Ich erfuhr trotzdem, daß die Details darüber draußen genau bekannt sind. (Übrigens brachte der „Fränkische Kurier“ gestern eine, Herrn Gollwitzers Achtsamkeit wohl entgangene Korrespondenznotiz, die meine und aller übrigen Festungsgefangenen Eingabe an den Landtag betrifft und unsre Forderungen mitteilt. Es ist in diesen Jahren das erste Mal, daß ich eine solche Mitteilung, die inspiriert zu sein scheint, finde, die ganz ohne Fälschung und ohne Verleumdung gegen uns, sachlich richtig ist.* Das sieht danach aus, als ob die Regierung in diesem Falle für ihre Niederschönenfelder Organe nichts glaubt retten zu können und die Dinge ihren Gang gehn lassen wolle. Stimmt das, dann wird der Landtag wohl heute die Untersuchungskommission doch beschließen). Zenzl war also recht optimistisch: man rechne draußen bestimmt mit unsrer Freilassung. Da sich diese Hoffnung jedoch zumeist auf den Reichstag stützt, der die Amnestie beschließen werde, teile ich sie nur sehr begrenzt. Der sozialdemokratische Antrag will nur die Reichsregierung veranlassen, auf unsre Befreiung „hinzuwirken“, und die Kommunisten haben ihrerseits zwar einen konkreten Amnestieantrag eingebracht, in dem wir besonders benannt werden, wollen aber wieder alle Monarchisten, Nationalisten oder nach den Schutzgesetzen Verurteilten ausnehmen. Dadurch, daß diese Verfechter der proletarischen Diktatur dauernd die entschlossensten Verteidiger der Weimarer Verfassung stellen, erreichen sie das Gegenteil von dem was sie wollen: Wie alle Opportunisten immer darin irren, daß sie meinen, die „Taktik“ gebiete Preisgabe von Grundsätzen. Schlössen sie Jagow, Erhardt, die Rathenaumörder, Arco etc in ihren Amnestieantrag ein, dann könnten sie auf die Unterstützung auch der Nationalisten rechnen (und da es sich bei denen ja nur um ganz wenige Personen handelt, die davon profitieren sollen und sie überdies so gut wie gefeit sind gegen Gefahren von dieser „Republik“, hätten ja auch die frömmsten Ebert-Kommunisten nicht gar so Schreckliches von der Gesamtamnestie zu besorgen). Ich habe Zenzl prophezeit: der Reichstag wird die Amnestie beschließen – unter Annahme des sozialdemokratischen Antrags –, und wir werden drinnen bleiben. – Im übrigen ist nicht viel Neues von Zenzl gebracht worden. Wir sprachen zumeist vom Persönlichen und Geschäftlichen (sie besuchte in Köln einen neuen Verlag, Marcan-Block, bei dem ein großer Teil von Gustav Landauers Nachlaß erscheint, und leitete Verhandlungen mit ihm ein über die Herausgabe meiner gesammelten Werke, die vielleicht zum 50. Geburtstag fertig vorliegen könnten). Was sie von der Stimmung im Rheinland erzählt, entspricht ganz dem, was ich mir dachte: daß der patriotische Rummel größtenteils Mache ist und bei den Arbeitern nur geringe Resonanz hat. Natürlich bleibt als Rückstand jedes ihrer Besuche ein Hochflammen akuten Heimwehs, mit dem nur die Anspannung aller körperlichen und Nervenkräfte durch den Umzug gestern mich in diesem Fall schneller als sonst fertig werden ließ. Die zwei Tage Tagebuchversäumnis durch Zenzls Besuch und die Übersiedlung haben in politischer Hinsicht nichts Grundstürzendes gebracht. Die nationalistische Lügerei auf deutscher Seite, die militärische Brutalität auf französisch-belgischer geht weiter. Sehr bemerkenswert zur Charakteristik der widerlichen Patridiotie der Sozialdemokraten ist eine Rede, die Breitscheid in London gehalten hat, und die völlig den Eindruck macht, als wollte Rudi sich schon programmatisch als künftiger Außenminister präsentieren. Er hat die Erklärung abgegeben, man müsse zwar die Regierung Cuno selbstverständlich stützen – also gegen das Proletariat, für Stinnes-Lubersac Politik machen –, aber man müsse zu gegebener Zeit trotzdem verhandeln, auch wenn das Militär der Generäle Degoutte und Weygand noch im Ruhrgebiet wirtschaftet. Wunder! Denn kein Mensch mit normalem Urteil denkt daran, daß wegen der hysterischen Plärrerei die Franzosen sich von ihren Zielen abbringen lassen werden. Sie können ja leicht abwarten, bis der Hunger in Deutschland seine Wirkung tut. Ihnen knurrt der Magen nicht dabei, – und die Hoffnung mancher ganz Gescheiter, wie Klingelhöfer, der französische Frank werde so im Kurs sinken, daß er Poincaré zur „Einsicht“ bringen werde, ist das naive Geschwätz eines Patrioten, der als was Besseres als als Patriot dastehn möchte. Die Kurssenkung in Frankreich ist minimal, und hat, wie sich gezeigt hat, zunächst die Wirkung, der Industrie dort Arbeit zu schaffen. Bei uns steigt die Mark zur Zeit mal wieder: letzter Bericht des Dollarstandes: 28.000. Man will nämlich wieder mal mit Palliativmittelchen den Devisenschiebern an den Kragen. Aber – über diese Dinge gibt Silvio Gesells Blatt „Der neue Kurs“ immer ganz ausgezeichnete Instruktionen – viel zum Verschieben ist in Deutschland schon lange nicht mehr vorhanden, und die „Erfassung der Sachwerte“, das große Universalmittel der Marxisten aller Sorten – das beizeiten kräftig betrieben, auch sehr nützlich hätte wirken müssen, wird dereinst mal in Ermanglung von Realien – die alle schon längst im Ausland sind – ein Fiasko werden. – Breitscheid also hat in London ausgeplaudert, was man in der VSP denkt: man will Minister werden und geht zunächst nach England, für sich Stimmung machen. Natürlich wird der arme Rudi nun vornedran auf die Liste der zu Ermordenden gesetzt werden. Denn was „deutsch“ ist, hat ja bindend erklärt: es wird nicht verhandelt, solange noch ein fremder Soldat an der Ruhr steht, – und die Londoner Rede war also einer der beliebten „Dolchstöße“ in den Rücken der „Einheitsfront“. – Nebenbei: ich finde im „Neuen Kurs“ folgende Reminiszenz: Im Jahre 1871 erbat Favre von Bismarck 10 Tage Stundung für die erste fällige Reparationsquote von 500.000 Mark. Bismarck antwortete (am 18. Juni): „Wenn die französische Regierung nicht am 1. Juli (d. h. 50 Tage nach Abschluß des Friedens) die vertragsmäßige Zahlung leistet, werden wir zu konstatieren haben, daß sie Artikel 7 unausgeführt gelassen hat, und ersuche ich Ew. Herrn Favre hierüber keinen Zweifel zu lassen. v. Bismarck.“ Folgt ein Bericht Waldersees aus Paris vom 20. Juni an Bismarck über seine Unterredung mit Favre daraufhin. Mehrere hunderttausend Mann, so hatte er gedroht, seien unterwegs von Frankreich zur deutschen Grenze, da man geglaubt habe, die Franzosen würden ihre Verpflichtungen erfüllen. Habe man sich darin getäuscht, so würde eine erhebliche größere Anzahl Truppen auf französischem Boden belassen werden, als man beabsichtigt hatte. „Die Unbequemlichkeiten solcher Maßnahmen lägen, wie er (Favre) wohl zugeben werde, überwiegend auf französischer Seite.“ – Die Franzosen also baten um 10 Tage Stundung und man lehnte unter Androhung militärischer „Sanktionen“ ab. Jetzt, wo die Franzosen den Deutschen immer wieder – jahrelang und ungleich gewaltigere Summen – gestundet haben und nach 4 Jahren wirklich diese Bismarckschen Sanktionen in Kraft setzen, heult Alldeutschland in pazifistischer Wehmut laut auf und wundert sich des Todes, daß in der ganzen Welt kein Mitleid für unser Duldervolk zu bemerken ist sondern nur angeekeltes Achselzucken. Sogar Fimmen, der Vorsitzende der Amsterdamer Gewerkschaftsinternationale hat in Stuttgart vor Gewerkschaftsfunktionären seinen deutschen Schafen elend die Leviten gelesen und klar ausgesprochen was los ist: daß das ganze Abenteuer an der Ruhr ein abgekartetes Spiel zwischen Stinnes und Lubersac ist und daß dies Proletariat in Deutschland alle Ursache hätte, gegen die eigne Bourgeoisie anzugehn statt mit ihr im Bunde Kapitalistenpolitik zu treiben. Er hat sehr deutlich an das Jahr 1914 erinnert und verstehn lassen, daß das, was jetzt die Wels und Leipart treiben, um nichts vor den Augen der Welt von dem unterschieden ist, was sie am 4. August trieben. Ob’s wirken wird? Der „Vorwärts“ wird wohl, wenn er von der Rede überhaupt seinen Lesern erzählen sollte, Herrn Fimmen Beeinflussung durch ententistische Nationalisten vorwerfen. Bis jetzt wissen ja diese Brüder noch garnicht wie verächtlich man sie in der ganzen Welt findet. Übrigens prophezeit Fimmen die Neuauflage des Weltkriegs schon für die allernächste Zeit. Frankreich werde die Polen und Tschechen aufputschen und Rußland werde eingreifen, Polen überrennen und mit Frankreich den Entscheidungskampf mit Deutschland als Kriegsschauplatz führen. So wird es allerdings wahrscheinlich kommen. Ich glaube allerdings nicht, daß schon die nächsten Monate dahin führen werden. Erst wird der Orientkonflikt so oder so entschieden werden. Dann aber, falls das deutsche Proletariat sich bis dahin noch von den Scheidemännern betrügen läßt – und es scheint ja, als ob es vom Krieg überhaupt nichts gelernt hätte –, geht „der zweite punische Krieg“ seinen Gang, daran habe ich keinen Zweifel. Aus dem 4jährigen Krieg, den wir hinter uns haben – seit 4 Jahren! – kann immer noch ein 30jähriger Krieg werden. Nur die Revolution – und die haben wir noch im Ganzen vor uns! – kann diesem Kriege die Luft nehmen. – Noch ein paar Personalia: In München erscheint an Stelle der „Neuen Zeitung“ ein Blatt das sich „Rote Bayern-Fahne“ nennt. Darin wird mein Bröschke-Roman abgedruckt. Man hat mich durch Zenzl bitten lassen, weiter daran zu schreiben, damit nach Abdruck des Fragments fortgefahren werden könne. Wenn’s wärmer werden sollte in meiner Zelle, – im neuen Quartier jetzt wär’s möglich, daß ich die Sammlung fände. Den Plan zu meinem Lustspiel „Einerseits – Andrerseits“ habe ich zwar nicht aufgegeben; aber Augusts Tod warf mich vollständig aus der Stimmung auch nur zum Weiterdenken darüber. – Zwei Todesfälle sollen flüchtig erwähnt werden: Zwei Münchner Professoren sind dieser Tage gestorben. Der X-Strahlen-Röntgen, zu dem ich persönlich überhaupt keine Beziehungen hatte, der aber um seiner großen Entdeckung willen nicht übergangen werden soll; und der liberale Geograph Siegmund Günther, mit dem ich immerhin aus irgendeinem Zufall auf Grüßfuß stand. Von seinen Leistungen als Wissenschaftler weiß ich nichts, und auch einen Nachruf auf den Politiker kann ich mir umso eher ersparen, als – wie ich sehe – als einer seiner nächsten Freunde und Gesinnungsgenossen die Öffentlichkeit von jemand anderm mit Nekrologen bedient wird: von Dr. Ernst Müller-Meiningen. Ich will hoffen, daß der alte Herr ein solches Schicksal nach seinem Tode doch nicht verdient hat.

