XXXVII
2. März – 15. Juni 1923
Niederschönenfeld, Einzelhaft! Freitag, d. 2. März 1923.
„Absonderung bis auf weiteres. Verbunden mit Briefverbot und Zeitungsverbot!“ Das hat vor einer Stunde der Herr Oberregierungsrat Hoffmann über mich verfügt, und seitdem befinde ich mich in dem kahlen, schmucklosen, mit Riegeln, Zapfen und Schlössern hinlänglich versperrten Gemach, das mir der „Sicherung“ wegen jetzt als Wohnraum dient. Gründe?? Es ist mir, obwohl der Vorstand mich so robust wie ein Rekrutenschleifer angebrüllt hat, auch jetzt noch nicht ganz leicht, die Sünde als Sünde zu erkennen, die ich begangen habe. Ich saß also vor meinem Tisch oben und schrieb am 5. Kapitel Bröschke. Mitten im Satz wurde ich gerufen und hinunterzitiert. Ich war mir so wenig irgendwelcher Schuld bewußt, daß ich meine Füllfeder neben dem geöffneten Manuskript liegen ließ, ja nicht einmal mein Pfeifchen in die Tasche steckte, das ich ganz ausnahmsweise mal fortgelegt hatte. In der Erwartung, eine der alltäglichen Konfiskationen „eröffnet“ zu kriegen, trat ich ins Rapportzimmer, wo mich der Herr Oberregierungsrat und zu seiner Seite die Stenographiermaschine, will sagen, Herr Regierungsrat Englert, empfingen. Kein geringster Argwohn bedrückte noch mein Gemüt, erst recht empfand ich kein Bewußtsein sträflicher Schuld. Noch nicht einmal, als die Inquisition, zuerst ganz höflich im Ton, begann und ich erfuhr, daß ich leider auch mal in eine Disziplinar-Angelegenheit verwickelt sei. Ich hätte, ging’s dann los, heute früh einen Beamten in durchaus ungehöriger Weise zur Rede gestellt. Ich war völlig perplex, denn ich entsann mich nur eines einzigen Worts mit einem Märtyrer, das sich in absolut einwandfreier Form um meine Stiefelflickerei drehte. Ich ließ den Mann, der seine Stimme bei jedem Wort steigerte, erst mal zu Ende reden, um zu wissen, was er denn eigentlich wolle, und dann kams endlich heraus, daß ich dem Sanitätswerkmeister Bastian „Vorhaltungen“ gemacht und ihm „Fangfragen“ gestellt habe. Ich war nämlich gestern – oder wars schon vorgestern? – jedenfalls nicht heute – Tollers wegen bei Bastian und bat ihn, er solle doch ein Abführmittel hergeben. Auf seine Erwiderung, er dürfe nicht ohne ärztliche Anordnung, meinte ich, und zwar mit vollkommener Ruhe und Höflichkeit, er habe doch früher auch schon selbständig Medikamente verabfolgt (so gab er mir im vorigen Jahr auf einfachen Appell an ihn Brusttee) und bat ihn – tatsächlich: ich sprach in bittendem Ton zu dem Mann, – es sei doch klar, daß wenn jemand keinen Stuhlgang habe, er doch ein Abführmittel brauche, ob er denn auch keine Klystierspritze geben wolle. Die Antwort blieb negativ und ich ging mit den Worten: „Ist schon recht!“ hinaus. Der Herr Oberwachtmeister Rainer war mit hineingegangen, mischte sich aber nicht ins Gespräch, wie sich jetzt herausstellte, war er wohl da, um die „pflichtgemäße Meldung“ zu erstatten. Jetzt bekomme ich’s zu spüren, wie so eine Meldung lautet, wenn sie „pflichtgemäß“ verfaßt ist. Übrigens vermute ich, daß der eigentliche Veranlasser der Meldung, die unter allen Umständen meine Disziplinierung nach sich ziehen sollte, der Herr Anstaltsarzt ist. Denn der bewegte sich, ehe ich zu Bastian eintrat, nervös beim Ganggitter herum und zeigte überdeutlich, wie unangenehm er es empfand, daß ich ausdrücklich Herrn Bastian verlangt und seine Bemühung abgelehnt hatte. Dies ist also der Tatbestand. Nach der quasi Anklageschrift, aus der der Herr Oberregierungsrat sein Material schöpfte, soll mein Auftreten sehr provokatorisch ein Zur-Rede-Stellen Bastians gewesen sein und wissentlich und absichtlich mit ganz bestimmtem Zweck auf die „Fangfrage“ hingesteuert haben, ob schon immer ärztliche Verordnung zu jedem Abführmittel erforderlich gewesen sei. Dann sollte ich mich äußern. Ich tat das mit vollkommener Ruhe, da ich stark empfand, daß ich durch das ganz unmotivierte Anbrüllen in Erregung gesetzt werden und dadurch erst den Grund schaffen sollte, gegen mich etwas zu unternehmen. Ich bestritt ganz sachlich jede geringste Verletzung der Form und die Stellung von „Fangfragen“. Aber ich kam nicht weit mit meiner Rechtfertigung. Das „Hören“ des Beschuldigten bestand zumeist darin, daß der Beschuldiger wie ein Fuhrknecht schrie, und dabei einfach all das konstatierte, was ich bestritt: „Ich stelle fest, daß Sie sich in ungehöriger Form in die Angelegenheit eines Dritten gemischt haben“ etc., daß ich Fangfragen gestellt habe, und – das Schönste: daß ich mit Toller nicht befreundet sei. Ich wollte erwidern, – aber das gab’s nicht: „Ich weiß das“, „ich stelle es fest“, „da können Sie mir nichts erzählen“. Er „stellte“ auch „fest“, daß Toller mir keinerlei Auftrag gegeben habe, ließ dann aber, als er auch noch behauptet hatte, daß ich ohne Tollers Vorwissen bei Bastian war, stenographisch meine Feststellung aufnehmen, daß ich Toller vorher von meiner Absicht, Bastian aufzusuchen, Kenntnis gegeben hatte. Daß ich um den Kranken besorgt gewesen sei, wurde glatt bestritten, da meine Freundschaft, wie die Verwaltung weiß, keine so enge zu Toller ist, wie sie etwa zu Hagemeister war. Infolgedessen lügt also ein Festungsgefangener, wenn er behauptet, er sorge sich um einen kranken Genossen, auch wenn er nicht der allerintimste Freund ist. Sogar daß Toller und ich politisch nicht übereinstimmen, hielt mir der Mann vor, worauf ich replizierte, ich sei politisch überhaupt hier isoliert, habe aber doch sehr gute Freunde im Haus. Kurz und gut, das Ende war, daß mir so brüsk wie es ging erklärt wurde, da festgestellt sei, daß ich mich in die Angelegenheit eines andern eingemischt habe, der selbst durchaus schreibgewandt sei, – da ich ferner einen Beamten ungehörig zur Rede gestellt und ihm mit bewußter Absicht Fangfragen gestellt habe, „verfüche ich“: Absonderung bis auf weiteres, verbunden mit Briefverbot und Zeitungsverbot. – Daß ich Zenzl wieder, wochenlang womöglich, in der entsetzlichsten Angst lassen muß, ist weitaus das Schlimmste an der Sache, – und zweifellos, weil der Mann meine Briefe genau liest und meine Beziehung zu Zenzl genau kennt, als größte Pein beabsichtigt (die Frau muß leiden! – Kavaliere!). Das Zeitungsverbot ist auch ekelhaft, und der mit der Einzelhaft verbundene Kaffeeentzug ängstigt mich ein wenig. Ich bekam im Mai 21, als Kraus diese sinnlose Verschärfung generell einführte, Abstinenzzustände, und vielleicht will man die grade herbeiführen, um die Konsultation des Dr. Steindl von mir zu erzwingen. Das wird nicht glücken, wenn auch der weitere Wunsch, mich gesundheitlich und geschäftlich zu schädigen, zweifellos erreicht werden wird. Ich habe den zwingenden Verdacht, daß man mich unter allen Umständen in Einzelhaft und unter Briefverbot bringen wollte, um mich an meinen Vorarbeiten zum Empfang des Untersuchungsausschusses zu hindern. Der Grund ist so abenteuerlich hergesucht und die Bemühung, mich während der Vernehmung zu provozieren so auffällig, daß ich keinen Zweifel habe: wäre ich gestern nicht bei Bastian gewesen, dann wäre morgen irgendetwas inszeniert worden, um mich stolpern zu lassen. – Vor der Kommission selbst Angst zu haben, besteht nun allerdings für die Herren hier kein Anlaß. Heute konnten wir lesen, wer an der Spitze des Ausschußes steht. Herr Abgeordneter Funke von der Bayerischen Volkspartei und Herr Abgeordneter – Roßhaupter, der uns seine Liebe ja schon mit der verächtlichen Bemerkung dokumentiert hat, wenn wir uns über schlechte Behandlung beklagen, so sei das erbärmliche Winselei. – Ich muß aufhören zu schreiben. Hoch über mir an der Decke hängt die elektrische Birne und verbreitet ein so schwaches trübes Licht, daß ich meine Augen schon jetzt übermäßig angestrengt habe.
Niederschönenfeld, Einzelhaft, Sonnabend, d. 3. März 1923.
Zenzl schickt mir ein Paket, das ich eben – ½ 2 Uhr, nachdem ich meinen Hofgang absolviert habe, erhielt. Speck, Eier, Zigarren, Tabak – kurzum ein großer Reichtum, und ich weiß buchstäblich nicht, wohin damit. Mein Ersuchen, mir das kleine Regal von oben herunterzuschaffen, blieb erfolglos (selbst unter Kraus wurde mir der Tisch heruntergeschafft). Ich konnte grade noch erreichen, daß ich wenigstens den Eierkarton behalten konnte, sonst hätte ich die Eier in der Zelle herumtrudeln lassen können. Das Wandschränkchen der Gefängniszelle ist gesteckt voll mit Büchern und allem möglichen. Das einen Unterarm breite und doppelt so lange rohe Holzklapptischchen, an dem ich sitzen, schreiben und essen muß, ist bis zur Mitte verbaut, die Wäsche, die Zenzl mir mitgeschickt hat, mußte ich im Bett verstauen. Ich hatte ihr versprochen, ihr den Empfang des Pakets sofort zu bestätigen. Nun wird sie sich schwer ängstigen, wenn sie keine Nachricht erhält. Die Zeitungen, die sie beigelegt hat, bekomme ich ja schon wegen des Zeitungsverbots nicht, wenn sie nicht gar gleich als „Sammelsendung“ beschlagnahmt werden. (Daß eine Nummer der Berliner Volkszeitung heute zum Akt gekommen ist, wurde mir trotz des Verbots eröffnet). Siegfried schreibt mir zugleich, daß er von seinem Arbeitsplatz entlassen wurde. Also auch noch materielle Sorgen daheim. Ich plane, sobald besorgte Fragen kommen, direkt ans Justizministerium zu schreiben und zu ersuchen, Zenzl von dort aus vom Grund meines Schweigens Kenntnis zu geben. – Vorhin schickte ich mit einem Zettel hinauf, um mir noch Verschiedenes herunterkommen zu lassen, darunter die Papiere, die ich auf dem Schreibtisch liegen ließ und die die Angaben enthalten, die ich vom Luttner-Ferdl über Einrichtung und Arbeitsangelegenheiten einer Tapezierwerkstatt gelernt habe; außerdem die Pappkartons mit den unerledigten Briefen und dem leeren Papier zur Reinschrift. Als ich beim Überbringen der übrigen Dinge danach fragte, erfuhr ich zu meiner Verblüffung, die Papiere hätten erst die Zensur zu passieren. Hoffentlich hat der Ferdl nicht in seinem Eifer auch die beiden Tagebuchhefte mit hergegeben, die ich grade wegen des Untersuchungsausschusses bearbeitete. Dann hätte ich wohl ähnliche Erfreulichkeiten zu erwarten, wie sie mir vor 1¾ Jahren blühten, und – was noch schlimmer wäre, die Hefte wären ebenfalls beim Teufel. Alles wegen Tollers Stuhlgang! – Eben brachte man mir eine Schale Anstalts„kaffee“, eine kalte schwarze Brühe wahrscheinlich von Gerste und Malz. Immerhin sieht das Zeug schwarz aus und ich habe sie genommen, weil ich meinen Coffeinbedarf ja leider nun doch nicht decken darf. Ich bin gespannt, wie lange man die Quälerei diesmal treiben wird. Augenscheinlich fühlt man sich in der bayerischen Reaktion recht stark. Vor einigen Tagen hielt erst Herr Held eine Rede, aus der dieses Gefühl deutlich hervorging. (Dieser selbe Herr Held hat übrigens bei der Besprechung der Hagemeister-Interpellation namens seiner Fraktion erklärt, sie würde sich nicht daran beteiligen und überlasse es andern, die kostbare Zeit des Landtags mit solchem Zeug zu „vertrödeln“. Es ging ja auch bloß um die Behauptung, daß ein Mitglied des Wolkenkratzers, weil er von oppositioneller Gesinnung war, zu Tode gepeinigt worden ist). Herr Held hat also dem deutschen Reich eine Art Ultimatum gestellt. Falls Cuno abtrete und eine linksgerichtete Regierung etwa mit den Herren Hilferding oder Breitscheid käme, würde Bayern dabei nicht mittun. Natürlich gehe es nicht um Spaltung der Reichseinheit – bewahre Gott! Aber dann sei der Moment gekommen, wo Süddeutschland (lies Bayern) als bestimmender Faktor der Reichspolitik in Funktion treten müsse. – Die Änderung wäre nur formell, da Held-Bayern längst die Politik des Reichs bestimmt, d. h. alles verhindert, was von Berlin aus an Notwendigem versucht wird. Held fand, daß sich in gewissen Kreisen der Sozialdemokratie Stimmungen geltend machen wie im Herbst 18. Ich las aber nicht, daß ihn jemand an seine Stimmung im Herbst 18 erinnert hätte, als er sich dagegen wehrte, Bayern unter allen Umständen ans Reich zu ketten. Übrigens treibt Bayern grade jetzt höchst positive Politik im Sinne der Restauration. Die „Abfindung“ der Wittelsbacher marschiert, und sie wird in Wahrheit eine weitgreifende Vorschußzahlung für die Gnade sein, in Zukunft wieder unter monarchistischer Firma zu regieren, und der Staatspräsident wird kommen, ob die Zweidrittelmehrheit im Landtag zusammenkommt oder nicht. Vorerst hat Eisenberger mal wegen Wahrheitsprechen von der Parlamentstribüne Keile gekriegt. Er hat nämlich erklärt, die Bayerische Volkspartei wolle mit dem Staatspräsidenten einem Schrittmacher des Königs Raum schaffen, sie verfolge also hochverräterische Ziele. Wer die Wahrheit kennt und sagt sie, den verprügelt man in Bayern oder sperrt ihn in Niederschönenfeld ein.
Einzelhaft, Sonntag, d. 4. März 1923.
½ 11 Uhr vormittag. Ich weiß nicht recht was mit der Zeit anzufangen. Gestern wurde Kapitel 5 in der Kladde fertig. Um mit der Reinschrift anzufangen, habe ich das Papier noch nicht von der Zensur gekriegt, wo es auf dem Wege von mir zu mir kontrolliert werden muß. Ich bin sehr gespannt, ob da alles glatt gehn wird. Hoffentlich. Mein Herz macht schon nach der einen Kaffeeentbehrung Tänze. Die Nacht war nicht schön, und der Schweißausbruch, mit dem meine Herzschwächeanfälle schon oft begonnen haben, war auch da. Morgen werde ich mir auf jeden Fall die Tropfen herunterkommen lassen, um das Schlimmste parieren zu können. Welche weiteren Schritte ich unternehme, steht noch nicht fest. Erst muß ich wissen, ob Ferdl sich beim Zusammenstellen der Papiere auf das beschränkt hat, was ich verlangte, oder ob er die Tagebuchhefte mit den Aufzeichnungen über die Festungsschweinereien mitgegeben hat, was wahrscheinlich große Komplikationen nach sich zöge. Jedenfalls ist diese neue Tortur jetzt für den Ausschuß wirksam zu verwenden. Erstens die vollständige Grundlosigkeit, zweitens die unglaubliche Härte selbst für die Bestrafung – denn die Fiktion, als ob man zur Sicherung das alles verhängt hat, wurde nicht mal mehr versucht – der Sündhaftigkeit, die mir vorgeworfen wird. Drittens ein Vergleich mit meinen 2 Monaten Gefängnis in Ansbach. Damals hatte ich den amtierenden Justizminister einen ehrlosen Lumpen geheißen, jetzt habe ich in höflicher, ruhiger Form einen Unterbeamten gebeten, einem Kranken zu helfen, dessen „Schreibgewandtheit“ auch dann noch als ungeschwächt gilt, wenn er mit scheußlichen Kopfnervenschmerzen bei verdunkeltem Fenster im Bett liegt und vor Schwäche kaum reden kann. Damals wurde mir die gesamte Einrichtung aus der Festungszelle hinuntergeschafft, jetzt wird mir selbst ein kleines Regal verweigert, das mit 2 Fingern zu transportieren wäre. Damals bekam ich täglich meinen Bohnenkaffee, jetzt wird er mir verweigert. Damals durfte ich Briefe schreiben, wohin und soviel ich wollte, jetzt darf ich meiner armen Zenzl kein Lebenszeichen geben. Damals las ich regelmäßig meine Zeitung, jetzt ist mir auch die entzogen. Damals durfte ich meine Frau unter 4 Augen sprechen, jetzt – jetzt brauchte ich noch nicht einmal diszipliniert zu sein, und kann sie nur unter unausdenkbaren Martern, besonders für sie selbst, unter strengster Bewachung sehn, muß dabei die Beine vor den Tisch stellen und gewärtigen, daß mir das Gespräch unterbrochen wird, wenn ich auf unsre materiellen Lebensinteressen eingehn möchte. Damals wars Gefängnis, jetzt heißt dies alles „Festung“. Die Ordnungszelle Bayern muß sich recht sicher fühlen, wenn derartige Barbareien zur Rettung ihrer Sicherheit gegen wehrlose Gefangene notwendig sind. Welche trostlose Erbärmlichkeit, Politik zu treiben, indem man jede den Menschen eingeborne Barmherzigkeit in sich tötet und die hemmungs- und gewissenlose Brutalität als Recht ausgibt. Wir müssen davon lernen, aber wir werden uns hüten müssen, eine Methode blind zu kopieren, bei der die Vollstrecker sich in Stunden der Einsicht und Reue vor sich selbst schämen müssen. Wie werden niemals vom Menschen verlangen dürfen, den Menschen zu verleugnen. Das hat zu allen Zeiten die Henker verächtlich gemacht, daß sie von Berufs wegen den Menschen in sich zertraten. Wer heutzutage teilhat am bayerischen Strafvollzug, hat das Recht verwirkt, die Henker zu verachten.
Einzelhaft, Montag, d. 5. März 1923.
Da sitze ich nun schon wieder und weiß immer noch nicht weiter. Ich hätte gern gleich am 6. Kapitel angefangen, da ich das Reinschriftpapier immer noch nicht bekommen habe. Aber dazu brauche ich die Zettel, mit Ferdls Tapezierkursaufzeichnungen, – und da scheint eben der Haken zu sitzen. Es kam mir vor, als ob Herr Rainer, obwohl ich ausdrücklich meinen Wunschzettel mit „Herrn Luttner“ überschrieb, selbsttätig unter meinen Sachen gewühlt hat, und wenn der etwas wittert, daß er am Ende jemanden hineinlegen könnte, dann gibts keinen Pardon. – Ich habe nun – komme es wie es mag, – trotzdem eine Eingabe „Betr. Beschwerde“ ans Justizministerium gemacht und eine Abschrift davon geht gleichzeitig an den Eingabe- und Beschwerde-Ausschuß des Landtags „mit der Bitte um Weitergabe als Material an den Ausschuß zur Untersuchung der tatsächlichen Verhältnisse in Niederschönenfeld“. Der einleitende Text heißt dann: „Ich habe mich gezwungen gesehn, dem Staatsministerium der Justiz heute folgende Beschwerde zuzuleiten, von der ich Kenntnis zu nehmen bitte.“ Dann kommt die Abschrift. – Abscheulich ist, daß mein Zustand durchaus unbefriedigend ist. Ich habe schwer Angst, daß mir das Herz bald verteufelte Stunden machen wird. Gestern abend war es zeitweilig schon recht bedenklich. Ich helfe mir jetzt so, daß ich die Kaffeebohnen, die mir Zenzl mitschickte, tagüber roh kaue. Viel ersetzt diese Methode ja nicht, aber die Illusion wird doch schon was wert sein. – Die arme Zenzl! Heut wird sie schon die Bestätigung des Pakets erwartet haben, morgen wird sie schon recht nervös werden, und Mittwoch erst – der Gedanke ist der quälendste von allen. – Was mag inzwischen in der Welt vorgehn? Merkwürdigerweise läßt mich die Entbehrung der Zeitung bis jetzt recht kühl, und die Einzelhaft selbst wäre auch erträglich, wenn ich meinen Kaffee hätte, meine Sachen unterzubringen wüßte und mich ohne alle möglichen Ungewißheiten an die Arbeit setzen könnte. Ich bin wirklich neugierig, wie lange die Prüfung der Papiere noch dauern wird, die mir das Weiterschreiben ermöglichen würden. Wenn heute mittag mit der Post die Sachen nicht hergegeben werden, reklamiere ich sie. – Wäre nur das Wetter nicht so trostlos, dann könnte man wenigstens seine 2 Stunden im Hof totschlagen; aber der Weg um den Hof – seit Jahr und Tag nun mein einziger Ort zum Spazierengehn – ist völlig aufgeweicht. Trotzdem laufe ich nach Tisch hinaus und lasse mich nach einer halben Stunde wieder in die Zelle sperren. Wie lange dieses reizvolle Leben nun wohl noch fortgehn soll? Ich habe in der letzten Zeit oft Todesgedanken. Das kranke Herz ist ein verdammter Mahner und August Hagemeister hat ein eindringliches Beispiel gegeben. Aber ich möchte schon gern alles tun, um Zenzl das zu ersparen. Es ist ja ein toller Zustand jetzt: den Dr. Steindl lasse ich auf keinen Fall mehr an mich heran, einen andern kriege ich nicht und schreiben darf ich nicht, auch nicht, daß ich krank bin und Hilfe brauche. Meine Herztropfen mußte ich mir gestern noch herunterholen lassen. Was mache ich aber, wenn sie alle sind? Damit, daß ich bald aus„gesühnt“ habe, rechne ich nicht. Die Maßregelung war so absolut grundlos verhängt, so kannibalisch auch gleich gesalzen, daß ich unbedingt annehmen muß, daß ich nicht abgesondert bin, weil ich bei Bastian war, sondern daß ich abgesondert werden sollte, und Bastian als Grund faute de mieux herhalten mußte. Dann aber wird man mich nicht plötzlich wieder nach ein paar Tagen hinauflassen. Mein Verdacht ist, daß ich an der Vorbereitung für den Ausschußbesuch gehindert werden sollte. Das Resultat der gegenwärtigen Zensurtätigkeit wird wohl Klarheit schaffen.
¾ 7 Uhr. Besonderer Grund, mich nochmal abends vor das Heft zu setzen liegt nicht vor. Aber das ist eben der Grund. Ich habe über mein Reinschriftpapier und über die Tapezierlehranweisungen noch keinerlei Bescheid, obwohl ich inzwischen wiederholt gemahnt habe. Selbst der Brief und das Buch, die in Zenzls Paket lagen, hat man mir bis jetzt nicht gegeben. Das alles macht recht nervös und bestärkt den Verdacht, daß noch Übles bevorsteht. Mit dem Herzen gehts nicht viel besser. Die manchmal ganz deutlich spürbaren Zusammenziehungen der Herzmuskeln und die zeitweiligen Anfälle schwerer Erschöpfung lassen immer wieder Abschlußahnungen aufsteigen, die sich schon in einem Gedicht und dann in einem spontanen Brief an Zenzl, den sie hoffentlich nicht zu bald zu lesen kriegt – es sei denn, daß ich ihn ihr vorlesen kann – manifestiert haben. – Die Eröffnung, daß die Berliner Volkszeitung mal wieder zum Akt genommen wurde – immerhin ein Zeichen, daß man draußen noch Dinge schreibt, die den bayerischen Christenseelen unsympathisch sind – und die Quittung für diese Zeitung mit – 4000 Mark für diesen Monat war das einzige, was an Post heute zu mir drang. Morgen werde ich wohl klarer sehn.
Einzelhaft, Dienstag, d. 6. März 1923.
10 Uhr. Ich bin erst aufgestanden, habe die kleinen Obliegenheiten – Bett machen etc erledigt und setze mich in Ermanglung andrer Beschäftigung vors Tagebuch. Heute früh wurde mir der Brief von Zenzl und das Buch (der Friedensvertrag von Versailles) gebracht. Vom übrigen noch nichts. Ich erwarte nun also kaum mehr etwas andres als heut im Lauf des Tages oder morgen eine neue Philippika des Herrn Hoffmann. Mit meinem Herzen gings heute nacht etwas besser, hoffentlich trügt der Schein nicht. Es kommt ja nun auch darauf an, mit was für neuen Offensivwaffen der Vorstand gegen meine armen Herzwände noch anzurennen gedenkt. Jedenfalls wird er mich nicht ungerüstet finden. Ich habe schon die Absicht, mich meines Rechts, Tagebücher zu führen, wie es mich gut dünkt, zu wehren. Mit meinem Willen hat noch nie ein andrer Mensch gelesen, was ich hineinschrieb. Gegen gewaltsame Zugriffe bin ich machtlos. Aber gegen Bestrafungen wegen des Inhalts – die nicht einmal Kraus versucht hat – werde ich mich stemmen, allerdings wird ja das Stemmen erst möglich sein, wenn sich die Strafe schon ausgewirkt hat. Aber ich glaube, der Untersuchungsausschuß, sowenig er von Sympathieen für mich erfüllt sein wird, wird sich gegen einen offensichtlich auf Unterbindung seiner Tätigkeit gerichteten Vorstoß der Verwaltung doch auf meine Seite stellen. Nun – vielleicht sehe ich Gespenster, vielleicht hat Herr Gollwitzer garkein Tagebuch von mir in die Finger gekriegt und plagt sich nur mit dem Karton Briefen, die er allerdings alle schon zensiert hat, als er sie mir aushändigen ließ. – Der Gedanke an Zenzls Angst um mich ist noch peinigender als alle die Befürchtungen um mich selbst. Vielleicht hätte es nur einer „Bitte“ bedurft, um mir die Erlaubnis zu verschaffen, auf einer Postkarte Beruhigung zu schaffen. Aber nach dem verächtlichen Auftreten des Vorstands und der ungeheuerlichen Disziplinierung vollständig ohne Ursache, wäre mir eine Bitte an den Mann in dieser Angelegenheit eine glatte Unmöglichkeit. Außerdem hätte ich ja gar keine Garantie, daß sie „genehmigt“ würde. Vielleicht gäbe ich dem Mann grade durch eine Bitte neue Gelegenheit mich zu demütigen und zu kränken, und die Freude gönne ich ihm nicht. Es gibt nur eines: alles ins Gedächtnis sammeln, ja nichts vergessen und der kommenden Generation eindringlich die Tatsachen überliefern, aus denen sie entnehmen kann, was ihr bevorsteht, wenn sie nicht energisch und ohne jede Schwäche die Reaktion niederzwingt. Wären die „starken Männer“ mit einer Spur von Einsicht begabt und kennten sie auch nur ein ganz klein wenig die Geschichte etwa der englischen Lilburne-Bewegung oder der russischen Revolutionszeit nach der Niederwerfung 1906/7, dann müßten sie erkennen, daß sie der Revolution besser vorarbeiten als wir es selbst dann könnten, wenn wir hemmungslos und von keinen Paragraphen und Ausnahmegesetzen gehindert, in Freiheit wären und reden könnten, wie uns der Schnabel gewachsen ist. Aber Herr Hoffmann würde wohl große Augen machen, wenn er wüßte, daß sein Freund Mühsam ihn für einen verdienten Wegbereiter der bayerischen Zukunftsrevolution hält. Aber es ist schon so und es bleibt allzeit ein tröstliches Wort, das von dem Geist, der stets das Böse will und doch das Gute schafft.
¾ 11. Ich hatte grade das Tagebuch wieder weggesteckt und putzte die Stiefel, da ging das Poltern am Türschloß los, das einen hier drinnen vor plötzlichen Gästen schützt, und nach Wegräumen aller versperrenden Zapfen und Riegel und Umdrehen des halben Dutzends Schlösser trat Herr Spitalwerkmeister Bastian bei mir ein. Das Gespräch ging etwa diesen Gang: „Guten Morgen.“ „Guten Morgen.“ „Der Herr Bezirksarzt schickt mich, er läßt Sie bitten zur Untersuchung.“ „Ich habe mich nicht beim Herrn Bezirksarzt gemeldet.“ „Sie haben doch geschrieben, daß Sie krank sind.“ „Ja, aber nicht an den Herrn Bezirksarzt.“ „Der Herr Bezirksarzt läßt Sie aber bitten –.“ „Ich danke, ich verzichte.“ „Herr Mairgünther und Herr Blößl waren auch schon beim Herrn Bezirksarzt.“ „So? Ich verzichte aber. Ich danke sehr.“ „Schön. Guten Morgen.“ „Guten Morgen.“ – Ab. Schloßrasseln. Kehrt. – Ich putzte meine Stiefel. – Die Sache ist klar. Meine Eingabe ans Justizministerium soll gleich mit einem entsprechenden Begleitbrief des Angegriffenen weg. Da ist es sehr wirkungsvoll, wenn er gleich mitteilen kann, er habe sofort den Arzt beauftragt, mein Herz zu untersuchen, ich hätte aber verzichtet. Geht doch das ganze Spektakel jetzt darum, uns zu zwingen, den Arzt zu konsultieren. Darum sitze ich doch hier unten, weil in Wirklichkeit die „Fangfrage“ nur herhalten mußte, um einen Grund für die Bestrafung der Übeltat zu schaffen, daß ich Toller in seiner Ablehnung des Arztes sozusagen begünstigt habe. Wir sollen das Unmögliche tun, die Hilfe eines Mannes in Anspruch nehmen, dem wir zu gleicher Zeit den Vorwurf machen, er habe durch pflichtwidrige Anordnungen – Hagemeisters Verlegung in eine Gefängniszelle statt in ein Spital, seine Behinderung, mit seinen Freunden in Verbindung zu bleiben, die ihm geholfen hatten und es weiter getan hätten, seine Fehldiagnose und die Verdächtigung, der Patient simuliere, endlich durch seine Unfähigkeit dem Sterbenskranken zu begegnen, sodaß der am letzten Tage seine Hilfe verweigerte – die Schuld an Augusts Tode auf sich geladen. Das zwischen Patienten und Arzt notwendige Vertrauen ist so irreparabel zerstört, daß ich mich nicht entschließen kann ohne allerzwingendste Not den Mann in Anspruch zu nehmen, und selbst bei allerzwingendster Not wüßte ich noch nicht, ob ich es könnte. – Übrigens hat Herr Dr. Steindl mein Herz verschiedene Mal untersucht und muß also wissen, daß es krank ist. Auch hat er den Brief meines Bruders, worin es bestätigt wird. Ich denke daran, dem Justizministerium gleich noch einmal zu schreiben und meinen Standpunkt zu begründen. – Ich will mir das bis zum Nachmittag überlegen.