 

* Zur Abschwächung brachte der Fränk. Kurier nur unmittelbar dahinter den Bericht, daß Herr Hans Dosch wegen Diebstahls, Hehlerei und Zuhälterei zu 6½ Jahren Zuchthaus verurteilt wurde. Das bleibt natürlich an uns allen kleben.

 

Niederschönenfeld, Freitag, d. 16. Februar 1923.

Gestern mußte die Eintragung – und jede Arbeit – unterbleiben, weil den größten Teil des Tages überhaupt kein Dampf in die Heizung gelassen wurde und es – bei 0o im Freien – gradezu lebensgefährlich war, sich lange am Tisch aufzuhalten. Es soll sich um eine unbeabsichtigte Störung gehandelt haben, und heute ist’s tatsächlich besser, wenn auch durchaus noch nicht warm. – Inzwischen haben wir so gut wie keine Zeitung zu lesen bekommen. Mir allein wurde heute die Zurückhaltung von 2 Nummern des „Fränkischen Kuriers“ und einer der „Berliner Volkszeitung“ mitgeteilt. Der Grund ist zweifellos der, daß wir über die Landtagsverhandlungen, die sich mit unsrer Eingabe und den sozialdemokratischen und kommunistischen Interpellationen beschäftigten, nichts erfahren sollen, vor allem auch nichts über die etwa gefaßten Beschlüsse. Doch ist eben die Frau Saubers zu Besuch hier und so werden wir wohl noch heute Bescheid wissen, ob wir den Besuch einer Kommission zu erwarten haben oder nicht. Ein Brief Zenzls gibt keinen Aufschluß darüber: sie sei in der Sitzung gewesen, wolle mir aber über das Resultat nichts schreiben, das wir ja sowieso erfahren würden. Freilich – wenn sie es mitgeteilt hätte, wäre sicher der Brief zu den Akten gegangen. Der gedrückte Ton ihres ganzen übrigen Schreibens läßt mich annehmen, daß das Resultat negativ war. Kühlewein kennt seine Pappenheimer und wird nur eine Andeutung nötig gehabt haben, um den „Wolkenkratzer“ (ich habe hier diese hyperbolische Form für das „hohe Haus“ eingeführt) zu veranlassen, über die Totquälung eines seiner Mitglieder zur Tagesordnung überzugehn. Da man uns die Lügen vorenthält, mit denen die Regierung ihrer Tradition gemäß dies Ergebnis bewirken wird, läuft man ja keine Gefahr, sie von denen, die die Wahrheit kennen, berichtigt zu kriegen. – Wir werden unsrerseits die Folgen eines solchen negativen Beschlusses schnell genug zu spüren bekommen. Ein neuer Freibrief für die Verwaltung uns ungestraft unter täglich neuen Rechtsbeugungen zu schinden, wird gewiß nicht ungenutzt gelassen werden. Die Umquartierung im Hause deutet schon wieder auf niedliche Aussichten hin. Man hat in den Seitengang, wo auch ich bis jetzt wohnte, die 5 Genossen angesiedelt, die als nächste herauskommen werden (daß auch Uhrmann unter ihnen ist, der noch 5/4 Jahr vor sich hat, läßt darauf schließen, daß seine Entlassung – oder Verlegung nach Erlangen – bereits beschlossene Sache ist). Der Pedanterie wegen hat man 2 von ihnen, Uhrmann und Beimler, die auch bis jetzt schon auf dem Gange wohnten, in andre Zellen desselben Ganges verlegt, sodaß sie dort alle nebeneinander und nicht mehr von Leerzellen getrennt, wohnen. Wozu diese sinnvolle Ordnung dienen soll, ist unerfindlich; jedenfalls hat man aber Beimler noch 6 Wochen vor der Entlassung zwei Türen weiterziehn lassen. Den gegenüberliegenden Seitengang hat man uns schon gegen Weihnachten zugesperrt. Wenn nun die 5 Genossen auch frei sind, haben wir sicher drauf zu rechnen, daß man uns auch den zweiten Seitengang verschließt und ebenso, wie man es im April unten machte, unsern letzten, mittleren Gang durch Schließung des Scherengitters und Einbau des Herdes in den Gang bis zur Unerträglichkeit verkürzt und einengt. Dann haben wir für 20 Mann als einzigen Aufenthalt außerhalb der Zellen einen genau 36 Schritt langen und knapp 2 Schritt breiten Korridor, der einem Käfig in jeder Hinsicht ähnlicher sieht als einer Menschenbehausung. Man muß hoffen, daß bis dahin doch noch Veränderungen eintreten, die unsern Mißhändlern ihre Pläne durchkreuzen. Die Reichstagsamnestie scheint freilich ziemlich windig auszusehn. Durch die Konfiskationen hatten wir nur die Möglichkeit, den Anfang der Justizdebatte zu verfolgen. Da hat Rosenfeld für unsre Freilassung gesprochen, aber schon der Zentrumsmann Bell erklärte, ein allgemeiner Amnestieerlaß sei „zur Zeit nicht erwünscht“. Ob das Zentrum nun auch gegen das „Hinwirken“ stimmen wird, ist nicht ersichtlich. Wahrscheinlich, denn der Christlichkeit dieser frommen Partei ist auch ohne das Genüge geschehn, indem Bell sich für weitgehende Milde gegenüber den gemaßregelten Eisenbahnern einsetzte. Wegen der Umschmeichelung der Ruhr-Eisenbahner braucht man momentan freundliche Gesinnung bei dieser Gruppe der Justizopfer. Wo man sie nicht braucht, ist auch keine „Milde“ „erwünscht“. Wir dürfen uns also jedenfalls wieder auf unbefristete Fortdauer unsrer Annehmlichkeiten einrichten. Dennoch liegt mir verzagender Pessimismus endlos fern. Die unglaublich kurzsichtige Politik, die das Reich in der Ruhrfrage treibt, muß binnen kurzem alles durcheinanderschmeißen, was jetzt noch ungefähr nach System aussieht. Die ganz kriegsmäßige Lügenregie und Stimmungsmacherei der gesamten Presse – mit Ausnahme der deutschvölkischen und neben einigen Zeitschriften wie „Weltbühne“ und „Neuer Kurs“ der ganz linken von der kommunistischen ab – verfälscht vor dem deutschen Publikum das Bild in jeder Beziehung. Ein Beispiel: die Fimmensche Rede wird jetzt im „Vorwärts“ tatsächlich zitiert. Das Blatt macht aus der Schamade eine Fanfare, unterschlägt den Hauptinhalt, alle Angriffe gegen den A. D. G. B. und läßt Fimmen als eifrigen Parteigänger der deutschen Resistenzpolitik erscheinen. Jeder Mensch glaubt, die ganze Welt verurteile Frankreichs Vorgehn als Bruch des Versailler Vertrags und stehe mit allen Sympathien bei Cuno und seinen „oppositionellen“ Sozialdemokraten. In Wirklichkeit weiß man in der ganzen Welt außerhalb Deutschlands, daß das formale Recht in der Sache völlig bei Frankreich liegt. Ich habe leider nicht den Wortlaut des sogenannten Friedensvertrages zur Hand, wohl aber den Lersnerschen „Volkskommentar“ dazu, der eine ganz tendenziöse Frisierung darstellt. Da finde ich aber schon auf Seite 8 folgende Kommentierung aus der Feder Dr. Simons’, des ehemaligen Generalkommissars der deutschen Friedensdelegation, der doch wohl wissen muß, was im Vertrage drinsteht: „So muß Deutschland sich verpflichten, Zwangsmaßnahmen aller Art, die von der Gegenseite als geboten erachtet werden, nicht als feindliche Handlungen zu betrachten“, und Simons selbst legt das als ein – doch von Deutschland unterschriftlich anerkanntes – Recht zu Handlungen für die Partner aus, „die nur als Fortsetzung des Kriegszustands bezeichnet werden können.“ Überdies aber hat Deutschland sich ausdrücklich verpflichtet, den andern in der Durchführung ihrer Maßnahmen überall jede Erleichterung zu gewähren. Demnach ist – wenn schon der juristische Paragraphenstandpunkt gelten soll, zweifellos Frankreich mit den Sanktionen nicht, Deutschland mit der passiven Resistenz sicher vertragsbrüchig. Von moralischen Gesichtspunkten aus ist natürlich gegen einen solchen Vertragsbruch, der ja die Lösung eines unter Waffendruck erzwungenen Pakts anstrebt und demnach nicht mit dem scheußlichen Verbrechen gegen Belgien zu vergleichen ist, garnichts einzuwenden, wie ja jeder, der die Politik unter Moral stellen will, sich in unsern widerlichen Zeiten nur lächerlich machen würde. Aber daß man sich stark stellt, während man schwach ist; daß man Erfolge vortäuscht, während man nur Débacles erlebt, daß man den Gegner als ausgerutscht hinmalt, während er in Wirklichkeit fester auf den Beinen steht als er selbst zu hoffen wagte; daß man endlich das Geschäft von Industriespekulanten als Angelegenheit der Nation aufmacht, – das gibt dem ganzen Getue ein so peinliches Aussehn. Die Franzosen und Belgier – so steht jetzt der Fall – lassen sich von keiner deutschen Gegenmaßnahme aus dem Text bringen. Da die deutschen Geschäftsleute sich zum Boykott gegen die Besatzungstruppen haben beschwätzen lassen, wird halt „requiriert“ – und daß dabei die Offiziere noch roher als die Mannschaften vorgehn, wundert niemanden, der von militärischen Gebräuchen weiß. Die „Rote Fahne“ versichert, daß Streiks in den staatlichen Betrieben häufig keineswegs mit Willen der Arbeiter ausbrechen, aber die Beamten schalten beispielsweise elektrischen Strom aus und machen also durch Sabotageakte jedes Arbeiten unmöglich (was Alldeutschland herrlich findet, auch die sozialdemokratischen Arbeiter, die Sabotage sonst, wo es um ihre Interessen geht, mit der Streikidee unvereinbar finden). Nun helfen sich die „Feinde“ auch da. Sie haben eine Art Ultimatum an die Ruhr-Eisenbahner gerichtet mit der Mitteilung, daß sie den ganzen Eisenbahnverkehr in eigne Regie nehmen werden: wer sich zur Verfügung stellt, wird von ihnen übernommen, die andern können sehn, wo sie bleiben. Und was machen die Gewerkschaften? Sie erklären, ihre Beschlüsse von den Befehlen der Regierung abhängig machen zu wollen. Finden die Herren Cuno und Stinnes: die Arbeiter müssen verhungern, dann finden es halt die Herren Leipart und Aufhäuser ebenfalls! Fragt sich nur, ob die Arbeiter auch dann noch stramm stehn bleiben. – Inzwischen wird die Blockade immer enger. Außer der Kohlenausfuhr ist jetzt auch die aller metallurgischen Erzeugnisse aus dem neu besetzten Gebiet gesperrt. Wie lange wird man das bei uns aushalten? Ein paar Wochen vielleicht noch (vielleicht auch bloß ein paar Tage; wir wußten ja auch im Kriege nie, wie weit die Industrie eingedeckt war), und dann? Dann verhandelt Cuno oder sein Nachfolger, und zwar ganz, wie’s verlangt wird: nur mit den an der Ruhrbesetzung beteiligten Mächten und ehe ein einziger Soldat von dort zurückgezogen ist. Und dann? Dann schreit jeder deutsche Nationalist: Verrat! Dolchstoß! Die Juden haben Schuld! – und der Bürgerkrieg ist fertig, sofern dann die Herren Hitler und Xylander zum Bürgerkrieg fertig sind. Was endlich daraus wird, das kann kein Prophet voraussagen. Vielleicht wird unmittelbar oder mittelbar die neue wirkliche zum Siege führende Revolution draus – mit mir als Kämpfer oder über meine Leiche. Komme was will, – unsre Patrioten und ganz speziell die Bayern irren, wenn sie glauben, so wie es ist, werde es bleiben und sich festigen. Alles steht noch bevor – ihnen so gut wie uns. Aber wir sind besser dran, da für uns nichts mehr zu verlieren ist. – Und nun ist leider auch heut wieder ein Nekrolog zu schreiben. Im Vorwärts wird der Tod von Frau Bölsche gemeldet. Johanna Bölsche! – die „Mittagsgöttin“, wie ich sie nannte, seit sie mich mal in Friedrichshagen zu Tisch eingeladen hatte. Der Name hat mir die ganze Friedrichshagener Zeit lebendig gemacht, alle die Gestalten, die damals im „Armen Teufel“-Jahr sich um mich herum bewegten. Wieviele sind schon tot von ihnen – Frau Grete Landauer, Frau Franziska Weidner – und nun Frau Johanna Bölsche! 20 volle Jahre ist das alles her, mein Bianca-, mein Gerta-Roman. Mir war recht wehmütig, als ich wieder mal durch den Tod an all das erinnert wurde. An Wilhelm Bölsche schrieb ich eine Karte der Teilnahme. – So sterben die Zeugen unsrer Jugend nacheinander weg – und wir merken, daß wir alt werden.