3 Uhr. Vom Zensor immer noch nichts, obwohl ich nun auch Herrn Rainer selbst gebeten habe, sich drum zu kümmern. Mein armer Roman erlebt in statu nascendi schon soviel Schicksalsprügel, daß man ihm, wenn er mal fertig ist, nette Auspizien weissagen kann. Die Fortsetzung der Eingabe ans Justizministerium ist nun auch fertig und liegt bereits sauber abgeschrieben, kuvertiert und frankiert für die nächste Zellentüröffnung zum Abgeben bereit. Ich habe darin zunächst begründet, warum ich auf eine Untersuchung durch Dr. Steindl verzichte – und hierbei unter deutlicher Anspielung als das einzige Mittel des Widerstands für einen Wehrlosen die Passivität in Anspruch genommen –, dann erinnert, daß der Anstaltsarzt ja mein Herz früher mehrfach untersucht hat, also mein Gebrechen kennen muß und daß mein Bruder ihm berichtet habe und mich bereit erklärt, mich von jedem Arzt, nur nicht Dr. Steindl, untersuchen zu lassen. Endlich habe ich darauf hingewiesen, daß meine Arrestunfähigkeit erst an zweiter Stelle meinen Einspruch begründet habe und daß ich den Hauptwert auf die sachlichen Gründe der Bestrafung lege, daß nach meiner Auffassung jede Voraussetzung für die Anwendung des § 22 H.-O. fehle und daß selbst, wenn ich mich verfehlt hätte, die Sicherung der Anstalt, nachdem ich seit November 1921 nicht mehr diszipliniert wurde – jene 8 Tage Hofverbot, weil ich eine pflichtgemäße Meldung nicht von einer Denunziation zu unterscheiden wußte – keine Maßnahmen erfordert hätte, für die die bestehenden Bestimmungen nicht ausreichten. Ich empfände es als Unbilligkeit, daß man mir ein Verbot durch eine schwere kombinierte Strafe erst zur Kenntnis brächte. Zum Schluß verlange ich noch einmal Zenzls Orientierung, warum sie nichts von mir hört. Mit der Korrespondenz hat’s also bisher nicht gehapert trotz des Briefverbots. Nur muß ich gestehn, daß ich in der Welt mit niemandem weniger gern korrespondiere, als mit dem Adressaten, an den jetzt allein noch Briefe von mir abgehn: mit der Kühleweinstube im Justizpalast.
10 Minuten vor 4. So. Jetzt weiß ich Bescheid. Ich hatte mich nicht getäuscht. Herr Rainer erschien eben bei mir mit 2 Eröffnungen: 1.) „Aus der Festungsstube des F. G. Mühsam wurden 15 Zettel und ein Blaues Heftchen wegen agitatorischen Inhalts zu den Akten genommen.“ 2.) „Aus der Festungsstube des F. G. Mühsam wurden 10 Hefte mit täglichen Aufzeichnungen wegen politisch-agitatorischen und teils gröblich beleidigenden Inhalts zu den Akten genommen.“ – Ich glaube, so heißt’s wörtlich. Also alle meine Tagebücher! Ich werde wohl vorläufig nichts dagegen tun können, werde aber dem Untersuchungsausschuß das Nötige sagen. Das wird mir erleichtert durch die Beschlagnahme des blauen Heftchens und der Zettel – allerdings: 15 Stück? soviele waren’s meines Wissens lange nicht, – die kaum andre sein können als die mit den vorbereitenden Notizen für den Empfang des Ausschusses. Sollte man etwa den Tapezierkurs auch für agitatorisch gehalten und beschlagnahmt haben? Nun, die Führung von Tagebüchern ist mir vorläufig nicht verboten, und die Haussuchung scheint sich ja auf das Schubfach oben beschränkt zu haben. Jedenfalls ist mein Verdacht bestätigt, daß man den Vorwand brauchte, um mich an unbequemen Aufklärungen für den Ausschuß zu hindern. Kleinkrieg zwischen der Verwaltung und einem Gefangenen. Wollen abwarten, ob Goliath diesmal über David Herr wird oder ob’s wieder mal umgekehrt geht.
Einzelhaft, Mittwoch, d. 7. März 1923.
Noch immer warte ich vergeblich auf die Papiere zum Weiterarbeiten. Mindestens bis übermorgen kann ich mir auch von oben kein Briefpapier mehr holen lassen, da nur alle Woche einmal etwas heruntergeholt werden darf. Natürlich werde ich das am Samstag schon bestellte Zeug wieder reklamieren, obwohl mir nicht sicher ist, ob dann nicht neue Peinlichkeiten irgendwelcher Art entstehn können. – Meine jetzt im ganzen 15 weggenommenen Tagebücher gehn mir doch nahe. Wenn ich sterbe, wird Zenzl sich schwer tun, sie herauszulotsen. Allerdings hoffe ich, doch mal wieder ohne den letzten Knacks mit dieser Schinderei jetzt fertig zu werden. Das Essen der Kaffeebohnen hilft wirklich etwas, daneben schränke ich das Rauchen nach Kräften ein und esse soviel wie möglich, was jetzt wieder durch eine Sendung Bücklinge von Charlotte erleichtert ist, auch habe ich von Zenzls Sendung noch 2 Eier übrig, von denen ich täglich eins roh esse. Die Nacht war nicht besonders gut, doch lag das wohl mehr an dem Gram um die Tagebücher und an der Besorgnis um Zenzl, die allmählich außer Rand und Band kommen wird, wenn sie nichts erfährt. Ich hoffe, daß die Herren im Justizministerium in Gottes Namen doch soviel Menschen sein werden, daß sie der Frau, die ihnen wahrhaftig nichts getan hat, in irgendeiner Form Aufklärung geben. – Nachdem nun ja durch die Konfiskation meines Materials zur Bedienung des Ausschusses der Zweck meiner Absonderung in umfänglichster Weise erreicht sein dürfte, nehme ich an, daß die Tortur, hier in Gesellschaft des Scheißkübels in einer leeren Bude hinter siebenfachem Verschluß zu hocken, die längste Zeit gedauert haben wird. Die Woche wird wohl des Rechtbehaltens wegen noch herumgehn, aber ich kann mir nicht denken, daß die Schriftstücke, die ich losließ, gänzlich ohne Wirkung bleiben sollten. Mir gegenüber wird man den Vorstand natürlich decken. Ihm selbst wird man aber wohl bedeuten, daß er die Beschlagnahme der Tagebücher und übrigen Aufzeichnungen unter etwas plausibleren Vorwänden hätte durchführen sollen. – Was mag in der Welt vorgehn? Allmählich plagt mich doch wieder die Neugier, pflegt doch der März mit allerlei Möglichkeiten trächtig zu gehen und Zündstoff gibts ja genug in der Welt, unter anderm auch in Bayern.
¾ 3 Uhr. Eben ist nun das Unwetter niedergegangen. „Zum Herrn Oberregierungsrat.“ Also mir wurde eröffnet: Die ohnehin nur für kurze Zeit gedachte Absonderung mit Brief- und Zeitungsverbot wird aufgehoben. Zweitens: Es wird neuerlich verhängt: Absonderung mit Brief-, Zeitungs-, Paket- und Besuchsverbot und Rauchverbot, alles bis auf weiteres. Gründe: Die bei mir vorgefundenen bis zum 1. März geführten Tagebücher enthalten Beschimpfungen gröblichster Art gegen die mit meiner Bewachung betrauten Beamten vom Minister abwärts bis zum Aufsichtspersonal. Außerdem habe ich mich als Festungsgefangener vergangen dadurch, daß ich Ansichten staatsgefährlicher Natur geäußert und mich in Drohungen, insbesondere gegen die mit meiner Bewachung betrauten Organe ergangen habe für den Fall, daß meine Pläne einmal wieder gelingen sollten. – „Der Herr Mühsam ist abzuführen.“ Ich habe stillschweigend zugehört und keinen Mucks von mir gegeben, um keinen Grund zu schaffen, mich wegen andrer Dinge zu maßregeln als wegen zeugenlos schriftlich geführter Selbstgespräche. Jetzt hat man mir meine sämtlichen Rauchwaren weggeholt. – Ich werde nun wohl oder übel die Tagebuchnotizen auf rein Tatsächliches beschränken und mich kritischer Randglossen enthalten. Davon, daß Zenzl über den Nichtempfang von Nachrichten beruhigt werden soll, kein Wort. – Grade hatte ich angefangen, das sechste Kapitel nun ohne die Aufzeichnungen dazu aus den Tiefen meines Gemüts weiterzuschreiben. Ob ich das ohne Tabak werde durchführen können, ist zweifelhaft. Für heute muß ich’s wohl mal mit dem ersten Satz bewenden lassen, der grade aufs Papier geflossen war: 12 ganze Worte.
Einzelhaft, Donnerstag, d. 8. März 1923.
Ich habe dem Eingabe- und Beschwerde-Ausschuß des Landtags wieder mit der Bitte um Weitergabe an den besonderen Ausschuß zur Untersuchung der tatsächlichen Verhältnisse in der Festungshaftanstalt Niederschönenfeld eine neue Eingabe geschickt „Betr. Information“ mit der Mitteilung dessen, was jetzt über mich hereingebrochen ist, einer prinzipiellen Verteidigung des nicht verbotenen Tagebuchführens, das ohne Zeugen bleibt, es sei denn, der Zugang werde erzwungen. Darin steht auch, wieso die Hefte grade auf meinem Arbeitstisch lagen und daß mit ihnen auch die schon ausgezogenen Notizen über den Strafvollzug für den Ausschuß beschlagnahmt sind, sodaß ich gehindert sei, dem Ausschuß die beabsichtigten Aufschlüsse mit detaillierten Daten zu geben. Ferner der Hinweis auf die zu erwartenden Folgen des Rauchverbots für Nerven und Verdauung und wieder die Erinnerung an die Sorgen Zenzls, die zu beruhigen mir verwehrt sei. – Das habe ich heute eingeschrieben aufgegeben. Porto: 180 Mark. – Sonderbarerweise habe ich heute auch keinen Brief erhalten, obwohl ich den ersten Angstbrief von Zenzl allmählich erwarte. Sollte mit Brief- und Paketverbot diesmal etwa auch die Auslieferungssperre gemeint sein? – Und wenn ein Paket mit verderblicher Ware ankommt? Vorläufig kann ich mir das doch noch nicht denken. Dagegen eine neue Überraschung. Vormittags brachte mir der Aufseher Sauer meinen Karton mit noch nicht beantworteter Correspondenz samt einem Buch Landtags-Abrechnungen, die ich von Adolf Schm. als Lokuspapier erbte und mir dazu bestellte. Zugleich erklärte Herr Sauer, die verlangten Aufzeichnungen über Tapeziererei fände er nicht, sie lägen nicht auf dem Schreibtisch. Ich konnte dann herausfragen, daß er die am Sonntag verlangten Sachen, die Herr Rainer versprach herunterzuholen, in diesem Augenblick erst oben gesucht hatte, daß also Herr Rainer alles was ich erbeten hatte, unangetastet ließ, dafür aber die nicht erbetenen Tagebuchhefte nahm und nicht mir sondern zur Zensur brachte. Nun sitze ich aber noch genau so armselig da wie vorher: das Reinschriftpapier und die Tapeziernotizen fehlen. Ich bat, der Aufseher möge noch einmal unter Begleitung des Herrn Luttner nachsehn, erhielt aber den Bescheid, daß Herr Luttner nichts in meiner Zelle zu suchen habe, woraus erhellt, daß auch damals – Samstag – Herr Rainer allein am Werk war. Hätte ich gleich Freitag alles rechtschaffen notiert, was ich brauchte – aber der Aufseher wartete während ich notierte in der offenen Tür und da vergaß ich in meiner Nervosität die Hälfte, dann wäre mir vermutlich sowohl der Verlust der Tagebücher als auch die übeln Folgen, die dieser Verlust nebenher auf meine Gesundheit ausübt, vermieden. Denn die am Freitag verlangten Sachen erhielt ich prompt und ohne Umweg über die Zensur, was mir Herr Fetsch, als ich das übrige reklamierte, ausdrücklich und mit dem Bemerken bestätigte, daß er selbst alles genau so geholt habe, wie ich es verlangte. – Die Tabakentbehrung ist recht ekelhaft. Des Herzens wegen ist die Einschränkung des Rauchens für mich gut, doch war ich im Begriff, den Verbrauch allmählich zu verringern. Die Plötzlichkeit der gänzlichen Entziehung wirkt vor allem auf die Verdauung übel und quält die Nerven abscheulich. Ich fresse heute Kaffeebohnen, daß es eine Art hat. Sie müssen mir nun auch noch den Rauchhunger überwinden helfen. Ich hoffe nur, daß ich die durch diese Pein verursachte Arbeitsunfähigkeit bald überwinde. Für die rechtzeitige Absendung des 5. Kapitels an die „Rote Bayern Fahne“, wirds wohl zu spät werden. Die Abschrift konnte nicht gemacht werden wegen des Papiers, das die ganze Woche nicht herunterkam, und dann – ob man das Schreibverbot aufheben wird, ehe die Zeitung ihre verfügbaren 4 Kapitel ausgedruckt hat? – Zenzl hat den Geldverlust davon. – Seit 3 Wochen warte ich darauf zum Anstalts-Schuhwerkmeister gerufen zu werden, da meine Stiefel Flicken brauchen. Ich habe längst die Genehmigung (sofern ich bereit sei, den tagesüblichen Preis zu zahlen) und besprach die Sache auch schon lange mit dem Werkmeister, der mir 3 – 4000 Mark Kosten in Aussicht stellte und mir empfahl, erst in Rain anfragen zu lassen, ob ich es dort nicht billiger kriegen würde. Das war aber nicht der Fall, und so bat ich die Schuhe abgeben zu dürfen. Seit 3 Wochen wiederhole ich die Bitte fast täglich. Jedesmal wird mir dann zugesichert, daß die Sache sofort erledigt werden soll. Da danach noch immer nichts erfolgt ist, notiere ich jetzt den Fall hier, – ohne jede Kritik, versteht sich. Wie viel Tausende werden wohl die Flicken kosten, bis meine Schuhe wirklich in Arbeit genommen werden?
Einzelhaft, Freitag, d. 9. März 1923.
Heute vor 5 Jahren starb Frank Wedekind. Ich hatte die Absicht, Tilly ein paar Worte zu dem Tage zu schreiben. Force majeure. – Nun bin ich eine volle Woche unten, aber es scheint, als ob das noch nicht die letzte Woche war, zumal ja die Absonderung erst von vorgestern ab zählt. – Heute früh kam Herr Fetsch mit einer Eröffnung: „Zwei in der Festungsstube des F. G. Mühsam gefundene Zettel wurden, weil offensichtlich propagandistischen Zwecken dienend, zu den Akten genommen.“ Meine Frage, was für Zettel das seien, konnte Herr F. nicht beantworten. Ich vermute, es handelt sich um die Registrierung der in den 3 Monaten im vorigen Sommer beschlagnahmten Zeitungen, wodurch mir wieder ein wichtiges Nachweismaterial für den Ausschuß abgenommen wäre. Es kann sich aber auch um den Speisezettel handeln, den ich seit dem 1. Januar täglich aufschreibe, – nicht um gegen das Essen hier zu agitieren, sondern einesteils der allgemeinen Reminiszenz wegen, dann auch um für den Fall späterer erheblicher Kostkürzung bei den zuständigen Stellen etwas vorzulegen zu haben. Da das Essen bis zum letzten Herbst schon erheblich besser und reichlicher war, lag dieser Gedanke nahe. – Geschlafen habe ich heute einigermaßen. Aber die Entbehrung des Tabaks verursacht eine üble Leere im Schädel, und das Herz kommt mir durchaus nicht einwandfrei vor. Hätte ich nur erst von Zenzl Bescheid und wüßte, ob ihr Mitteilung gemacht ist! Das ist das Schlimmste von allem. – Heut, als dem 8ten Tag, habe ich mir nun noch mal Papier für die Reinschrift, ferner Zenzls Photographie und meine Kiste mit Briefmarken etc. ausgebeten, da mir neulich erklärt wurde, daß nur alle Woche einmal hinaufgeschickt werden darf, um etwas herunterkommen zu lassen. Gott gebe, daß nun alles, was denn schon beschlagnahmt werden soll, herausgesucht ist – es scheint ja oben mehrfach durchsucht worden zu sein, – daß die 2 Zettel nicht wieder Repressalien nach sich ziehn werden und daß die Herren vom Untersuchungsausschuß bald hier sind. Die werden mich jawohl aus dieser Pein befreien.
1 Uhr. Ich komme eben vom Hof herein und kaue mit vollen Backen Kaffeebohnen, um die schwere Erschöpfung und den starken Drang nach einer Zigarre zu überwinden. Während ich bei Tisch saß, überbrachte mir Herr Rainer die heut früh bestellten Dinge, sodaß ich die Reinschrift des 5. Kapitels nun Gott sei Dank in Arbeit nehmen kann. Die Tapezierlehre scheint verloren zu sein, das Produkt vieler Stunden Unterweisungen durch den Ferdl. Ich werde nun also das 6te Kapitel versuchen müssen, ohne die nötigen Unterlagen, was eine Änderung des Anlageplans bewirken wird. – Zugleich mit den Sachen kam ein Brief von Zenzl, vorgestern geschrieben. Es spricht nur eine leichte Verwunderung heraus, daß ich das Paket noch nicht bestätigt hatte, das ich doch Montag hätte haben müssen: tatsächlich hatte ich’s schon Sonnabend. – Ich will vom Inhalt nicht mehr erwähnen, weil ich sonst kaum an Randbemerkungen vorbeikäme, deren Folgen nicht abzuschätzen wären. Nur eine Tatsache: „Eisenberger ist wieder so weit,“ wie ich wohl aus der Zeitung wüßte. Das kann doch nur heißen: verhaftet! Ich will auch hieran keine langen Betrachtungen knüpfen und alle Vermutungen unterdrücken. Nur einen Wunsch will ich äußern: wenn er denn schon wieder verurteilt werden soll, mag’s diesmal Festung werden. Was ich bisher von dem Mann weiß, läßt mich annehmen, daß wir Freunde werden könnten.
¼ nach 5 Uhr. Herr Fetsch brachte mir diesen Augenblick eine neue Eröffnung und zwar eine beruhigendere, nämlich, daß meine Frau von dem über mich verhängten Schreibverbot verständigt worden ist. So wird die Angst doch behoben sein und eine Mordswut an ihre Stelle treten, ein bedeutend gesünderer Affekt.
Einzelhaft, Sonnabend, d. 10. März 1923.
Ich zittere mit dem Kopf wie ein Kriegsverschütteter, die Hände sind in einem ständigen Beben und das Herz geht in Stößen. Das liegt daran, daß ich vor einer halben Stunde, gegen ½ 3 Uhr, aus dem heißen Bad stieg, und das hätte ich offenbar nicht nehmen dürfen. Der Zustand ist mir in diesem Augenblick besonders unerwünscht, weil ich eben zum Vorstand – diesmal ins „Besuchszimmer“, das Zellchen neben dem Bad, wo ich Zenzl gewöhnlich wiedersehen muß – gerufen wurde, und das Bestreben, mit dem verfluchten Gewackel fertig zu werden, es während des Gesprächs erst recht steigerte und mich kaum sprechen ließ. Als ich vom Bad zurückkam, wollte ich mich gleich ins Bett legen, doch brachte mir Herr Fetsch die Meldung, ich möge mich gleich anziehn, da ich gerufen würde (ich hatte den Herrn Oberregierungsrat schon auf dem Gange gesehn). Ich habe nun über 20 Minuten mit mir gekämpft, um die Nervenstörung zu überwinden, ohne daß es gelang. Im Gegenteil: Die Ungewißheit, was denn schon wieder vorliegen könne, und was wohl wieder an neuen zu den andern Qualen ausgesonnen sei, steigerte den übeln Zustand noch, und erst jetzt beim Schreiben wirds mittlerweile etwas besser, wenn auch noch gar keine Sicherheit in der Handführung ist. Also es handelte sich um folgendes: Der Vorstand wisse aus meinen Eingaben, daß ich mich für krank halte und schlechte Folgen für mein Herz befürchte. Nun befänden sich zufällig im Augenblick 2 Ärzte im Hause, der Landgerichtsarzt von Neuburg und der Anstaltsarzt. Es werde mir freigestellt, mich von beiden Ärzten zugleich untersuchen zu lassen. Dummerweise setzte in diesem Augenblick eine Art Herzkrampf ein, der mir das Reden fast vollständig verschlug, sodaß der Oberregierungsrat dauernd meinte, ich sei aufgeregt wegen der Sache und mir einzuhelfen suchte. Er wisse, daß ich im Ärztestreik sei (Boykott wäre wohl richtiger), doch könne er mir sagen, daß die Herren Klingelhöfer und Mairgünther, und zwar der erste als Freund, der zweite als Patient, und auch Herr Blößl sich vom Arzt haben untersuchen lassen. Ich bemühte mich, verständlich zu machen, daß mich das Beispiel andrer nichts angehe, es handle sich für mich um die seelische Unmöglichkeit, Herrn Dr. Steindl an mich heranzulassen. Doch sei ich durchaus bereit, mich einer Untersuchung durch den Landgerichtsarzt jederzeit zu unterwerfen, auch wenn Dr Steindl dabeistehe. – Die Antwort war, auf Bedingungen könne man sich nicht einlassen, und ich schloß dann mit dem Bescheid: „So ungern ich in die Einzelhaft zurückgehe, ich kann nicht anders.“ – „Also abgelehnt.“ – „Ja, ich danke.“ – Ich konnte wirklich nicht anders. Im Augenblick ist mir aufgegangen, daß nicht das Prinzip entschied – das Prinzip des dauernden Boykotts gegen den Dr Steindl ist garnicht vereinbart worden, und ich habe z. B. Amereller selbst empfohlen, den Arzt aufzusuchen, und Daudistel aus unsrer Eingabe bewiesen, daß wir darin nicht von einem passiven Widerstand reden, sodaß es jedem freistehe, ihn zu konsultieren oder nicht. Aber mir persönlich ist es unmöglich, dem Mann meinen Körper anzuvertrauen, bei dem jede Berührung mich an Hagemeisters letzte Qualen erinnern müßte. Vielleicht könnte ich bei Kleinigkeiten, die wie Zahnschmerzen sofortige Hilfe gegen einen ganz unerträglichen Zustand möglich machen, den Widerstand überwinden. Hier, wo die Frage gestellt ist: einen vielleicht gefährlichen, aber nicht unmittelbar unmöglichen Zustand noch ein paar Tage oder Wochen aushalten müssen oder einer Versuchung die Seele opfern, – da gibt es keine Wahl. Schließlich müßten ja die Leute, die mir diese Leiden bereiten, selbst lachen und mich verachten, wollte ich, der ich eben erklärt habe, Passivität sei das einzige Widerstandsmittel des Wehrlosen gegen die Zumutung von seelisch Unmöglichem, nun wo mir die Zumutung etwas verzuckert serviert wird, zeigen, daß es auch anders geht. Nein, was man bei allen Patrioten als die Pflicht gegen die Franzosen für selbstverständlich hält, das muß auch gehn, wenn es gegen sie selbst angewandt wird. Respektlos sollen mich meine Feinde einmal nicht anschauen dürfen. Lieber wirklich hier unten die Viere von sich strecken. – Ich will nun sehn, ob ich mich jetzt hier schon wieder soweit in Schwung geschrieben habe, daß ich die Reinschrift weitermachen kann. Sollte plötzlich in diesen Tagen wenigstens das Schreibverbot aufgehoben werden, will ich das fünfte Kapitel fertig abschließen und das Blatt hat für 14 Tage weiter Material, sodaß ich vielleicht auch noch das sechste rechtzeitig fertig brächte. – Aber es scheint kaum, daß ich das Honorar dafür für Zenzl werde retten können. Bis spätestens Mittwoch müßte das Zeug schon in München sein, und nun, wo ich es leisten könnte trotz allen Hindernissen, ist die Barriere geschlossen.
Einzelhaft, Niederschönenfeld, Dienstag, d. 13. März 1923.
Heut am Jahrestage des Kappputsches will ich das Heft wieder mal vornehmen. Dazumal saß ich in Ansbach im Gefängnis und freute mich, als ich keine Zeitung bekam, da ich daraus schließen konnte, es werde gestreikt. Das habe ich damals nicht vorausgesehn, daß ich 3 Jahre später immer noch eingesperrt sein würde und, wenn auch unter dem Namen Festung, unter bedeutend ekelhafteren Umständen als in jenen Gefängnistagen. Dem Kapp-, in Bayern dem Möhlputsch dankt ja die bayerische Reaktion ihre ungeheure Entwicklung zur Beherrscherin des ganzen Reichs und zur hemmungslosen Durchsetzung ihrer Restaurationsbestrebungen. Allerdings hatten die sozialdemokratischen Vorgänger ihn gut vorbereitet; vor allem der Herr Endres, und nachdem Herr Hoffmann den Offizieren den Platz für Kahr freigegeben, und Herr Auer Herrn v. Kahr gratuliert hatte, weil alles so gut gegangen war, bedurfte es ja wirklich nur noch der Sorte von „Opposition“, die die bayerische Sozialdemokratie treibt, um das Proletariat gänzlich lahmzulegen. Aber – passons. Ich will nicht wieder agitatorisch werden und meine Seele, wenn ich’s mal wieder vornehme, vergiften. – Jetzt bin ich 10 Tage ohne Zeitungen, weiß weder wie der Dollar steht, noch was sonst in der Welt vorgeht. Ob die Nationalisten den ganzen März hindurch stille bleiben werden? Na, in Gottes Namen werde ich’s ja auch noch erfahren, was inzwischen geschieht. Von Zenzl ist jetzt der Bescheid da, daß sie den Grund meiner Schweigsamkeit kennt. Der Redaktion der Roten Bayern Fahne soll ich Manuskript liefern und hab’s fertig daliegen. Man „streckt“ dort das Material auf Teufel komm raus. Aber ich glaube kaum, daß man das Briefverbot aufhebt, solange es für Zenzl noch geschäftlich vorteilhaft sein kann. Mit dem 6. Kapitel geht es infolge des Rauchverbots sehr langsam vorwärts. Außerdem fehlt mir das Tapezierkursmaterial und ich muß fortwährend am ursprünglichen Plan ändern, um mir keine Blößen zu geben, daß ich mich in dem Beruf nicht auskenne. Mit der Gesundheit gehts garnicht ordentlich. Die Nächte sind schlecht, die sonst so regelmäßige Verdauung ist gestört, in der Herzgegend fühle ich alle Augenblicke Stiche oder Druck. Diese Wochen reißen wieder elend an meiner Lebenskraft. – Heut wär ich gern oben. Der Ernst Ringelmann hat Geburtstag. Es wird ihm leid sein, daß ich nicht da bin mit dem üblichen Gedicht und er mich nicht mit dem Schnaps traktieren kann, den er seit langen Wochen für den Tag aufgehoben hat. Und mir tut’s auch leid.
Einzelhaft, Mittwoch, d. 14. März 1923.
Morgens kurz nach 9. Ich bin grade aufgestanden und mit den täglichen Früharbeiten fertig, bin aber noch ganz zitterig. Denn mein Herz ist jetzt so weit, daß Dinge, die mir sonst allenfalls einen kleinen Ärger verursachen, mich jetzt in die ungeheuerste Aufregung versetzen. Herr Fetsch war eben hier und verlas mir eine neue Eröffnung, dieses Inhalts: In meiner Festungsstube sei der Betrag von 2800 Mark vorgefunden worden. Unter Verschweigung der Tatsache, daß ich noch diesen Barbestand besäße, habe ich mir gleichwohl auch diese Woche 1200 Mark Taschengeld auszahlen lassen. Laut Ministerialentschließung vom 23. Februar 1923 dürfen wöchentlich bis zu 1200 Mark Taschengeld ausgezahlt werden. Das Vorhandensein einer größeren Geldsumme im Besitz eines Festungsgefangenen gefährdet die Sicherheit der Anstalt. Die 2800 Mark werden infolgedessen eingezogen und auf mein Konto gutgeschrieben. – Damit entfällt also für uns die Möglichkeit, Geld ein paar Wochen zu sparen, um uns irgend etwas besonderes, etwa zum Kochen, leisten zu können. Der Ausdruck „unter Verschweigung“, daß ich noch Bargeld vorrätig habe, scheint für die Zukunft die Verpflichtung zu postulieren, der Kassenverwaltung auch noch über die Barausgaben Rechenschaft zu geben, ehe man das Wochengeld erheben kann. Diese neue Maßnahme bedeutet die schwerste Verschärfung, die wir überhaupt hier im Hinblick auf unsre Geldkontrolle erlebt haben. Ich warte ab, ob etwa noch eine mündliche Belehrung nachkommt und überlege, in welcher Form ich mich gegen diesen Eingriff wehren soll. Jedenfalls sehe ich, daß die Durchsuchung meiner Sachen oben gründlich vor sich geht und kann also wohl nicht sehr bald mit einer Befreiung aus meiner derzeitigen Lage rechnen. Hoffentlich hält das Herz noch solange stand, wie diese Tortur dauern soll. – Was mag mit dem Untersuchungsausschuß sein? Ich habe stark den Verdacht, daß er überhaupt nicht herkommen wird, besteht er doch in seiner überwiegenden Majorität aus Mitgliedern, die grundsätzlich gegen die Untersuchung sind, die sie durchzuführen haben, und die paar übrigen Herren haben noch keine Gelegenheit verabsäumt, zu erklären, daß keine Liebe für uns sie zu irgendwelchem Eifer anspornt. Selbst bei der Besprechung der Interpellation über Hagemeisters Tod erklärte zum Schluß Herr Endres mit Emphase, seine Fraktion habe für die Besprechung nur gestimmt, weil es parlamentarischer Usus sei, einer andern Fraktion solches Anliegen nicht zu verweigern und hinzugefügt, er stelle das fest, damit keine falschen Meinungen aufkämen. Das bedeutete doch nichts andres als die Zusicherung an die Deutschnationalen und Klerikalen, daß es der Sozialdemokratie Bayerns weltenfern liege, auf gesetzliche oder gar menschliche Behandlung politischer Gefangener linker Observanz zu drängen, und daß man sich selbstverständlich in aller Politik nicht den Kommunisten, sondern allen übrigen Parteien wesensverwandt fühle. – Ich hätte starken Appetit auf eine Zigarre. Helf er sich!
½ 2 Uhr. Um 12 Uhr ließ mich der Vorstand holen. Ich, der ich doch sonst so genaue Kenntnis der Bestimmungen verriete, hätte mich wieder gröblich gegen eine dieser Bestimmungen vergangen. Es handelte sich also um die Geldabhebungen vom Konto, und das eigentliche Vergehen von meiner Seite lag darin, daß ich damals für die Absendung meiner Eingaben ersucht hatte, mir die Portokosten vom Taschengeld, das am nächsten Tage auszahlbar war, abzuziehn. Hierin liege eine Täuschung, denn ich hätte verschwiegen, daß ich noch 2800 Mark in bar oben hätte. Ich erklärte, daß das Wochengeld stets in ganzer Höhe verlangt und ausgezahlt sei, ohne Rücksicht darauf, ob und wieviel davon ausgegeben ist. Ich hätte allerdings Geld ansammeln wollen, um bei meinem bevorstehenden Geburtstag ein paar Freunden etwas bieten zu können. Ich erhielt die Belehrung, daß die Höhe des Taschengeldes limitiert sei, damit Fondsbildungen verhindert werden, zumal schon Bestechungen vorgekommen seien. Ferner las mir der Vorstand eine Ministerialentschließung vom Jahre 1919 vor, wonach nicht mehr als höchstens 2 Mark jeweils im Besitz eines Festungsgefangenen sein dürfe[n]. Meine Versicherung, daß das niemals durchgeführt sei, wurde nicht geglaubt. Daß mir eine Täuschung ferngelegen habe, glaubte er mir schließlich, aber objektiv habe sie vorgelegen. Ich stellte dann einfach die Frage, wie denn die Bestimmungen jetzt gehandhabt werden sollen, und erhielt den Bescheid, grundsätzlich solle wöchentlich das Taschengeld nur auf 1200 Mark ergänzt werden, doch käme es nicht darauf an, wenn ein paar hundert Mark darüber da seien. Darauf erklärte ich, daß ich auch im Augenblick Geld über diese Summe bei mir habe, da ich mir am Dienstag dieser und der vorigen Woche das Taschengeld habe auszahlen lassen und fragte, was ich damit zu tun hätte, ob ich’s vielleicht auch wieder abgeben solle. Das wurde nicht verlangt, aber ich dürfe mir vorerst nicht mehr auszahlen lassen. Meine wahrheitsgemäße Versicherung, daß noch nie anders verfahren wäre, als die ganze gestattete Summe jede Woche abzuheben, wurde mit der Frage beantwortet, ob ich etwa behaupten wolle, daß alle Festungsgefangenen derartige Summen liegen hätten. Ich zog natürlich diese Folgerung nicht und tat gut daran, denn Herr Hoffmann meinte, wenn ich das aufstellte, würde er bei allen F. G. durchsuchen und die Gelder fortnehmen lassen. Denn es sei nicht dasselbe, ob oben 25 x 3000 oder 25 x 1200 Mark angesammelt seien. – Einer weiteren Verschärfung meiner Lage, die anscheinend zuerst geplant war, entging ich diesmal gottseidank. Dagegen scheint aber noch nicht die geringste Neigung zu bestehn, eine der Quälereien abzustellen, obwohl man mir sicherlich ansieht, daß ich mein schlechtes Allgemeinbefinden nicht simuliere. – Die Genossen oben werden recht erbaut sein, wenn ich mit der Neuigkeit zu ihnen zurückkehre, die mir jetzt über die Geldverfügung zuteil geworden ist. – Ich hoffe nur, daß nun endlich für mich die Überraschungen hier unten überstanden sind. Heut hat’s mir wieder die Arbeitslust völlig kaput gemacht. Ich bin ganz zerschlagen.
Einzelhaft, Donnerstag, d. 15. März 1923.
Die Iden des März sind zwar noch nicht vorüber, aber ich hoffe doch, daß sie mir keine Bitternisse mehr bringen werden. Außer der Beschlagnahme von zwei Zeitungen (durch diese Mitteilungen bleibe ich immerhin noch im Bewußtsein, daß für mich noch Zeitungen eintreffen) kam heute mittag dies: Ich wurde zu Herrn Fetsch gerufen, der mir die Entscheidung des Herrn Oberstaatsanwalts Kraus an die Festungsverwaltung wegen meiner Beschwerde zur Kenntnis brachte. Ihm als zuständige Stelle für diese Beschwerde sei mein Schreiben vom Justizministerium zur Erledigung zugestellt worden. Die Beschwerde wird zurückgewiesen. Die Maßregelung vom 2. März ist zu Recht erfolgt und mit zutreffenden Gründen verhängt worden. Das mußte ich auf der Rückseite unterschreiben. – Ich habe mir auch nicht eingebildet, daß eine Beschwerde aus Niederschönenfeld plötzlich Erfolg haben werde, wenn ich auch nicht geglaubt hatte, daß man trotz meines Ersuchens, die Beschwerde vom Ministerium direkt zu erledigen, da ich die Verschlimmerung meines Herzleidens auf die Disziplinierungsmethoden zurückführe, mit denen mich Herr Kraus im Jahre 1921 6 Nächte hintereinander bei gleichzeitigem Hofentzug auf hartem Lager schlafen ließ, – die Sache trotzdem eben diesem Herrn Kraus überantwortet werde. – Mein Zustand ist heute etwas besser. Wenn’s nicht mehr zu lange dauert, meine ich, daß ich’s doch wieder werde zwingen können. – Zenzl weiß nur vom Briefverbot, was auch gut ist. Sie würde sich schrecklich aufregen, wüßte sie, daß ich in Einzelhaft bin und Kaffee und Tabak entbehren muß, und daß mir überdies das Herz akut zu schaffen macht und ich keinen Arzt konsultiere. Die arme Frau braucht nicht zu früh zu erfahren, wie nahe ihr das Schicksal von Fanny Hagemeister droht. Geht der Kelch diesmal noch vorbei, genügt’s ja, wenn sie es nachträglich erfährt.
Einzelhaft, Sonnabend, d. 17. März 1923.
Ehe ich an die Fortsetzung der Roman-Arbeit gehe – die Schreiberei geht mir, da ich vorn und hinten die Berufsanweisungen vermisse, furchtbar schwer von der Hand – ein paar Worte, obwohl nichts Neues zu vermerken ist, als daß auch heute wieder zwei Zurückhaltungen von Zeitungen mitgeteilt wurden, eine Nummer der Berliner Volkszeitung, und eine des – Miesbacher Anzeigers, woraus ich schließe, daß Herr Eck mir sein Blatt nun doch wieder zustellt, was in der Tat eine große Noblesse ist. Ärgerlich ist, daß mir meine Leute, der Fritz Weigel und der Siegfried nun noch nachträglich für diesen Monat die Münchner Neuesten Nachrichten abonniert haben, die mindestens 4000 Mark kosten. Sie können ja nicht wissen, daß die Ausgabe für die Katz ist, und schreiben darf ich es ihnen nicht. 15 Tage hocke ich jetzt hier unten, seit 10 Tagen ohne zu rauchen. Gestern waren es zwei Monate her, daß August Hagemeister sein Pensum überstanden hatte. Die Zelle, in der ich bin, ist seiner Sterbezelle unmittelbar benachbart, falls es nicht die gleiche ist (Nr 106), so bin ich mit meinen Gedanken viel, sehr viel bei ihm, was ja auch schon dadurch natürlich ist, daß mein gegenwärtiges Erlebnis in direkter und indirekter Folge aus seinem Tode resultiert. – Ich hoffe, daß es nicht mehr allzulange dauern wird. Die Entbehrung des Kaffees spüre ich nicht mehr so heftig wie zu Anfang. Dagegen ist der ewige Tabakhunger sehr quälend und verursacht dauernde Verdauungsstörungen. Der Nachtschlaf ist stark gestört, und es vergeht kaum eine Nacht, in der ich nicht aufstehen muß, um – gewöhnlich gegen 1 Uhr früh – die allabendliche kalte Abwaschung des ganzen Körpers zu wiederholen, um den Schweiß loszukriegen, der zweifellos durch das schlechte Funktionieren des Herzens verursacht ist. In 14 Tagen ist Ostern. Bis dahin denke ich doch gewiß, wieder oben zu sein, – es sei denn, ich hätte nichtsahnend noch irgendwelche Sündhaftigkeiten begangen.
Einzelhaft, Sonntag, d. 18. März 1923.
75Jahr-Feier der Bürgerrevolution von 1848. Vermutlich ist Deutschland sehr gehoben von der Rückerinnerung, und die sozialdemokratischen Erben – nicht der Revolutionstradition von damals, aber der Bürgerängste von nachher lassen sich von den schwarzrotgoldnen Wimpeln umwedeln – dem Symbol ihrer reduzierten Sehnsüchte. – Ich lese eben in Mehrings Geschichte der Deutschen Sozialdemokratie jene Epoche nach. Die Ähnlichkeiten zwischen dem was auf 48 und dem was auf 18/19 folgte, sind verblüffend, nur daß die preußische Reaktion von damals sich in Bayern auswirkt, das vor ¾ 100 Jahren eine nicht grade rühmliche, aber doch an Preußen gemessen akzeptable Politik trieb. Heutzutage hat Bayern wenigstens das vor dem übrigen Reich voraus, daß es den komischen Tanz um den schwarzrotgoldnen Unitaritätsfetzen nicht mithüpft. Die Reaktion tut nicht so, als ob sie keine wäre, was sie, wenn nicht sympathischer so doch reinlicher macht als die Deutschland-Deutschland-über-alles-Sänger roter Couleur, die ja doch nichts andres sind als die Servierkellner der schwarzweißroten Restaurateure. Die Lektüre des Mehringschen Werks bewirkt in mir übrigens das Gegenteil von dem, wozu sie bestimmt ist. Mehring zieht aus allem politischen Geschehn die Nutzanwendung, daß alle Welt alle Vorgänge immer verkannte, während nur Marx und Engels immer und überall die richtigen Folgerungen zogen und die richtige Haltung einnahmen, indem sie alles auf seine ökonomischen Ursachen zurückführten und dann stets alles Woher und Wohin ermaßen. Ich finde nun grade, daß Marx und Engels zwar stets die ökonomische Lage richtig erkannten, häufig auch die politischen Wirkungen zutreffend abmaßen, aber kaum je der Revolution durch förderliche Anweisungen praktisch beisprangen. Diese ökonomische Weltbetrachtung führte schon sie, wie später alle ihre Nachfolger, zu einer ganz mechanistischen Beurteilung der Zeitgeschichte, und der anmaßende, von oben her absprechende, grobe, alles mit Fußtritten regulierende Ton, in dem sie jeden Begeisterten um seiner Begeisterung willen beschimpften, verhöhnten, mit Dreck vollschmierten, war nur ein äußeres Symptom ihres Wahns – des schlimmsten, dem ein aktiver Wille verfallen kann –, daß entschlossener Kampf zuerst von allen Ideologien zu befreien sei, damit man dann auf rechnerischem Wege seinen Sieg sicherstellen könne. Sie sprengten den Kommunistenbund, weil die Willich, Schapper und die große Zahl der wirklichen Arbeiter, die ihrem Instinkt und ihrem Kampfwillen vertrauten, nicht durch Taterfolge die Berechnungsergebnisse ihrer Wissenschafterei widerlegen sollten. Natürlich war nicht die Sabotage der Revolution dabei die Absicht, sondern die Sabotage der Probe auf ein andres als das Marx-Engelssche Exempel. Wenn dann durch das autoritäre Veto der beiden Ober- und ihrer Untergötter die Spaltung da war, die notwendige Einheit der Aktion zerrissen und infolgedessen der Mißerfolg des trotzdem unternommenen Werks eingetreten war, dann war wieder mal der nie trügende Weitblick der Dioskuren bewiesen. Man hätte Ursache, alle Unternehmungen solcher Art auf diese Zusammenhänge hin zu untersuchen. Das Bitterste bei derlei Reminiszenzen ist ja aber immer die Erkenntnis, daß die Sünden der Väter von den Enkeln der marxistischen Zeit- und Klüngelgenossen bis zum heutigen Tage verübt werden, – und es sind keine Marx oder Engels dabei, sondern nur Hanswurste, die in den 75 Jahren noch nichts zu dem hinzugelernt haben, was die Meister damals lehrten. Das ist ja natürlich, denn Persönlichkeiten von eigener Geltung können in dem geistigen Kasernenhof des Marxismus nicht zu ihrer Befriedigung kommen, – oder aber sie müßten, wie Lenin, zur Zeit der Tat ihren Lehrer verbiegen und verfälschen, um nach der Tat in dem Maße unangreifbare Autorität zu sein, daß dabei alles revolutionäre Vorwärtsdrängen als konterrevolutionär ans Schaffot geliefert werden kann. Die Münchner Räterevolution war ein schlagendes Beispiel dafür, wie eine praktische Bewegung von Theoretikern in der Entscheidungsstunde um einer literarischen These willen preisgegeben wird, dadurch zum Teufel geht und dann als Beweis herhalten muß, daß jene Theoretiker eben richtig erkannt haben, daß die ökonomische Situation noch nicht „reif“ war. – Nun ja, an diesem Gedenktage der Revolution, den das Land freudig feiert, während es seine eignen Revolutionäre im Kerker läßt, habe ich ja besondere Ursache, begeistert zu sein. Ich habe keine Ahnung, was im laufenden Monat schon alles in der Welt passiert ist, und kann immer nur aus gelegentlichen Briefstellen schließen, daß wenigstens in Bayern noch nichts Wesentliches geändert ist. Zenzl berichtet, daß Weigel in diesen Tagen verhaftet wurde, tags darauf aber wieder entlassen sei. Ich wüßte ja aus den Zeitungen, was man ihm zum Vorwurf machen wollte. Hingegen weiß ich nichts und denke mir, daß man wohl wieder mal ein kommunistisches Komplott aufdecken möchte, um möglicherweise Hitlerschen Absichten Schwierigkeiten aus dem Wege zu räumen. Aber das sind Spekulationen, und sie gründen sich nicht einmal auf die ökonomischen Gegebenheiten. Wenn’s wirklich auf die allein ankäme, dann sollte man meinen, wär’s nachgrade auch für Marxisten an der Zeit, sich die Trümmer des Volkswohlstands anzusehn, wie sie auf dem Scherbenhaufen des Kriegs durcheinanderliegen. – Soviel für diesmal. Der Rauchhunger verursacht mir viel Kopfweh, eigentlich mehr eine dauernde Leere im Schädel, – und dann stellen sich als üble Folge der schlechten Zellenbeleuchtung durch ein trübes, flackerndes, schwaches elektrisches Lämpchen ganz oben an der Zellendecke, Augenschmerzen ein. Im Gefängnis in Ansbach, wo derselbe Übelstand war, hatte ich essigsaure Tonerde zur Hand und wusch damit die Augen ein paarmal täglich, jetzt habe ich kein Augenwasser, und kann auch keins bekommen, ohne den Arzt darum zu bitten. Ich muß halt sehn, wie ich mit alledem fertig werde.
Einzelhaft, Dienstag, d. 20. März 1923.
Mein Zustand hat sich in diesen Tagen nicht weiter verschlechtert. Im Gegenteil läßt mir das Herz jetzt Ruhe, und die Pein der Tabakentbehrung läßt sich mit festem Willen schon überstehn. So bin ich froh, daß die Kommission nicht im Laufe der vergangenen Woche schon hier war. Ich wäre zeitweilig außerstande gewesen, die Gedanken beisammen zu halten und in geordneter Folge mit klarem Ausdruck zu reden. Jetzt dauert die Entziehungskur schon zu lange, als daß sie mich noch physisch in akutem Krankheitszustand hielte, und die Nerven zwinge ich! Von mir aus können die Herren jetzt also stündlich kommen, sie werden mich zwar ohne meine papiernen Waffen, wohl aber mit einigem Temperament gerüstet finden. – Hierüber jedoch kein Wort mehr, – denn das Tagebuchführen ist lebensgefährlich geworden. – Sonst verlaufen die Tage ohne Sensationen. Die Aufzeichnungen über die Tapeziererei habe ich im 6. Kapitel scheußlich vermißt, und ich fürchte, das Kapitel hat durch diese dauernde Behinderung Längen bekommen, die nicht erwünscht sind. Jetzt bin ich aber über das Dickste weg und schon bei der zweiten, dramatischeren Hälfte des Kapitels. Die Reinschrift werde ich hoffentlich schon oben machen können, dann hätte ich wenigstens die Möglichkeit, noch zu fragen, ob mich nicht bei den Professionsdetails mein Gedächtnis hier und da getrogen hat und Korrekturen anzubringen. – Die Zeitgeschichte scheint recht bewegt zu sein. Herr Fetsch, der mir heute die Zurückhaltung des „Freien Arbeiters“ und der „Erkenntnis und Befreiung“ mitteilte, hatte einen ganzen Stoß Zettel in der Hand, auf denen die übrigen verfallenen Zeitungen vermerkt standen. – Jetzt war eben der Schuhwerkführer bei mir. Ich habe tatsächlich wegen der Flickerei noch ein zweites Mal an die Verwaltung schreiben müssen. Nur die Flicken an den beiden Schuhspitzen kosten 3500 Mark. Mit der Erneuerung der Absätze, die durchaus nötig wäre, würde die Reparatur 8000 Mark kosten. Dann könnte ich im nächsten Monat keine Zeitung bestellen und überhaupt kein Taschengeld mehr abheben, mußte also die Flicken allein in Auftrag geben, und wenn die Absätze dann überhaupt nicht mehr zu halten sind, werden sie das Doppelte, Dreifache oder auch Zehnfache kosten.
Kurz nach 1 Uhr. Ich komme grade vom Hof wieder herein, wo das herrliche Wetter mich eine volle Stunde bleiben ließ – ich muß mich beim Hinausgelassenwerden entscheiden, wie lange ich draußen bleiben will, zwei Stunden habe ich zur Verfügung – und warte jetzt auf die Brühe, die unter dem Namen Kaffee gleich gebracht werden wird. – Aha, ich höre schon Schritte – nein: es ist nicht für mich. – Auf dem Wege zur Zelle mußte ich ins Rapportzimmer, wo mir Herr Leix weitere Konfiskationen mitteilte, nämlich den Wiener „Abend“, die „Münchner Neuesten Nachrichten“ und die „Berliner Volkszeitung“. Daß die Münchner Neuesten, ein ausgesprochenes bayerisches Regierungsblatt dabei ist, läßt auf bedeutendere Ereignisse draußen oder darauf schließen, daß man sich wieder mit Niederschönenfeld befaßt. Vermutlich ist ein neuer Konflikt da wegen der Untersuchungskommission, – und ehe sie nicht hier war, bezweifle ich auch, daß sie kommen wird. Ferner kam eine Postkarte aus Waidmannslust. Ich bekam nämlich vor einigen Wochen eine Kostenrechnung für Löschung der Grundbucheintragung des Bayer. Staats auf meinen Häuseranteil mit Mk 40.500. Darauf fragte ich an, wie dieses plötzliche Entgegenkommen zu erklären sei, nachdem doch der Prozeß zu meinen Ungunsten entschieden sei. Jetzt teilt mir der Onkel mit, meine Geschwister hätten dem bayer. Staat in andrer Weise Sicherheit geleistet, und zwar in meinem Interesse und weil Hypothekpfändungen für alle Hauserben sehr unangenehm seien. Über alles nähere, Gründe und Art der Sicherheiten, könne er mir, solange ich unter Zensur bin, keine Aufschlüsse geben. Mir ist es natürlich egal, wie die Sache geregelt ist, da ich von den Einkünften aus dem Erbteil, der mir immer so schadenfroh in die Zähne geworfen wird ohnehin nichts erwarte und Zenzls Leben lieber mal durch meine Arbeiten als durch Auspressung armer Mieter sichergestellt wissen möchte. Aber so groß ist das Vertrauen guter alter Bürger zur Verwaltung, daß man Aufschlüsse über Vermögensangelegenheiten – obwohl der Staat Sicherheiten hat – nicht in ihre Hände leiten will. Die Verlesung von Zitaten aus meinen Tagebüchern im Landtag, womit Toller kompromittiert werden sollte, hat so gewirkt! – Aber um Gotteswillen – sst! Na, Beschimpfungen oder Bedrohungen wird diese Anmerkung ja noch nicht enthalten haben. Beim Wiederhereinkommen vom Hof war merkwürdigerweise mein Namensschild, das von oben mit heruntergekommen war, von der Tür verschwunden. Ich mag noch nicht so optimistisch sein, das für ein Zeichen anzusehn, daß ich jetzt womöglich folgen werde und diese anmutige Märzepisode beendet sei. Aber vorläufig fehlt mir jede Erklärung für diese auffällige Maßnahme.
¾ 7. Eben kommt aus Berlin dieses Telegramm: „Zenzi gut angekommen. Adresse bei Leon Hirsch. Herzliche Grüße.“ – So ist die gute Frau also doch nach Berlin gefahren. Was sie dort bezweckt, weiß ich nicht genau, nur soviel steht fest, daß sie wieder etwas unternimmt, um uns die Freiheit zu verschaffen. Daß es doch gelänge! Sie verdiente es mehr noch als ich, daß ihre unverdrossene Treue belohnt würde. – Vorhin hatte ich den Besuch des Sekretärs Guttmann. Es ist eine Gerichtsrechnung von 402 Mark aus Ansbach gekommen, in Sachen „Beleidigung“. Wahrscheinlich ist das noch die Autofahrt, die man mir damals zu meinem Entsetzen mit 300 Mark berechnet hat. Jetzt sind die 402 Mark ein Drittel des wahrlich knapp bemessenen Taschengelds, das mir zusteht. Man kann 4 Briefe dafür frankieren. Da ich gegen 9000 Mark auf dem Konto habe, erklärte ich einfach: ich zahle die Summe. Die angenehmere Kehrseite der Geldentwertung: man bezahlt seine uralten Schulden, die früher unheimlich drückten, aus der Westentasche.
Einzelhaft, Mittwoch, d. 21. März 1923.
Frühjahrsanfang. Das fünfte Frühjahr hinter Schloß und Riegel beginnt – und unter welchen Umständen! Heute muß ich seit 14 Tagen das Rauchen entbehren, seit fast drei Wochen lese ich keine Zeitungen, kann ich mich weder mündlich noch schriftlich an einen nahen Menschen wenden, vermisse ich jede Spur von Geselligkeit – viel mehr als im Gefängnis, wo man die Zellennachbarn doch mal anreden konnte, bekomme ich meinen Kaffee des Mittags und meinen Tee am Abend nicht mehr, habe meine Sachen, die ich brauche nicht bei mir, und bin in eine kahle Zelle eingeschlossen, in die nur die typischen Kerkerlaute dringen, wie das Auf- und Abschließen der Tür, die plumpen Schritte, die auf dem Gang vorbeigehn und dazwischen ein übles Pfeifen, das den ganzen Tag in kürzeren oder längeren Abständen schrill durch die Zelle klingt, und dessen Erklärung ich noch nicht gefunden habe. Aus der Ferne klappern in ödem Takt die Webstühle. Wie lange diese Maßregelung noch fortgesetzt werden soll, ist nicht abzusehn, aber mir bleibt nichts übrig als in voller Geduld abzuwarten. Die Hauptsache ist, daß ich, wie ich glaube, die Krankheit überstanden habe. Eben kam ein Brief von Zenzl, – noch aus München mit der Ankündigung, daß sie reisen wolle. Sie will beim internationalen Anarchistenkongreß für mich sprechen, und ich zweifle nicht, daß sie in ihrer Liebe auch das recht machen wird. Auch will sie sich um den Mühsam-Abend kümmern, den Elsbeth Bruck am Ostersonntag arrangiert. – Zugleich mit dem Brief kam eine Drucksachensendung von den Berliner Anarchisten, eine Masse Bücher und Broschüren, worunter mich am meisten der 2. Band der Werke Bakunins und die Malatesta-Monographie von Nettlau erfreut. Mit Lektüre bin ich hier unten also ausgesorgt, auch wenn’s wirklich noch bis Ostern dauern sollte. Und nun will ich mir wieder mein unglückliches sechstes Kapitel vornehmen, dessen Länge allmählich unabsehbar wird. Aber eine Teilung würde den ganzen Plan umwerfen und innerlich nicht recht stimmen. Es mag also ein Bandwurm werden!
¼ nach 3 Uhr. Ich wurde eben zum Oberregierungsrat gerufen. Meine Meinung, daß er mir die Aufhebung der Disziplinierung oder eines Teils davon mitteilen werde, war unberechtigt. Ich bekam einen Bescheid des Justizministeriums vom 16. März verlesen, der etwa so lautete: Die Beschwerde der Festungsgefangenen Klingelhöfer, Mühsam, Toller und Luttner gegen die Zurückweisung der früheren Beschwerde betr. den Tod des Abg. Hagemeister wird zurückgewiesen. Sie ist formal und sachlich unberechtigt. Der Satz in der Eingabe, – folgt Zitat, wonach wir mit aller Deutlichkeit erklären müßten, daß H. in einer strafwürdigen und rechtswidrigen Weise vernachlässigt unter eines Rechtsstaats unwürdigen Verhältnissen hilflos habe verenden müssen, bedeutet eine Disziplinwidrigkeit. Von einer disziplinären Maßregelung ist indessen abzusehn, weil den vier Unterzeichnern die große Erregung, die durch den Tod des Abg. Hagemeister bei vielen Festungsgefangenen hervorgerufen wurde, zugute gehalten werden soll. Dies ist den vier Unterzeichnern zur Kenntnis zu bringen. – Ich habe mir die Ministerialentschließung schweigend angehört und wurde nach der Verlesung schweigend wieder entlassen.
Einzelhaft, Freitag, d. 23. März 1923.
Drei Wochen! Es wird allmählich recht fad, und mit der Gesundheit ist’s immer noch nicht wie es sein sollte. Die Herzattacken habe ich zwar für diesmal überstanden, aber jetzt stellen sich nachts Stiche auf der rechten Rückenseite ein. Zum Glück ist die Bude hier unten immer noch ausreichend geheizt, außerdem bin ich sehr warm angezogen (reiße mir aber an dem ungehobelten und mit scharfen Blechblättern am Rand beschlagenen Tisch – hier hat früher mal irgendein Festungsgenosse eine Art Werkstatt betrieben, vermute ich – die Kleidung entzwei). Sonst nichts Neues. Gestern kam überhaupt keine Post für mich, nur eine Mitteilung, daß die „Revolution“, das Organ der AAUE, zurückgehalten sei. Das Namensschild an der Zellentür ist nicht wieder zum Vorschein gekommen. Vielleicht wird der Untersuchungsausschuß doch noch erwartet und soll nicht gleich, wenn er unvorhergesehen kommt, über meinen Namen stolpern. Vielleicht hängt auch mit der Erwartung des Ausschusses zusammen, daß auf diesem Mittelgang eine Reihe von Zellentüren mit Schildern versehen sind, die die Aufschrift „Besuchsstube“ tragen. Bisher wurden die Besuche in den Halbzellen des Seitenganges empfangen. Aber wenn in der Methode der Beaufsichtigung keine Änderung eintritt, ist diese Reform ziemlich geringfügig.
½ 5 Uhr. Eben habe ich das sechste Kapitel in der Kladde abgeschlossen, – 55 Seiten. Morgen fange ich mit der Reinschrift an, und hoffe doch, das 7. Kapitel endlich oben in meiner Zelle schreiben zu können. Die wundervollen Frühlingstage jucken mich arg in dieser Elendsklause.
Einzelhaft, Sonntag, d. 25. März 1923.
Palmsonntag. So hat also auch die Karwoche noch unter so peinlichen Umständen begonnen. Vor 4 Jahren fiel der Palmsonntag auf den 13. April – und die Leidenszeit begann für mich, von der immer noch nicht abzusehn ist, wann und wie sie enden wird. Was mag in der Welt vorgehn? Ob Herr Cuno noch Reichskanzler ist? Ob der passive Widerstand im Ruhrgebiet noch fortgesetzt werden kann? Was für weitere Repressalien, Neubesetzungen, Schikanen, Daumenschrauben mögen die Franzosen inzwischen begonnen haben? Wie steht der Dollarkurs, d. h. ist es den Kapitalisten gelungen, eine Art von Scheinstabilität der deutschen Wirtschaft herzustellen? Wie haben sich speziell in Bayern die Verhältnisse gestaltet? Toujours la même chose? Und die Arbeiter??!! Was hat der März an politischen Extraepisoden gebracht? Wie stehn die Chancen der Hitlergarde? Wohin treibt die
allgemeine Weltsituation? Hockt[e] man immer noch in Lausanne oder ist der türkisch-griechisch-englisch-yugoslawische Krieg mit Gott weiß welcher Beteiligung schon im Gange? So viele Fragen kullern mir täglich im Kopf herum, und es ist ganz müssig, Antworten drauf zu suchen. Die eine große Hauptfrage hat keine Lösung bis jetzt. Das Proletariat hat noch nicht eingegriffen in die Dinge, – soviel steht fest. Und alles andre ist daneben gleichgültig. Was mich anlangt, so muß ich meine augenblickliche Lage mit soviel oder sowenig Humor ertragen wie ich eben aufbringe. Diese Nacht war wieder abscheulich; vermutlich hat das Bad gestern wieder übel gewirkt: aber ich kann doch nicht verdrecken! – Zenzl rennt in Berlin herum, um meine literarischen Geschäfte zu besorgen. Ich hätte ihr darüber wichtige Instruktionen zu geben gehabt und nun habe ich die Befürchtung, sie könnte Verträge abschließen, die unerwünschte Folgen haben werden. Vor 2 Jahren, als die Uraufführung des „Judas“ bevorstand, war ich in genau derselben Kalamität. Mir war der Mund gestopft in allem, was meine Arbeiten und meine Existenz betrifft. Gottseidank ist Zenzl so unbedingt zuverlässig und klug, daß ich mir sagen muß: was überhaupt zu retten ist ohne mein persönliches Zutun, wird gerettet. Meine Sorge betrifft nur den Roman. Schließt sie den Vertrag mit
einem Parteiverlag ab, dann halte ich die Arbeit für nahezu verloren. Denn
Marxisten bleiben immer Marxisten, und bin ich einmal nicht mehr politischer
Gefangener, sondern stehe auf der Tribüne und schlage auf die autoritäre Brut
aller, auch der Moskauer, Farben ein, und der hohe Bonzenrat winkt mit dem
Finger, – dann ist’s um mein Werk, oder wenigstens um seine Verbreitung und
Nutzbarmachung geschehn. Ich würde dem Verlag erst bestimmte Bindungen
abfordern, ehe ich unterzeichnete. Und das kann Zenzl nicht wissen. Hoffen wir
das Beste.
Einzelhaft, Montag, d. 26. März 1923.
Ich habe eine ganz schauderhafte Nacht hinter mir und fürchte ernstlich, daß das Herz doch wieder schuld ist. Dazu peinigt mich das rechte Ohr neuerdings sehr, und die Augen schmerzen infolge der trüben Abendbeleuchtung. Meine Tagebücher kosten viel. – Sonst heute noch nichts „erlebt“. Nach der schlaflosen Nacht habe ich zu nichts Lust, werde mich aber dann doch zur Reinschriftfortsetzung am 6. Kapitel aufraffen. Leider bewölkt sich der Himmel wieder. Mit den herrlichen Frühlingstagen seit einer Woche scheint’s die längste Zeit gedauert zu haben. – Am Samstag vergaß ich zu bemerken, daß die „Weltbühne“ beschlagnahmt wurde. Nun muß ich wieder Zeitungen bestellen zum April. Das Abonnementgeld für die Berliner Volkszeitung (4000 Mark) und für die von Siegfried abonnierten Münchner Neuesten Nachrichten zum März war glatt in den Mist geworfen. Na, ich hoffe doch, daß die Ostertage schon unter freundlicheren Verhältnissen begangen werden können. Könnte ich wenigstens mein Pfeifchen hier und da anzünden!
Einzelhaft, Mittwoch, d. 28. März 1923.
Ein Tag geht herum wie der andre. Dafür bieten die Nächte umso reichhaltigere Abwechslungen. Gelingt’s mir noch, 3 – 4 Stunden zu schlafen, bin ich schon froh. Aber gewöhnlich liege ich Stunden und Stunden wach, strample mir die Decken im Überzug auseinander – sonst vernäht der Ferdl mir immer das Bettzeug, damit sich’s nicht verrutschen kann – und dusle endlich um 5, ½ 6 ein, um um 6 Uhr durch das Diebeln und den übrigen Gefängnisspektakel beim Aufstehn der Strafgefangenen wieder aufgeweckt zu werden. Dann ist endlich die große Müdigkeit da, aber keine Möglichkeit mehr zum Schlafen. Heute sind’s nun wieder volle 3 Wochen seit die Strafe zählt. Vielleicht heute Nachmittag, daß das Ende der Quälerei da ist? Ich kann nichts tun als mich ins Unvermeidliche fügen. Aber ich hätte Zenzl noch soviel zu schreiben, solange sie noch in Berlin ist. Die Sache ist recht fatal diesmal, und ich muß die ganze Energie zusammenholen, um wenigstens nicht krank zu werden. Bis jetzt bin ich dieser Neigung meines Körpers Herr geworden. Aber für lange Zeit wirds schwerlich mehr gelingen. Und dann heißt’s: konsequent bleiben!
Als ich beim Mittagessen saß, kam Herr Rainer, hinter ihm ein Aufseher mit einer großen Kiste, die meine Pfeifen, Zigarren, Tabakpakete und Streichhölzer enthielt: das Rauchverbot sei von heute ab aufgehoben. Ein erster Sonnenstrahl. Ich rauchte im Hof gleich zwei Zigarren und las dabei den Brief, der eben von Zenzl aus Berlin eintraf. Leider hat mir eine Nachricht darin die Freude am übrigen Inhalt und die am Rauchen sehr getrübt. Sie habe erfahren, daß die Frau von Leonhard Frank (Lisa Ertl) vor 14 Tagen gestorben sei. Sie will sich noch erkundigen und hofft, daß es nicht wahr sei. Ich fürchte schon, daß die Nachricht stimmt. Die arme Frau kränkelte schon immer, die Lungen waren nicht fest. Das ist für Frank bitter hart, aber die Frau selbst tut mir unendlich leid. Soviel Treue, Güte und Tapferkeit. Am 16. Januar 1919 saßen wir zusammen in einem kleinen Münchner Weinlokal beim Essen – Landauer, die beiden Franks und ich, da kam Weigel mit der entsetzlichen Nachricht von der Ermordung Liebknechts und Rosa Luxemburgs. Dann die groteske Szene, wie ein Leutnant mit seinem Mädel hereinkam und sich mit dem Weinwirt laut und freudig beglückwünschte. Wir zahlten und ließen unser Essen stehn. Auf der Straße dann die Telegramme und die grinsenden Gesichter der Bürger und leider auch vieler Proletarier. Lisa Frank weinte herzbrechend. Auch wir andern wußten, daß das der Beginn der furchtbarsten Tragödie sei, die das deutsche Volk je durchgemacht hat. Lisa war eine treue, stille Revolutionärin, ihr Herz war gut, ihr Geist rein. Ich bin traurig.