 

Niederschönenfeld, Sonnabend, d. 17. Februar 1923

Plötzlich ist das Bild wieder verwandelt, und hier im Hause, wo bei den Meisten jede Hoffnung eingesargt schien, läuft die Drehscheibe wie in den Rathenau-Tagen. Gestern nachmittag erhielt ich überraschenderweise den Besuch Schlaffers, der – offenbar als Abgesandter der Wuchtigen – über Frau Saubers Besuch Bericht erstattete. Demnach schien es, als hätten wir doch den Ausschuß zu erwarten. Allerdings hatte der Märtyrer so energisch und drohend ins Gespräch eingegriffen, daß Sauber schließlich nicht recht wußte, ob seine Frau die Einsetzung eines Ausschußes gemeldet hatte oder ob es sich um die Zurückverweisung der Angelegenheit an einen Landtagsausschuß handelte. Im übrigen wurde bestätigt, was wir schon wußten: daß der Fall Hagemeister außerordentlich erregend auf die Öffentlichkeit gewirkt habe und daß man sich speziell in Rain für die Sache interessiere. Dort soll auch aus andern Gründen starke Mißstimmung gegen Dr. Steindl herrschen, dessen Unfähigkeit einen Todesfall nach einer von den Rainern für überflüssig gehaltenen Beinamputation verursacht hätte, und wenn es wahr ist, daß von Rain aus Eingaben an die Regierung gehn, worin die Entfernung des Bezirksarztes verlangt werde, dann wäre uns dort ein starker Bundesgenosse erstanden. Über die Behandlung Fanny Hagemeisters im Gewerkschaftshause hat Frau Sauber tolle Dinge erzählt. Schiefer habe auf das Verlangen, die Überführung der Leiche solle vom Gewerkschaftsverein geleistet werden, erwidert: Und wenn noch 5 in Niederschönenfeld sterben, sollen wir da alle 5 womöglich auch überführen lassen? Als Frau Hagemeister in Erregung und Tränen ausbrach, habe er sie angeherrscht: „Kriegen Sie uns hier bloß keinen hysterischen Anfall!“ – Sie bleiben sich immer gleich, die Herren Arbeiterbürokraten, d. h. sie bleiben allen andern Bürokraten immer gleich, buchstabenbesessen und empfindungslos. – Abends kamen dann Zeitungen und Briefpost. Ich erhielt eine Karte von Adolf Schmidt vom 13. Februar – man hat sie also 2 Tage unten liegen lassen – mit der Mitteilung: „Der Ausschuß ist eingesetzt.“ Das ist eindeutig und nicht zu bezweifeln. Damit wir es doch bezweifeln sollen, ließ Gollwitzer ein Blatt herauf mit dem Bericht, der Landtagsausschuß habe sich mit der Eingabe der Festungsgefangenen beschäftigt und sei darüber gegen die sozialistischen und kommunistischen Stimmen zur Tagesordnung übergegangen. Der Widerspruch erklärt sich wohl damit, daß der Ausschuß die Niederschönenfelder Forderungen zurückgewiesen hat, um sich solchem Gesindel wie wir sind, gegenüber nichts zu vergeben. Dagegen wurde im Plenum die Interpellation der Parlamentarier und ihre Anträge behandelt und denen hat man stattgegeben. So ist dabei „die Würde des Hauses“ gewahrt. – Die Erregung über diese Neuigkeiten war noch im Gange, als ein Genosse mit der „Fränkischen Tagespost“ kam und auf den Reichstagsbericht verwies, der die Meldung brachte, der Reichstag habe der sozialdemokratischen Amnestieentschließung für die bayerischen Räterepublikaner und die Eisenbahner vom vorigen Jahr zugestimmt. Es handelt sich jedenfalls um die Aufforderung an die Reichsregierung, auf unsre Begnadigung „hinzuwirken“. Dann kam auch noch ein kommunistisches Blatt zum Vorschein, das über die Debatte dazu Näheres enthielt, darunter die interessante Feststellung, daß der Professor Kahl für die Deutsche Volkspartei erklärte, die „Einheitsfront“ (im Augenblick wäre mir in der hundskalten Zelle eine „Einheiz“-Aktion erwünschter) könne durch eine Amnestie wohl gestärkt werden, die sich aber gleicherweise nach links und nach rechts geltend machen müsse. Auch der Reichsjustizminister Heinze hat sich in diesem Sinne geäußert. Unsre Weimar-freudigen Kommunisten aber ließen durch Dr. Herzfeld ihre einseitig für uns beantragte Amnestie verlangen. Sie hätten, wie sich zeigt, bei größerer Toleranz Chancen gehabt, uns wirklich frei zu kriegen, so wurde ihr Antrag natürlich abgelehnt und die vorsichtige und niemanden unmittelbar verpflichtende sozialdemokratische Resolution ging durch. Natürlich erwarte ich jetzt keineswegs, daß Heinze mit Gürtner in 14 Tagen im Reinen sein werde und wir die Koffer packen dürfen. Erst recht teile ich den kindlichen Optimismus einzelner Genossen nicht, die meinen, man werde uns von Bayern aus gleich jetzt rauslassen, um der Peinlichkeit der Ausschußuntersuchung zu entgehn. Trotzdem verkenne ich nicht, daß sich unsre Position wesentlicher gebessert hat als je zuvor. Der Reichstag ist festgelegt; das ist das für uns eminent wichtige an dem Beschluß. Er hat sich in aller Form dahin geäußert, daß es sein Wille ist, uns amnestiert zu sehn. Er hat nur darauf verzichtet, diese Amnestie selber zu erlassen, um der bayerischen Empfindlichkeit nicht zu nahe zu treten. Zögert aber Bayern sehr lange – und ich betrachte immerhin schon 3 – 4 Monate als lange, da ja unsre Freunde fortgesetzt tätig sind, um uns in der öffentlichen Erinnerung zu halten, dann wäre für den Reichstag aus der Sache eine Prestigefrage geworden und dann ist ziemlich gewiß mit einem schärferen Druck auf die Münchner Herren zu rechnen. Es ist aber in diesem Fall nicht wahrscheinlich, daß man in München aus der Angelegenheit wieder einen prinzipiellen Fall macht. Die Regierung Cuno erfreut sich ja dort großer Beliebtheit und reger Unterstützung, zumal sie eben erst die bayerischen Volksgerichte als zu Recht bestehend anerkannt hat, und man war so höflich, es bei einer Anregung bewenden zu lassen, um Bayern im Glanz eigner Gnade strahlen zu lassen. Und es kommt ein Weiteres hinzu. Die Frage, was man mit Hitler anfangen soll, dessen strafbare Delikte sich doch kaum abstreiten lassen, ist den Herren Knilling, Gürtner und Schweyer sicherlich recht unbequem. Mit einer Amnestie nach rechts und links zugleich wäre diese Verlegenheit beseitigt. Grade hat man wieder mehrere Nationalsozialisten verhaften müssen, die wieder mal Erhard Auer sollen abgemurkst haben wollen (arrangiert der Mann diese Attentate, aus denen immer nichts rechtes wird, selber oder sind die Völkischen wirklich so vernagelt, daß sie nicht merken, was für einen Förderer ihrer Sache sie für ihren Feind halten?). Der Hauptarrangeur des Unternehmens soll ein noch nicht 17jähriger Jüngling sein, doch verweigert die Polizei selbst den Reportern der frömmsten Zeitungen die Namen der Verhafteten (warum wohl?). Auch die Unbequemlichkeit, diese Herzensbrüder vor ein Haßgericht (das dann aber wohl seinen Namen von einem Lieberich kriegen müßte) zu stellen, wird sicher als Anreiz wirken, uns zu amnestieren, um ausgleichende Gerechtigkeit nach beiden Seiten zu markieren. Nun fragt sich bei alledem allerdings noch sehr, wie lange die „Einheitsfront“ in Deutschland auch nur als Fiktion noch aufrechterhalten werden kann. Zwar sinkt der Dollarkurs immer weiter herunter und ist schon wieder bei unter 20 000 Mark, was naive Leute natürlich besticht, die Richtigkeit der Resistenzpolitik einzusehn. In Wirklichkeit wird grade diese neue Währungspolitik die Katastrophe beschleunigen. Nicht davon zu sprechen, daß die Preise, die sich an 50.000 anpassen durch das Niedergleiten der Valuta nicht im geringsten niedriger werden (im Gegenteil: jetzt verdoppeln die Montanen die Kohlenpreise, um die Kohlensteuern, deren Stundung schon eine Rettung hunderter von Milliarden für sie bedeutete, nun, wo sie sie doch noch zahlen sollen, auf die Konsumenten abzuwimmeln). Aber man muß verfolgen, wie die neue Valutapolitik möglich gemacht wird, um ihren Va banque-Charakter zu erkennen. Die Reichsbank wird durch Druck von oben gepreßt, ihren Gold- und Devisenvorrat auf den Markt zu werfen, sodaß sie sich aller Unterlagen entblößt, die sie zur späteren Sanierung der Geldwirtschaft für nötig hält. Die Großindustrie natürlich verschluckt diese letzten Reserven des Reichs – und wenn sie verschluckt sind, was in garnicht langer Zeit der Fall sein wird, dann ist Pleite, vollständige Pleite. Denn zu wirklich förderlichen Maßnahmen, nämlich zum Zugreifen in den Sachbesitz und Einführung einer gleitenden Festwährung nach Gesells Theorie, wird sich das deutsche Kapital selbstverständlich nie aufschwingen. Schon sollen ernsthafte Konflikte zwischen Reichsregierung und Reichsbank ausgebrochen sein und der Rücktritt etlicher Bankiers um Havenstein soll bevorstehn. On verra. Die ebenso unsentimentale wie energische Aktion der Franzosen und Belgier – die im Gegensatz zu den Deutschen ruhig abwarten können, was wird – geht inzwischen weiter. Die Manöver der deutschen Presse, England und Amerika als Bundesgenossen in Anspruch zu nehmen, werden täglich gründlicher ad absurdum geführt und das Kriegsgeschrei der Nationalisten wird die Katastrophe eher beschleunigen als verhindern. Wenn wahr ist, was die „Berliner Volkszeitung“ meldet (von der mir übrigens heute wieder 2 Nummern als beschlagnahmt mitgeteilt wurden), daß man jetzt in München die Tschechoslowaken massenweise als lästige Ausländer ausweist, dann wird Herr Nortz – der angebliche Gehilfe Schweyers, in Wirklichkeit der Willensvollstrecker der Kahr, Pöhner und Ludendorff erreichen, daß die Prager Regierung entgegen ihrer ursprünglichen Absicht, sich im Ruhrkonflikt neutral zu halten, zur Mithilfe an den Sanktionen übergehn wird, und zwar unmittelbar gegen Bayern. Man hat bis jetzt in der bayerischen Patriotenpresse dauernd geplärrt: die Tschechen wollen den Krieg gegen uns! – und dann mußte wieder gebremst werden, weil es zu klar war, daß die Tschechen überhaupt nicht an so etwas dachten. Nun scheint’s, als wollte man sie direkt zur Feindschaft zwingen, um doch recht gehabt zu haben. Die Dummheit derer, die unser Schicksal lenken, würde selbst den alten Oxstjerna in Erstaunen versetzt haben ... Auch heute komme ich nicht um den täglichen Nachruf herum. Der alte sozialdemokratische – bis zur Verschmelzung unabhängige – Abgeordnete Vogtherr ist plötzlich gestorben. Soweit ich ihn kannte und beurteilen konnte, ein rechtschaffener Parteispießer, der voll jugendlichen Enthusiasmus zur Partei gekommen sein wird, um dann die übliche Karriere als Führer und endlich Revolutionsminister zu machen. Da er das in Braunschweig wurde, wo jetzt noch eine „rein sozialistische“ (oder seit Örter bürgerlich gemischte?) Regierung waltet, konnte er sogar bis zu seinem Tode Minister bleiben. Ich lernte ihn im Sommer oder Herbst 1917 flüchtig kennen, als ihn Eisner zu einem Referat nach München eingeladen hatte. Die Polizei verbot die USP-Versammlung im Colosseum und nachher saßen wir im Garten dort beisammen, während Auer in Person um das Gitter streunte, um zu spionieren und zu denunzieren. Tempi passati?