Einzelhaft, Freitag, d. 30. März 1923
Karfreitag, und heute sitze ich nun volle 4 Wochen hier unten. 4 Wochen ohne eine Zeitung, 4 Wochen ohne die Möglichkeit Briefe zu schreiben, Zenzl meine vielen großen Wünsche für ihren Berliner Aufenthalt, meine paar kleinen Wünsche zu meinem Geburtstag mitzuteilen –, 4 Wochen ohne ein einziges persönliches Gespräch, geschweige einen Händedruck, 4 Wochen ohne alle meine Bequemlichkeiten, ohne meinen Kaffee, ohne die gelegentlichen Zwischenmahlzeiten, die mir Ernst Ringelmann zu richten pflegt. Ich hab’s reichlich satt allmählich. Ich habe die 4 Wochen gewiß nicht nutzlos verschleudert, habe viel gelesen und bin ja auch mit meinem Roman ein gutes Stück weitergekommen. Nur habe ich Zweifel, ob es ein gutes Stück auch im Hinblick auf die Qualität geworden ist. Mir fehlte das seit einem halben Jahr vorbereitete Material – die Aufseher konnten es nicht finden, obwohl es ausgebreitet vor mir auf dem Tisch lag, als ich damals plötzlich heruntergerufen wurde, um nicht wieder hinaufzukommen, – mir fehlte der Kaffee, mir fehlte der Tabak, mir fehlten die Freunde und das Mitleben an den Tagesereignissen draußen. Ob nun vielleicht heute oder morgen endlich das Ende dieser Episode da sein wird? Ich zweifle und richte mich darauf ein, auch die Ostertage und meinen Geburtstag in splendid isolation zubringen zu müssen.
Einzelhaft, Sonnabend, d. 31. März 1923.
Also es ist entschieden: ich muß auch über Ostern hier unten bleiben. Ich habe heute die Eröffnung bekommen, daß ich vom 1. April ab wöchentlich einen Familien- oder Geschäftsbrief von gewöhnlicher Länge schreiben darf. – Na, wenigstens kann ich Zenzl beruhigen. – Aber jetzt kommen die Osterpakete und ich weiß absolut nicht mehr, wohin mit allen Sachen. Bücher, Papiere, Eßwaren und Tabak – alles liegt gedrängt auf den zwei kleinen schmalen Wandbordbrettern oder auf dem Fußboden, wo das tägliche Auskehren erst recht alles in Gefahr bringt. – Mit der Reinschrift auch des 6. Kapitels bin ich fertig. Ich fürchte sehr, daß es gegen die früheren 5 Kapitel wegen seiner Breiten stark abfällt, und wenn ich jetzt ans siebte gehe, so ist wieder die Not da, daß ich so vieles von Praktikern oben zu erfragen hätte und nun ganz auf meine Phantasie angewiesen bin. Aber Zenzl schreibt, der Viva-Verlag (Seehof) wolle unbedingt bis Weihnachten den I Band herausbringen und da kann ich nicht warten. Denn es ist das erste Mal, daß ich Zenzl vielleicht wirklich gründlich vorwärtshelfen kann. Dies Buch wird wirklich einmal ein Kind sein, das unter Schmerzen geboren ist. – Gottlob, daß ich morgen wenigstens an Zenzl schreiben kann!
Einzelhaft, Montag, d. 2. April 1923.
Ostermontag. Vielleicht kommt Mittwoch – dann läuft die zweite Disziplinierung 4 Wochen – eine neue Erleichterung. Gestern schrieb ich ausführlich an Zenzl, vielleicht war das die Ursache des guten Schlafs, den ich heute Nacht hatte, – es war die beste Nacht, seit ich unten bin. Mit dem 7. Kapitel habe ich nun auch angefangen. Ich fürchte, es wird noch große Schwierigkeiten machen, da mir die genaue Kenntnis der Handwerksburschenbräuche fehlt. Könnte ich den Ferdl doch fragen. Also hoffen wir, daß auch diese Klippe noch umfahren wird. Ich bin sehr neugierig auf die Überraschungen bei der „Heimkehr“ in meine Zelle oben. Vor allem wüßte ich gern, was für Papiere mir im Einzelnen weggenommen sind. Dann kitzelt mich das Verlangen zu erfahren, was der März an politischen Ereignissen gezeitigt hat, schließlich hat sich auch im Hause selbst vielleicht manches geändert. Besonders bin ich gespannt, ob Ernst Ringelmanns Bewährungsfristgesuch genehmigt ist. Ich würde mich für den Jungen unbändig freuen. Aber sehr leid täte es mir, wenn er schon weg wäre, wenn ich hinaufkomme. Der wahrscheinliche Termin für die Entlassung wäre für den Fall der 17. April – dann hätte er ¾ der Zeit herum, die ihm aufgepackt wurde (6 Jahre). Gestern sah ich ihn noch am Fenster – wenn ich mich nicht getäuscht habe. Also vorerst ist er noch da. – Die Einzelhaft habe ich allmählich scheußlich dick. Am Schlimmsten ist die nervenpeinigende Diebelei ringsum. Besonders jetzt an den Feiertagen, wo die Gefangenen in ihren Zellen bleiben, geht das Trommeln in einer Tour. Außerdem ist – wie mir scheint – über mir ein Apparat oder irgendetwas, was mich vom ersten Tage an widerlich stört und peinigt. Es läßt sich plötzlich – besonders morgens und am Spätnachmittag ein quietschender Ton hören, der klingt, als ob mit großer Heftigkeit ein Metallgegenstand über eine Schiefertafel gerissen würde. Ob es sich um ein verrostetes Schrankschloß handelt oder was sonst, ist mir bis jetzt völlig unklar. Aber wie solche Kleinigkeiten einem die Nerven schinden können, muß man erlebt haben, um es zu begreifen. Und grade jetzt geht das Diebeln wieder los. Na, auch diese Wochen werden herumgehen, wie alles im Leben und das Leben selbst.
½ 2 Uhr. Ich fand im Hof den Fetzen einer Nummer des Fränkischen Kuriers vom letzten Dienstag, die völlig verschmierte Hälfte eines einzigen Bogens. Leider war es nicht die Hauptseite, und der größte Teil des Inhalts betrifft Nürnberger oder provinzbayerische Lokalangelegenheiten, Sportliches und dergleichen. Dagegen lassen sich doch aus ein paar Notizen Rückschlüsse ziehn. Vom Stand im Ruhrgebiet ist garnichts zu erkennen und nur ein Hinweis auf die in einer Geschäftsstelle des Blattes ausgestellten Photographien von dem „schamlosen Vorgehen der Franzosen gegen die Bochumer Handelskammer“, aus denen zu sehen sei, „daß die Nachrichten über französische und belgische Greueltaten garnicht übertrieben werden können“, beweist, daß sich dort nichts geändert hat. Dann wird von einer Konferenz in Mailand gemeldet, wohin Mussolini von Rom und der polnische Außenminister, außerdem noch der belgische Außenminister Jaspar gereist seien, der letzte aber nur in privaten Angelegenheiten. Was dort beraten werden soll, ist nicht ersichtlich. Ferner: der General Harrington sei mit seinem Adjutanten in England eingetroffen. Er weigere sich, seine Ansicht über die Verhandlungen der Sachverständigen zu äußern, „erklärte aber, daß seiner Ansicht nach die Aussichten für den Friedensschluß günstig seien“. Aus der Überschrift geht hervor, daß es sich um Frieden mit der Türkei handelt. Ist die Sachverständigenkonferenz immer noch die Lausanner? Die war doch, wenn ich mich recht erinnere ergebnislos auseinandergegangen. Und ist der Krieg der alte zwischen der Türkei und Griechenland oder habe ich hier unten einen ganzen neuen Feldzug – Türkei-Großbritannien – versäumt? Wichtiger als dies alles ist mir eine Notiz an andrer Stelle, wonach die Deutschvölkischen eine Eingabe an den Reichsinnenminister gerichtet haben, worin sie die Rechtszulässigkeit des Verbots ihrer Partei angreifen, die eine Reichs- keine Landesorganisation sei. Es scheint sich um ein Vorgehn des preußischen Ministers zu handeln. Die deutschvölkische Reichstagsfraktion hätte außerdem durch ihren Anwalt die Entlassung ihrer in Haft befindlichen Mitglieder beantragt und eine Besprechung mit dem Reichskanzler beabsichtigt, die durch dessen Erkrankung nicht stattfinden könne. Demnach scheinen also doch gewisse Aktionen von diese Seite unternommen oder doch geplant gewesen zu sein. Und dann kommt noch aus Gera eine Meldung vom 25. März. Dort seien 3 Kuriere verhaftet worden, in deren Besitz sich geheime Befehle befanden, dahin lautend, daß die Mitglieder der Hundertschaften in Hof, soweit sie auf thüringischem Boden sich befinden, also die Gruppe in Weida, sich bis Sonntag 12 Uhr mittag in Hof einzufinden hätten. Von dort ab soll das Marschziel geheim sein. Die 3 Kuriere kamen von Plauen her im Auto, nachdem sie die Plauener Hundertschaft bereits allarmiert hatten. Nach Aussage der Kuriere sind in der Nacht zum Samstag von Hof aus noch weitere 4 Automobile mit ähnlichen Aufträgen abgegangen. Sämtliche Kuriere trugen die Armbinden der bayerischen „Nationalsozialisten“. – Also auch in dieser Hinsicht hat sich seit 4 Wochen nichts geändert. Das Pulverfaß ist noch genauso geladen wie vorher. – Endlich aus Paris ein Telegramm, daß Sarah Bernhardt im Sterben liege. Auch das wurde schon recht oft behauptet.
Einzelhaft, Mittwoch, d. 4. April 1923.
Heute ist meine Einzelhaft einen Tag älter als die längste, die ich bisher erlebt habe: vom 4. Januar bis zum 5. Februar 1921. Damals hatte ich allerdings meinen Tisch unten, bekam meine Zeitungen und zweimal täglich durfte mir warmes Getränk heruntergeschickt werden. Im Hof hatte ich die Gesellschaft vom Seppl, und das Ganze war eine keineswegs besonders nervenzerstörende Angelegenheit. Vor allen Dingen fehlten, da damals in diesem Hause noch keine Strafgefangenen wohnten, die entsetzlichen Torturen durch den Spektakel ihrer Begrüßungen, und was noch schlimmer ist, das Quieken, das jetzt am Tage mindestens 100mal hörbar wird. Ob es sich um eine Signalpfeife handelt? Ein scharfer Pfiff in eine lange Kinderblockflöte könnte es sein. Selbst in der Nacht muß ich manchmal vor dem widerlichen Geräusch unter die Decke flüchten. Ich denke daran, mir eine andre Zelle auszubitten. Aber ich habe keinerlei Garantie, daß ich dort nicht die Geräusche auch hätte oder andre ebenso quälende Störungen und daß mir der Wunsch überhaupt erfüllt wird. Die Möglichkeit, eine Bitte abgeschlagen zu kriegen schreckt mich am meisten, seit ich mich damals von Clemens Schreiber* beschwätzen ließ, um Aufhebung der Einzelhaft nachzusuchen, und was dann ironisch referiert wurde. Gestern erhielt ich von Zenzl aus Berlin das Osterpaket, und nun habe ich eine Kiste am Fußboden stehn, wo ich alles Mögliche Eßbare verwahre. Ich erwarte nun gespannt die nächste Eröffnung. Wenn sie nicht gleich die Aufhebung der Disziplinierung überhaupt bringt – die heute, abzüglich der ersten 5 Tage – 4 Wochen dauert, dann kann es noch recht lange dauern. Der Landtagsausschuß scheint keine Neigung mehr zu haben, an Ort und Stelle Recherchen anzustellen: Quieta non movere.
* Kurz nachdem ich dies geschrieben hatte, kam von Clemens eine Geburtstagspostkarte, aus der hervorgeht, daß man den armen Menschen mit seiner Familie nun auch aus Württemberg ausweist.
Einzelhaft, Donnerstag, d. 5. April 1923.
Die einzige Eröffnung, die ich gestern erhielt, betraf die Zurückhaltung einer Nummer der Münchner Neuesten Nachrichten, die mir insofern erfreulich war, als ich daraus erfuhr, daß mir Siegfried oder Fritz Weigel das Blatt auch für diesen Monat besorgt hat. Ob ich von dem Abonnement noch im April werde Gebrauch machen können? Die unbefristete Verurteilung ist sehr peinlich und kostspielig. Erfreulicherweise hat die größte Qual seit gestern plötzlich aufgehört. Das Quietschen ist nicht mehr zu hören. Vielleicht hat mein Gegenmittel gewirkt: ich habe nämlich schon vorgestern nachmittag damit angefangen gehabt, den Ton jedesmal durch Pfeifen zu kopieren. Möglicherweise hat das den Verursacher des Geräusches ebenso konfus gemacht wie mich sein Spektakel (über mir ist die Zelle von Egensperger, es wäre denkbar, daß er jenes geheimnisvolle Instrument traktiert). – Heute wäre August Hagemeisters 44. Geburtstag. Als er 40 Jahre alt wurde – am 5. April 1919 – fuhren wir in der Frühe von München fort, im selben Kupee mit Schneppenhorst und Simon: ich – und die Minister – nach Nürnberg, August nach Würzburg. Er hat leider München nie wiedergesehn. An meine Nürnberger Reise knüpfte sich dann das von Leviné in die Welt gesetzte Märchen, ich hätte mit Schneppenhorst Verrat geübt, von dem ich mich schon am Nürnberger Bahnhof trennte, um ihn dann erst monatelang später im Schwurgerichtssaal des Justizpalastes (Prozeß Nutt) wiederzusehn. Die beiden letzten Jahre feierten August und ich unsre Geburtstage miteinander, und so war es auch diesmal beabsichtigt. Aber er ist inzwischen ein Häufchen Asche geworden, und ich werde wohl – in direkter Folge seines Todes – meinen Geburtstag morgen in stiller Einsamkeit begehn müssen.
Einzelhaft, Freitag, d. 6. April 1923.
Also die 45 sind erreicht, und ich habe hinlänglich Muße, mich Betrachtungen über die bemerkenswerte Tatsache hinzugeben, daß ich heute 1½ Menschenalter irdischen Daseins hinter mich bringe. Wenn nicht noch heute eine überraschende Wendung eintritt – ich bin grade 5 Wochen in Absonderung – so werde ich diesen Geburtstag wohl als stillsten meines Lebens buchen können. Vor 3 Jahren im Gefängnis in Ansbach besuchte mich Zenzl, und wir waren eine Stunde ohne Aufsicht beisammen, wenn auch nur im Besucherraum (der zugleich Aula, Konsultationszimmer, Rumpelkammer und Kapelle war). Auch war damals das Verhältnis zum Aufsichtspersonal ein absolut andres. Man sprach doch mit diesem oder jenem mal ein persönliches Wort, was hier, wenn nicht für mich so gewiß für den Beamten gefährlich wäre. Jetzt ist’s ¾ 10 Uhr. Die erste und einzige Anrede, die ich bis jetzt heute erfuhr, war die Mitteilung, daß der Freie Arbeiter beschlagnahmt wurde (gestern war die Weltbühne betroffen). Das kann unter Umständen den ganzen Tag durch so ziemlich das einzige Wort bleiben. Denn die amtlichen Verrichtungen gehn im allgemeinen lautlos vor sich, nur nach Tisch beim Hofgang sage ich: „Bitte bis 1 Uhr“ oder bis ½ 2 (je nach dem Wetter) und wenn ich wieder hereinkomme, heißt’s, wenn was da ist: „Herr Mühsam, ein Brief“ „Danke“. Und Schluß für den ganzen Tag. Gottseidank habe ich trotz der Zeitungssperre durch meine Lektüre und meinen Roman Beschäftigung genug, und die Zeit wird mir nie lang. Ich vermisse nur die Freiheit, ins Tagebuch meine Stimmungen, Gedanken, Kritiken wie früher einschreiben zu können. Seit der Konfiskation der 10 Hefte beherrsche ich mich und trage, da mir das ja nicht verboten ist, ein, was getrost gefunden und gelesen werden kann. – Heut vor einem Jahr war’s lustiger. Am 5. war Zenzl mit Fanny Hagemeister hier gewesen, am 6. wurde ich von Adolf Schmidt mit einem Gedicht noch im Bett begrüßt und der ganze Zug meiner Freunde defilierte vor meinem Lager, vornedran mein Famulus, der Seppl. Nachmittags saßen wir dann im kleinen Speisesaal bei Chokolade und Kuchen, August und ich als die Gefeierten an der Tête, und abends gab’s im engsten Kreise in Adolfs Zelle ein schönes Festessen mit Filet und Wein. Wie wird’s übers Jahr sein? Und wie in fünf Jahren, wenn der 50. Geburtstag zu feiern ist? Ob ich’s überhaupt erlebe? Wenn ja, dann hoffe ich doch, daß meine gute Zenzl die Formen des Festes bestimmen wird. Allerdings kann ich mich schwer in die Rolle eines Jubelgreises hineindenken. Bis dahin wird – dieser Traum ist sehr lebendig nach wie vor – wohl auch das Bild der Welt, im engeren und im weiteren, ein erheblich andres und schöneres geworden sein. Und vielleicht werde ich an dieser Änderung selbst zu meinem Teil mitgeholfen haben. Es kommt alles drauf an, ob Herz und Glieder standhalten.
Einzelhaft, Sonnabend, d. 7. April 1923.
Der Geburtstag ging herum wie jeder andre Tag in dieser Einsamkeit. Ich dachte garnicht viel dran. Von Zenzl kam ein schöner Brief (vom 4ten). Sie hatte meinen Brief noch nicht erhalten, dagegen einen von der Verwaltung, aus dem sie entnahm, daß das Schreibverbot überhaupt aufgehoben sei. Da wird sie eine rechte Enttäuschung erlebt haben. Karten kamen vom Seppl und von Walter Ziersch, ein Päckchen von Elsbeth Rupertus und Gertrud Metzner, den beiden Treuen, nachdem ich von Zenzl und von Siegfried schon Pakete und von Onkel Leopold 5000 Mark bekommen hatte. – Mit der Gesundheit fängt’s wieder an zu hapern. Das Herz hat heute nacht wieder Geschichten gemacht, und meine Augen sind furchtbar angestrengt von der schlechten Abendbeleuchtung. Morgen kann ich also wieder einen Brief schreiben. Aber ich hätte nichts dagegen, wenn die Disziplinierung bald überstanden wäre.
Einzelhaft, Montag, d. 9. April 1923.
Heute früh ist Genosse Beimler entlassen wurde[worden]. Schon vor einigen Tagen sah ich bei einer Paketaushändigung den Korb mit zur Zensur gelieferten Papieren und dem Anhängezettel „Beimler“, und gestern abend ertönte oben die Internationale und die üblichen Hochs beim Abschied beliebter Kameraden. Er ist der erste der Mitteldeutschen, der seine Strafe bis zum letzten Tag (2 Jahre) abmachen mußte. Warum grade dieser harmlose Mensch, ist nicht ersichtlich, zumal die Not bei seiner Familie besonders groß ist. Ein netter, gefälliger richtiger Proletarier ohne hervorragende geistige Qualitäten, auch wohl nicht der ingrimmigste Revolutionär, aber ehrlich und anständig auch in der Gesinnung. Ich werde also, falls nicht inzwischen „Zugang“ gekommen oder überraschend jemand außer der Ordnung entlassen sein sollte, einen Mann weniger oben antreffen, wenn ich bald heraufkommen sollte, und wir werden noch 24 „F. G.“ sein. Sonst hat sich seit Samstag nichts für mich Bemerkenswertes ereignet, wenn ich von der Mitteilung der Zurückhaltung von 2 Nummern der Berliner Volkszeitung absehe. Ich habe mir inzwischen mein Schachbrett und den Dufresne herunterkommen lassen und spiele die Partien des Buches eine nach der andern durch, soweit ich komme. Hoffentlich wird’s nicht allzuweit werden. Das Romankapitel 7 habe ich nun in der Kladde zur Hälfte fertig. Es ist bis jetzt das lyrischste von allen, worin die Unempfänglichkeit des Volksmannes für Naturschönheiten zum Vorschein kommt. Das Buch wird mir noch schwer zu schaffen machen.
Einzelhaft, Dienstag, d. 10. April 1923.
Es ist plötzlich sehr lebhaft und laut geworden in meinem stillen Gang. Vor etwa einer halben Stunde (jetzt ist kurz nach 11 Uhr) hörte ich plötzlich oben außerordentlich aufgeregte Stimmen. Dann wurde die Internationale gesungen und darauf hörte ich laufen, schließen, Stimmen und Schimpfen. Jetzt sind eine ganze Menge Einzelhaftzellen belegt. Durch das Rufen von Zelle zu Zelle, das ununterbrochen anhält, weiß ich bis jetzt, daß Schlaffer, Olschewski und Tanzmaier dabei sind, und ich schließe aus dem Inhalt der Zurufe, daß der Grund für die Disziplinierung der Gesang der Internationale vorgestern abend bei Beimlers Fortgang ist. – Nun fürchte ich schwer für meinen Roman. Wenn die Unterhaltungen so beibleiben wie bis jetzt, ist an Arbeiten nicht mehr zu denken. Wenn tatsächlich Tanzmaier dabei ist, werde ich wenigstens auf dem Hof fortan mal ein Wort sprechen können. – Mein Geburtstag hatte noch einige nachträgliche Erträgnisse, so kamen gestern noch 2 Pakete, eins von Léon Hirsch und eins im Auftrag von Minna Flake, das mich besonders erfreut hat, wie immer das plötzliche Auftauchen alter Bekannter aus jahrelanger Versunkenheit die meiste Freude macht. Außerdem ein sehr lieber Brief von meinem alten C. G., den ich schon – da er sonst stets ganz pünktlich mit dem Geburtstagsbrief da war, verloren glaubte. Aber er ist treu geblieben und stellt sogar einige Bücher in Aussicht. – Zenzl schreibt, die „Berliner Volkszeitung“ habe zu meinem 45. Geburtstag einen Artikel gebracht. Du lieber Himmel! Fängt die Jubiläumsfeierei jetzt schon bei halben Jahrzehnten an? Vermutlich fällt aber dabei auch etwas auf Niederschönenfeld ab, und die Beschlagnahme einer der Nummern vor einigen Tagen erklärt sich. Heute wäre der 74. Geburtstag meiner Mutter. Es war gewiß nicht nötig, daß sie mit 50 Jahren sterben mußte, aber für sie war es besser, als wenn sie den Jammer dieser Zeit noch erlebt hätte. Mein eignes Schicksal im Zusammenhang mit all dem Elend hätte sie kaum begriffen, und nur ihre große Güte und Liebe hätte sie mein befremdendes Tun hinnehmen lassen, – und mit Zenzl hätte sie sich trotz der religiösen Vorurteile gewiß liebevoll abgefunden.
Einzelhaft, Freitag, d. 13. April 1923.
4 Jahre Kerker! 6 Wochen Spezialbehandlung in Niederschönenfeld! Zwei freundliche Marksteine an meinem derzeitigen Wege. Ich muß mir die vielfachen Betrachtungen, die mir lebendig werden, verbieten. Soweit derartige Zwischenepisoden zu vermeiden sind, will ich keinen Anlaß zu ihnen geben. Also zum Tatsächlichen. Meine Hoffnung, im Hof den Mund wieder mal auftun zu können, war trügerisch. Die Abgesonderten vom letzten Dienstag haben samt und sonders Hofentzug. Bis jetzt bin ich noch immer nicht genau im Bilde, wer alles dazu gehört. Sicher folgende: Sauber, Sandtner, Olschewski, Tanzmaier, Schiff (soweit komme ich an ihren Zellen vorbei, wenn ich in den Hof gehe) – nach der andern Seite von meiner Zelle aus noch Egensperger und Schlaffer. Es sind aber noch weitere, mindestens einer, dabei, und der Stimme nach scheint es Zäuner zu sein. Ich vermute jetzt, daß ich noch bis Mittwoch unten bleiben muß. Da Hofentzug nicht länger als eine Woche diktiert zu werden pflegt, wäre dann meine vollkommene Isolierung ja doch vorbei, außerdem werden Mittwoch grade 6 Wochen von der zweiten Verurteilung herum sein. Doch will ich mich nicht zu fest darauf verlassen. Da Zenzl beabsichtigt, auf der Rückreise von Berlin, etwa am 20ten, hier vorzusprechen, was eine bedeutende Ersparnis ausmachen würde, muß ich fürchten, daß man die Verbote über diesen Termin hinaus ausdehnen wird. Sie würde mir viel zu erzählen haben, und ich würde wohl auch mehr erfahren von dem, was sie im letzten Brief erwähnte, daß Rußland Verhandlungen mit der deutschen Regierung eingeleitet habe, die den Austausch politischer Gefangener bezwecken. Und diesmal muß schon wirklich etwas im Gange sein. Denn ich hörte gestern, als die Leidensgenossen einander zuriefen, welche Zeitungen ihnen beschlagnahmt wurden (auf mich trafen in den letzten Tagen wieder mehrere Nummern der Berliner Volkszeitung und ein Roter Soldat), daß der Fränkische Kurier dabei sei, und dazu wurde die Vermutung laut, daß der wohl etwas über die Austauschverhandlungen gebracht habe. Die Sache steht also zur öffentlichen Erörterung. Mir könnte es recht sein. So wenig ich von der autoritären Parteiwirtschaft der russischen Machthaber und ihren Unterdrückungen revolutionärer Prinzipien begeistert bin, – bei der Wahl: Moskau oder Niederschönenfeld ziehe ich Moskau vor, auf die Gefahr hin, auch dort suspekt zu werden. Von hier werden außer mir wohl noch Sauber und Karpf in Frage kommen, von Straubing Lindner, Streidel, Wadler, Kopp, Strobel und noch einige, aus dem übrigen Reich bestimmt Hölz und wohl noch einige wenige. Die Frage ist nur, wen die Russen zur Auswechslung zur Verfügung haben. Wegen Gotz und Timofejew würde sich die bayerische Regierung kaum die Glieder verrenken. Man muß halt abwarten, was an der ganzen Sache dran ist und wie weit die Dinge schon gediehen sind. – Mein siebtes Kapitel kommt langsam voran. Die Überraschung vom 2. März wird sich in dem Roman erheblich geltend machen, wie denn dies Buch schon während seines Entstehens von ganz ungewöhnlichen Schicksalen heimgesucht wird. Und jetzt gehe ich ans Schachbrett. Der Dufresne nimmt mich so gefangen, daß ich nachts in den Stunden der Schlaflosigkeit unausgesetzt Eröffnungen rekapituliere und Blindpartien anfange, ohne weit damit zu kommen. Wenn ich wieder oben bin, wird diese Leidenschaft sich wohl schnell wieder verflüchtigen.
Einzelhaft, Sonntag, d. 15. April 1923.
Jetzt habe ich den dritten Brief seit 6 Wochen an Zenzl geschrieben, und es ist bald Mittagzeit. Heute scheint etwas besonders Festliches los zu sein. Denn es gab in der Frühe statt der Kaffeebrühe Kakao, was erst ein einziges Mal – heut vor 14 Tagen, also am 1. Osterfeiertag passiert ist. Wodurch sich der 15. April allgemein oder in diesem Jahr speziell auszeichnet, ist mir allerdings vollkommen unbekannt, auch aus meinem Taschenkalender nicht ersichtlich. Es wird schon seinen Grund haben, wobei übrigens festgestellt werden kann, daß die Verpflegung allgemein seit einiger Zeit wieder erheblich besser geworden ist. Sonst ist wenig Bemerkenswertes zu notieren. Zenzl schreibt aus Berlin viel und hält sich über alle Beschreibung stark und erfüllt alle Aufgaben mit der Genialität der Liebe und Pflichttreue. Ich darf mit meinem Schicksal nicht zu sehr hadern. Was es mir übles verhängt hat, wird durch die Liebe dieses Weibes in Gutes verwandelt, und ich wünschte nur, sie wäre weniger gestraft von den Gewalten, die mich zu treffen wünschen. – In meinem Gefängnisdasein nichts Neues von Belang. Konfiskation eines Miesbacher Anzeigers war seit gestern alles. Heut konnte ich aber feststellen, wer der neunte der Internationale-Sänger war, der nun in Absonderung büßen muß: Kein andrer als mein guter Luttner-Ferdl. Wenn meine Vermutung zutrifft, daß Ernst Ringelmann am 17., also übermorgen, entlassen wird und ich am 18ten wieder hinaufkomme, dann werde ich oben beinah ebenso verwaist sein wie hier unten.
Einzelhaft, Montag, d. 16. April 1923.
Ich war nur eine halbe Stunde im Hof, da ich mich wieder recht übel befinde. Es scheint sich ein neuer Erschöpfungszustand einstellen zu wollen, wahrscheinlich diesmal auf dem Wege über die Nerven, die heut früh durch anhaltendes, immer wiederholtes, fürchterliches Diebeln aufgeregt wurden. Ich werde etwas mehr Kaffeebohnen als gewöhnlich essen, obwohl die Zähne nicht besonders beglückt davon sein werden. – Heut vor 3 Monaten starb August Hagemeister. Ich will mich erneuter Betrachtungen über den Fall enthalten. Das bleibt alles ohne ein Wort der Aufzeichnung unvergessen. Genau die Hälfte der Zeit seit seinem Tode verbüße ich nun – im Anschluß an diesen Todesfall erwirkt – meine unbefristete Gefängnishaft mit ihrem verschönernden Beiwerk. Ich bekam jetzt einen Brief von Augusts vorehelicher Tochter aus Bremen. Das kaum 18jährige Mädel dient dort als Stubenmädchen. Jetzt wollen ihre Verwandten sie nach Argentinien kommen lassen, und sie möchte mich, wenn sie demnächst ihre Mutter in Erlangen zum Abschiednehmen besucht, auf dem Wege besuchen. Ob man sie hereinlassen wird? Ob bis dahin überhaupt das Besuchsverbot auch für Zenzl, die Ende dieser Woche auf der Heimfahrt von Berlin kommen möchte, aufgehoben sein wird? Ich will mich keinen verfrühten Hoffnungen hingeben. – Morgen wird also mein Freund Ernst R. gehn – ich habe keinen Zweifel mehr. Heut erschien er während des Hofganges plötzlich am Fenster und winkte – ganz gegen seine Art – mir zu. Ich habe die Überzeugung, daß es ein Abschiedsgruß war. So herzlich ich mich freue, daß der brave Junge, den ich so gern habe wie selten einen Menschen, nach den 4 langen Jahren harten bitteren Erlebens endlich wieder Licht und Leben um sich haben wird, so hart kommt mir doch der Gedanke an, ihn oben missen zu sollen, nicht einmal ihm noch die Hand drücken, ein paar Grüße auftragen, ihn zum Abschied umarmen zu können. – Es wird allmählich recht einsam um mich herum werden. Und Ernst werde ich recht oft vermissen. Dieser wahrhaftigste und aufrichtigste aller Menschen, die mir begegnet sind, war mir manchmal ein sehr wertvoller Gewissenskompaß, wenn er unbeirrt von allem Zorn um sich her schonungslos der andern Seite Recht gab, einfach weil er fähig war, zu objektivieren, wo wir uns unserm Temperament überließen. – Kurz vor meiner Absonderung gab ich ihm einen Brief zum Beilegen für den Bibs. Abends fragte ich ihn, ob er besorgt sei, was bejaht wurde und ob er auch gelesen habe, was ich schrieb. Das verneinte er, wurde aber hochrot dabei, sodaß ich merkte, er log mich an, und zwar sehr amüsiert, aber doch verwundert war, weil Ernst jeder Unwahrheit bisher unfähig geschienen hatte. Ich ging dann in meine Zelle. Nach kaum 5 Minuten war er bei mir, und gestand völlig zerknirscht, er habe gelogen, und nun hätte er kein ruhiges Gewissen, bis ers mir eingestanden hätte, und ob ich ihm verzeihe. Ich war so gerührt, daß ich den Jungen an mich zog und ihm die Stirn küßte. – Und wie pflichttreu er mich betreut hat. Er verwahrte meine Eßvorräte, mein Geschirr, brachte mir morgens den Kaffee ans Bett, alles wie der Bibs es ihm angeschafft hat, der seinerseits vom Seppl die Erbschaft übernommen hatte. Nun wird entweder der Ferdl auch in diesen Dingen meine Krücke sein, oder ich muß mir halt trotz all meiner Unbeholfenheit selbst helfen. – Wenn ich mal in einer dichterischen Arbeit, Roman oder Drama, einen Charakter brauchen sollte, der gradlinig, offen, naiv, wahrhaft und seelisch absolut unbestechlich wäre, dann soll mir Ernst Ringelmann dazu Modell stehn, wenn auch kein Leser glauben würde, daß es Eigenschaften solcher Art in dieser flecklosen Ausgeprägtheit gebe. Gewiß – meinen Seppl konnte auch er mir nicht ersetzen, denn der sorgte für mich aus ursprünglicher kindlicher Liebe, der verehrte mich als seinen Lehrer und Führer, und seine Treue wuchs aus seiner unmittelbaren menschlichen Hingebung, während Ernst nur ein guter liebenswürdiger Freund ist und daraus seine Pflichten ableitet, die er mit treuester Sorgfalt erfüllt. – Und heute vor einem Jahr ging der Seppl fort von mir – und jetzt geht der Letzte von den Jungen. Ein paar gute Genossen und ein guter Freund, der Ferdl, bleiben mir noch. Aber die kommende Generation, auf die ich meine Hoffnungen baue, und die in mir ihren Verkünder ehrte und liebte, ist mit dem Ernst aus diesem Hause ausgezogen. Die Atmosphäre um mich herum wird trocken werden. Es wäre Zeit, daß der ganze wüste Traum dieser abscheulichen Jahre einmal vorüber ginge.