 

Niederschönenfeld, Montag, d. 19. Februar 1923.

Abschrift. An den Rechtsanwalt Dr. A. Graf v. Pestalozza, N’feld, Festung, d. 19. Febr. 23. Sehr geehrter Herr Rechtsanwalt! Wir erfahren, daß der bayer. Landtag die Entsendung eines besonderen Untersuchungsausschusses nach N’feld beschlossen habe. – Im Einverständnis mit meinen Freunden bitte ich Sie, sich mit dem Landtagsausschuß in Verbindung zu setzen, um die Erlaubnis zu erwirken, sich dem Besuch hier anzuschließen. Das Material, das Sie am 1. Dezemb. 1920 von hier mitnahmen und die Erfahrungen, die Sie bei Ihren vergeblichen Reisen am 10. Juni und 14. Oktober 1921 machen mußten, werden grade Sie in den Stand setzen, manches von dem, was wir werden vorbringen müssen, aus eigner Kenntnis zu bestätigen. Wir legen aber auch Wert darauf, daß Sie den Einblick in unsre Lage, der Ihnen bisher nicht im erwünschten Maße gewährt wurde, in vollem Umfange gewinnen möchten; und endlich haben wir den Wunsch, für den Fall, daß die Kommission sich von Regierungsvertretern begleiten läßt oder solche zu ihrer Information hier beigestellt werden, auch unsrerseits durch unsern Rechtsbeistand unterstützt zu sein. – Den Tag des Besuchs werden Sie gewiß leicht erfahren können. Zur Aufbringung der Kosten werden wir, sobald Ihre Bereitwilligkeit feststeht, zweifellos die in Frage kommenden Organisationen leicht veranlassen können. – Mit verbindlichem Dank im voraus und in der Hoffnung, Sie nun doch wieder persönlich begrüßen zu dürfen Ihr ergebener Erich Mühsam.“ – So. Dieser Brief liegt schon im Kasten. Möge denen da unten schwül werden, mögen sie wissen, daß hier oben vorgearbeitet wird und daß meine Notizen mir gestatten, genaue Daten bis zu 2 Jahren zurück festzustellen. Wenn es nach meinen Wünschen geht, dann brauchte es den Ausschuß garnicht sehr zu eilen mit der Reise. Je länger sich die Herrschaften Zeit lassen, umso mehr Zeit gewinne ich zum Exzerpieren und Vorbereiten, umso gerüsteter werden sie mich finden. Soviel ich weiß, hat der Landtag diese Woche hindurch noch Plenarsitzungen. Ich werde also noch mancherlei zusammenstellen können. – Über unsre Freilassungs-Aussichten wissen wir weiter nichts Neues. Die Reise Knillings nach Berlin wird angekündigt, wo über „schwebende Fragen“ verhandelt werden soll. Es ist wohl anzunehmen, daß der Reichstagsbeschluß nebenbei auch erörtert werden wird, was unter Umständen also sehr rasch zu einer positiven oder negativen Entscheidung über unser Los führen kann. Pessimisten, wie sie im Sommer immerhin noch da waren, als wir doch wirklich schon mit einem Bein draußen standen, gibt es augenblicklich, soweit ich sehn kann, überhaupt nicht. Selbst Dr. Mayer, der damals hohe Wetten abschloß und gewann, ist dieses Mal auf der Seite der Gläubigen, meint sogar – noch kühner als ich –, daß wir kaum mehr länger als bis Anfang Frühling zu rechnen hätten. Wollen das Beste hoffen. Meine größte Freude wäre, noch am internationalen Anarchistenkongreß zu Ostern in Berlin teilnehmen zu können, wo ich Malatesta kennen lernen, Bertoni wieder begrüßen würde, und die alten Genossen gleich scharenweise beisammen treffen dürfte. Ob das alles Wahrheit wird, hängt von vielerlei Dingen ab, die mit der Entwicklung der politischen Begebenheiten vermengt sind. – Die Presse und wie es scheint die gesamte deutsche Öffentlichkeit gerät in eine immer wildere Hysterie hinein. Die Stimmungsregie hat’s, wie sich zeigt, tatsächlich 8½ Jahre nach dem 1. August 14 nicht schwerer als damals. Und sie arbeitet mit den gleichen Mitteln. In Berlin wird eine Tell-Aufführung inszeniert mit Ebert, Cuno und einem Haufen Ministern im Parkett und den Logen. Bei den berühmten Reden „Als letztes Mittel, wenn kein andres mehr verfangen will, ist ihm das Schwert gegeben“, rast das Auditorium und meint mit Schwert passive Resistenz, und beim Rütlischwur: „Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern“ – greift das süße Publikum aktiv ein, erhebt sich, spricht im Chor mit und brüllt dann das deutschvölkisch-sozialdemokratische Lied aufs deutsche Kaiserreich: Deutschland, Deutschland über alles; – solche republikanische Weihestunden hat’s auch in Essen schon gegeben und sollen nun wohl ebenso üblich gemacht werden wie dazumal das Nägeleinschlagen in hölzerne Adler, Kronen oder Hindenburge. – In den besetzten Gebieten wird auf diese und ähnliche Weise eine Psychose geschaffen, die die betroffenen Bevölkerungen genug kostet und noch kosten wird. Daß sich die Franzosen durch all das nicht im geringsten stören lassen, ihre Maßnahmen durchzuführen, und daß sie mit all der Ruchlosigkeit und Landsknechtsunverschämtheit zu Werke gehn, die das Wesen des Waffendienstes ausmachen, versteht sich. Jetzt ist die aktuelle Frage, ob die Engländer ihnen die Besetzung der Bahnlinien, die durch das Kölner Gebiet laufen, freigeben werden oder nicht. Wie sich Bonar Law auch entschließen wird, alle, die auf einen Bruch zwischen den Alliierten rechnen, werden sich täuschen. Ganz bestimmt wird die Entente nicht kaput gehn, solange die Aktion der Franzosen und Belgier dauert. Eine Stärkung dieses Bundes aber wird voraussichtlich die Folge der jetzt bekannt gewordenen Schiebungen sein, die plötzlich den Markkurs so erstaunlich gehoben haben. Die „Rote Fahne“ berichtet genaueres darüber. Demnach ist durch Verhandlungen der Reichsregierung (d. h. Cunos – der Finanzminister Hermes soll in Opposition dazu stehn) eine private Anleihe von 400 Millionen Goldmark von dem amerikanischen Bankier Harryman aufgenommen worden, die in Frankenwährung gezahlt wurden. Um mit der Hebung der Mark zugleich auf den französischen Franken zu drücken, hat man diese Werte gegen Pfundnoten auf den Markt geworfen, die Verrechnung des geliehnen Geldes aber nach dem Tage des Abschlusses, demnach nach dem Höchststand des Dollars zu 50 000 Mark vorgenommen. Es ist für einen börsentechnisch wenig geschulten Menschen wie für mich, schwierig, die ganze Verwegenheit des Unternehmens zu erfassen. Man kann sich da aber auf das untrügliche Gefühl verlassen, daß hier eine der märchenhaftesten Schiebungsoperationen aller Zeiten vorgeht, die dem Großkapital, der deutschen Industrie und der amerikanischen Börse ungeheure Gewinne in den Rachen jagt und das arbeitende Volk in ganz fürchterliche Kalamitäten führen wird. Die Herren Havenstein und Glasenapp erklärten ihren Rücktritt als Leiter der Reichsbank, da sie diese Katastrophe nicht mitvertreten wollten, wurden aber gezwungen, der „Einheit“ wegen bis zur Lösung des Ruhrkonflikts auf ihren Posten zu bleiben. Diese „Einheit“ tost durch alle Reden und alle Artikel, und es ist jedenfalls reizvoll, alle diese Versicherungen als politischer Gefangener, dem alle seine gesetzlichen Rechte gebeugt und gebrochen sind, entgegenzunehmen. Was es in Wahrheit mit der deutschen Einigkeit, und zumal im besetzten Gebiet, auf sich hat, beweist ein Vorfall in der Gegend von Hagen in Westfalen, wo der berüchtigte Arbeiterschlächter General Märker eine Rede halten und die Bevölkerung über den Militarismus der Franzosen aufklären wollte. Die Arbeiter zogen vor das Versammlungslokal und besiegten die zu Märkers Schutz aufgebotene Schupo. Sie setzten die Entwaffnung und Verhaftung der gegen sie aktiv gewordenen Schupoleute durch und erreichten auch den Abzug der zur Verstärkung angerückten Kräfte. Herr Märker wurde von den Betriebsräten mit Mühe vor dem Lynchen gerettet; – kurzum es war ein Fanal der Einigkeit aller Schichten in einem Gebiet, das, wenn es noch nicht besetzt ist, so doch jeden Moment vor dem Einrücken der Okkupanten steht. – Was uns angeht, so scheint mir also alles davon abzuhängen, wie lange das Getöse noch weitergeht und in welcher Form die Desperadopolitik Cunos zusammenbricht. Denn diese Form wird darüber entscheiden, ob die Nationalisten das Desastre anerkennen, indem sie es mit den andern zu einem Erfolg der deutschen „Abwehr“-Politik umfrisieren, oder ob es Breitscheid und den Strebern um ihn glückt, die Verantwortung von den Cunöden auf sich hinüberzulanzieren, und dann natürlich die Prügeljungen für alles was schwarzweißrot ist, abzugeben. Ein rechtsradikaler Aufstand nach einer solchen Niederlage wäre aussichtsvoll, – solange bis das Ausland eingreift. Wir hätten in diesem Fall bestimmt mit keiner Erleichterung, geschweige mit Befreiung zu rechnen. Aber es ist kaum möglich, alle Eventualitäten, die sich ergeben könnten, vorauszusagen. Nur das ist absolut sicher: daß für die deutsche Politik eine Niederlage fürchterlichster Art nicht mehr zu vermeiden ist. Die Frage ist nur noch, wann und in welcher Form sie kommt. – In der bayerischen Presse gehn inzwischen die Allarmmeldungen von tschechischen Rüstungen gegen Bayern weiter. Sie werden die Tschechen schließlich mit diesen Hetzereien noch ins Land locken. Im Memelgebiet ist bis jetzt noch immer keine Ordnung geschaffen. Die Lithauer tanzen dort dem „Völkerbund“ auf der Nase herum und kein Mensch weiß, was einmal draus werden soll. Im nahen Orient aber wird dauernd mit der brennenden Lunte um die hochgestapelten Munitionslager herum gewerkelt, und die Pazifisten und Amsterdamer Gewerkschaftlhuber winseln die Prokuristen des Kapitals um Frieden und „Verständigung“ an. – Unterbrechung. Man rief mich zur Eröffnung zu Herrn Fetsch, daß die „Weltbühne“ wegen „hetzerischen“ Inhalts zu den Akten kam. Einer großen Zahl anderer Blätter ging’s ebenso. Man kümmert sich also draußen um uns. Recht so.

 

Niederschönenfeld, Dienstag, d. 20. Februar 1923.

Vorhin hatte ich den Besuch von Schiff, wie denn neuerdings merkwürdigerweise ausgerechnet ich derjenige bin, der von der heiligen Familie am liebevollsten umworben wird. Es handelte sich wieder um die Information über den Verlauf eines Besuchs, den gestern Schlaffer von seiner Frau empfing. Folgende Einzelheiten wurden mir zur Kenntnis gebracht. Da die Frau einer Operation ausgesetzt werden soll, hat sich Schlaffer um einen Urlaub bemüht. Der Frau wurde im Justizministerium dazu von Dr. Kühlewein erklärt, ihr Mann käme schon deswegen für einen Urlaub nicht in Frage, weil er im „Kampfruf“ öffentlich erklärt habe, er verzichte auf die Gnade der Bourgeoisie und wolle seine Freiheit nur einer direkten Aktion des Proletariats danken. Ich sollte nun gefragt werden, ob ich die betr. Nummer des Elbert-Blattes habe (was ich wahrheitsgemäß verneinte). Übrigens habe weder Schlaffer noch sonst wer eine derartige Erklärung abgegeben, und es werde sich wohl um den Kommentar der Redaktion zu ihrem bekannten Aufruf handeln. Ich bemerkte, den Kommentator brauchten wir wohl nicht weit zu suchen, was mit einem Lächeln quittiert wurde. Da hat also unser Elbert seinen Spezialfreunden eine nette Wanze ins Bett gesteckt, und es soll mich nicht wundern, wenn Kühlewein demnächst auch öffentlich auf alle Amnestieforderungen mit der Verlesung dieses Blödsinns antworten wird, und es scheint mir durchaus nicht unwahrscheinlich, daß Elbert – vielleicht selbst unter Berechnung der Wirkung – seine revolutionär klingenden Sprüche mit in den Text der in ihrer schnorrerischen Absicht vielleicht garzu armselig klingenden Erklärung der 5 Charaktergrößen eingeschoben hat. Ferner gab es bei dem Besuch diesen Zwischenfall: Schlaffer äußerte sich über den unglückseligen Zustand, in dem man August Hagemeister sterben ließ. Der Aufseher ging hoch, glaubte aber ein Übriges tun zu müssen, indem er nicht bloß das Thema abbrach sondern seinerseits ein Plädoyer für die Verwaltung versuchte: der Untersuchungsausschuß werde schon feststellen, ob die Verwaltung Schuld habe oder nicht. Er könne aber selbst nur sagen, daß er jedesmal krank werde, wenn er von einem Urlaub hierher zurückkomme. Das Klima sei so ungesund: ein ganz wertvolles Zeugnis eines Mannes, der es mit seiner vorgesetzten Behörde ganz besonders gut vorhatte, für eine von uns oft erhobene Klage. Auch der Arzt selbst hat schon mehrmals Genossen mit dem schlechten Klima „getröstet“ und ihren geraten, des Morgens, wenn die Nebel aus dem Boden steigen, den Hof zu meiden. Ernst Ringelmann erzählte mir kürzlich, daß man sogar in bayerischen Schulen lerne, daß die gesundheitsgefährlichsten Gegenden in Bayern bei Dachau und in Schwaben-Neuburg (das ist unsre Landschaft) sind, da hier die ausgedehnten Moosstrecken giftige Dünste verbreiten. Für die hygienische Sorgfalt, mit der wir betreut werden, auch ein beachtenswerter Umstand. – Die Reise der Parlamentarier hierher scheint die Verwaltung vorläufig noch nicht sehr nervös zu machen. Wenigstens merken wir noch nichts von einer Milderung des Verfahrens, besonders soweit die Zensur in Frage kommt. Zeitungen und Zeitschriften werden täglich konfisziert, und viele Briefe erleiden dasselbe Schicksal. So schrieb Ernst R. am letzten Freitag seinem Intimus, dem Weigand-Biebs einen langen Brief. Gestern – nach 3 Tagen also – wurde ihm die Beschlagnahme zu den Akten „wegen propagandischen Inhalts“ eröffnet. Da er Politik überhaupt kaum erwähnt hatte – höchstens mit einem Wort der Hoffnung auf Amnestie – und aus dem Hause nur den Umzug in andre Zellen und die Ta[t]sache erwähnt hatte, daß es in seiner neuen Zelle recht kalt sei, wußte er garnicht, was da „propagandisch“ gewesen sein könne und fragte bei der Verwaltung an, ob etwa die Erwähnung des Umzugs oder der Temperatur, obwohl er sich jedes Hinweises auf die schlechte Heizung enthalten habe, als propagandistisch aufgefaßt werde. Er bitte um Auskunft, damit er sich in künftigen Schreiben danach richten könne. Antwort: „Es muß bei der getroffenen Maßnahme bleiben. Zu weiteren Erklärungen besteht kein Anlaß.“ – Wenn die Kommission kommt – vorerst müssen wir mal abwarten, ob nicht ihre Tätigkeit sich auf eine Untersuchung über den Fall Hagemeister beschränken wird – und wirklich gesonnen ist, die Wahrheit über die Verhältnisse hier zu ermitteln, dann wird eine durchgreifende Klärung natürlich bei der ungeheuren Fülle von Beschwerden doch unmöglich sein. Ich müßte allein, um alles vorbringen zu können, was ich auf dem Herzen habe, eine Redezeit von vielen Stunden in Anspruch nehmen, und es ist keiner da, der nicht von Klagen und Rechtsforderungen birst. Aber vorläufig sehe ich voraus, daß man mittags kommen und um 4 Uhr wieder wird abfahren wollen, und daß man den Willen, von vornherein unbequeme Feststellungen zu ignorieren oder garnicht erst zuzulassen, schon auf der Fahrt hierher und auf der Rückreise von den begleitenden Kühleweinreisenden suggeriert bekommen wird. Ich sehe also dem Besuch dieser Gäste vorerst recht skeptisch entgegen. Solange wir überhaupt in den Klauen der bayerischen Reaktion sind, haben wir ja auch, selbst wenn man sich wirklich von den schwersten Rechtsbrüchen überzeugen sollte, nicht wirklich Tatkräftiges zu unsrer Erleichterung zu erwarten. Nur die Befreiung selbst kann jetzt noch helfen. Knilling ist also in Berlin und wird da wohl ein wenig gekitzelt werden, daß er doch der lieben „Einheitsfront“ wegen Niederschönenfeld auflassen und die Räterepublikaner in Freiheit setzen möchte. Der Erfolg steht dahin. Wie eifrig Bayern selbst auch in Burgfrieden macht, – ob man ihn selbst betätigen wird gegen die, von denen man ihn verlangt, ist noch recht fraglich. Jetzt hat man in München wieder 6 kommunistische Versammlungen „wegen Gefährdung der Einheitsfront“ verboten und Eisenberger hat sogar ein generelles Redeverbot erhalten, – da man den Belagerungszustand gegen Hitler aufheben mußte, müssen die Knebelungen des Proletariats sich jetzt auf das – von den Kommunisten in riesigen Demonstrationen verlangte und erkämpfte – Republik-Schutzgesetz stützen. Ungeschickt wie immer in Bayern reizt man die revolutionären Arbeiter in dem Augenblick mit den empfindlichsten Schikanen, wo die im Begriff sind, eine Aktion einzuleiten, die bei der Verständnislosigkeit der Bourgeois zur Zeit wie eine Unterstützung ihrer Resistenz-Politik aussehn könnte. In Frankreich, zumal auch in den Okkupationsgebieten des Saarreviers und in Elsaß-Lothringen dehnt sich ein riesiger Bergarbeiterstreik aus, und die streikenden französischen Arbeiter wenden sich in Aufrufen an die deutschen Genossen, jetzt keine Streikarbeit zu leisten, vor allem die Kohlenversorgung in den bestreikten Bezirken durch Transportverweigerungen zu verhindern. Die Franzosen weisen dabei sehr nachdrücklich darauf hin, daß es sich nur um einen wirtschaftlichen Kampf für sie handle, und daß die Arbeiter beider Länder den Kampf ebenso ohne Rücksicht auf die Grenzen miteinander zu führen haben wie das Kapital seinen Kampf[,] wenn auch scheinbar in Feindschaft gegeneinander, so doch in Wirklichkeit gemeinsam gegen das Proletariat führe. Zufällig trifft also im Moment die Solidaritätspflicht der revolutionären deutschen Arbeiter mit den politischen Zwecken der deutschen Regierer zusammen, und in solchem Falle besteht jedenfalls die Gefahr, daß die Sozialdemokraten mit Aussicht auf Erfolg den revolutionären Kampf durch psychologische Kunststücke in den Dienst des Kapitalistenpatriotismus werden einzuspannen wissen. Da tapsen die gescheiten bayerischen Eigenartisten mit der Brutalität ihrer Autoritätsbesessenheit mitten in diese eben sich spinnenden Fäden hinein, unterdrücken jede kommunistische Agitation und erreichen damit natürlich, daß den Arbeitern, die sich vielleicht hätten von den Kautskynikern einwickeln lassen, rechtzeitig die Augen aufgehn und sie einsehn, daß die Franzosen mit der Behauptung recht haben, daß es gegen das Proletariat gehe und daß die feindlichen Brüder des Kapitalismus in diesem Kampf ganz einig sind. – Das Verbot aber gegen Eisenberger ist ein klares Bekenntnis der bayerischen Regierung für die „Einheitsfront“. Wann und wie wird sich diese Feindseligkeit an uns politischen Gefangenen kundtun? Lange wird man uns die Antwort nicht schuldig bleiben können.

 

Niederschönenfeld, Mittwoch, d. 21. Februar 1923.