Einzelhaft, Mittwoch, d. 18. April 1923.
Ich komme vom Hof herein, sehr abgespannt, wenn auch ein eigentlicher Krankheitszustand nicht oder noch nicht da ist. – Also der Ernst ist fort. Ich hörte ihn vorgestern abend seinen Abschiedsgruß hinaufrufen, als er oben in Quarantäne in dieses Stockwerk heruntergebracht wurde, und gestern früh rief er dann, wohl in unsern Gang hinein: „Genossen, auf Wiedersehn!“ Ob er meine Antwort gehört hat, ist fraglich. Ich stellte dann den Stuhl ans Fenster und sah ihn fortgehn. Er winkte eifrig mit dem Taschentuch und ich zog, alle Verbote vergessend und nur voll Weichheit, auch meins heraus. Da sah ich noch grade rechtzeitig, daß unter unsern Fenstern im Hof ein Aufseher postiert war, der aufmerksam spähte. So hat der Ernst nicht sehn können, daß ich an seinem Weggang Anteil nahm, aber die Schandtat, daß ich einem scheidenden Freund nach 4jähriger Freundschaft einen Gruß nachgewinkt hätte, war gottseidank verhütet, sonst könnte ich wohl noch sehr lange hier unten Schachpartieen nachspielen, Romankapitel ohne Tatsacheninformationen ausschwitzen und in Ermanglung von Zeitungen (von denen übrigens wieder die Berliner Volkszeitung dran glauben mußte) rohe Kaffeebohnen kauen. Meine Zuversicht, heute werde endlich die Stunde der Erlösung kommen, ist wieder recht schwankend geworden. Es deutet bis jetzt garnichts auf eine Änderung hin. Nun, ich warte ab, gewaffnet mit viel Stoizismus. Von den Einzelhaftgenossen ist mindestens Egensperger, wie mir scheint, auch Luttner, wieder oben, die wohl bei Beimlers Abschied weniger aktiv mitgewirkt haben werden. Ich glaube, sie hatten schon seit einigen Tagen nach mir Hofgang. So gern ich auch Egensperger seine Heimkehr in die gewöhnte Zelle gönne, wäre mir jeder andre vor den andern Begnadete lieber gewesen, und zwar deshalb, weil er direkt über mir haust und mit seinen Pantoffeln ein so schauderhaftes schlürfendes und latschendes Geräusch verursacht, daß mir ganz schwindlig dabei wird, zumal oben längst bis 10 Uhr Abendbeleuchtung brennt und bei uns schon um 9 Uhr das Licht ausgemacht wird, sodaß mein ohnehin sehr gequältes Einschlafen erst recht behindert wird; außerdem poltert er alle Augenblick mit Gegenständen in seiner Zelle herum, und nach fast 7 Wochen absoluter Abgeschnittenheit von jedem Gespräch macht einen alles Störende fürchterlich nervös. – Zenzl dürfte heute oder gestern abend schon wieder in München angelangt sein. Ich bekam eben einen Brief, in dem sie unter anderm von einem von den Anarchisten veranstalteten Mühsam-Abend berichtet, in dem Elsbeth Bruck (die nicht tot sondern quicklebendig ist) ausgezeichnet gelesen habe. 900 – 1000 Anwesende schätzt sie (Elsbeth) und 150 – 200.000 Mark sind dabei eingekommen, die an Zenzl abgeführt werden sollen. Solche fabelhaften Summen scheinen aber draußen durchaus nicht mehr anders als ein mittlerer Wochenlohn zu gelten. Zenzl, die in punkto Rußland noch immer von bewundernden Gefühlen getragen ist, teilt mir triumphierend mit, daß Malatesta bei den Kommunisten stehe. Das wird ein Irrtum sein, oder aber, er macht in Italien denselben Versuch, den ich 1919 vor Annahme der Heidelberger Leitsätze in Deutschland machte, durch eine formale Konzession die Einigung der revolutionären Proletarier zu erzielen und die Kommunisten von der Preisgabe aller revolutionären Prinzipien zurückzuhalten. Aber vorläufig halte ich die Meldung noch für sehr unwahrscheinlich.
Niederschönenfeld, Freitag, d. 20. April 1923
Nachmittag ½ 3 Uhr. Seit 24 Stunden bin ich wieder oben, die Disziplinierungen sind aufgehoben. Bis jetzt sieht es noch wüst bei mir aus, und meine Nerven sind total herunter. Es wird eine hübsche Zeit dauern, bis wieder eine Eingewöhnung da sein wird. Von den andern waren Luttner und Egensperger schon oben, heute sind Sandtner, Zäuner, Tanzmaier, Schiff gefolgt. Sauber, Olschewski und Schlaffer sind noch unten. Ich fand allerlei Veränderungen vor. Daß mein Ernst Ringelmann weg ist, ging mir fast bis zu Tränen nahe, als ich den Brief erhielt, den er mir zurückgelassen hatte. Daß er mich so lieb hatte, wußte ich nicht. Statt seiner und Beimlers ist ein „Zugang“ da, ein zweiter Genosse namens Wagner (Aloys). Er erzählte, er habe 3 Wochen Gefängnis gehabt wegen Körperverletzung, woraufhin ihm seine Bewährungsfrist genommen sei. Nach den Bestimmungen sollen 3 Monate fällig werden, ehe die frühere Strafe nachzubüßen ist. Aber es ist nicht der erste derartige Fall in Bayern (aber keine Glossen!). Die ungeheuren angesammelten Zeitungsstapel der 7 Wochen beweisen nach flüchtigem Hineinsehn kaum mehr, als daß viel zu viel Tageslektüre gedruckt wird. Es scheint in allem Wesentlichen seit dem 1. März geblieben zu sein wie vorher. Die Nationalsozialisten krakehlen wie zuvor, der „süddeutsche Senat“ des Staatsgerichtshofs verlangt die Verhaftung Dietrich Eckarts und Verschiedener, die erklären, sich mit allen Mitteln ihrer Verhaftung widersetzen zu wollen. Die bayerische Regierung verhandelt mit ihren Organisationen von Macht zu Macht, erklärt, sich an die Reichsgesetze halten zu müssen und beginnt gleichzeitig mit dem Staatsgerichtshof zu verhandeln. Natürlich wird Hitler siegen. Die Herrschaften sind stärker als je, unternehmen von der Hoffmann-Correspondenz verbreitete Waffenübungen mit Riesenumzügen. Zugleich hält der Fall Puttkamer (ich kenne den Betreffenden aus dem Novemberjubel vom Soldatenrat) die Geister in Spannung, bin aber noch nicht recht im Bilde, was mit dieser Kriminalgeschichte eigentlich wirklich los ist. Jedenfalls ist der junge Mann, der seinerzeit wegen des geplanten Attentats auf Scheidemann in München verhaftet und dann, weil er vollständig von der Absicht zurückgekommen sei von der Polizei wieder entlassen wurde, ermordet worden – er wird halt viel über derartige Pläne gewußt haben – und es heißt, Puttkamer, der als Lockspitzel der Reichsbehörden bei den bayerischen Völkischen tätig gewesen sei, sei an diesem Mord beteiligt. Im Ruhrgebiet, auf dem Devisenmarkt das gleiche Bild wie zuvor auch. Mord, Totschlag, Robustheit auf französisch-belgischer, sentimentale Selbstbejammerung und immer noch oder jetzt schon wankende Zuversicht, passive Resistenz, Versprechungen voller Entschädigung der arbeitslos Gemachten durch das Reich (aus wessen Taschen?) und hinten im Unternehmerkontor wahrscheinlich eifrige Schacherei hin- und herüber. Die Mark ist bei 21 – 22000 zum Dollar „stabil“, indem weiterhin Depositen in Golddevisen ins Ausland gebracht werden. Wollen sehn, wie lange sich das Loch verkleistern läßt. Geht’s auf, dann kracht’s wie noch nie. – Unsre Spezialangelegenheiten: Die parlamentarische Untersuchungskommission für Niederschönenfeld hat nach Entgegennahme eines erneuten Berichts des Regierungsvertreters (wohl Dr. Kühleweins) beschlossen, ihre Tätigkeit einzustellen, und die Sozialdemokraten (mit Ausnahme vom Fischer Gustl) haben sich dabei der Stimme enthalten: nachdem sie den Antrag gestellt und mit dem Grundsatz audiatur et altera pars begründet hatten. Das Karnickel bin ich. Es hat Tagebuchauszüge geregnet, und die Entrüstung war ungeheuer. Bei der Feststellung, daß Lindner Auer zum Rentier geschossen hat, und daß ein andrer ihn nun wieder zum Minister schießen könnte, hat besonders Timm gerast und ist bleich vom Sitz hochgesprungen (dafür läßt er uns sitzenbleiben). Die Herren haben gefunden, daß der Eindruck der neuen Regierungsenthüllungen so niederschmetternd sei, daß sie unmöglich auch noch die Beschuldigten (die doch, was sie bei jeder Kühleweinschen Rede wieder vergessen, die Beschuldiger sind) selber hören können. (Pst, Mühsam, keine Glossen!). Sie lassen sich die Akten vorlegen, die nur gegen uns geführt sind und lassen sie sich von denen kommentieren, zu deren Kontrollierung sie eingesetzt sind. Interessant ist, daß die Genossen von einer nationalistischen Demonstration berichten, die sich am Ostersonntag hier an der Anstalt vorbeibewegt hat. Man sang dabei: Siegreich wolln wir Frankreich schlagen und verkündete dem Lackl Toller und dem Saujuden Mühsam das Aufhängen. – Das genüge fürs Erste. Zeitungsverbote: 1 Abend, eine Weltbühne (die Zeitungen in den letzten Wochen müssen wieder bis zum Erbrechen mit meinen Aufzeichnungen angefüllt gewesen sein (ausgesuchte Stellen natürlich, – das Ganze wäre nämlich nicht für mich kompromittierend, sondern eher für andre). Mir graust, wenn ich mich umsehe und ans Ordnen denke, noch mehr aber, wenn ich den Stoß Korrespondenz betrachte, der unbedingt beantwortet sein muß. Mit dem Romanabschreiben (gestern hatte ich grade begonnen, das 7. Kapitel ins Reine zu übertragen, als die Befreiung kam) wird’s nun fürs erste wieder pausieren müssen ... Was ich fast vergessen hätte, das Wichtigste: ein neuer Anstaltsarzt ist da, der sehr stark frequentiert wird und bis jetzt auf alle einen guten Eindruck macht. Ich werde mich erst zu ihm melden, wenn ernster Grund vorliegt. Auch steht noch nicht sicher fest, ob er wirklich definitiv angestellt ist oder Herrn Dr. Steindl etwa nur auf Zeit vertritt.
Niederschönenfeld, Montag, d. 23. April 1923.
Über die Tätigkeit des Untersuchungsausschusses liegt jetzt das offizielle Protokoll vor. Referent: Dr. Müller-Meiningen. Dementsprechend sieht es aus. Die Herren beschlossen zuerst, ihre Untersuchung zu beschränken auf ein paar konkrete Fälle: Hagemeister, die „angeblichen“ Herzleiden Einzelner wie Mühsam, Toller, Mairgünther und von einer Prüfung der Rechtmäßigkeit des Strafvollzugs überhaupt abzusehn. Die sei „Ermessenssache“ der beteiligten Beamten. Die „Untersuchung“ über die aufgestellten Punkte wurde dann auch durch deren Vernehmung ausgeführt, und selbstredend ist alles in Ordnung. Die Justizbehörde erhielt aber doch eine Rüge. Es wurde nämlich bedauert, daß sie erst jetzt mit den Anklagen gegen uns herausgerückt seien. (Glossierungen können füglich unterbleiben). Das Einzige, was für uns interessant und günstig ist, ist die Verkündung, die Festungsverwaltung sei angewiesen, in Zukunft, alle Schriebe von hier an Reichsregierung, Reichstag, Reichsrat etc, auch wenn sie beleidigenden Inhalts seien, zu befördern. Es wird demnach bald von mir ein Bericht an den Justizausschuß des deutschen Reichstags gemacht werden, in dem die Anregung begründet werden soll, die Vereinheitlichung des Festungsstrafvollzugs für das ganze Reich zu beschleunigen. Als ersten Schritt dazu ging ich heute zum Arzt. Es ist ein jüngerer vertrauenerweckender Mann, und ich erklärte gleich, ich käme eigentlich nur zu ihm, um gegenüber der Verdächtigung des Müllerschen Protokolls, die in dem Wort von meiner „angeblichen“ Krankheit liegt, einen ärztlichen Befund zu schaffen. Leider ist dieser Befund peinlicher als ich gedacht hatte, da der Arzt eine, wie er andeutete, schon weit vorgeschrittene Arteriosklerose feststellte. Ich benutzte die Gelegenheit, mir gleich in den übrigen Leiden das Nötige verordnen zu lassen, so die Behandlung meiner Zähne, die durch das Kauen der Kaffeebohnen gelitten haben, ferner Augenwasser wegen der Überanstrengung der Augen in der Einzelhaft, Herztropfen etc. Leider bleibt der Mann nur bis Sonntag. Ich fragte ihn direkt, da ich sein Bleiben oder Gehen entscheiden lassen wollte, ob ich mich wegen des Gehörs und wegen der Krampfadern in eine längere Behandlung geben wollte. Natürlich habe ich aus den Ursachen der diversen Leiden kein Hehl gemacht und offen ausgesprochen, daß ich genau wisse, daß ich hier zum Tode verurteilt bin und nicht damit rechne, in Bayern, solange die christliche Kirche die politische Macht in Händen habe, auf Barmherzigkeiten irgendwelcher Art zählen zu können. Ich berichtete ihm auch über die Gründe meiner letzten Disziplinierung, was Herrn Bastian, der dabeistand, recht peinlich zu sein schien. – Ich habe vom letzten Mal einiges nachzutragen. Zunächst bemerkte ich, daß unter manchen Mitgefangenen, aber nur unter ausgesprochenen Nichtfreunden, große Mißstimmung gegen mich herrschte. Grund: meine Tagebücher, über die die tollsten Gerüchte umliefen. Gewisse Leute, die viel Dreck am Stecken haben, schimpften mörderlich und fürchteten natürlich, ich hätte über nichts besseres zu schreiben als über sie. Sehr erstaunt war ich, daß auch Dr. Mayer mich völlig schnitt. Ich erfuhr dann, er habe erklärt, er könne nicht mit jemandem verkehren, von dem er befürchten müsse, er registriere von ihm jeden Furz in sein Tagebuch. Doch hat dieser Konflikt nur bis heute gedauert. Vormittag kam Mayer in eleganter Straßenkluft zu mir herein und gab mir die Hand, und zwar, um sich zu verabschieden, da er heute um 12 Uhr entlassen werde. Er hatte keinem Menschen davon etwas gesagt, obwohl er schon gestern Bescheid wußte. Übrigens der Erste, dem man die Quarantäne unten erspart hat. (Er ist Millionär und seine suspekte Abstammung durch einen nachträglichen Taufschein korrigiert.) Ich stellte ihn sofort zur Rede für sein Verhalten seit meinem Wiedererscheinen oben, und er sagte, es werden über den Inhalt der Tagebücher alle möglichen Geschichten im Hause verbreitet (ich hörte, es werde von homosexuellen Orgien gequatscht, die ich geschildert hätte, und irgendein Witzbold hat verbreitet, ich hätte mich darin über die verschiedene Länge der Genitalien unter den Genossen ausgelassen.) Ich fragte Mayer, ob er wirklich glaube, daß ich Privatdinge andrer Leute notiere. Ich sei für das Gerede von Waschweibern nicht verantwortlich – [(]wer will denn überhaupt etwas wissen? Es müßte ja schon jemand, was allerdings auch behauptet wird, heimlich bei mir hereingedrungen sein und die Tagebücher exzerpiert haben, aber daß das nicht der Fall ist, darüber beruhigt mich das Geschwätz in seiner abstrusen Unsinnigkeit), – für alles, was die Tagebücher tatsächlich enthalten, trüge ich aber jederzeit und vor jedem die Verantwortung, und halte es sogar den Genossen gegenüber für verdienstlich, wenn ich möglichst viele Tatsachen aus den Festungserlebnissen schriftlich festlege. Was daraus von der Regierung vor der Öffentlichkeit gemacht wird, welche Entstellungen durch Herauslösen aus dem Zusammenhang bewerkstelligt werden, kann ich natürlich nicht wissen, da man uns diesmal keine Zeile darüber in die Hand gegeben hat. Mein dadurch veranlaßtes Mißtrauen denke ich dem Reichstagsausschuß klarzulegen. – Also: Mayer ist nun fort, wieder ein 6jähriger! Ein witziger, gescheiter Mensch, dessen stark börseanischen Interessen mit meinen wenig Berührungspunkte haben. Er hielt sich während der ganzen Haftzeit stets gegen alle reserviert und blieb eigentlich ein Fremder unter uns. – Aus der politischen Welt ist von den Unruhen in Mühlheim zu reden, wo eine Arbeitslosendemonstration vors Rathaus zog, von den nationalen Herren beschossen wurde (von den Deutschen Burgfriedolinen!), aber zur Offensive überging, die Leute im Rathaus gefangen hielt, bis am nächsten Tag ein Ausfall mit Hilfe einer von draußen eingreifenden Gummiknüppelhorde gelang und das übliche Blutbad angerichtet wurde. Die Bürgerpresse mit Einschluß der Sozialdemokraten schäumt – gegen die Hungernden natürlich. In denselben Blättern wird jetzt noch den Opfern einer Schießerei der Franzosen gegen eine Arbeiterdemonstration in Essen nachgewinselt. Da warens die Feinde, pfui Teufel, diese Mörder! In Mühlheim warens die Landsleute, die auf die Proletarier schossen, da waren natürlich die Arbeiter die Schufte. Arbeiterdemonstrationen in Düsseldorf, Essen etc zeigen gleichzeitig an, wie begeisterungsvoll die Bevölkerung des besetzten Gebiets der Cuno-Durchhalterei anhängt. – In Bayern täglich tobende Nationaille. Herr Gürtner ist in Berlin, um die Anwendung der Gesetze gegen die Völkischen abzuwenden, und wird es natürlich erreichen, obwohl augenblicklich die Nationalsozialisten wütend gegen die bayerischen Regierungsparteien toben, die vor einem Hitler-Aufstand offenbar fürchterliche Angst haben, nicht weil sie sein Gelingen, sondern weil sie sein Mißlingen fürchten. Denn dann kippt auch ihr Wagen um, und da haben sie wohl für die Besorgnis einigen Grund, die Anwendung ihrer Methoden als Objekte kennen zu lernen. Ich erkläre mir das dauernde Verzögern jeder Aktion aus dem Umstand, daß keiner – weder die Regierung, noch die Völkischen noch die Parteien sonst – weiß, wie stark der Gegner, wie stark er selber ist. – Über kurz oder lang muß ja der Krach doch kommen, dann wird sich’s zeigen. – Die alten Zeitungen alle nachzulesen, kann ich mich nicht entschließen. Man erfährt nach und nach manches, was in der Zeit vorgegangen ist. So, daß Eisenbergers Immunität vom Landtag wegen eines kommunistischen Parteiaufrufs, der sonst in ganz Deutschland passieren konnte, aufgehoben wurde und er flüchtig ist. Gestorben ist außer Sara Bernhard auch die Lyrikerin Alberta v. Putkammer und der wegen der Passivitätlichkeiten der deutschen Politik grade aus Frankreich zurückgerufene Dr. Mayer aus München. Schluß für diesmal.
Niederschönenfeld, Mittwoch, d. 25. April 1923.
Der Vertretungsarzt ließ mich heute früh zur Untersuchung meiner Ohren holen, die das vorige Mal unterbleiben mußte, da er keinen Ohrenspiegel zur Hand hatte. Er konstatierte, daß ich mit meiner Ansicht, es handle sich um Otosklerose recht habe, und daß die Behauptung des Bezirksarztes, es sei eine chronische Mittelohrentzündung wie gewöhnlich auf eine Fehldiagnose zurückgeht. Leider ist nun auch das linke Ohr schon in Mitleidenschaft gezogen. Der Arzt empfiehlt, einen Ohrenmassageapparat anzuschaffen, durch dessen Gebrauch das völlige Ertauben vermutlich abgewendet werden könne. Er taxiert die Kosten auf 50 – 70.000 Mark, die, wie ich hoffe, aufzubringen sein werden. Klinische Behandlung würde ja die bayerische Regierung unter keiner Bedingung zulassen, während die preußische Hölz’ Überführung in ein Sanatorium gegen Hinterlegung von 5 Millionen Mark in Aussicht gestellt hat. Dafür wird jetzt international gesammelt und zwar von Anarchisten und Syndikalisten: die KPD läßt Hölz schimpflicherweise im Stich. – Ich habe dem Arzt heute auseinandergesetzt, wieso die Haftmethoden hier die Nerven und die Gesundheit unbedingt zerrütten müssen. Er war natürlich zu allem still, und ich glaube trotz des sehr guten Eindrucks, den ich sonst von dem Mann habe, kaum, daß er irgendwo die Klagen anbringen wird, die er hier von jedem hört. Aber er unterscheidet sich vorteilhaft von dem Dr Steindl dadurch, daß er sich sichtlich nur als Arzt fühlt und den Willen hat zu helfen, wo er kann. – Tagesereignisse: die deutsche Widerstandspolitik im Ruhrgebiet steht vor dem Umfallen: Curzon hat eine Rede gehalten, in der er den Deutschen den Rat gab, mit einem klaren Angebot herauszukommen, und schon greifen die Herren Cuno-Becker-Rosenberg eifrig nach dem Rettungsseil und kündigen eine derartige Aktion an in der Form, daß eine Note an sämtliche Signatarmächte von Versailles gerichtet werden und darin eine bestimmte Zahlung vorgeschlagen werden soll. Von der conditio sine qua non: solange die Franzosen nicht die besetzten Ruhrgebiete geräumt haben, wird nicht verhandelt, ist keine Rede mehr. Wie Herr Cuno sich mit den Völkischen dabei zurechtfinden wird, ist seine Sache. Es fragt sich ja auch, ob die Sozialdemokraten nicht in ihrer Ministersehnsucht den Großindustriellen aus der Patsche helfen, indem sie das Odium auf sich nehmen. Die Nationalisten sind sehr stark und haben in Bayern vollständig das Heft in der Hand. Selbst Herr v. Kardorff von der Deutschen Volkspartei hat im preußischen Landtag erklärt, das Gerede von der bayerischen Ordnungszelle sei der größte Schwindel der Weltgeschichte und die Schwäche der bayerischen Regierung evident. Im Miesbacher Anzeiger (der mir ohne Mahnung wieder zugeht) wird Gürtner wie ein Schuljunge abgekanzelt, der Völkische Beobachter leistet sich eine Sprache, die jeden andern Jahre hindurch ins Gefängnis brächte und erklärt, wer die Verhaftung Eckarts und Wegers wagen wolle, möge vorher den Sarg bestellen. Seppl schreibt mir und erzählt, wie er mit 5 Freunden aus einem Konzert kam, von etwa 25 Hakenkreuzlern überfallen wurde, wie die Polizei eingriff, und nicht etwa die Wegelagerer, sondern auch noch mit ihren Gummischläuchen die 6 Überfallenen verprügelte. Dabei winselt die Regierung um die Leute herum. Gürtner spricht in Bamberg öffentlich aus, die passive Resistenz müsse in aktiven Widerstand umgeleitet werden – ein deutscher Minister! Als ob man in Paris nicht solche Äußerungen sammelte. Schweyer steht ganz offenkundig unter dem direkten Befehl Hitlers, kurz – es ist eine Freude, in Bayern zu leben. Dazu die Wirtschaftslage, die gradezu katastrophal ist. Zwar hält man den Markkurs immer noch einigermaßen. Vor einigen Tagen schnellte der Wert zwar von 20 – 21 000 zum Dollar plötzlich auf über 30 000 hoch, doch ist es gelungen, ihn durch neues Auswerfen von Devisen (aus dem Reichssäckel in die Taschen der Industriellen) wieder auf etwa 27000 zurückzubringen. Bedenkt man aber, daß erstens der Bestand der Reichsmittel begrenzt ist, zweitens das dauernde Rotieren der Notenpresse, die monatlich für Billionen Papierscheine in Umlauf bringt, unausgesetzt fortdauert, dann weiß man, daß der Krach absolut kommen muß, und zwar in unerhörten Dimensionen. Die Streikbewegungen überall zeigen ja auch, was los ist, und die Erbitterung der Arbeiterschaft muß weiter wachsen, da die Politik der deutschen Bourgeoisie ganz tolle Manipulationen vollführt, um das Proletariat auszupressen und den Reichtum der Privilegierten ungemessen zu erhöhen. Die Reichseinkommensteuer wird z. B. zu 86 % durch den direkten, von den Unternehmern durchgeführten Lohnabzug bei den Arbeitern erhoben. Dabei ist selbst diese Steuer noch ein Mittel zur ungeheuerlichsten Bereicherung des Kapitals. Denn die Arbeitgeber, die die 10 % zu einem verhältnismäßig hohen Markkurs abziehn, bekommen die Ablieferung vom Reich gestundet, bis das Geld nur noch einen Bruchteil der Zahlkraft hat wie zur Zeit der Eintreibung von den Arbeitnehmern. Auf die Dauer werden solche Schiebungen doch wohl nicht geheim gehalten werden können. Dann muß natürlich die Stimmung durch die Heuchelei in der Franzosenpolitik aufgepeitscht werden. Während man sich noch immer über die Essener Schießerei ereifert, winselt man in Mühlheim die Mörder an, sie möchten doch freundlichst gestatten, daß Schupo geholt wird, damit das deutsche Kapital die deutschen Proletarier zusammenknallen kann. Die Franzosen lehnen das ab und schmeißen sich dabei in die Brust, sie seien die wahren Arbeiterfreunde. All diese Wirrnis ist doch wohl schon zu tief eingefressen, als daß sie gewaltlos gelöst werden könnte. Diejenigen, die mit Gewalt dagegen auftreten werden, sind natürlich die Völkischen. Es steht fest, daß sie im November, dann am 27. Januar und zuletzt am 31. März ihre geplante Aktion wegen plötzlicher Zwischenfälle vertagen mußten. Das bedeutet nicht, daß der Aufstand noch lange vertagt bleiben wird.
Niederschönenfeld, Sonnabend, d. 28. April 1923.
Auf jede Gefahr hin will ich doch die Hauschronik hier nicht ganz einschlafen lassen. Es scheint mir so wichtig, irgendwo Tatsachenmaterial schriftlich gesammelt zu wissen, daß ich die Gefahren für Leben und Gesundheit dafür in Kauf nehme. Nur die kritischen Anmerkungen werde ich für später zurückstellen, um Maßregelungen gegen mich auf die Begründung zurückzuzwingen, daß ich überhaupt notiert habe, was geschieht. Im Formalen werde ich mir daher jede Zurückhaltung auflegen. – Gestern erhielt Toller durch den Vorstand die Mitteilung, daß seine Mutter tötlich erkrankt ist, weswegen seine Angehörigen unter Berufung auf die Bestätigung des Kreisarztes telegrafisch um Urlaub für ihn eingegeben haben. Er fragte Toller, ob er sich dem Antrag anschließe und welche Garantieen er biete. Auf Tollers Erklärung, daß er Ehrenwort und Kaution anbiete, folgte die Erinnerung, daß T. einmal erklärt habe, er werde niemals die Gnade der Staatsbehörden anrufen, worauf T. dann unter Gewissenszwang erklärte, daß er in der Urlaubsbewilligung keinen Gnadenakt erkennen würde. (Er hätte klüger getan, den Vokabelstreit abzulehnen und zu sagen, daß es ihm einerlei sei, mit welchem Ausdruck die Behörde ihre Urlaubsbewilligung bezeichne). Seine Bitte, auf seine Kosten telefonisch mit München das Weitere zu veranlassen, wurde als unzulässig abgelehnt, und nun nach 24 Stunden steht alles noch wie vorher. Eine Reihe dringender Telegramme – an Landtagspräsidenten, Rechtsbeistand, Schutzverband deutscher Schriftsteller ist weg und die Eingabe ans Justizministerium mußte schriftlich abgehn. Alles ist in großer Erwartung, ob und unter welchen Bedingungen der Urlaub bewilligt werden wird. – Überraschenderweise traf gestern Amereller wieder ein, der vor genau 2 Monaten auf „Strafunterbrechung bis auf weiteres“ entlassen war. Wie er berichtete, habe er in Wiesbaden Arbeit gefunden gehabt und um sie anzutreten die Ausstellung eines Passes ins besetzte Gebiet beantragt. Die Antwort war seine Verhaftung und Zurückschleppung zur Festung, wo er nun noch 7 Monate abzumachen hat. – Von der Tagesgeschichte ist zu bemerken: Der Marksturz der letzten Woche – momentan ist der Kurs auf 29 – 30000 „stabil“ – hat sonderbare – oder auch sehr natürliche – Aufklärung gefunden. Havenstein hat in einer Rede gejammert, daß sehr ernste Wirtschaftskreise durch riesige Devisenankäufe schuld seien, und jetzt wird bekannt, daß diese Wirtschaftskreise identisch sind mit dem Stinnes-Konzern, das den Ehrgeiz hat, die Mark erst wieder bei 40.000 zu „befestigen“. Die angekauften Devisen aber sind eben die, die das Reich hinausschleudert, um den Kurs zu halten, während es gleichzeitig Noten druckt, daß das Volk drunter erstickt. – Zum 1. Mai stehn anscheinend wieder nationalistische Krachs bevor. Man hat in München vor, die Maifeier auf der Theresienwiese zu begehn. Die Polizei hat dazu die Bedingung gestellt, daß keine Sowjetfahnen dabei mitgeführt werden dürfen (Hakenkreuzfahnen sind noch nie verboten worden). Die Nationalsozialisten kündigen Gewalt gegen jede Maifeier an. Es kann also munter werden. Die Haftbefehle gegen Weger und Eckart sind jetzt zwar ergangen, aber noch nicht durchgeführt. Weger ist in seiner Miesbacher Wohnung nicht zu finden und Eckart erklärt im Völkischen Beobachter, daß man ihn nur holen solle. Er ist von Sturmknüpplern umgeben. Beschämenderweise veröffentlicht Eckart aber im selben Artikel, in dem er sich aufs hohe Roß setzt, er werde keinem Staatsgerichtshof gutwillig Folge leisten, vorsorglich ein ärztliches Attest, daß er haftunfähig sei. Das ist schwach für den starken Mann! – Im Reichstag ist wieder weitläufig über die bayerischen Zustände geredet und geschimpft worden. Doch fand der Reichsjustizminister Heinze, daß Bayern keinen Deut vom Wege des Rechts abgewichen sei. Der bayerischen Volkspartei wird es aber langsam Angst vor ihren nationalsozialistischen Freunden. Man fürchtet einen Riesenklamauk, der auch schief gehen könnte. – Montag kommt Zenzl und da werde ich denn wohl mancherlei erfahren, Persönliches und Allgemeines, vielleicht auch Neues über unsre Aussichten. Manche Genossen hoffen wieder – einerseits wegen der Liquidation des Ruhrwiderstands, die eine größere Verzeihungsaktion gegen die „Verräter“ beim passiven Widerstand wahrscheinlich macht, wobei man ja möglicherweise auch an uns denken könnte, andrerseits wegen der Schwulitäten Bayerns mit ihren Rechts-Revolutionären, aus denen man durch eine Amnestie nach beiden Seiten glimpflich herauskommen könnte. Ich registriere dies nur. Mit eignen Prophezeiungen habe ich schlechte Erfahrungen gemacht.
Niederschönenfeld, Dienstag, d. 1. Mai 1923.
Zenzls Besuch verlief, unter Aufsicht des Herrn Sauer (die ich wohl früheren Tagebuchglossen zu danken hatte) über alles Maß qualvoll. Gleich bei meinen ersten Worten wurde ich – im Tenor der Unteroffiziersschule – ermahnt: „Herr Mühsam, Sie müssen laut und deutlich sprechen, damit ich jedes Wort verstehn kann.“ Ich hatte keineswegs geflüstert, mußte nun aber bei jedem Wort zur eignen Frau zunächst dran denken, daß ich es eigentlich an Herrn Sauer zu richten hätte. Bei dem Auftrag an Zenzl, den Schutzverband zu veranlassen, sich für die sichere Verwahrung meiner Tagebücher zu verwenden, kam der Befehl, über die Tagebücher dürfe nicht gesprochen werden, und ich dürfe überhaupt nur von Familienangelegenheiten reden. Ich bestand darauf, auch meine geschäftlichen Angelegenheiten zu erörtern und es gab den üblichen Zusammenstoß, wobei Herr Sauer erklärte: die Tagebücher gehörten auch nicht zu meinen geschäftlichen Angelegenheiten. „Das kann ich auch beurteilen.“ Der Gefängnisaufseher erklärte sich also als kompetent in literarischen Dingen. Während der Auseinandersetzung erschien, herbeigelockt vom lauten Reden, Herr Fetsch, der in seiner cholerischen Weise anfing, auf Zenzl, die sich überhaupt nicht an dem Streit beteiligt hatte, einzureden und zwar gleich mit der Drohung, den Besuch abzubrechen. In der Tagebuchsache verzichtete ich natürlich darauf, den beiden Herren verständlich zu machen, daß die täglichen Aufzeichnungen aus 4 Jahren für einen Schriftsteller das allerstärkste literarische und geschäftliche Interesse hätten. Es gelang mir auch rasch, die nötige Ruhe wiederzugewinnen, sodaß wenigstens Zenzls Entfernung und meine Abführung in Einzelhaft vermieden wurde, – vielmehr in Absonderung. Denn als Zenzl einmal von der Zeit meiner Einzelhaft sprach, unterbrach Herr Sauer – immer in seinem eigenartigen wie im Automaten aufgezogenen Ton – und bedeutete: „Es gibt keine Einzelhaft hier!“ Ich klärte Zenzl auf, die ein sehr erstauntes Gesicht gemacht hatte, daß es nur eine Absonderung gebe. Den Unterschied wird sie wohl so wenig begreifen wie wir dazu imstande sind. Daß der harmlosere Ausdruck eine bedenkliche Sache ist, merkte sie an meinem sehr nervösen Zustand. – Von ihren Berichten waren mehrere für mich recht wichtig. Vor allem die, daß die Austauschverhandlungen von Rußland aus tatsächlich geführt werden, und zwar handelt es sich nicht um eine größere Zahl auszutauschender Gefangener, sondern in diesem Fall nur um den einen polnischen Geistlichen, der zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt wurde, und mich. Da sich die deutsche Presse besonders aufgepumpt hatte über das Urteil – einer der beiden Pfaffen wurde zum Tode verurteilt und hingerichtet, und um den zweiten geht der Lärm –, wird jetzt ebenso wie im Falle der Sozialrevolutionäre, wo Timofejew gegen Hölz verlangt wurde, der Austausch gegen mich vorgeschlagen. Zenzl hat mein Bild für „Sichel und Hammer“ hergeben müssen, da soll ich nun also neben einem hohen katholischen Priester ausgestellt werden. Die Sache ist politisch sehr klug von den Russen gedacht. Interessiert an der Freigabe des Pfaffen ist der ganze katholische Klerus. Möge also die Kirche in dem Lande, in dem sie unumschränkt herrscht, das ihrige tun, um einen gefangenen Juden, Revolutionär und Literaten freizubringen, dann kann Polen seinen Pfaffen wiederhaben. Ich bin also in der komischen Lage, mein Schicksal momentan am Interesse des Vatikans hängen zu wissen, und es ist keineswegs ausgeschlossen, daß ich durch die Bemühungen des Nuntius in München tatsächlich herausgegeben werde, daß ich also meine Rettung dem Papst zu danken haben werde. Ich habe mich entschlossen, in diesem Falle anzunehmen unter der Verpflichtung – falls man mich fragten sollte, – Deutschland solange nicht wieder zu betreten, wie meine Strafe gesetzlich nicht als verbüßt angesehn wird. – Übrigens bin ich weit entfernt, schon mit einem Erfolg der Aktion zu rechnen. Möglicherweise ist der Austauschpriester der Klerisei im Zuchthaus ein so gutes Propagandaobjekt, daß man in Rom davon absieht, seinetwegen der bayerischen Regierung einen ihr immerhin unbequemen Befehl zu geben, – will sagen ihr etwas der Reaktion Lästiges zu empfehlen. – Dann: Die Liga für Menschenrechte arrangiert einen Riesenaufruf an das deutsche Volk oder die Menschheit oder sonstwen, in dem gegen die Niederschönenfelder Schande protestiert werden soll. Was in der Kunst- und Kulturwelt Namen hat, soll schon unterschrieben haben. Nützen wird’s vorerst nichts, aber als Stimulans wird man es schätzen dürfen. Graf Keßler, Gumbel und Persönlichkeiten ähnlichen Schlages – also gewiß nicht die Schlechtesten – sind die Hauptförderer des Unternehmens. – Für mich persönlich geht außerdem ein Versuch, mir Behandlung von Ohren, Herz etc. im Krankenhaus zu verschaffen. Hans hat Zenzl überdies gestanden, daß er mehr für meine Lungen als für mein Herz fürchtet. Ich halte jede Aktion dieser Art für absolut aussichtslos. Der Fall Hagemeister hat’s ja gezeigt, wie die maßgebenden Instanzen über die Wichtigkeit unsres Gesundheitszustandes denken. Schließlich: Resl möchte heiraten. Ihre Anfrage, ob sie herkommen darf, um meinen Rat in dieser Angelegenheit zu hören, wurde von der Verwaltung verneinend beantwortet, da sie nicht mit mir verwandt sei. § 16 der Hausordnung (selbst der Müllerschen) zählt unter Angehörigen die Verschwägerten ausdrücklich auf und sagt dann: „Bei andern Personen entscheidet der Vorstand über die Zulässigkeit und Dauer des Besuches.“ – Also die Schwester der Frau wird trotzdem nicht zugelassen. Fragt man aber nach den Grenzen seiner Rechte, so kommt die Auskunft, darüber informiere die Hausordnung! – Die Freude des Wiedersehns war also in mancher Hinsicht recht getrübt. Aber man muß trotz aller Qual von Zeit zu Zeit die körperliche Nähe des andern spüren. Der kerngesunde Zärtlichkeitstrieb will trotz der grauenvollen Aufdringlichkeit des Zeugen doch manchmal eine Andeutung spüren, daß er noch nicht verhungert ist, – und da muß ich sagen: Zenzl, die doch bald in ihr 40tes Lebensjahr kommt, ist immer noch eine Frau, deren Reize man nicht bloß mehr aus der Rückerinnerung oder durch Vermittlung seelischer Empfindungen lieben kann. Ich wollte, ich könnte es ihr endlich, endlich wieder beweisen. – Im übrigen ist folgendes zu notieren: Toller erhielt gestern den endgiltigen Bescheid, daß sein Urlaub ans Sterbebett seiner Mutter nicht zur Berücksichtigung geeignet sei, nachdem ihm vorgestern durch seinen Anwalt Bescheid zugegangen war, daß wegen des Gesuchs extra der bayerische Ministerrat zusammenberufen worden sei (!). Die Sache wird natürlich einen ungeheuren Skandal aufrühren, – aber in Norddeutschland, während die Genehmigung in Bayern neuen Stank verursacht hätte. Die Entscheidung zeigt also, wessen Proteste die bayerische Regierung mehr fürchtet. – Der Zustand der alten Frau Toller ist nach den letzten Mitteilungen an den Sohn unverändert. Stirbt sie, so steht wohl jetzt schon fest, daß auch zur Beerdigung kein Urlaub, auch gegen höchste Sicherheiten nicht, gewährt wird. Man weiß nun wenigstens genau, wodran man ist. Das zeigt sich auch sonst in der derzeitigen Praxis für Aufrechthaltung der Hausdisziplin. Heute, am 1. Mai, haben wir fast alle Festtagsanzüge angelegt. Tanzmaier hat an seinem Sonntagsrock noch von der Untersuchungshaft her – also 4 Jahre schon – ein rotes Band ins Knopfloch genäht gehabt. Das ist auch noch nie beanstandet worden, nur Sowjetsterne sind verboten. Als er heut vormittag in den Hof wollte, faßte ihn Herr Fetsch am Gitter des I Stocks ab und führte ihn ohne weiteres in Einzelhaft, bis der Oberregierungsrat, der grade von einem Urlaub zurück ist, da war. Das war nach einer halben Stunde, und Tanzmaier wurde mit einer Verwarnung herausgelassen. Die Neuerung liegt nicht nur bei dem Verbot des roten Bandes, sondern vor allem darin, daß Herr Fetsch zum ersten Mal aus persönlicher Entschließung Absonderung verhängt hat. Das sieht die Hausordnung (§ 22) für den einzigen Fall vor, daß „die unverzügliche Anwendung geboten ist und die Anordnung des Vorstandes nicht eingeholt werden kann “. – Nutzanwendungen kann ich mir ersparen. Immerhin ist vielleicht die Annahme berechtigt, daß heute vorn eine gewisse Nervosität herrscht. In München hat es vor ein paar Tagen zwischen Nationalsozialisten und Kommunisten eine reguläre Straßenschlacht gegeben, woran 400 Personen beteiligt waren. Es wurde geschossen und gab einen Toten. Die beabsichtigten Demonstrationen sind, nachdem die Nationalsozialisten es kategorisch verlangt hatten, samt und sonders polizeilich verboten worden, und nun ist die große Frage, ob die Arbeiter sich dem Verbot fügen werden. Die Tatsache, daß Kommunisten und Sozialdemokraten gemeinsam demonstrieren wollten, beweist, daß Auer und seine Kreaturen schon stark unter dem Druck der Proletariermassen stehn müssen, die offenbar schon in recht verzweifelter Stimmung sein müssen. Ich kann nicht beurteilen, wie weit die Einschüchterung der Massen bis jetzt gediehen oder gelockert ist. Aber den Nationalsozialisten Drechsler haben seine Arbeitskollegen in den Bayerischen Motorenwerken aus dem Betrieb hinausgeprügelt, sodaß er im Spital liegt. Die Wut muß also schon groß sein, – und heute hängt Gewölk in der Luft.
Nachzutragen: Außer einer ganzen Serie von Zeitungsnummern (heute allein 3 Nummern der Berliner Volkszeitung und eine der Wiener Roten Fahne) wurde mir heute ein Brief des 15jährigen Sohnes August von August Hagemeister und eine Postkarte von Dr Schollenbruch als zu den Akten genommen angezeigt, beide wegen propagandistischen Inhalts.
Niederschönenfeld, Donnerstag, d. 3. Mai 1923
Feiertag: Kreuzerhöhung oder -erfindung oder dergleichen, jedenfalls nur ein Ortsfest, aber wir kriegen keine Post. Die Spannung, die sehr groß ist, muß also noch 24 Stunden weiter getragen werden. Die Zeitungskonfiskationen gleichen in den letzten Tagen fast denen nach der Rathenau-Ermordung. Welches der Grund ist, ist nicht zu erkennen. Da am 1. Mai fast überall die Arbeit ruhte, kann es sich noch nicht um die Mitteilungen über den Verlauf in München handeln. Vielleicht ist der Aufruf schon heraus oder der Fall Toller ist’s oder auch meine Sache wegen des Austauschs. Ich habe mich nun etwas orientiert, wer der Partner in diesem Geschäft ist. In dem Prozeß in Moskau wurden – außer den höchsten Würdenträgern der orthodoxen Kirche – zwei katholische Priester der konterrevolutionären Konspiration mit Koltschak, Wrangel etc. beschuldigt, die zuerst verhandelt wurden. Der polnische Prälat Budkiewitsch wurde am 2. oder 3. April in Moskau hingerichtet. Mit ihm stand der Erzbischof von Petersburg (den Namen weiß ich noch nicht) vor Gericht und wurde zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt. Seine Befreiung wird nun also von der meinigen abhängig gemacht, und, so ungewiß mir vorläufig der Ablauf der Verhandlungen scheint, so amüsiert mich doch zunächst das Bewußtsein, daß jetzt sicherlich der Petersburger Erzbischof mit aller Inbrunst seiner katholischen Frömmigkeit für meine Entlassung aus der bayerischen „Ehrenhaft“ betet. Ich leugne nicht, daß sein Wunsch bei mir auf volle Gegenseitigkeit stößt. Aber – abwarten! – Die politische Lage wird inzwischen täglich explosiver. In Bayern scheint alles zur Entladung zu drängen. Es ist durchaus möglich, daß sich vorgestern auf der Theresienwiese allerlei abgespielt hat, wohin die Arbeiter zusammengetrommelt wurden. Die Nationaille hat mit Vorarbeiten nicht geknausert. Auch Mordgerüchte waren wieder im Umlauf, und man hat einen jüdischen Lumpensammler Kupfer verhaftet, der für den Kopf Hitlers 3 Millionen ausgeboten haben sollte, wie sich dann aber herausstellte, einfach das Opfer einer Racheaktion seines Denunzianten war. Ferner wurde ein gewisser Kohlhofer verhaftet und ein Richard Weber. Kohlhofer hat von Weber behauptet, er hätte ein Attentat gegen Auer vor, und Weber behauptet dagegen, Kohlhofer habe im Gegenteil in nationalsozialistischen Kreisen dazu aufgeputscht. Die Korrespondenz Hoffmann gibt über die Angelegenheit einen Bericht aus, der deutlich erkennen läßt, daß man Kohlhofer hauptsächlich deswegen eingesperrt hat, weil er Auer über nationalsozialistische Parteiangelegenheiten Material geliefert hat. Ob er tatsächlich als Lockspitzel gewirkt hat, wird man wohl noch erfahren. – Die Ruhrgeschichte steht vor dem Bankrott. Ein Botschaftsrat der deutschen Gesandtschaft in London ist nach Berlin gekommen und hatte dort die üblichen „Pourparleurs“ mit den Parteibonzen und den Regierungsknüppeln. Er soll schreckliche Neuigkeiten gebracht haben, – denn den deutschen Politikern vom Fach sind immer die von Außenstehenden längst erkannten Tatsachen, wenn sie ihnen endlich verraten werden, die größten Neuigkeiten. Die englische Regierung soll keine Lust mehr haben, sich das Passivitätstheater noch lange mit anzusehen und fordert ein klares, unzweideutiges und akzeptables deutsches Reparationsangebot, wenn anders die Entente nicht auch in der Ruhrfrage geschlossen hinter die französisch-belgische Aktion treten soll. Nun sollte gestern die Note abgesandt werden, und kein Mensch glaubt natürlich, daß sie die Ansprüche und Bedingungen Frankreichs und der Alliierten befriedigen wird. Die Nationalisten toben, weil man verhandelt, ehe das Ruhrland geräumt ist, die französische Presse erklärt vorneweg, daß nur die absolute Unterwerfung Deutschlands akzeptiert werden wird, die deutsche Industrie spekuliert weiterhin auf die Langmut und Blödheit der Arbeiter und auf das Steigen des Dollars, draußen wächst Hunger, Verzweiflung und Empörung, und wenn es keine Sozialdemokraten gäbe und die Kommunisten nicht „Realpolitiker“ sondern Revolutionäre wären – Gottseidank sind’s wenigstens die Massen, die bei ihnen stehn –, dann wäre Hoffnung auf große Dinge. Die Situation ähnelt der vor Kriegsende in mancher Beziehung ganz außerordentlich, und die Zeit seit Ende des Kriegs ist ungefähr ebenso lang wie die Kriegszeit im ganzen war.
Niederschönenfeld, Sonnabend, d. 5. Mai 1923.
Zuerst die Niederschönenfelder Kleinigkeiten. Eine Unmenge Zeitungskonfiskationen wie jeden Tag. Ferner wurde Toller und mir ein für uns gemeinsam bestimmtes Telegramm aus Neustadt bei Foburg(?), unterzeichnet Wachtel, Sauer und Liep wegen agitatorischen Inhalts vorenthalten. Vermutlich eine Begrüßung zum 1. Mai oder dergleichen. Wachtel kenne ich seit vielen Jahren. Er war ein Freund von Margarete Beutler, jetzt ist er Mitarbeiter der „Weltbühne“. Die übrigen Unterzeichner sind mir unbekannt, auch der Ort, von dem aus sie telegrafiert haben. Dann: Olschewski ist gestern aus der Einzelhaft wieder emporgestiegen. Schlaffer und Sauber sind noch unten. Eine Freude hatte ich heute durch den Empfang einer Postkarte von der Liga für Menschenrechte (Lehmann-Russbüldt), worin mir mitgeteilt wird, daß für die Beschaffung eines Ohrenmassageapparats für mich 145.000 Mark aufgebracht worden sind. Heut vor 10 Tagen hat ihn mir der Vertretungsarzt empfohlen, und ich benachrichtigte nur Zenzl davon, also ein fabelhaft rasches Helfen! – Hoffentlich geht die Anschaffung ebenso schnell. Da ist schon deshalb größte Eile geboten, weil die Mark mal wieder rapide im Wert stürzt und der Dollar 40.000 steht. Grund dafür ist die Note, zu der sich die Regierung Cuno aufgeschwungen hat, und die von halblinks bis halbrechts die fröhlichste Zustimmung findet. Ich habe jetzt Scheidemann „Zusammenbruch“ gelesen, und da wundert einen überhaupt nichts mehr. Eine derartige Anhäufung von Plattheit, seelischer Dürre, Nulpigkeit und komischer Aufgeblähtheit habe ich mein Lebtag noch nicht beisammen gesehn. Mein Bröschke ist keine Übertreibung, er bleibt noch hinter seinen Modellen zurück. Nur eins muß ich zugeben: mit dem Vorwurf der subjektiven Unehrlichkeit tut man den Leuten zuviel Ehre an. Sie sind so dumm, daß sie ihre infamsten Lumpereien garnicht als anstößig erkennen. Es ist bei Scheidemann Natur, daß er die Welt aus der Perspektive des Vorzimmers bürgerlicher Minister erlebt. Und so wie er scheinen sie absolut alle zu sein, auch die von den andern Parteien. Deutschlands Politiker haben 1916 ihr „Friedensangebot“ tatsächlich selbst für ehrlich gehalten, und wenn ihnen jetzt wieder in Frankreich, Belgien, England und überall angesichts der neuen Note grotesker Mangel an Psychologie vorgehalten wird, so sagt das nur, daß der gleiche Stumpfsinn wie damals bei uns den Ton angibt. Von den – sehr dürftigen und zweideutigen – positiven Reparationsvorschlägen abgesehn, die vielleicht nicht gehindert hätten, überhaupt zu verhandeln: gleich an der Spitze versichert Cuno, daß der passive Widerstand fortgesetzt werden soll. Wenn jetzt natürlich Franzosen und Belgier von vornherein Nein! sagen, ist deren „Vernichtungswille“ wieder mal bewiesen. In Deutschland merken nur Leute, die – eben weil sie imstande sind, sowas zu merken, konsequent von allem Mitreden ferngehalten werden, wie vollkommen irrsinnig das Verfahren der gegenwärtigen Regierung ist, die erst die dicken Töne anschlug, sie werde solange nicht verhandeln, wie ein Franzose im Ruhrgebiet steht, nun doch Verhandlungen vorschlägt und gleich dazu erklärt, sie werde die Verletzung des Versailler Vertrags – wonach Deutschland keinerlei Repressalien gegen Vertragsverletzungen als feindliche Handlung auffassen darf – fortsetzen. Außerhalb Deutschlands merkt’s alle Welt, aber bei uns nur der Laie und – die Börse, die prompt mit riesigen Markverkäufen reagierte. Sie fuhrwerken – auch ohne revolutionäre Hochwallung beim Proletariat – mit fatalistischer Blindheit in die Wüste der gänzlichen Auflösung. Übrigens scheint nach den Berichten über den Verlauf der Maifeiern eine gewisse Ahnung vom wirklichen Stand der Situation allmählich bei den Massen aufzudämmern. Wenn man den Zeitungen glauben kann, wäre in München ein so kolossaler Aufmarsch von Arbeitern erfolgt, daß die Nationalsozialisten nicht gewagt hätten, loszuschlagen, wozu wieder alle Vorbereitungen getroffen gewesen seien. Sie sind in Reichswehruniformen mit Reichswehrwaffen ausgerüstet aufmarschiert, um die „Nebenregierung“ Knilling zu stürzen, München zu besetzen und aufzuräumen. Aber sie sind Schlappschwänze und halten die Vorsicht immer im letzten Moment doch noch für die sicherste Methode, ihr Leben zu schonen. So hat auch Dietrich Eckart es jetzt vorgezogen zu türmen, nachdem er erst alle Welt herausgefordert hatte, ihn holen zu lassen, wenn man sich herantraue, aber dann bald zur Verstärkung seiner Leibgarde ein ärztliches Attest als Panzerhemd um seinen umfänglichen Leib legte. Diese Schwäche repräsentiert heutzutage die stärkste Macht im Land, und selbst Müller-Meiningen hat in einem Landtagsausschuß Weh geschrieen über die Kräfte, die bei der Arbeiterschaft allmählich dagegen heranwachsen. Er hat kassandrisch geweimert, er sehe Dinge in Bayern heranreifen, gegen die die Ereignisse von 1918 ein Kinderspiel gewesen seien. Es wird halt drauf ankommen, ob die Arbeiter sich entschließen werden, den ersten Tritt ihrem Auervater zu geben. Dann bedarf es für das Zusammenkrachen der ganzen Orgeschherrlichkeit wirklich nur noch eines Fußtritts. – Die einzige Frage ist jetzt noch: wann? Das ob scheint schon besiegelt. Für meine Person muß ich gestehn, daß ich unendlich froh wäre, wenn es der Kurie gelänge mich nach Rußland zu verfrachten. Aber viel glücklicher wäre ich noch, wenn diese Notwendigkeit überholt würde durch eine Entwicklung, die es mir erlaubte, dazubleiben, um dem Zweck meines Daseins im eignen Volk zu dienen.
Niederschönenfeld, Montag, d. 7. Mai 1923.
Mit der Post kam ein Brief Zenzls und darin eine Mitteilung, die meinen fröhlichen Optimismus ganz bedeutend stärkt, obwohl sie eigentlich den Stand der Austauschangelegenheit unverändert läßt. Die russische Regierung hat mich (und Max Hölz) zum Ehrensoldaten gemacht und mich und meine Familie unter den Schutz eines Reiterregiments gestellt. Ich bin nun also glücklich zum Kavalleristen honoris causa aufgerückt. Zenzl hat schon den Paß, der das legitimiert, erhalten. Doch ist als Bild wieder das Porträt Landauers beigegeben, sodaß Zenzl noch einige Umstände erwachsen werden. Aber diese dauernde Verwechslung mit dem besten Freund, mit dem ich schon im Leben und eben der Idee wegen so eng verbunden war, rührt mich und mahnt mich. Ich werde, wenn es wirklich zu dem Austausch kommt, nicht einfach meine Befreier preisen und sie unkritisiert tun lassen, was ihnen gefällt. Mein erstes Wort drüben wird Machno gelten, der leider immer noch von den Russen aus dem polnischen Gefängnis herausverlangt wird, und ich will mich erbieten, wenn es angeht, ihn vor dem Tribunal zu verteidigen. – Meine Taktik, über die Austauschmöglichkeit offen in Briefen zu korrespondieren, hat den beabsichtigten Erfolg. Heute kam eine sozialdemokratische Zeitung herein (Volkszeitung für das Vogtland), die unter der Überschrift „Ödeste Nachäfferei“ von Hölz’ und meiner Ernennung zu Ehrensoldaten des 46. Reiterregiments der roten Armee berichtet. Sollte es sich nicht um ein zufälliges Übersehn des Zensors handeln, dann nehme ich an, daß man diese Zurückhaltungen als zwecklos aufgegeben hat, nachdem aus meinen Briefen deutlich geworden war, daß wir ohnehin Bescheid wissen. Zweifellos haben aber die Menge Konfiskationen der letzten Wochen ihren Grund hauptsächlich in Mitteilungen über meine Sache. – Ich bin nun also Ehrenreiter und meine possierliche militärische Karriere ist um eine neue Außergewöhnlichkeit bereichert. Im Kriege und vorher stets „dauernd untauglich“, am 7. November 1918 erster bayerischer Soldatenrat, zwei Tage drauf 3 Stunden lang Kommandant des bayerischen Kriegsministeriums (und in diesen 3 Stunden wurde in dem Gebäude und drum herum mehr geknallt mit Flinten und Maschinengewehren, als vorher und nachher, seit es steht, zusammengenommen). Jetzt also roter Soldat mit Stempel, Siegel und Trara, Reiter ohne Gaul und ohne Sporen, aber von Ehren wegen. Zenzl ist sehr stolz. Ich für meine Person sehe die Komik der Sache deutlicher als alles andre, und mein Ehrgeiz ist von Hause aus zu wenig auf Orden und Titel gerichtet, als daß ich drüber platzen sollte. Dagegen sehe ich die praktische Seite der Ernennung sehr klar, und daraus erwächst meine Freude drüber. Der Öffentlichkeit wird durch die groß aufgemachte Preiskrönung der Schritt beim Vatikan einleuchtend gemacht. Ferner ist ein Grund geschaffen, einen Paß auszustellen, der vom Betreten russischen Bodens – also schon des Schiffsbodens – an die größten Garantieen sowohl für die persönliche Sicherheit als auch für die beste Behandlung bei allen Stellen gibt, und endlich erkenne ich aus der Sache, daß im Kreml ernsthaft die Absicht besteht, mich frei zu kriegen. Gelänge es doch! Und gelänge es doch auch für den armen Max Hölz! Ich möchte übrigens sehr gern den Seppl mit nach Rußland nehmen, und werde Zenzl fragen, ob sie etwas dafür tun kann. Ich hab’s dem Buben versprochen, daß er bei mir bleiben soll. Seine innigste Sehnsucht ist Rußland, und er ist mein Lebensretter gewesen. – Die Wirkung der Nachricht hier im Hause deutet sich erst an. Gestern kam Schlaffer wieder aus der Einzelhaft herauf, Sauber ist noch unten. Dem wird’s am bittersten sein und am unerklärlichsten, daß man den konterrevolutionären ideologischen kleinbürgerlichen Anarchisten vor der ganzen Welt auf den Ehrenschild hebt, und noch dazu da, wo man nie irren kann. Ich vermute, daß nun von allen Seiten Anschluß an mich gesucht werden wird, doch werde ich mich reserviert verhalten. Gestern erschien Schwab bei mir, um mir Versöhnung vorzuschlagen. Ich rief Luttner hinzu, und nachdem Schwab mich in dessen Gegenwart in aller Form um Entschuldigung gebeten hat und mir auch schriftlich eine Ehren- und Entschuldigungserklärung gegeben hat, habe ich die Beziehung mit ihm wieder genehmigt. Es sind 1½ Jahre über die Schweinerei ins Land gegangen. Schwamm drüber! Außerdem ist von häuslichen Dingen zu vermerken, daß der arme Amereller schwerkrank ist und heute auf ärztliche Anordnung in Einzelhaft gekommen ist, was ja nun mit Zustimmung des Landtagsausschusses als die richtige Methode anerkannt wurde, bayerische Ehrenhäftlinge vom Leben zum – Gesundwerden zu befördern. – Politik: Die Note des Herrn Cuno wird selbstverständlich mit einem Schubs von allen Ententemächten abgetan. Die Politiker in Deutschland wundern sich darüber, sonst niemand. – Sehr interessant ist die Enthüllung, die im Landtagsausschuß ausgerechnet Herr Dr. Wohlmut – ein verstockter Klerikaler – auspackte. Danach hat ein bayerischer Ministerialrat, also ein hoher Regierungsbeamter, die Vaterländischen Verbände – die der großdeutschen Richtung Ludendorff-Hitler zugehören – auf separatistische Machenschaften aufmerksam gemacht, die auf eine Vereinigung Bayerns mit Österreich hinauslaufen, die in allen Punkten vorbereitet sei, außer der Person des Landesherrn – Wittelsbach oder Habsburg? – Die Pfalz und Nordbayern sollen abgetrennt werden, und Hauptmacher an der Sache seien der bayerische Ministerpräsident Knilling und der bayerische Innenminister Schweyer. Ja, Herr Dr. Schweyer habe kürzlich in der Pfalz mit dem französischen General de Metz verhandelt und sich die Zustimmung Frankreichs zu dem Plan gesichert. Herr Dr. Schweyer versprach dem Ausschuß die Einleitung einer Untersuchung über den Fall (also in eigner Sache) –, der ihn aufs Tiefste deprimiere. Ob sich der Ministerialrat die ganze Geschichte nur aus den Fingern gesogen hat? Ich glaub’s nicht. Da ich selbst durchaus nicht der Meinung bin, daß Bayern notwendig beim Reich bleiben muß – dieser staatsunitarische Aberglaube sitzt bei allen Demokraten und Marxisten so fest, daß selbst die konterrevolutionärsten Partikularisten nicht wagen, sich offen zu ihrer Ansicht zu bekennen, – kann ich mich über die Tatsache beim besten Willen nicht entrüsten. Ekelhaft ist nur die Tartüfferie der Beteiligten. Nach ihren Rechtsbegriffen liegt offenbarer Hoch- und Landesverrat vor, und sie schreien am lautesten, wenn irgendein Leoprechting dasselbe tat was sie tun möchten. Und beileibe darf keinem Räterepublikaner und keinem Fechenbach milde Behandlung zuteil werden. Nach vollen 4 Jahren muß unsereiner, wenn er überhaupt auf Rückkehr ins Leben hoffen will, all seine Chancen von Mächten erwarten, die am Ende doch noch stärker sind als die bayerische Regierung, wo sie Wehrlose vor sich hat. Ich stehe ja jetzt zwischen den Gewalten. Verbündete sich Kreml und Vatikan wirklich zu meiner Befreiung, dann muß sich zeigen, ob auch gegen diese Weltfesten die Bastille von Niederschönenfeld ihre Tore verrammeln kann.
Niederschönenfeld, Dienstag, d. 8. Mai 1923.