Kurt-Eisner-Gedächtnistag. Wir hier im Hause wissen zu gut, was Eisner der Revolution schuldig geblieben ist, einen wie ungeheuren Teil der Schuld er an der Retablierung der wüstesten Reaktion trug (ich werde es ihm nicht vergessen, daß er mich und meine Freunde einsperrte, die Herren Epp und Lehmann dagegen freiließ, daß er unsre Plakate verbot und unsre Flugblattverbreiter festnehmen ließ, während er zugleich die schändlichste Juden- und Bolschewisten-Hetzpropaganda duldete und daß er die tötlichen Kugeln empfing, während er in seiner Aktentasche die Kapitulation vor der Bourgeoise zum Landtag trug), – dies alles ist uns zu gut im Gedächtnis, als daß wir uns in irgendeiner Form mit Feierlichkeiten zu seinem Gedächtnis abgeben sollten. Daß sein Mörder heute Grund hat, sich seiner Tat als voll gelungen zu freuen, ist nicht zum mindesten ein Ergebnis Eisnerscher Politik. Wahrhaftig – Arco hat Grund, sich zu freuen. Sein Werk in Bayern marschiert fröhlich der völligen Restauration entgegen. Die „Rote Bayern Fahne“, das einzige Blatt, das uns heute mittag zu Gesicht kam, enthält sehr eigentümliche und nachdenkliche Mitteilungen über die Fortschritte der bayerischen nationalistischen Aktivität. Es wird von nächtlichen militärischen Übungen mit Maschinengewehren und Handgranaten berichtet, bei denen vor allem Studenten zum Proletariermord gedrillt werden. Ferner heißt es, daß hunderte und aberhunderte von nationalistischen Ruhrflüchtlingen sich in München zusammenfinden, und so scheint es, daß das Fiasko der Hitlergarden vor einigen Wochen diese Brut keineswegs entmutigt hat (warum auch? sie haben ja dann gesehn, daß alle Abwehrgesten der Regierung garnicht ernst gemeint waren und nur den Zweck hatten, Vorwände zu weiteren Brutalisierungen der Arbeiterschaft zu schaffen). Die Vaterländischen Verbände haben nun Herrn Hitler ausdrücklich ihres Zutrauens versichert, kurzum: alle Vorbereitungen zu neuen und endgiltigen Taten sind wieder im Gange. Es ist sehr wohl möglich, daß grade die Ruhrbesetzung benutzt werden soll, um den großen nationalistischen Aufmarsch zur Offensive zu beginnen. Bayern ist der gegebene Stützpunkt, und wie man seinerzeit die Baltikum-Freikorps als reaktionäre Elitetruppe einsetzte, nachdem ihnen das Entente-Diktat die Landsknechtsmanieren in den Ostseeprovinzen gelegt hatte, so sammelt man jetzt die vom Ruhrgebiet zuströmenden Hakenkreuzfahrer, um mit Bayern als Stützpunkt ihnen die Eroberung Deutschlands zu übertragen. Der März ist nahe, seine Stürme können in diesem Jahre wieder recht lebhaft werden. – Es gibt noch eine andre Möglichkeit, die, so verrückt sie klingt, doch allerlei für sich haben könnte. Die ganz im Stil des Kriegspresseamts auf das Volk niedergehenden Stimmungsberichte über die Lage und die Aussichten im deutsch-französischen Konflikt bewirken in weitesten Schichten ein völlig falsches Bild von den tatsächlichen Verhältnissen. Man glaubt sich wieder stark, man glaubt sich überdies frei von allen vertraglichen Verpflichtungen und man meint, den Franzosen gehe infolge des Widerstands der Beamtenschaft die Luft aus. So fühlen sich naive Menschen wieder imstande, auch mit bewaffneter Macht gegen die Eindringlinge vorzugehn, und verantwortungs- und gänzlich gewissenlose Journalisten blasen, weil das jetzt gern gehört wird, trotz ihrer genauen Kenntnis, daß sie mißleitete Idealisten ins sichere Verderben jagen, laut ins Revanchehorn. Der „demokratische“ „Fränkische Kurier“ z. B. ruft ganz offen zur Bildung von Freikorps auf, denen diesmal nicht wie zur Zeit des oberschlesischen Radaus die Reichsregierung in den Arm fallen dürfe und fordert auf, Belgier und Franzosen aus den deutschen Provinzen hinauszujagen und ihre Generäle totzuschlagen. Es ist also nicht ausgeschlossen, daß die militärischen Exerzitien als Kriegsmanöver gegen den „äußeren Feind“ gedacht sind, und vielleicht lauert im verdeckten Hintergrund schon irgendein York von Warttenburg mit der Signalpfeife an den Lippen auf den Augenblick zur Parole: Ran an den Feind! – Was das bedeuten würde ist klar: Krieg auf deutscher Erde, voraussichtlich zunächst auf bayerischer Erde; nicht bloß, weil Bayern als Aufmarschgebiet ausersehn ist und somit der Zusammenstoß wahrscheinlich im Maingau erfolgen würde, soweit die Franzosen in Frage kommen, sondern deshalb, weil in diesem Falle die Tschechen unter allen Umständen eingreifen würden. Die unglaubliche Kurzsichtigkeit der bayerischen Politiker läßt ja ohnehin nichts unversucht, um die östlichen Grenznachbarn zu provozieren. Die Tatsache, daß die Staaten der Kleinen Entente, und somit auch die Tschechoslowakei, gegen die ungarischen Kriegspläne rüsten und daß infolgedessen auch tschechische Staatsbürger in Bayern einberufen worden sind, hat die weißblauen Schildbürger auf den größenwahnsinnigen Gedanken gebracht, man wolle mit Bayern einen Krieg anfangen, um das Gebiet von Regen bis Straubing der tschechischen Republik einzuverleiben. Alle friedlichen Erklärungen aus Prag werden ignoriert, und in diesen Tagen hat man der ganzen Ostgrenze entlang 37 Massenversammlungen einberufen, um gegen die Eroberungspläne des bösen Nachbarn zu protestieren. Man erregt also künstlich Kriegspsychose bei den Bayern, besonders in den bäuerlichen Schichten und ruft damit die Gefahren erst herbei, die man angeblich bekämpfen will. Und die feindseligen Gefühle gegen die Tschechen werden ausgerechnet in dem Moment gezüchtet, wo die einzige Hoffnung, die Kohlenbestände zu ergänzen infolge der Blockade der Ruhrkohle, eben Böhmen ist. Wen Gott vernichten will, den schlägt er mit Blindheit. – Aber wie die Absichten der Patrioten auch seien, ob sie Juden und Arbeiter oder ob sie zuerst den Feind ante portas verhauen möchten, um dann erst die „Novemberverbrecher“ zu erledigen, das Proletariat hätte dringlichste Ursache seinerseits und für seine Interessen zu rüsten. Sieht man aber, wie es sich immer noch passiv verhält, wie es seine Parteivorstände untereinander feilschen und schachern läßt, welche Bedingungen ein Führerklüngel dem andern bewilligen soll, um die „Einheitsfront“ zu ermöglichen, wie es gläubig liest, daß die streikenden Bergarbeiter in Frankreich edle Helfer der guten Sache, aber jeder deutsche Arbeiter, der jetzt für die Sättigung seiner Kinder in den Streik tritt, ein Verräter am Vaterland sei, dann möchte man weinend an Menschheit und Zukunft verzweifeln. Dennoch verliere ich den Glauben nicht, daß die Stunde des Appells die Massen zu spontaner Energie aufstehn lassen wird, daß sie sich nicht von Bierzipfelhelden einfach totschlagen und entrechten lassen werden, daß die Betriebe dann die Sammlung der Arbeiter vollziehn werden, und daß Taktiker und „Führer“ der Parteien und Gewerkschaften bei dieser Gelegenheit durchschaut und ein für allemal zum Teufel gejagt werden, es sei denn, sie stellen sich in Reih und Glied und bewähren sich als Kämpfer unter Kämpfern. Gottseidank gibt es auch noch Parteikommunisten genug, denen es ernst ist mit ihrer revolutionären Gesinnung und die ihr Leben gern opfern werden, wenn es gilt, den Kampf aufs Ganz aufzunehmen. Mögen sie lernen, ihren Führern auf die Finger zu sehn, zu handeln, wie es ihnen der revolutionäre Geist eingibt und Genossen zu erkennen nach ihrem Kampfgeist statt nach ihren Vereinsmarken.

 

Niederschönenfeld, Donnerstag, d. 22. Februar 1923.

Vielleicht werde ich das Tagebuch fortan nicht mehr so regelmäßig und ausführlich führen wie bisher. Fritz Weigel bittet mich namens der Redaktion der „Roten Bayern Fahne“, den Roman fortzusetzen, der bei den Lesern großen Anklang finde. Die größere Zelle wäre vielleicht geeigneter zum Arbeiten als die frühere, nur läßt die Temperatur sehr zu wünschen übrig. Zudem bin ich jetzt stark mit Vorarbeiten für den Besuch der Landtagskommission in Anspruch genommen. Immerhin werde ich mal das Romanmanuskript wieder durchlesen, um neu ins Bild und auf Anregungen zu kommen. – Der hohe Besuch läßt also noch auf sich warten und mir ist noch keineswegs sicher, ob nicht die Bürokratie noch Mittel und Wege finden wird, sie ebenso am Rockzipfel zurückzuhalten, wie es ihr ehedem mit dem vom Reichstag schon beschlossenen Ausschuß und dann mit dem Grafen Lerchenfeld gelang. Daß ihr der Beschluß des Landtags ungeheuer fatal ist, wird jetzt durch einen Antrag auf Verfassungsänderung sehr deutlich. Der § 52 der bayerischen Verfassung verpflichtet den Landtag Ausschüsse zur Untersuchung von Tatsachen zu ernennen, wenn ein Fünftel seiner Mitglieder es verlangt (was beweist, daß bisher trotz aller schönen Worte bei entsprechenden Anträgen wegen Niederschönenfeld auch die Sozialdemokraten stets gegen eine parlamentarische Untersuchung der Zustände hier waren). Jetzt ist beantragt, daß der Paragraph dahin geändert werden soll, daß die Mehrheit des Landtags einen solchen Ausschuß haben will. Allerdings ist die Annahme dieser Änderung nicht zu erwarten, da eine Zweidrittelmehrheit dazu erforderlich wäre und sogar die Müller-Meiningen-Demokraten kaum für diese Garantie der unbeschränkten Diktatur der beiden Rechtsparteien die Stimmen hergeben dürften. Aber auch an diese Verfassungsbestimmung selbst, daß eine qualifizierte Mehrheit zu jeder Verfassungsänderung nötig ist, wollen die Mittelparteiler und die Klerikalen heran. Sie verlangen eine Abänderung dahin, daß bei der beschließenden Landtagssitzung ⅔ aller Mitglieder anwesend sein müssen, von denen dann die Änderung mit ⅔ Mehrheit beschlossen werden kann. Die Minderheiten sollen also gänzlich um jede Mitwirkung und um jedes Veto gebracht werden. Dieser Antrag wurde gestellt, um die Beglückung des bayerischen Volks mit einem eignen Staatspräsidenten zu ermöglichen; und nachdem Herr Stang in der Sache wegen der Untersuchungsausschüsse erklärt hat, die Änderung der Verfassungsbestimmung sei durchaus nötig, um nicht alle Woche mit einer derartigen Belästigung rechnen zu müssen (bis jetzt hat es erst einen einzigen Untersuchungsausschuß gegeben: in der Sache Dobner-Pracher, und da gelang es der der Bürokratie hörigen Partei, alles Belastende durch geschickte Eskamotierung wegzuuntersuchen; die Niederschönenfelder Angelegenheit scheint den Herren nun aber so an die Nerven zu gehn, daß sie sich ein für alle Male dagegen sichern möchten, daß man ihnen in den Eigenartsbetrieb hineinstochert), – jetzt gewinnt eine Äußerung der Bayerischen Volksparteikorrespondenz erhöhtes Interesse, in der – diesmal im Anschluß an die Staatspräsidentenforderung –, erklärt wird, man müsse sich unter solchen Umständen eventuell direkt ans Volk wenden: also Landtagsauflösung und Neuwahl oder Referendum. Die Erregung, die diese Aussicht bei einem Teil der Genossen hervorruft, bewegt mich allerdings nicht. Da die Parteien, die mit diesem Gedanken spielen, fast die ganze Presse, überdies die Kanzeln, die bewaffnete Macht, den größten Teil des Industriekapitals, die gesamte Beamtenschaft mit Einschluß der Lehrer und die akademische Welt beherrschen, so werden sie sich in der Vorabschätzung des Resultats kaum weit irren. Ich wünsche die Aufregung durch Wahl oder Plebiszit aber um dieser Aufregung selbst willen. „Unruhe ist die erste Bürgerpflicht!“ – wenn ich je ein gutes Wort gefunden habe, so ist es dies, obwohl es Herr Xylander später auch als seine Ansicht bestätigt hat. – Von unsrer Amnestie ist es wieder vollkommen still geworden. Herr Knilling ist von Berlin zurück, hat inzwischen schon vor der Organisation „Stahlhelm“ eine schwarzweißrote Rede gehalten und sich also wieder zur offenen Bundesgenossenschaft mit antirepublikanischen Bestrebungen aller Art bekannt und meldet in Zeitungsinformationen, daß man über Ernährungs- und Wucherbekämpfungsfragen gesprochen und sich überall völlig in Übereinstimmung gefunden hätte. Von Amnestie hüben und drüben keine Silbe. In Norddeutschland aber rüstet man zum 18. März, um unter Mitwirkung von Reichstag und Regierungen den 75. Jahrestag der 48er Revolution schwarz-rot-golden zu begehn. Da man in Bayern das hühnerdreckige Gelb nicht leiden kann und infolgedessen die Reichsfahne schwer perhorresziert, ist nicht anzunehmen, daß hierzulande ebenfalls die Erinnerung an die einzige Volkserhebung zugunsten eines unitarisch geeinten Deutschlands mit republikanischer Staatsform offiziell begangen werden wird. Eher ist zu erwarten, daß die Sozialdemokraten, die ja die einzig legitimen Erben der Nationalliberalen von damals sind, bei ihrem Jubel wieder die üblichen Prügel von der republikanischen Schutzpolizei kriegen werden. Und wir werden den Tag durch Fenstergitter grüßen dürfen, an dem das neue Deutschland, mit Herrn Ebert an der Spitze, das Werk freiheitwilliger Revolutionäre, das Ende der Metternicherei, den ruhmvollen Triumph von Rede-, Gedanken- und Gesinnungsfreiheit festlich begehn wird. Alldeutschland wird ein Herz und eine Seele sein, und angesichts des tückischen Überfalls der Franzosen ins Ruhrland werden wir, bewacht von den Schergen der deutschen Republik, völlig entrechtet und geknebelt, wegen unsrer politischen Gesinnung von unsern Familien losgerissen, in den Zeitungen lesen, daß kein Unterschied mehr ist zwischen links und rechts und die Sonne des Burgfriedens alle bescheint – ohne Ausnahme!