Abschrift: „An die Festungsverwaltung. Frl. Betty Haupt, eine Tochter des verstorbenen Herrn Hagemeister, hat mir mitgeteilt, daß sie bei der Verwaltung um die Erlaubnis mich zu besuchen nachgesucht hat. Frl. Haupt befindet sich auf einer Abschiedsreise in Bayern, da sie im Begriff ist, nach Südamerika zu übersiedeln. Ihr Wunsch ist, bei dieser Gelegenheit mich als den nächsten Freund ihres Vaters kennen zu lernen. Ich bitte um Auskunft, ob der zum 18. Mai beabsichtigte Besuch genehmigt ist, da ich von der Entscheidung darüber gewisse briefliche Auskünfte abhängig machen muß. – Meine Frau hat ebenfalls ihren Besuch zum 18. Mai in Aussicht gestellt. Für den Fall der Zulassung des Frl. Haupt frage ich an, ob gegen die Gleichzeitigkeit der Anwesenheit der beiden Besuche Bedenken bestehn. Mir persönlich wäre in der Voraussetzung, daß die Anwesenheit von Frl. Haupt auf einen Teil der gesamten Besuchsdauer beschränkt bleibt, der Empfang des jungen Mädchens in Gegenwart meiner Frau durchaus erwünscht. Sollte das nicht möglich sein, aber der Besuch des Frl. H. grundsätzlich erlaubt werden, dann müßte ich meine Frau zu einer Verschiebung ihrer Herreise veranlassen. N’feld, d. 8. Mai 1923 Erich Mühsam
Zeitungskonfiskationen in größtem Umfang. Ich allein wurde gestern und heute betroffen mit je einer Nummer der Wiener Roten Fahne, der Weltbühne, der Erkenntnis und Befreiung, der Berliner Volkszeitung und zwei Nummern des Miesbacher Anzeigers. Von der Frankfurter Zeitung wurden heute allein 4 Nummern beschlagnahmt. Toller bekam an diesem einen Tag 9 derartige Eröffnungen. Was los ist, können wir nur vermuten, und die Ansichten gehn auseinander. Ich denke am ehesten, daß die Knilling-Schweyer-Affaire ungeheure Sensation macht, und Tatsache ist, daß wir außer dem Wolffschen Sitzungsbericht weiter kein Wort über die Sache zu lesen bekommen haben. Es läge nahe, daß Vergleiche, wie ich gestern hier andeutete, auch draußen in der republikanischen und unitaristischen Presse gezogen werden. Im übrigen wird auch meine Angelegenheit erörtert werden, und die Tollersche Urlaubsverweigerung zum Krankenlager der Mutter wird auch kaum unbekannt geblieben sein. Bayern steht überhaupt wieder im Vordergrund der Dinge. Die Sozialdemokraten markieren revolutionären Schneid, kopieren nationalsozialistische Kampforganisationen mit grünen Mützen und Hundertschaften und haben jetzt, nachdem der 1. Mai glimpflich vorbeigegangen ist und sie gesehen haben, daß die gefürchtete Hitlerbande auch nicht viel mehr Courage hat als sie, den ersten Aufmarsch riskiert. In Hellabrunn an der Stelle, wo die Raubtiere Quartier hatten, als dort noch Zoologischer Garten war, hat der Auer-Vater, die grüne Mütze am Schädel, Parade abgenommen, und man hat Heil! geschrieen. Mir hätt’s besser gefallen, wenn die Proletarier statt dieser teutschen Juchzerei lieber mal Kaput! riefen und damit vor allem den Apparat meinten, der solche „Arbeiterführer“ wie Erhard Auer ermöglicht. Aber wissen möchte ich, was für ein Mittel dieser Herr nicht anwenden würde, um sich und seine Auerochsen in Szene zu setzen. In der großen Politik geht dauernd viel vor, was des kritischen Aufschreibens wert wäre, z. B. die Türkentaktik auf der zweiten Lausanner Konferenz und im republikanischen Deutschland die in den preußischen und sächsischen Parlamenten üblich gewordenen wechselseitigen Schimpfereien und Prügeleien. Vielleicht ein andres Mal. Auch eine Kritik der kommunistischen Innenpolitik lohnte mal. Na, die kann ich ja vielleicht in absehbarer Zeit da anbringen, wo man am ehesten die nationalistischen Sprünge der Partei verbieten könnte. In Bayern geht der Streit um die einander widersprechenden Äußerungen Schweyers und Nortz’ über das Aufgebot der „vaterländischen Notpolizei“ der nationalistischen Verbände. Die Vaterländler hauen auf Beide los und werfen ihnen Lügen vor. Das sind mehr oder weniger Familienangelegenheiten. – Jetzt ist die französische Note gegen Cunos Meisterwerk heraus. Wenn es auch sicher wahr ist, daß hier ein Streit zwischen Rabbi und Mönch geführt wird, so ist doch nicht zu leugnen, daß die französisch-belgischen Diplomaten die weitaus besseren Advokaten des Teufels sind. Die Note ist ein einziges permanentes Geklatsch von Ohrfeigen, und stellt positive Forderungen auf, die nicht mißzuverstehn sind. Kein Verhandeln, solange der in seiner Passivität bestrittene Widerstand fortdauert. Etappenweises Räumen der besetzten Gebiete nach Maßgabe der geleisteten Reparationen, als deren Grundlage der Zahlungsplan vom Mai 1921 bestehn bleibt. Also ein unzweideutiges und im Einzelnen motiviertes Nein! Stresemann winkt schon zu den Sozialdemokraten hinüber, mit denen er „große Koalition“ machen möchte. Inzwischen werden die Nationalisten und Monarchisten täglich frecher. In Lichterfelde werden Reichswehrtruppen in Gala schon Hindenburg und dem Prinzen Eitel-Friedrich vorgeführt. In Bayern ist die Teilnahme der Wittelsbacher an militärischen Prozeduren längst eine Selbstverständlichkeit, und die „Republikaner“ in Reich und Land, soweit sie Pfründen haben, stellen sich taub und blind. Das Gespenst der Revolution wird überall an die Wand gemalt, und es scheint, als ob speziell die internationale, revolutionäre völkerbefreiende Sozialdemokratie nichts Entsetzlicheres kennt als solche Möglichkeit. Jedenfalls deutet vieles auf Entladungen hin, nicht zum mindesten die Verelendung der Massen und die durch sie erkaufte maßlose Bereicherung der Kapitalisten, die von Steuerleistungen immer noch so gut wie befreit sind. – In Polen malträtiert man wieder mal die Juden und hält das für das geeignete Mittel[,] gegen die Verurteilung der Pfaffen in Rußland zu demonstrieren. In einem Bericht über diese Vorgänge fand ich endlich auch den Namen meines Umtauschpartners. Die Petersburger päpstliche Eminenz heißt Cieplak.
Niederschönenfeld, Donnerstag, d. 10. Mai 1923
Himmelfahrtstag und infolgedessen die übliche Feiertagsödigkeit im Hause. Zur Festungschronik ist anzumerken: seit vorgestern haben wir einen neuen Hausgenossen, Hans Hager, den Sitz- und Scherenredaktör der Roten Bayern Fahne, den man des Abdrucks eines im ganzen übrigen Reich unbeanstandeten Parteiaufrufs der KPD wegen als Hochverräter zu einem Jahr Festung verurteilt hat. Wir sind also wieder 25, wenn auch nur für wenige Tage, da noch diese Woche eine Entlassung fällig wird. Heute kam Amereller aus der „Krankenabteilung“ wieder oben an. Auch er hatte, obwohl er zu den wenigen gehört, die den Bezirksarzt nicht boykottieren Anstände mit dem Arzt und Vorstand. Der Fall Hagemeister hat infolge der Behandlung der Sache durch die Landtagskommission keinerlei Reformen gebracht. Wie sehr der Fall für die Verwaltung erledigt ist, zeigt sich auch aus der Eröffnung, die mir gestern zuteil wurde: der Besuch des Fräulein Haupt kann nicht zugelassen werden! – Meine Angelegenheit beschäftigt mich und alle intensiv. Kein Wunder, denn außer einigen Unentwegten, wie der bewußte Tapferkeitsleutnant, der mich bei jeder Begegnung mit unverkennbarem Groll anblickt, sehn alle ein, daß meine Befreiung wahrscheinlich einen Hauptpfeiler des Widerstands gegen die Liquidation der bayerischen Räterache beseitigen würde. Die mir zuteil gewordene soldatische Ehrung wird von allen Genossen wichtiger genommen als von mir, und was den Austausch anlangt, so stimmt mich jede eingehende Überlegung skeptischer, besonders auch hinsichtlich der Zeit, die über die endgiltige Abwicklung der Sache vergehn kann. Zuerst kommen doch sicher die Verhandlungen zwischen der russischen Regierung und der Kurie – die schon scheitern können, wenn sich die Kirche auf den Standpunkt stellt, daß die Verurteilung Cieplaks keine religiösen Gründe hatte und folglich den Klerus als solchen nichts angehe (soviel ich weiß, waren die katholischen Geistlichen in Sowjetrußland angewiesen, sich von aller Politik fernzuhalten; hat der Erzbischof dagegen verstoßen, wird man ihn vielleicht seinem Schicksal überlassen). Angenommen, der Vatikan entschließt sich – nach Wochen oder Monaten – wirklich zu einer Aktion und zwar zu einer mit Nachdruck betriebenen –, dann muß die Nuntiatur in Berlin und München arbeiten, und Gott weiß was für Widerstände mit Gott weiß was für Zugeständnissen brechen. Das mag wiederum Monate dauern. Dann erst können die Verhandlungen beginnen, die die Sache direkt betreffen, nämlich zwischen Reich und Bayern einerseits, zwischen Rußland und Reich andrerseits zur Festsetzung des Staatsvertrags, der die Austauschbedingungen regelt. Dieser Vertrag bedarf dann auch noch der parlamentarischen Zustimmung, an der allerdings kaum zu zweifeln ist, und dann kann’s losgehn. Zwischendrin drohen natürlich an allen Stationen Hindernisse, an denen die ganze Geschichte kaput gehn kann. Mindestens aber ist wohl mit langen Monaten zu rechnen, bis ich überhaupt weiß, ob was draus wird. Eine nette Nervenmassage. Womöglich kommt die Befreiung auf anderm Wege noch eher als die Entscheidung über den Russenvorschlag. In Bayern sieht es immer mehr nach bevorstehendem Krach aus. In den „vaterländischen“ Kreisen platzen Tag für Tag neue Differenzen auf, und die Farben Schwarzweißrot und Weißblau zeigen immer deutlicher ihre Unversöhnbarkeit. So soll Herr v. Kahr sich mit Ludendorff und Hitler verkracht haben, und die Wohlmut-Offensive gegen Schweyer und Knilling zeigt, daß der Riß sogar mitten durch die Bayerische Volkspartei geht und sogar – denn hinter Wohlmut soll Kraußneck stehn – mitten durch die Regierung selbst. Der Gesamtvorstand der Vaterländischen Verbände hat demissioniert. Zugleich ist der Kampf des Oberbürgermeisters Luppe in Nürnberg mit Schweyer in vollem Gange, und der ehrlich republikanische Stadtvater muß sich seiner Haut zugleich gegen einen Teil seiner eignen demokratischen Parteigenossen wehren. Denn er war so frech, sich für den Fall, daß es in München am 1. Mai zum Klappen kommen sollte, für Nürnberg Reichswehrhilfe von Berlin aus zu sichern. Auch hat er an diesem Tage einen Haufen den Nationalsozialisten von den Reichswehroffizieren und von der Staatspolizei zu Putschzwecken gelieferten Waffen mit Munition beschlagnahmen lassen. Natürlich rast man gegen den Mann, vorneweg sein eignes Nürnberger Parteiorgan, der „Fränkische Kurier“, und Schweyer haut öffentlich wie auf einen Verbrecher gegen den rebellischen Oberbürgermeister los und verspricht ein Disziplinarverfahren gegen ihn. Reizend ist, daß bei diesen Erörterungen zutage tritt, daß am 1. Mai merkwürdigerweise alle Minister dieses gesegneten „Freistaats“ zufällig außerhalb der Landeshauptstadt Reden halten oder sonst unaufschiebbare Geschäfte verrichten mußten. Sie müssen also verteufelt viel Vertrauen in die Sicherheit ihrer Position setzen. Gottseidank haben sie ja aber immer noch politische Gefangene in Verwahrung. An denen wenigstens können sie ihre Prinzipien der Staatsautorität und des fiat justitia! auch jetzt noch ungefährdet zur Geltung bringen. Wie lange noch? Draußen hat nach den herrlichen heißen Sonnentagen des Maianfangs kräftiger Frühjahrssturm eingesetzt.
Niederschönenfeld, Freitag, d. 11. Mai 1923
Jetzt ist auch Sauber aus der Einzelhaft wieder heraufgekommen und bis zum nächsten Kranken oder Widerspenstigen sind die für Beider Aufnahme bestimmten Festungszellen unbewohnt. Unsre Genossen vom mitteldeutschen Aufstand haben heute endlich Bescheid über ihr Schicksal bekommen, nachdem sie ja eigentlich von Reichswegen schon seit dem 22. Juli des vorigen Jahres amnestiert sind. Pestalozza sandte ihnen die Abschrift des Schriebs, den er nach vielen Mahnungen endlich vom bayerischen Justizminister erhalten hat. Herr Dr. Gürtner teilt darin mit, daß der Reichsausschuß zur Prüfung der in Frage stehenden Fälle entschieden habe, daß für Luttner und Schiff ipso facto die Anwendung der Amnestie gegeben sei (es kommt hier auch Zäuner in Frage, der aber nicht Pestalozzas Klient ist) und daß auch für alle andern die Begnadigung auszusprechen sei, da sie fraglos aus politischen Gründen gehandelt hätten. Diese Entscheidung datiert vom Oktober. Jetzt befindet Herr Dr. Gürtner aber aufgrund der Gutachten der bayerischen Volksgerichte und des Obersten Landesgerichts – gegen die eben der Reichsausschuß angerufen war, – daß er sich nicht veranlaßt sehe, die Einzel- oder Gesamtbegnadigungen zu vollziehn. Das ist also ein Dokument, mit dem offen das Prinzip verkündet wird, daß Reichsgesetze in Bayern nicht durchgeführt zu werden brauchen. – Da ich grade bei Justizdingen bin: in Werden ist der große Prozeß gegen Herrn Krupp v. Bohlen und die übrigen Krupp-Direktoren zu Ende gegangen. Gegenstand der Anklage: die Niederschießerei der 13 Arbeiter durch französisches Militär am Karsamstag. Weil die Kruppsche Autohalle militärisch okkupiert wurde, ließ die Direktion die Sirenen heulen und die Proletarier traten zur Demonstration an. Französische (und nicht wenige Leute in Deutschland glauben dasselbe) Auffassung ist, daß die Firma Krupp einen Zusammenstoß wünschte, und die Herren hatten sich wegen Komplotts etc. zu verantworten. Urteil: für Krupp 15 Jahre Gefängnis und 100 Millionen Mark Geldstrafe, für die 8 Herren zusammen 105 Jahre Gefängnis und entsprechende Zahlungen. Alldeutschland zittert vor Erregung und Herr Ebert, der die Unterzeichnung der Todesurteile gegen Ruhrarbeiter vor 3 Jahren schon vergessen hat, telegraphiert seine persönliche Entrüstung als vox populi in die Welt hinaus. Dabei zweifelt in Deutschland sowenig wie in Frankreich kein Mensch daran, daß die 15 und 20 Jahre an dem Tage verflossen sein werden, wo der „Ruhrkrieg“ aufhört. Aber auch daran ist nicht zu zweifeln, daß solches Urteil, wenn die Deutschen in der Situation der Franzosen wären, nicht gefällt worden wäre. Man hätte keinem Großkapitalisten ein Haar gekrümmt, dafür aber Arbeiter in die Zuchthäuser gesteckt oder auch gleich niedergeknallt bis zum Kotbrechen. Aber bei unsern lieben Sozialdemokraten wächst ebenso wie bei allen übrigen Deutschen soignierter Lebenshaltung das Mitgefühl mit ihrem Ungemach mit der Größe des Kapitals der Leidenden.
Niederschönenfeld, Sonntag, d. 13. Mai 1923.
Das bayerische Gesamtministerium erläßt eine neue Notverordnung auf Grund des § 48 der Reichsverfassung (die in Fällen der Angst auch hierzulande herhalten darf), die Bayern erneut unter Ausnahmezustand stellt. Es war mit den Nationalsozialisten selbst für Herrn Schweyer schon zu weit gekommen, und Herr Held hatte Maßnahmen verlangt. Jetzt sind diese Maßnahmen da. Sie richten sich gegen die Kommunisten, denen in der die Verordnung begleitenden Proklamation vorgeworfen wird, daß sie im besetzten Gebiet mit den Feinden zusammenarbeiten. (Die Tatsache, daß grade im Augenblick Höllein sich in Paris wegen seiner Propaganda gegen den französischen Imperialismus verantworten muß, verschlägt nichts. Calumniatur audacter). Glückt der Regierung, was sie mit der Verordnung plant, dann werden wir in Bayern von jetzt ab noch viel unmöglichere Dinge erleben als wir sie schon gewohnt sind. Es genügt, „falsche Behauptungen“ – etwa daß einmal in Brest-Litowsk und Bukarest „Friedensverträge“ redigiert worden sind – auch nur mit „fahrlässiger Unkenntnis“ der Tatsachen zu verbreiten, und man fliegt für unabsehbare Zeit ins Gefängnis. Konspiration mit den Franzosen – worunter Dinge, wie sie Schweyer vorgeworfen werden, natürlich nicht zu verstehn sind – werden als Landesverrat mit lebenslänglich Zuchthaus bedroht. Presse-, Plakat-, Versammlungsfreiheit wird aufgehoben – und natürlich paritätisch das Recht nach beiden Seiten hin gleichmäßig ausgeübt, weshalb als zuständige Beurteiler die Volksgerichte bestimmt sind. Die bayerischen Arbeiter folgen in Begeisterung Auers grüner Mütze. Sie werden also nichts dagegen unternehmen. Ich habe persönlich stark den Verdacht, daß die Verordnung schon gleich nicht ohne Zustimmung des Auer-Vaters erlassen wurde, dessen Auslegungskünste schon veranlassen werden, daß der proletarische grünbemützte Selbstschutz nun, da der Staat seinen festen Willen zeigt, die Hitlergarden zu zertrümmern, Rüstung und Entrüstung abrüsten und im Vertrauen auf die Objektivität des Polizeipräsidenten, der der Nachfolger des gleichzeitig vom Pöstchen gefallenen Nortz werden wird, ihre Sache in Schweyers und Auers Händen wohlgeborgen wähnen wird. – Im Reichstag werden Interpellationen kommen, man wird schimpfen und Nieder mit Bayern schreien, und niemand wird riskieren, den Herren des Landes, die mit scharfer Spitze gegen Reichsregierung und etliche Landesregierungen in der Verordnung ihre „nationale“, will sagen chauvinistisch-nationalistische Gesinnung betonen, in die Parade zu fahren. Speziell Ebert wird sich hüten, sich noch einmal mit einem Protest gegen bayerische Seitensprünge in die Nesseln zu setzen. Immerhin beweist der Erlaß die unglaubliche Schwäche der Regierung, an der sie unrettbar sterben müßte, wäre irgendwo – rechts oder links – etwas vorhanden, was innerlich stärker wäre als sie. Der künftige Staatspräsident bläst zum Sammeln, nämlich Herr v. Kahr, in dem Wahn, die allgemeine Veruneinigung der Patrioten dadurch aus der Welt schaffen zu können, daß man sie mit Attinghausenscher Gebärde öffentlich plakatiert. – Die Franzosen verurteilen inzwischen auf Teufel komm raus weiter und sind glücklich – allerdings wegen Spionage und Eisenbahntransportgefährdungen schon bei Todesurteilen angelangt, was deswegen sehr unsittlich ist, weil die Gerechtigkeit einheimische Henker verlangt. – Die internationalen Umgangsformen sind auch sonst nicht überall auf der Höhe. In Lausanne wurde von einem ehedem russischen Offizier Conradi, der inzwischen Schweizerbürger geworden ist, die ganze russische Delegation zum Türkenkongreß in einem Eßrestaurant abgeknallt. Worowski ist tot, einer seiner Begleiter tötlich verwundet, der andre leichter verletzt. Herr Conradi scheint eine Kombination Friedrich Adler-Teilirian markieren zu wollen, wenn man die Methode der Tat und die angeblichen Motive in Erwägung zieht. In Wirklichkeit bricht alles Ethische bei dieser Tat in Stücke, da hier ein Konterrevolutionär übelster Sorte einfach seinen Haß gegen Revolution und Neuerung ausgelassen hat. Internationale Weiterungen größeren Stils erwarte ich übrigens kaum von dem Ergebnis, sowenig wie von den erwarteten Antwortnoten Englands und Italiens auf Cunos schon von Paris und Brüssel abgefertigten Wisch. Unsre Zeitungsschmierer tun ja, als ob alles Heil jetzt von Mussolini und Curzon kommen müsse. Die Börse zeigt wieder, wie wenig sie von dem hält, was sie in die Zeitungen setzen läßt: sie notiert nämlich den Dollar wieder mit über 40.000. – Im Hause sind wir wieder auf 24 Mann angelangt, da heute früh Ewald Fischer seine „nachgefaßten“ 6 Monate hinter sich hatte, ein wenig bemerkenswerter Zeitgenosse, aber ein ganz armer Teufel, der fortging ohne Ahnung, wo er heut abend sein Haupt betten soll. Arbeit finden ist für Bestrafte noch schwerer als für andre, und wenn ihn hungert und er nimmt irgendeine Gelegenheit wahr – oder er wendet sich auch nur dem Glückspiel zu, wofür er noch eine Strafe gut hat – dann greift die Gerechtigkeit wieder an seinen Kragen, und die Journaille kann mal wieder beweisen, was die politischen Gefangenen für Verbrecher sind. Ihr laßt die Armen schuldig werden –
Niederschönenfeld, d. 16. Mai 1923.
Gestern war ich obdachlos wegen großer Zellenreinigung. Bei dieser Gelegenheit ging ein Rahmenglas über einer Photographie in Trümmer, was der Aufseher mir mitteilte. Ich erklärte, daß die Verwaltung ja leicht ein neues Glas liefern könne. Nach längerem Hin und Her erfuhr ich, daß falls ich auf Schadensersatz bestehe, der Strafgefangene, der bei der Arbeit im Dienst der Verwaltung das Malheur hatte, angezeigt werden müsse; dem werde die Summe dann abgezogen. Andernfalls müßte ich das Glas selbst bezahlen. Ich stehe also vor der Alternative, entweder einem armen Schlucker, der gezwungen eine Arbeit verrichtete und dabei ohne Willen ein Glas kaputmachte, von seinem jämmerlichen Gefängnislohn auch noch die Kosten zahlen zu lassen, die jetzt (der Dollar ist bei 47000 angelangt) sicher einige hundert Mark betragen, oder dafür, daß gegen meinen Willen – ich hatte ausdrücklich gebeten, von der Auskramung meiner Bude abzusehn – alle meine Bücher auf den Gang gestellt, alle meine Sachen durcheinandergeworfen werden und meine Bilder in Gefahr und in Schaden geraten – auch noch draufzuzahlen. Ich muß natürlich das letztere wählen. Aber das Verfahren ist bezeichnend: unnobel im Großen wie im Kleinsten, und das ist die Signatur alles Bayerischen der Gegenwart. – Einen noch weit ärgerlicheren Vorfall will ich ebenfalls notieren. Freitag kam von Zenzl ein Paket, das einen ungewöhnlichen dicken Brief enthielt. In der Regel werden Briefbeilagen in Paketen am gleichen Abend von der Zensur ausgegeben. Ich wartete Freitag abend, wartete Sonnabend mittag und erinnerte am Sonnabend abend. Am Montag kam die Eröffnung, daß der Brief wegen propagandistischen Inhalts zu den Akten genommen sei. Nun weiß ich nicht, ob es bei Zenzls Absicht, mich am Freitag zu besuchen, bleibt. Außerdem nehme ich an, daß der Brief Mitteilungen über den Stand der russischen Sache enthielt. – Außer einer Reihe andrer Zeitungen wurde mir auch der „Freie Arbeiter“ wieder beschlagnahmt – wie ich aus mehreren Briefen entnehmen kann, enthielt er einen Bericht über den anarchistischen Mühsam-Abend in Berlin. So geht’s Tag für Tag. – Kleine Freuden erlebt man dann wieder, wenn dem Zensor mal ein Zeitungsblatt durch die Finger rutscht, ohne daß er das Interessanteste drin gefunden hat. So bringt jetzt eine Nummer der New Yorker Volkszeitung Liebenswürdiges über uns Niederschönenfelder, woraus wir erfahren, daß eine russische Gemeinde die Patenschaft über uns übernommen hat, daß die amerikanischen Genossen beschlossen haben, monatlich 300 Dollar für uns zusammenzubringen: das sind weit über 12 Millionen Mark, sodaß auf jeden eine Summe von über einer halben Million Mark käme, und das jeden Monat. Wenn das kein Druckfehler oder keine Übertreibung ist, wäre ich natürlich für ausgiebige Mitbeteiligung der Familien der gefallenen und der Zuchthausgenossen. – Noch was von der Zensur: Tollers Maschinenstürmer sind in London aufgeführt worden. Nachdem ihm schon vor kurzem eine Times-Nummer und sonstige englische Drucksachen unbeanstandet ausgeliefert waren, hat man ihm über sämtliche ausgeschnittenen Kritiken wegen Fremdsprachigkeit Sperre verhängt und ihm in Betonung des besonderen Entgegenkommens gestattet, sie woanders hinzudirigieren. Somit wird unsre dauernde Begier, aus der politischen Lage Erfreuliches herauszudestillieren, von der Verwaltung kräftig gefördert. Die Noten aus England und Italien sind da. Sowohl Curzon wie Mussolini „enttäuschen“ unsre ewigen Optimisten, soweit sie in Deutschland Politik machen. Sie sind so eindeutige Ablehnungen, so deutliche Winke, daß man Cunos Vorschläge als Betrugsversuche auffaßt, daß die Sozi schon Morgenluft wittern und sich für die Regierungsübernahme räuspern. Es wird wohl eine „große Koalition“ geben mit Stresemann und Müller-Franken oder seinesgleichen: Sozialisten! – Cunos Thron wackelt auch sonst, da „enthüllt“ wird, daß er mit den Völkischen getechtelmechtelt hat. Vorerst aber hat der tapfere Reichstag den kommunistischen Antrag abgelehnt, daß Ebert die bayerische „Notverordnung“ aufheben solle. – In der weiten Welt geht’s ebenso drunter und drüber wie in der engeren. England und Rußland stehn, wie es scheint, vor dem Abbruch der Handelsbeziehungen. Die Ermordung Worowskis zieht Kreise, Foch reist in Polen und Tschechien herum. Es riecht nach Kriegen.
Niederschönenfeld, Donnerstag, d. 17. Mai 1923
Ärgerlichkeiten jeden Tag. Endlich kommt von Zenzl ein Brief. Sie war krank und kann daher morgen nicht kommen und will die Reise auf nächsten Mittwoch verschieben. Für denselben Tag ist aber mein Neffe Ernst Joël angemeldet. Für eine Anfrage bei der Veraltung, ob die Besuche gleichzeitig da sein dürfen, fehlt die Zeit. Denn selbst wenn ich morgen schon von unten Antwort hätte, könnte meine Benachrichtigung, da Sonnabend früh die letzte Post vor Pfingsten abgeholt wird, erst Dienstag weg, im Fall der Ablehnung also Zenzl nicht mehr erreichen. Jetzt muß ich ihr natürlich schreiben, daß sie den Besuch wieder eine Woche verschieben soll, da ja nur 6 Stunden wöchentlich insgesamt für Besuch eines Gefangenen zur Verfügung sind. Und das, obwohl sie schreibt, daß sie wichtige Gründe hat zu kommen. Aus ihrem Brief geht auch hervor, daß der beschlagnahmte Brief aus dem Paket tatsächlich um die russische Sache ging. Sie fragt nach einem Formular, das ich ausfüllen sollte, sie brauche es für das Soldbuch. Die Verwaltung scheint jetzt also aktiv zur Verhinderung der russischen Aktion vorzugehn. Zugleich kam ein Brief von Schollenbruch, der furchtbar empört zu sein scheint, weil seine Briefe hierher gewöhnlich zum Akt gehn. Was an der letzten Karte an mich „propagandistischen Inhalts“ war, sei ihm „absolut unerfindlich“. – Zu erwähnen ist die neue Offensive der Verwaltung gegen die Schwalbennester. In der Zelle von Aloys Wagner haben die Tierchen angebaut und gegenwärtig bebrüten sie die 5 Eier, die das Nest schon enthält. Da kam der Befehl, das Nest zu entfernen und die Schwalben mitsamt den Eiern zu vernichten. Es muß Toller gelassen werden, daß er sich energisch und ohne die Gefahr, wegen „Einmischung“ zu unbefristeter Gefängnisstrafe verdonnert zu werden, der Sache annahm. Er hatte mit dem Vorstand eine lange Auseinandersetzung, und es gelang schließlich durchzusetzen, daß die Brut erst am Leben und flügge sein soll, ehe das Nest ausgenommen wird. Der „hygienische Berater“ habe strikt verboten, daß in Zellen, in denen ein Festungsgefangener schläft, Nester geduldet werden (es ist die Wohn„stube“ Wagners). Wenn der „hygienische Berater“ sich nur sonst einmal um unsre Gesundheit bekümmern wollte. Grade jetzt wieder macht sich die Zugigkeit und die hygienisch völlig unmögliche Bauart des Kerkers niederträchtig bemerkbar. Daran nicht krank zu werden ist ein wahres Kunststück, an Schwalbennestern ist bisher noch niemand hier drinnen erkrankt. – Das Verbot, weitere Nester in den Zellen zu haben, wird natürlich vom Personal buchstabentreu durchgeführt. Toller hatte vom vorigen Jahr her das Nest aufbewahrt und in seine neue Zelle, die nach Westen liegt, – Schwalben bauen nur nach Westen an – mitgenommen und dort – leer und von keinem Vogelpaar mehr begehrt, als Wandschmuck befestigt. Diesen Schmuck hat er entfernen müssen, und der Vorstand hat heute extra einen Aufseher geschickt, der feststellen sollte, ob dem Befehl Folge geleistet sei. – Soviel von der Ehrenhaft. – Die Politik lasse ich heut beiseite. Dagegen sind zwei Todesfälle zu notieren. In Berlin starb Waldeck Manasse, der Sprecher der freireligiösen Gemeinde. Ich kannte ihn flüchtig, hatte aber innerlich keine Beziehungen zu ihm, zumal mir die Übertragung kirchlicher Bräuche auf atheistische Feiern von jeher in der Seele zuwider war. – Sehr schmerzlich berührt mich dagegen der Tod meines guten alten Majors Hoffmann von Vestenhof. Das ist nun der Dritte vom alten Stamm des Stefanie-Schachtisches, der seit meiner Einsperrung gestorben ist: Erst Stieler, dann Nonnenbruch, jetzt der Major. Ich habe ihn literarisch einmal als Modell benutzt in dem Professor Hopf im „Brückengarten“, und zwar mit seinem Einverständnis: Ich las ihm die Rolle in seinem Atelier vor und er gab mir sogar selber Winke, vor allem den, daß ich ihm seinen Majorscharakter ganz streichen solle und ihn bloß als Maler hinstellen solle. „Wissen’S, an österreichischer Major is doch halt kan Hartschier, und das können Sie als Laie net unterscheiden.“ Er hat sehr interessante Bilder gemalt und seine Erzählung „Der Mann mit den 3 Augen“ ist eine Dichtung von ganz phantastischer und unglaublich kühner Erfindung. Im Kriege war der gute Major in tausend Widersprüchen mit sich selbst, und oft nahm er mich beiseite, um sich vor mir – „wissen’S, mit Eahna kann man schon aufrichtig reden“ – auszuschimpfen. „Das is kan Krieg nimmer, das is a Mörderei.“ Er lobte alles Englische, haßte die Preußen (1866 war er als 17jähriger Fahnenjunker im Kriege gegen sie), aber als echter kaiserlicher österreichischer Offizier auch Italiener und Serben. So kam er mit seinen Sympathien und Antipathien dauernd durcheinander, und wenn’s nach ihm gegangen wäre, dann wäre Deutschland vernichtend geschlagen worden, die KK Monarchie aber, erweitert um den halben Balkan und dreiviertel Polen neben England und Frankreich Herrin Europas geworden. – Im ganzen: ein guter, anständiger, liebenswürdiger, prächtiger Kerl, den ich sehr gern hatte und der mir, komme ich mal wieder nach München, im Stadtbild fehlen wird, als hätte man die Freskoornamente von der Fassade der Residenz gekratzt. Also auch hinter dieses Original ist ein Punkt zu machen, und noch mancher außer mir wird den Ausruf vermissen, der ihm alle Affekte ausdrückte: Tralala hucho!
Niederschönenfeld, Freitag, d. 18. Mai 1923.