 

Niederschönenfeld, Freitag, d. 23. Februar 1923.

Bis jetzt habe ich das 5te Romankapitel zwar noch nicht begonnen. Aber der Arbeitsfuror treibt mich schon gewaltig herum, und morgen wird’s wohl trotz der Ausschußarbeit losgehn. Die Zeitungen haben übrigens so wenig Erschütterndes, daß ich das Tagebuch heute getrost liegen lassen könnte. Nur ein kurzer Bericht über die Ausschußsitzung, die sich im bayerischen Landtag mit der Abänderung des § 52 der Verfassung beschäftigte – Annahme mit 15 gegen 12 Stimmen: die ⅔ Mehrheit im Plenum kommt also nicht zustande – kann erwähnt werden, weil daraus hervorgeht, daß die aufgeregte Wut der Rechtsparteien tatsächlich wegen der Untersuchung in Niederschönenfeld brodelt und daß der 14köpfige Ausschuß „demnächst“ seine Arbeiten beginnen werde. – Daß ich mich heute überhaupt ans Tagebuch gesetzt habe, ist dem Ereignis zuzuschreiben, daß grade eben vor sich ging: die ganz überraschende Entlassung Uhrmanns mit sofortiger Wirksamkeit. Der arme Teufel kommt allerdings nicht gleich in Freiheit, sondern zunächst auf den Schub nach Donauwörth, wo er 6 Wochen Gefängnis abzumachen hat, und danach blüht ihm die Ausweisung, da er in der Kriegsgefangenschaft russischer Sowjetbürger geworden ist. Ich machte ihm vor einigen Monaten ein Bewährungsfristgesuch (das inzwischen abgelehnt wurde), in dem er auf meinen Rat ausdrücklich auf seine russische Staatszugehörigkeit aufmerksam machte und seine Ausweisung anheimstellte. Er hätte ohne diese captatio benevolentiae sein Glück kaum heute gefunden. Uhrmann wird in unsrer Erinnerung so leicht nicht auslöschen. Die köstlichen Münchhausiaden des Kerls mit seinen aufgeregten Gesten und dem Zigeunerhabitus machten ihn zur amüsantesten Erscheinung, die wir hier erlebt haben. Übrigens ein temperamentvoller Mensch, ein Revolutionär von Bluts wegen, und ein – trotz seiner Lügereien, bei denen er bedeutende Phantasie entwickelte und seinen nicht eben bürgerlich-einwandfreien Begriffen von Erlaubtem und Unerlaubtem – im Herzen ehrlicher Bursche. Ich vertrug mich, was nicht immer leicht war, die meiste Zeit recht gut mit ihm und habe mich in seiner Gesellschaft stets vortrefflich amüsiert. Möge Mütterchen Rußland den naiven Vagabunden, den seine bayerische Heimat nicht zu schätzen weiß, zärtlich in ihre weiten Arme nehmen. Sie wird, wenn es mal wieder zum Kampf geht, keinen schlechten Rotgardisten an ihm haben.

 

Niederschönenfeld, Sonnabend, d. 24. Februar 1923

Gestern ließ uns Herr Gollwitzer so gut wie überhaupt keine Zeitungen zukommen. Heute kamen welche, aber durchaus nicht alle, die inzwischen eingelaufen und zensiert sein müßten. Die Zeitungsausgabe – das fällt uns schon seit geraumer Zeit auf – wird überhaupt immer mehr als willkürliche Nebensache der Verwaltung gehandhabt. So kam heute die Rote Fahne vom Montag, also mit 4tägiger Verzögerung, in unsre Hände. Der Verdacht wird immer lauter ausgesprochen, daß die von uns bezahlten Blätter erst der Privatlektüre der Amtsorgane oder auch deren Familien gedient haben müssen, ehe wir sie kriegen. Ich notiere mir das Nötige auch darüber für den Ausschuß-Besuch. – Die wuchtige Familie benutzt die erwartungsvolle Stimmung vor diesem Besuch wieder mal, um den erstrebten Anschluß zu finden. Gestern erschien wieder Schiff bei mir, um mir Vorschläge zu unterbreiten, die auf eine Kommission abzielten, von der sich die F. G. vertreten lassen sollten. Ich lehnte alles ab und stellte mich auf den Standpunkt, daß keinem Genossen zugemutet werden könne, was er auf dem Herzen habe, von andern vorbringen zu lassen. Übrigens sei es ja keineswegs wahrscheinlich, daß wir in irgendeiner Form die Regie werden zu bestimmen haben und ich erinnerte daran, daß der Ausschuß zur größeren Hälfte aus Leuten bestehn wird, die uns nicht nur nicht freundlich, sondern im höchsten Maße feindselig gesinnt sind. (Ein neuer Beweis dafür wird im heutigen Bericht über die Landtagsverhandlungen zum Justizetat geboten. Da haben die Herren Münsterer – Berufschrist – und Fröhlich – Monarchist – ausdrücklich von neuem erklärt, daß für Bayern eine Amnestie nicht in Frage kommen dürfe. Sie wollen es also auch jetzt wieder riskieren, dem Reichstag ihr Paroli zu bieten. Die Zumutung, ihr schönes Recht, Gefangene zu entrechten und zu peinigen, aufzugeben, das ihnen bisher ihr heiligstes Bedürfnis, das zur hemmungslosen, nie erlahmenden Rache, befriedigt hat, ist für die Christen dieses gesegneten Landes dann doch etwas zu verstiegen!). – Auch haben wir alle es abgelehnt, dem Ausschuß schriftliche Erklärungen zu übergeben. Sie haben Material genug in ihrer Quatschbude liegen, über das sie zur Tagesordnung übergegangen sind. Das mögen sie sich nur noch einmal vornehmen, wenn es ihnen Ernst ist mit der Erforschung der Wahrheit. – Übrigens werden sie sich bei gutem Willen auch durch Augenschein von dem Ehrencharakter dieses Kerkers zuverlässiger überzeugen können als durch Schreibereien, die ja den Besuch überflüssig scheinen ließen. Was z. B. die beharrliche Zumutung an uns für Wirkungen hat, uns im Falle von Erkrankungen dem Arzt anzuvertrauen, den wir der fahrlässigen Tötung unsres Freundes beschuldigen und gegen den wir die Suspendierung vom Amt und ein Strafverfahren beantragt haben, das erleben wir grade im Augenblick wieder mit Toller, der seit mehreren Tagen an einer offenbar durchaus nicht leichten Krankheit im Bett liegt. Er leidet unter häufigen Kopfneuralgien und beschuldigt den Dr. Steindl, daß er durch Vernachlässigung, falsche Behandlung und seine übliche Methode, den Kranken durch Andeutungen, daß er ihn für einen Simulanten halte, abzuschrecken, das Leiden hier erst habe chronisch werden lassen. Der augenblickliche Anfall ist nun schwerer als Toller ihn je erlebt hat, und die Behandlung durch den Anstaltsarzt lehnt er selbstverständlich ab. Gestern besuchte ihn sein Verleger, Herr Kiepenheuer, mit dem er wegen Gelddifferenzen in scharfem Konflikt steht. Er hielt sich nur mit Mühe aufrecht während der anstrengenden Unterredung und brach gleich, nachdem sich Herr Kiepenheuer entfernt hatte, bewußtlos zusammen. Vorher hatte er gebeten, Klingelhöfer zu rufen, was natürlich erst geschah, als er schon dalag und man den Arzt, dessen Verständigung er entschieden abgelehnt hatte, ihm dann doch nicht aufzwingen wollte. Klingelhöfer trug ihn dann in seine Zelle hinauf, und es geht ihm schlecht. Heute früh wurde er auf Veranlassung des Vorstands durch den Sanitäter benachrichtigt, daß Dr. Steindl da sei und zu seiner Verfügung stehe. Natürlich lehnte Toller seinen Besuch ab. Nun liegt er aber krank da, ohne daß wir ihm seine Schmerzen lindern können, da Bastian sich auch weigert, ihm ohne ärztliche Anordnung eine Morfiumspritze* zu geben. Was daraus werden soll, ist nicht klar. Für die Genossen, die sich seiner annehmen – Tanzmaier ist den ganzen Tag um ihn – ist eine Riesenverantwortung geschaffen. Tollers Mißtrauen gegen den Arzt ist aber so groß, daß ihm niemand raten kann, dessen Hilfe nun doch anzunehmen. Sein Verlangen, auf eigne Kosten einen andern Arzt kommen zu lassen, wird die Verwaltung natürlich ablehnen, schon weil sie ja auch Spezialärzte auf eigne Kosten nicht nach eigner Wahl zuläßt und konsequenterweise lieber einen Gefangenen sterben läßt – zumal Hagemeisters Tod trotz allen Protesten draußen ihr doch gezeigt haben wird, daß sie alle bestimmenden Faktoren des Landes, mag kommen was will, auf ihrer Seite hat, – als den Arzt zu desavouieren oder gar einem Festungsgefangenen sein Recht zu geben. – Mich regt der Fall Toller doch wieder ziemlich auf. Man muß sich doch wieder kopfschüttelnd fragen: was soll aus alle dem, was soll aus uns allen hier drinnen, was soll aus unsern armen Angehörigen noch werden? Wir lernen wohl von unsern Feinden, den bayerischen Christen-„Menschen“, wie man mit politischen Gegnern umzuspringen hat, wenn man sie – von keinem Recht und von keinem eignen Gewissen gestört, in der Gewalt hat. Aber es scheint, daß unsre Lehrer entschlossen sind, alles zu unternehmen, um uns außerstand zu setzen, unsre Kenntnisse einmal zu verwerten. Sie quälen ihre verhaßten Landsleute einfach tot und sind Menschenkenner genug, um zu wissen, daß, wer es nicht erlebt hat – sei es wie wir mit dem leidenden Leibe, sei es wie sie, mit dem befriedigten Sadistentrieb – zum Nachempfinden doch niemals genügend Phantasie haben kann. Nur sollen sie sich nicht zu sicher fühlen. Ich werde mir alle Mühe geben, ihre Infamieen zu überleben. Und meine Rache wird für sie schauderhafter sein als für uns ihre Rechtsbrüche. Ich werde sie mit dem geißeln, was sie mit Grund am tiefsten fürchten und verabscheuen: mit Wahrheit!

 

* selbst Abführmittel verweigert er ihm heute (26. II.) ohne ärztl. Verordnung, wozu zu bemerken ist, daß der Sanitäter solche Kleinigkeiten bisher stets selbständig geben durfte. Schikane auch hier!

 

Niederschönenfeld, Montag, d. 26. Februar 1923

8 Uhr abends. Ich bin mitten in der Romanschreiberei, die mir den ganzen Stundenplan umwirft. Trotzdem kann ich den Wunsch der Redaktion, rechtzeitig Manuskript für die R. B. F. zu liefern, nicht erfüllen. Ich gebe eine Erklärung an die Leser ab, um dem Drängen abzuwehren. In den Zeitungen viel Tolles. Die Zeit erlaubt nicht, drauf einzugehn. Aber 2 Eröffnungen bekam ich heute wieder, die meine Laune verdorben haben. Aus einem Brief von Weigel wurde eine beigelegte Nummer der Roten Bayern Fahne, die wahrscheinlich etwas für mich Bestimmtes über den Roman enthielt, entfernt, und ein Brief von Adolf Schmidt vom 22. „wegen agitatorischen Inhalts samt Beilagen, die, weil sie in Beziehung zum Inhalt stehn, diesen Charakter unterstützen“ zu den Akten genommen. Geschäftliche Schädigung wahrscheinlich, und die Gelegenheit dazu läßt man nicht vorübergehn.

 

Niederschönenfeld, Dienstag, d. 27. Februar 1923

½ 7 Uhr. Wieder nur Haus-Zwischenspiele. Auch die Karte, in der ich Adolf vom Schicksal seines Briefs Kenntnis geben wollte, ging zum Akt. Vielleicht hat man seinen Hinweis auf den letzten sozialdemokratischen Antrag für uns zum Anlaß genommen, der die Kapp-Amnestie auf uns anwenden, also die Führer weiter festhalten wollte. Ich habe darum jetzt nur eine ganz sachliche Informationskarte ohne weiteren Inhalt an Adolf geschickt. – Karpf erhielt einen einfachen mit 50 Mk richtig frankierten Brief mit der Aufforderung, 40 Mk Strafporto nachzuzahlen. Er fragte, warum und bekam dann den Bescheid, es sei eine beigelegte Zeitung zum Akt genommen worden, die Übergewicht verursacht habe. Also 40 Mk für ein Blatt, das er nicht kriegt, muß der F. G. zahlen. – Und wieder eine Entlassung: Amereller, und mit ihm der erste, der während der zweiten Festungszeit, die er wegen Nicht-„Bewährung“ nachsitzen mußte, vor Ablauf der Zeit herauskam. Sein kranker Nervenzustand und beängstigende Selbstmordpläne seiner Frau haben den äußeren Vorwand gegeben. Im übrigen dürfte es der Verwaltung nicht unlieb sein, diesen Mann, der am Tage nach Augusts Isolierung unten ebenfalls herunterkam und in die Tobsuchtszelle gesperrt wurde, vor Eintreffen des Ausschusses draußen zu haben. In den Zeitungen nur das Gewöhnte: Krasseste Urteile gegen Arbeiter, Freisprüche für Nationalisten und ein schreckliches Geflenn über Entrechtung und Vergewaltigung der wehrlosen Deutschen durch die rachgierigen Franzosen, die man in Niederschönenfeld lesen muß, um ihre ganze innere Wahrhaftigkeit zu erfassen.

 

Niederschönenfeld, Donnerstag, d. 1. März 1923.

Westwind, infolgedessen schauderhafte Kälte auf unserm Flügel, die durch gänzliche Abstellung der Dampfheizung während der Mittagsstunden infam auf die Nerven geht. Der Eintragung hier ist mir unter diesen Umständen leichter möglich als eine Fortsetzung der literarischen Arbeit, von der ich gestern den ersten Teil des fünften Kapitels fertig brachte. Über die politischen Ereignisse will ich auch heute kurz hinweggehn. Die Ruhrfrage steht immer noch beim gleichen Punkt. Die Zeitungen fließen über von Details über die Roheiten der Franzosen und Belgier, die ihrerseits täglich deutlicher machen, daß sie an kein Verhandeln denken, sondern völlige Unterwerfung unter ihre Bedingungen verlangen. Über diese Bedingungen werden Einzelheiten erst angedeutet: Reparationsverpflichtungen nach Diktat, Zulassung einer Finanzkontrolle à la Österreich, Zurückziehung der Besetzung aus dem Ruhrland nach Leistung. Offenbar hat man sich in Paris und Brüssel auf ziemlich lange Dauer der Operation eingerichtet. Die Frage ist, wielange der deutsche Widerstand vorhalten kann. Eines Tages muß die Regierung Cuno – falls sie nicht selbst ihre gesamte Politik liquidieren will – zurücktreten und dann dürfen die Herren Wels und Breitscheid ihre Künste probieren. Daß sie so dumm sein werden, sich ans Steuer zu setzen und damit die Verantwortung für das sichere Auflaufen des Schiffs zu tragen, scheint kaum zweifelhaft. Was dann kommt, ist auch leicht vorauszusehn: Generaloffensive von ganz rechts mit sehr starken moralischen Waffen, nämlich mit Ausnützung der nationalistischen Psychose, an deren Erregung und Wirkung die Sozialdemokratie wieder einen Hauptanteil der Schuld hat. Die praktischen Vorübungen der Nationalsozialisten zeigen täglich, daß sie im Rüsten nicht müde geworden sind. In Franken und sonstwo tauchen Leute auf, die sich fälschlich als Ruhrflüchtlinge ausgeben und in Wirklichkeit von Hitler als Horchposten ausgesandt sind. Ins Haus der Münchner Post wurden Schüsse und Handgranaten gesetzt, nachdem 2 Tage zuvor der Redakteur des „Heimatlands“, der zum Terror gegen Redaktionen aufgefordert hatte, vom „Volksgericht“ freigesprochen war. Die Pogromhetze der Leute um Eck, Eckardt und Genossen wird in hemmungsloser Offenheit betrieben, natürlich ohne jeden Einspruch von Polizei, Justiz oder Regierung. – Heut las ich den stenographischen Bericht der Landtagssitzung, in der die Interpellation über Augusts Tod und über den Untersuchungsausschuß verhandelt wurde. Adolf Schm. hat seine Sache dieses Mal ganz gut gemacht. Erschütternd sind die Briefe, die der Totkranke in den letzten Tagen seiner Frau schrieb, besonders einer, den er schwarz hatte befördern können. Gürtner antwortete wie zu erwarten war mit lauter Beschönigungen, Entstellungen und Lügen. Er konnte sich z. B. auch auf das Gutachten eines dem Dr. Steindl vorgesetzten Arztes aus Neuburg berufen, eines Mannes, der – da er zufällig im Haus war (nicht etwa Augusts wegen gerufen) auch den kranken Festungsgefangenen untersucht hatte. Der fand die Zelle unten allen Anforderungen gemäß, wohnlich und wohlausgerüstet, und Gürtner berichtete noch seinerseits, diese Zelle sei mit einem Korbstuhl und einem Blumentopf „ausgestattet“ gewesen. Daß diese „Ausstattung“ aber Privatbesitz war und die Verwaltung garnicht daran dachte, die jammervolle Kerkerzelle mit irgendetwas auszustatten, was einem Kranken seine Lage hätte erleichtern können sagte er nichts, auch davon nicht, daß ein Patient, der nicht liegen konnte, nicht einmal eine weichere Matratze, geschweige ein Unterbett erhielt, sondern auf den harten Strohsack angewiesen blieb, der selbst uns Gesunde mitunter elend drückt. Auch Eisenberger nahm noch das Wort und behandelte unser „Verbrechen“ von der politischen Seite, wobei er meine Denkschrift ans Reichsjustizministerium ausgiebig als Unterlage benutzte. Unser Untersuchungsausschuß wird nun also aus 14 Personen bestehn, 5 Klerikalen, 4 Sozialdemokraten, 2 Mittelparteilern, 2 Demokraten und 1 Bauernbündler. Die Kommunisten dürfen nicht dabei sein, wenn ihre Behauptungen nachgeprüft werden (wogegen sie übrigens mit keinem Wort protestiert haben). Die Sozialdemokraten, zuerst in seiner Rede etwas versteckt Sänger, dann in einer Geschäftsordnungsbemerkung mit voller Offenheit Endres haben schon erklärt, daß sie von keinerlei Ermittlungseifer und erst recht nicht von keiner Sympathie für uns zu ihrem Mittun an der Aktion veranlaßt würden, sondern nur, damit endlich mal das Thema Niederschönenfeld wirklich aus dem parlamentarischen Redekonzert verschwindet. Die übrigen Parteien haben sich an der Aussprache überhaupt nicht beteiligt, aber durch Gelächter und allerlei Zwischenrufe zu erkennen gegeben, wie nahe ihnen die Totpeinigung ihres Landtagskollegen geht und wie innig sie uns eine Besserung unseres Schicksals wünschen. Eisenberger zitierte eine Aeußerung der Münchner Neuesten Nachrichten, deren Richtigkeit ich durchaus nicht in Zweifel ziehe. Danach besteht in den weitesten Kreisen „bis tief in die Sozialdemokratie hinein“ die größte Abneigung dagegen, daß in der Behandlung der Niederschönenfelder Festungsgefangenen Erleichterungen eingeführt werden. Es ist also klar was uns bevorsteht. Der Untersuchungsausschuß wird „feststellen“, daß alle unsre Vorwürfe erstunken und erlogen sind, daß Hagemeister toleranter verpflegt und betreut wurde als ihm zukam, daß wir mit einer Milde behandelt werden, die für jedes christliche Gerechtigkeitsgefühl unerträglich ist, und daß endlich einschneidende Sicherungsmaßnahmen getroffen werden müssen, um unser gehässiges Querulieren zum Schweigen zu bringen. Ich sehe also neue Verschärfungen voraus und werde mir gestehn müssen, daß alles was uns geschieht wohlverdient ist: hätten wir unsre Macht ausgenutzt, als wir oben waren und die Methoden gegen unsre heutigen Peiniger angewandt, die sie gegen uns in unermüdlichem Haß bevorzugen, dann wäre uns nichts geschehn. – Jetzt haben wir Muße darüber nachzudenken, was dabei herauskommt, wenn man menschlichen Regungen Raum gibt gegen Leute, die solche Regungen nicht kennen also auch nicht begreifen können. – Noch ein Wort zu einer Zeitungsnachricht. Delcassé ist gestorben, das veranlaßt die Erinnerung an die größte Dummheit der Aera Bülow mit der Nebenreflexion, daß daran ein Mann einen starken Anteil hatte, der heute Reichsminister der Republik für das Auswärtige ist (man merkt’s auch), Herr v. Rosenberg. Man hatte Delcassé 1905 mit der verrückten Einleitung der Marokkopolitik so davon überzeugt, daß Wilhelm einen Krieg provozieren wollte, daß der schärfste Gegenrüstungen traf. Als dann in Berlin plötzlich umgestukt wurde, mußten die Franzosen eine schwere Demütigung in Kauf nehmen, um den Frieden zu retten: auf Verlangen der Wilhelmstraße Delcassé pensionieren, was man dem deutschen Zeitungsleser als großen diplomatischen Sieg anfrisierte. Delcassé, der im ganzen durchaus keine deutschfeindliche Politik getrieben hatte mußte als Prügelknabe gehen. Der Weg wurde frei für Clemenceau, für Poincaré, für die Politik in Frankreich, die Deutschland nach dem zweiten vergeblichen Versuch, Brand zu stiften (1911) endlich doch gestattete, die große Zeit von 1914 bis auf Weiteres in Szene zu setzen. Leider ging dabei nicht alles programmmäßig, weil die übrige Welt auch mitspielte. Und daher: nieder mit den Juden!

 

 

 

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