Max Hölz erläßt einen öffentlichen Dank an die Rote Armee, worin er den Empfang seines Soldbuchs bestätigt und ein revolutionäres Bekenntnis ablegt. Er bekommt das Soldbuch ausgehändigt, während Zenzl nicht wagen dürfte, es mir hereinzuschicken. Er darf öffentliche politische Erklärungen abgeben: das sollte ich mal probieren. Allerdings: er ist im Zuchthaus, aber ich in der „Festung“ – und das Zuchthaus liegt in Preußen und die Festung in Bayern. Heute öffnete mir Schiff sein Herz, der überhaupt neuerdings, ebenso wie Egensperger Anschluß zu suchen scheint. Er hat an die Rote Fahne einen Ausschnitt aus dem Fränkischen Kurier zu schicken versucht, ohne eigne Kritik, nur zum Aufmerksammachen. Darauf verlangte die Sicherung der Anstalt, daß er bis auf weiteres auf einen Brief wöchentlich gesetzt wurde, und wie ihm der Vorstand erklärte, werde das diesmal nicht wie früher mit einem Monat abgehn sondern lange dauern (Karpf steht jetzt schon seit 9 Wochen unter dieser Beschränkung). Bei der Auseinandersetzung hat Herr Hoffmann auch auf Tagebuchnotizen Bezug genommen, aus denen gegen Schiff allerlei zu entnehmen sei. Das kann sich natürlich nur auf meine Aufzeichnungen beziehn. Lehre: ich werde künftig alle Urteile über Mitgefangene einstellen müssen, für verärgerte Launen darf keine Tinte mehr fließen, da ich niemandem Gelegenheit geben will, seinen Wunsch, die Gefangenen gegeneinander zu verhetzen, durch meine Mitwirkung zu erleichtern. – Der „Ruhrkrieg“ geht in täglich verschärftem Stil weiter. Die Eisenbahner im täglich erweiterten besetzten Gebiet werden zu Zehntausenden ausgewiesen, und die patriotische Presse bedauert sie zwar, aber nur soweit dazu die schmalzige Beweihräucherung des Herrn Krupp Platz läßt. Die Stimmungsregie wird vollständig im Stil der Kriegslügerei betrieben; da überall in Deutschland ja noch die gleichen Leute an der Spitze sind, ist das ja auch nicht erstaunlich. Die Monate seit Februar sind in nuce eine glatte Wiederholung der Kriegszeit. Fast könnte man sich freuen, daß die ganze Zucht von damals noch einmal flügge geworden ist. Hätten wir damals gleich mit ihnen aufgeräumt, dann hätten Legenden entstehn können, daß das trübe Ende ihrer Herrlichkeit sie geläutert gehabt hätte. Jetzt ist der Beweis geführt, daß sie samt und sonders – nicht zuletzt die Sozi – genau die Gleichen geblieben sind, die sie früher waren, nur noch roher, noch gewissenloser, noch lakaienhafter gegen den Geldbesitz. Es darf für diese Bande nie wieder einen „Boden der Tatsachen“ geben, auf dem sie zur Mitwirkung zugelassen werden. Jetzt, wo die Bayern mit ihrer „Notverordnung“ die Unterlagen geschaffen haben, um die Arbeiterschaft schlimmer zu knebeln als es unter dem Sozialistengesetz und unter den Kriegserlässen möglich war – und der Knillingsche Kommentar im Landtag läßt keinen Zweifel an der Tendenz des Machwerks – jetzt mußte auch der „Sozialist“ Severing in Preußen seine antiproletarische Gesinnung zeigen. Er verbot die proletarischen Hundertschaften. Selbstverständlich wird die Form strenge gewahrt, als ob auch die nationalistischen Kommandos unterdrückt würden. Herr Severing weiß, daß er diesen Schein ruhig auf sich nehmen kann: es gibt ein Reichswehrministerium, das stärker ist als er, und das schützt die Roßbäche. – Über all der Korruption und der gesinnungslosen Unfähigkeit bricht der Widerstand an der Ruhr sichtbarlich zusammen. Cuno verhandelt schon wieder mit den Parteiführern wegen einer neuen Note, und man läßt „Vorfragen“ in England stellen, was drin stehn soll. Die Kunst der deutschen Politiker besteht nachher darin, die Curzonschen Antworten so zu verbiegen, daß das neue auf sie gestützte Reparationsangebot zu nichts verpflichtet, und man denkt sich in Deutschland stets, was das gute deutsche Publikum nicht merkt, merken die gerissenen Advokaten der französischen und englischen Diplomatie auch nicht. Die nationalistische Presse stöhnt natürlich, und der „demokratische“ „Fränkische Kurier“ findet sich mit weinerlicher Ironie damit ab: unsrer Würde hätten wir nun ja doch nichts mehr zu vergeben, da wir wehrlos sind! – Der deutsche Schmock: er hat mal was gelesen „Der Menschheit Würde ist in eure Hand gegeben“, – und so vermutet er, daß sie identisch sei mit einer Handgranate.
Niederschönenfeld, Montag, d. 19. [21.] Mai 1923
Zweiter Pfingstfeiertag. Somit seit vorgestern keine Zeitungen und keine Post. Aus den letzten Blättern ging noch nichts hervor, was eine der akuten Tagesfragen entscheidend verändert hätte. So kann hier alles zurückgestellt werden, was etwa auf den englisch-russischen Konflikt, auf die Lausanner Vorgänge – speziell im Anschluß an die Ermordung Worowskis und auf die Ruhrangelegenheit oder das Schicksal der Regierung Cuno Bezug hat. Auch das persönlich Wichtigste, die Entwicklung der Konfusion in Bayern, die durch den Ersatz des Münchner Polizeipräsidenten durch Herrn Mantel aus Augsburg kaum ausgeglichen sein wird, ist in kein neues Stadium getreten. Man kann den gegenwärtigen Zustand getrost als latenten Bürgerkrieg bezeichnen. Die ruckartige Umwendung der klerikalen Front gegen die Nationalsozialisten hat bislang keine Ähnlichkeit mit einer allgemein veränderten Politik, sondern beweist nur, wie drohend die herrschenden Kreise die Gefahr einer Hitler-Revolution schon beurteilen. Da jedoch die Arbeiter von Auer, Endres und Konsorten gegängelt werden, haben die – immer noch oder schon wieder – gegen das Proletariat zusammengeschlossenen „vaterländischen“ Vereinigungen kaum etwas zu fürchten. Mein Wunsch ist nach wie vor, daß sie endlich losschlügen. Bei den unvereinbaren Gegensätzen in ihren eignen Reihen – die „Großdeutschen“ hinter Ludendorff und Hitler gegen die Wittelsbachischen Oberländler und Kahryatiden – würden sie sich bald genug gegenseitig in die Haare fahren, da weder die alldeutsche Richtung sich in weißblaues, noch die bajuwarisch-separatistische in schwarzweißrotes Fahnentuch einwickeln lassen wird. Vorläufig scheint man aber nach außen hin noch als ganz einig gelten zu wollen. Mindestens macht sich die Gefolgschaft wohl keine schweren Gedanken um das positive Ziel und erfreut sich an gemeinsamen Parolen: Nieder mit den Juden! Nieder mit den Kommunisten! Hoch das Vaterland, unter dem jeder was andres meint. Gestern hatten wir Gelegenheit, wieder ein paar Begeisterte am Werk zu sehn, oder besser, zu hören. Gegen 7 Uhr abends wurden wir durch unheimliches Schreien ans Fenster gelockt. Eine Anzahl Radfahrer fuhren im langsamsten Tempo vorbei und bereiteten uns eine patriotische Ovation: sie brüllten: Sauhunde! Lumpen! Kommunisten! Juden! Spartakisten! 5 Schuß für jeden, dann sind sie erledigt! An die Mauer mit Mühsam und Toller! und ähnliches. Von der Energie, mit der jedes taschentuchwinkende Mädchen von der Straße gewiesen wird, machte man bei dieser Gelegenheit natürlich keinen Gebrauch. Als Ostern dasselbe Spektakel war, beruhigte der Vorstand die Beschwerdeführer, es seien „Erhebungen“ im Gange und es werde nicht wieder geschehn. Gestern wurden sofort die Aufseher veranlaßt, den Vorstand zu benachrichtigen, und danach sahen wir wirklich 2 Schupoleute zur Straße hinübergehn – als die Demonstranten längst fort waren. Der Schupoposten hatte seinerseits keinen Anlaß gefunden, einzuschreiten. Wäre aber Hoch der Kommunismus! oder Wir holen euch raus! geschrien worden, dann wäre vermutlich mit Kugeln nicht gespart worden. Ich überlege, ob ich nicht in der Sache etwas unternehmen soll, und zwar bei einer Reichsbehörde, da in Bayern keine Stelle ist, die nicht mit den Schreiern gleicher Anschauung wäre, daß wir samt und sonders erschossen gehören. Jedenfalls ist unsre „Festung“ zwar eine sichere Garantie, daß wir nicht weglaufen können, aber vor allem sicher für die, die Juden schlachten und Kommunisten massakrieren möchten. Das ist die bayerische Ordnungszelle 4 Jahre nach ihrer Etablierung!
Niederschönenfeld, Donnerstag, d. 24. Mai 1923.
Vorgestern notierte ich den 1500ten Tag meiner Gefangenschaft. Die Dauer des Weltkriegs wird bald erreicht sein. Wie sich damals die Formen des Kampfs und die Unterdrückungen unerwünschter Ansichten im eignen Land dauernd verschärften, so wird auch die bayerische Festungshaft von Anfang an und in allmählicher aber unbeirrter Steigerung kontinuierlich verschärft. Jetzt ist die Einschränkung der Taschengeldanhäufung, die mir persönlich schon im März bekannt gegeben wurde, offiziell mitgeteilt worden. Das geschah bei Gelegenheit der Bekanntgabe der Erhöhung des Wochengeldes auf 2400 Mark – da der Dollar soeben seinen bis jetzt unerreichten Höchststand von 57000 erreicht hat, ist das keine „Vergünstigung“, sondern nur eine keineswegs entsprechende Anpassung an die Geldentwertung –, wobei zugleich verkündet wurde, daß im Besitz des einzelnen F. G. jeweils nicht mehr als 3600 Mark gestattet seien. Es wird also ein sehr schwieriges Balanzieren mit dem Budget geben, zumal ausdrücklich verlangt wird, daß in die Summe die Briefmarken mit einzurechnen seien. Dies zur Kuratelfrage. – Gestern hatte ich also wieder Besuch. Da Ernst Joël angekündigt war (der Vorstand hatte mich am Freitag oder Sonnabend rufen lassen und erst genau den Verwandtschaftsgrad ermittelt, dann aber die Besuchserlaubnis erteilt, da „kein Anlaß zum Zweifel“ an meinen Angaben bestehe), hatte ich Zenzl gebeten, ihren Besuch bis in die nächste Woche zu verschieben. Sie hatte aber inzwischen bei der Verwaltung angefragt und ebenfalls die Besuchserlaubnis für gestern erhalten. Den Eilbrief, in dem sie mir ihr Kommen mitteilte, erhielt ich erst heute, und so war ich, als ich gestern hinunter gerufen wurde, überrascht statt des erwarteten Neffen die Frau zu sehn. Meine Befürchtung, daß man den Jungen dann abweisen oder erst nach Zenzls Fortgang zulassen werde, erwies sich aber glücklicherweise als unbegründet. Der Besuch fand unter Aufsicht eines Aufsehers statt, den ich in dieser Amtswaltung zum ersten Mal genoß, sehr, sehr gewissenhaft, jedoch nicht absichtlich schikanös wie der Herr, der mir sonst gewöhnlich beschieden ist. Zenzls erster Bericht betraf die russische Angelegenheit und lautete dahin, daß sie mir in dieser Sache keinen Bericht erstatten dürfe. Es war ihr vorne erklärt worden, daß diese Sache bei Gefahr des sofortigen Abbruchs des Besuchs überhaupt nicht erwähnt werden dürfe. Natürlich. Es handelt sich um mein und ihr Leben und Schicksal, das geht halt uns nichts an. 1½ Stunden vor Ablauf der Besuchszeit kam Ernst, den ich seit seinem 13ten Jahr nicht mehr gesehn hatte; jetzt ist er 21 Jahre alt und ein ganz netter, gescheiter Mensch geworden. Er studiert in Würzburg Medizin. Sehr lustig war folgendes kleines Intermezzo. Er erzählte von der chauvinistischen Stimmung in den Studentenkreisen und führte zum Beleg die Episode an, wie der Professor im Kolleg über die Tuberkulose einen Spruch zitierte, der in der Pariser Sorbonne angebracht ist. Bei der Nennung des französischen Zitats begannen die Hörer zu scharren und der Professor fuhr sie grob an. Dann gab Ernst den Spruch selbst zum Besten: „Ouvrir la porte à la tuberculose, c’est ouvrir la porte au mort“ oder so ähnlich. Da griff der Überwachende ein: es sei verboten, in fremden Sprachen zu reden. Natürlich hatten wir Mühe, unsre Heiterkeit einigermaßen zu verbergen. Vorher schon, als ich noch mit Zenzl allein war, hatte der Mann einmal eingegriffen. Ich sprach von meiner Übersetzung der Internationale, die man doch dem offiziellen Gesangstext unterlegen solle. Ein Mensch mit Sprachgefühl könne sich nicht immer überwinden, Zeilen zu singen, wie „ – können wir nur selber tun“ oder „Wir sind die größte der Partei’n“. Hierbei kam die Unterbrechung: das sei politisch und als ich widersprach, das sei doch rein literarisch, die Aufklärung: „Nein, Sie sprechen immer von der größten Partei, das kann ich nicht zulassen.“ – Tante und Neffe lernten sich erst unten in der Gefängniszelle kennen und da der Junge garkein festes Programm hatte, wohin er von hier aus fahren wolle, veranlaßte ich, daß er Zenzl nach München begleitete, wo er noch nicht war und heute also vom Fritz Weigel oder Siegfried herumgeführt wird. Interessant war mir, was er von seinem Bruder Walter erzählte, der seit einigen Wochen als Siedler in Palästina ist. Ich beginne eben, Holitschers Buch „Reise durch das jüdische Palaestina“ zu lesen und hoffe da mancherlei Aufklärung über die beginnende Praktizierung der zionistischen Bestrebungen zu finden. – Zenzl sah gut aus. Nach ihren Andeutungen scheint sie ziemlich stark mit unsrer Wiedervereinigung in nicht zu ferner Zeit zu rechnen. Wollte Gott, daß sie sich nicht täuscht. – Die Verwirrung der europäischen Lage wird täglich toller. Das Curzonsche Ultimatum an Rußland unmittelbar nach Worowskis Ermordung, das die Einstellung der bolschewistischen Propaganda in Indien und den übrigen britischen Interessengebieten verlangt, führt nun doch scheinbar zu großen Verwicklungen. Foch und andre französische Generäle reisen in den Ländern der Kleinen Entente herum und inspizieren die militärischen Kräfte Polens, der Tschechoslowakei, Yugoslawiens etc., Ungarn gleicht in aller Eile die Differenzen mit den Nachbarn aus, die verflossenen russischen Großfürsten machen in Paris von sich reden, emigrierte Monarchisten und Menschewisten wittern konterrevolutionäre Morgenluft und von Moskau aus ergehn recht bedrohlich klingende Manifeste an die Proletariate der Welt. Zugleich publiziert „Manchester Guardian“ Geheimberichte des italienischen Vertreters in Moskau, worin der Plan, „geordnete“ Verhältnisse in Rußland einzuführen, will sagen, dem Kapital die letzten Schwierigkeiten zur Ausplünderung des russischen Volks aus dem Wege zu räumen, verblüffend offenherzig enthüllt wird. Der Mann scheint es vorerst auf wirtschaftliche Aushungerung abgesehn zu haben, die er durch gemeinsame Wegberufung aller Vertreter Westeuropas aus Rußland herbeiführen möchte, um die Wirtschaftsbeziehungen dadurch abzubrechen und im Innern Unruhen gegen das bestehende Regime zu erregen – wobei natürlich nicht an die linke Opposition sondern an den Menschewismus gedacht wird –, wenn es soweit ist, wird dann wohl der neue weißgardistische Kreuzzug des gesamten Kapitalismus gegen die Sowjetregierung inszeniert werden sollen. Das geht zwar nicht aus den Geheimberichten direkt hervor, doch liegt deren Wichtigkeit ja grade in der Gleichzeitigkeit mit den übrigen Allarmberichten, unter denen besonders auch die Tätigkeit der Koltschakleute, ferner Wrangels, Petljuras und Konsorten in Serbien erwähnenswert ist. – Dies scheint mir im Augenblick erheblicher zu sein, als der Rücktritt Bonar Laws, der wohl wirklich aus Krankheitsrücksichten erfolgt und keinen Systemwechsel der englischen Politik inauguriert. Und noch viel weniger schicksalvoll ist das Hamburger Einigungs- und Verschmelzungstheater der 2. und 2½. „Internationalen“. Friedrich Adler ist nun also soweit, daß er mit Noske den Bruderkuß tauscht. Wohl bekomm’s!
Niederschönenfeld, Sonnabend, d. 26. Mai 1923.
Es ist wieder eine Unruhe in den Nerven und ein Prickeln in der Haut, als ob Ereignisse von schicksalsvoller Bedeutung bevorständen. Zwar scheint die drohende Kriegsgefahr England-Rußland überwunden, da die Russen das Curzonsche Ultimatum fast ganz und gar gefressen haben. Der ganze Vorgang erinnert stark an das österreichische Ultimatum an Serbien. Doch glaube ich nicht recht, daß die britische Regierung trotz der Unterwerfung des Schwächeren die Politik des Herrn Berchtold auch noch bis zur Kriegserklärung wiederholen wird. Dazu ist überall jetzt die Opposition zu aufmerksam und zu stark. Übrigens wird man an die Vorgänge vom 23. Juli 1914 im Augenblick dadurch stark erinnert, daß aus Anlaß der wieder stark einsetzenden Fechenbachaktion eben der Wortlaut des Ritter-Telegramms durch die Presse geht, das die Rolle des Pius X. in ein ganz schmachvolles Licht rückt. Der Vatikan hat damals direkt zum Kriege gehetzt, um die griechisch-orthodoxen Serben unter den katholischen Druck der Österreicher zu bringen. Dieses Telegramm aber jahrelang später vorgezogen zu haben – wodurch die deutsch-österreichische Politik immerhin einen mildernden Umstand hätte geltend machen können, muß Fechenbach mit 11 Jahren Zuchthaus büßen. Ob die Dreyfus-Aufmachung der Sache ihren Advokaten viel nützen wird? Die bayerische Regierung fühlt sich stark genug, dem Rechtsverlangen der ganzen Welt zu trotzen. Eben erhielten die Genossen vom Osteraufstand einen Brief ihres Anwalts, in dem der mitteilt, daß er zwar der Meinung sei, das bayerische Justizministerium enthalte ihnen ihr Recht vor, daß er aber gegen dessen Standpunkt, die Sache sei durch die bayerischen Gerichte rechtsgiltig zu ungunsten der Beteiligten entschieden, sodaß sie auf keine Amnestierung Anspruch hätten, kein Mittel mehr verfügbar habe, zumal die ihnen nahestehenden Abgeordneten – also die Kommunisten im bayerischen Landtag – in der Angelegenheit völlig versagt hätten. Diese Auskunft bestätigt die harten Urteile, die sowohl Zenzl als auch Seppl über Adolf Schmidts Tätigkeit draußen fällen. Die 3 Jahre Einsperrung scheinen ihn wie soviele mürbe gemacht zu haben, und – noch schlimmer – seine Würde als „Volksvertreter“ ist ihm, wie Zenzl berichtete, bis zum grotesken Größenwahn übel bekommen. – Wie sehr die bayerische Regierung sich auch sonst darauf verlassen kann, daß ihr keine Schwierigkeiten von bayerischer „Opposition“ drohen, dafür ein neues Beispiel. Otto Bauer redete auf dem Hamburger Kongreß über die internationale Faszistengefahr, wobei er auch Bayern gründlich hernahm und speziell Fechenbach und Toller nannte, deren Festhaltung die reaktionäre Lage hier kennzeichne. Diese Rede ist durch die gesamte Presse gegangen und nirgends fehlte Bauers Hinweis auf die politischen Gefangenen in Bayern – außer in der „Münchner Post“. Es war Herrn Auer und Herrn Heymann wieder einmal nicht zu dumm und nicht zu niedrig, ihre untertänige Arbeiterfeindlichkeit den Regierungspfaffen noch einmal durch die besondere peinliche Achtsamkeit zu beweisen, aus einem fertigen Bericht den Satz extra wegzustreichen, der die Arbeiter Bayerns auf den Gedanken bringen könnte, man müßte in Bayern einmal an Amnestie oder auch nur an Anwendung der Gesetze denken. Diese schundigen Renegaten sollen die Rechnung für diese Verrätereien schon mal präsentiert kriegen. Momentan sind sie noch obenauf. Zwar ist anscheinend die Parole ausgegeben worden, während der Hamburger Verschmelzungstagung radikale Gesinnung zu markieren (so brachte die „Fränkische Tagespost“ gestern einen Artikel über die Not, der direkt die Revolution an die Wand malte) – so war’s ja auch bei der Nürnberger Fusionsrederei –, dabei aber spielen sie im Ruhrgebiet schon wieder ihre Verräterrolle. Dort geht es wild zu. In Dortmund brach der Streik aus, griff riesig um sich und führte in Gelsenkirchen schon zu regulären Aufstandskämpfen, wobei die Polizeidirektion in die Hände der Arbeiter kam, was durch Aktenverbrennungen ausgenutzt wurde. Die Kapitalisten aber, die jüngst voll Empörung waren, weil Arbeiter, die sie hatten zusammenschießen lassen, ihre Verwundeten in ein Postamt brachten, das von Franzosen besetzt war – das war schon Landesverrat und Konspiration mit dem Feinde! –, diese selben Kapitalisten winseln diese selben Franzosen jetzt an, sie möchten ihnen gestatten, mehr Polizeimannschaften herbeizuziehn, um die eignen Landsleute umzubringen. – Selbstverständlich stehn die Gewerkschaften wieder kernig und mannhaft auf Seiten des Kapitals und gegen die Arbeiter, und die Kommunisten wissen nichts besseres, als sie unentwegt anzuschnorren, sie möchten doch die „Einheitsfront“ nicht sabotieren, statt endlich die Arbeiter aufzufordern, geschlossen aus den Zentralverbänden auszutreten und die Gesamtfront des Kapitals, zu der diese Schurken durchaus gehören, anzugreifen. Halbheiten überall. Die kommunistische „Taktik“ der Gewerkschaftskonservierung wird sich, wenn’s drauf ankommt, fürchterlich rächen. – Während im Lande Not und Elend ins Aschgraue steigt, während dabei innenpolitisch an der neuen Note zur Reparation gebastelt wird und Herrn Cuno von den Völkischen nachgewiesen wird, daß er sie zu monarchistischen Aktionen direkt ermutigt hat, während er zugleich Severing die Wege zu seinen Verboten und Verhaftungen frei machte, während ferner in Frankfurt zur 75-Jahrfeier der Paulskirchenkomödie eine Zeitposse republikanischer Lächerlichkeit aufgeführt wird, deuten alle Zeichen auf Sturm und Krieg. Die ewige Lausanner Konferenz soll schon wieder vor dem Abbruch stehn, und es heißt, die Türkei hätte sogar schon den Krieg an Griechenland erklärt. Polen scheint einen Handstreich auf Danzig vorzuhaben – und die inneren Nöte in Deutschland treiben links und rechts zu explosiven Äußerungen. Gottseidank sind wenigstens wir Gefangenen in Niederschönenfeld vor der Gefahr gesichert, daß unsre Seelen vergiftet werden. Eine der Broschüren, die mir Zenzl mitgebracht hatte, Clara Zetkins neueste Schrift gegen Kriegsgefahr und Faszismus „Wir klagen an“ durfte ich nicht ausgehändigt kriegen. Ich wäre sonst vielleicht gegen die Hitler-Bewegung beeinflußt worden.
Niederschönenfeld, Sonntag, d. 26. [27.] Mai 1923.
Heute geht’s in Niederschönenfeld hoch her. In der Nacht um 4 Uhr schon ertönten Böllerschüsse und morgens erhielten die Genossen auf dem südlichen Seitengang Befehl, ihre Zellen zu verlassen, da bis 11 Uhr der Gang abgesperrt werde. Es mußte also etwas geschehn, was wir vom Gangfenster aus hätten beobachten können, was aber für argwöhnische Blicke nicht bestimmt war. Da wir gestern massenhaft Stühle und Bänke aus unserm Kerker heraustragen sahen und heute früh beobachtet wurde, wie Strafgefangene trotz des Sonntags geschäftig an der Arbeit waren, Gemüse und Grünzeug aus dem Anstaltsgarten herauszuschleppen, mußte es etwas sein, was diese republikanische Racheanstalt gegen Verfassungsbrecher mit anginge. Daß es sich um eine patriotische Feier handelt, konnte man schon bald erkennen, denn Musik tönte herüber und die Häuser von Niederschönenfeld sind beflaggt. Von allen Nachbarkaffs kamen Wagen und Radler herbei – weißblaue und schwarzweißrote Fahnen flatterten, und die Honoratioren des Orts und der Umgebung prunkten in Zylinder und weißen Handschuhen. Dies alles ist aus allen zugänglichen Fenstern zu erkennen, und die Feierlichkeit selbst im Garten der Ortswirtschaft war sehr schön aus den Zellenfenstern der nach der Donauseite führenden Mittelgangszellen mit anzusehn. Das einzige, was durch die Gangsperre verborgen werden konnte, war, was natürlich auch die Verwaltung weiß, das, was im großen Anstaltsgarten bis zur Kirche hin vorging. Kein Winkel, der nicht der Anstalt gehört, konnte durch die Maßnahme vor unsern Blicken geschützt werden. Nun fragen wir uns selbstverständlich was los ist. Im Wirtschaftsgarten sahen wir einen Zug geputzter Leute mit 2 Kapellen und etwa 20 Fahnen, darunter mehrere schwarzweißrote – im ganzen vielleicht 400 Personen – vorbeimarschieren – höchst komisch in ihrer würdevollen Steifheit anzusehn. Dann folgte eine Rede, von der gelegentlich ein Wort – gewöhnlich war es das Vaterland – herüberklang, alsdann sang man erst das Niederländische Dankgebet, danach ein Männergesangchor etwas andres Elegisches bis endlich nach etlichen Böllerschüssen der Zug durch die Straße – also von uns nicht mehr erkennbar, außer an der Musik und den zwischen den Bäumen wankenden Fahnenspitzen – abzog. Von der gesamten Nachbarschaft her strömen auch jetzt noch unausgesetzt Festteilnehmer herbei, und die Art der Feier, wie sie bisher verlief – ohne Hurrahgeschrei und im offiziellen Teil ersichtlich auf Ernsthaftigkeit gestimmt, läßt jedenfalls auf eine patriotische Veranstaltung wie etwa eine Gedenksteinenthüllung für gefallene Krieger oder dergleichen schließen. Warum man uns nun nicht sehen lassen wollte, was hierbei auf dem staatlichen Territorium und vermutlich unter Mitwirkung der republikanischen Beamtenschaft geschah, ist nicht recht klar. Vielleicht wollte man uns nur die schwarzweißrote Fahne verbergen, die dabei in Tätigkeit gekommen sein wird. Vielleicht hat auch der Oberregierungsrat eine Rede gehalten, die vor Verbrechern gegen eine nie in Kraft gesetzte, längst außer Kraft gesetzte republikanische Verfassung nicht recht opportun gewesen wäre und Gedanken geweckt hätte, warum wohl grade die offiziellen Bayernredner dieser Zeit so empört sind über die Sünder von damals, die im März 1919 die Entwicklung der Dinge noch nicht für endgiltig abgeschlossen halten wollten, und deren Bestrafung von Tag zu Tag empfindlicher und drückender machen. Aber dies sind alles nur vage Vermutungen, zumal Bayern ja die Ordnungszelle der Welt ist.
Niederschönenfeld, Dienstag, d. 29. Mai 1923.
Meine Nerven sind ganz außer Rand und Band. Die Unruhe, die mich herumtreibt, kommt von den Ereignissen an der Ruhr her. Der Lohnstreik der völlig verelendeten Arbeiter dort nimmt jetzt Formen an, die ihn durchaus als Aufstand charakterisieren. Es hat sich ein Zentralstreikkomitee konstituiert, das von allen Organisationen, einschließlich Unionisten und Syndikalisten besetzt ist. Die – großenteils sozialdemokratischen – Regierungsräte betteln die französischen Generäle an, sie möchten ihnen die Verstärkung ihrer Schupo gestatten, um das in Deutschland allein bekannte Rezept gegen Hunger und Not anzuwenden: die Arbeiter totzuschlagen. Da das französische Kapital zur Zeit an größtmöglichen Unbequemlichkeiten des deutschen Kapitals interessiert ist, wird die Erlaubnis verweigert. Die Dinge sind noch zu sehr im Werden, als daß ihr Verlauf einigermaßen kalkulierbar wäre. Daß die Gewerkschaftszentralen gegen die Arbeiter stehn, versteht sich von selbst. Wo sie nolens volens mittun müssen, sind sie die Gefahr wie immer. Erfreulich ist, daß in Gelsenkirchen, wo die Bewegung am weitesten entwickelt ist, die proletarischen Hundertschaften, die die Herrschaft tatsächlich in der Hand zu haben scheinen, und die gesamte öffentliche Sicherheit unter Kontrolle haben, sich gegen die Aufforderung ihrer kommunistischen Führer geweigert haben, gewerkschaftliche Mitwirkung anzunehmen. Die französischen Soldaten scheinen mit den Streikern zu sympathisieren. So wird gemeldet, daß sie in Bochum zwischen die Arbeiter und die angreifenden Grünen getreten seien (ob das die deutschen Soldaten etwa in Antwerpen bei einem Streik während der Besetzung auch getan hätten?) Möglich ist, daß die Regierung auf die Unternehmer einen Druck ausüben wird, die Arbeiterforderungen zu bewilligen. Denn den Herren in Berlin geht der Podex mit Grundeis. In dieser Woche werden sie die neue Reparationsnote vorlegen, hoffnunggeschwellt, weil England unter Baldwin eine neue Regierung hat. Ich traue den Cunöden nicht zu, daß sie die Situation erkennen. Wie sich jetzt herausstellt, hat am Schicksal der vorigen lächerlichen Note Bayerns Ministerpräsident Herr v. Knilling das Hauptverdienst. Da die Münchner Staatskünstler wohl auch jetzt die vaterländische Ehre und Würde zur Geltung zu bringen suchen werden, darf man getrost annehmen, daß man sich neuerdings eine schwere Blamage holen wird. Ob die endgiltige Katastrophe der Gesamtwirtschaft dann noch lange aufgehalten werden kann, bezweifle ich. Schon steht die Mark, verglichen mit dem Verhältnis der Krone zu ihr – also 85 zu 100 in Friedenszeiten – tiefer als das österreichische Wischgeld. Die Preise steigen ins Unübersehbare (gestern mußte ich für einen Frachtbrief 50 Mark bezahlen). Die Beschimpfungen der Ruhrarbeiter in der gesamten Bourgeois (und sozialdemokratischen) Presse nimmt kein Mensch mehr ernst. Sie verdecken ja auch nur den Verdruß darüber, daß mit der Legende von der Einigkeit aller Deutschen dort kein Geschäft mehr zu machen ist. Augenblicklich pumpen sich die Schmöcke aller Richtungen über die Hinrichtung des Nationalsozialisten Schlageter von München auf, den die Franzosen wegen Sprengung von Eisenbahntransporten erschießen ließen. Er konnte gegen das Urteil Revision einlegen, die verworfen wurde. 1920, als dasselbe Ruhrgebiet nach dem Kapputsch von deutschen militaristischen Eindringlingen besetzt war, funktionierten Feldgerichte, die inappellable Urteile ergehn ließen, ohne Revisionsmöglichkeit. Und das war nicht 1 Todesurteil, sondern hunderte wurden umgebracht, viele davon unter ausdrücklicher Bestätigung des „Sozialisten“ Ebert. Allerdings das waren deutsche Landsleute, und von denen zum Tode geschickt zu werden ist unendlich viel süßer, als wenn der „Erbfeind“ es tut. Heuchelei und sittliche Verwahrlosung überall. Herr Stinnes fischt inzwischen im Trüben. Er soll jetzt direkt mit der französischen Regierung verhandeln und ihr empfehlen, von der deutschen Regierung die Auslieferung der Eisenbahnen an ihn zu verlangen, dann garantiere er Reparationszahlungen. Warum auch nicht? Da alle Marxisten darin einig sind, daß Staatsmonopole gegenüber dem Privatkapitalismus erstrebenswerte Errungenschaften sind, wird vielleicht diese Transaktion zu Krach führen, ein Ziel aufs Innigste zu wünschen. Ich selbst habe garnichts gegen die Privatisierung der Staatsmonopole, die die Expropriation in einer Revolution erheblich erleichtern würde. – Die Verwirrung ist aber wieder krasser als seit langer Zeit, und die Gründung der „Hamburger Internationale“ mit Vandervelde, Adler, Scheidemann, Crispien und dem ganzen Sumpf schwankender oder auch fest auf dem Posten des Kapitalshüters stehender Gestalten war die absurdeste Komödie, die dazu gespielt werden konnte. Der internationale Charakter dieser „Internationale“ Nummer 4 wird kaum mehr in den „elastischen“ Prinzipienerklärungen aufrechterhalten. Da erfreut einen ein Vorgang, der sich überraschend unter Gewerkschaftern abgespielt hat. Edo Fimmen ist seit langem das enfant terrible der Amsterdamer. Jetzt hat er zusammen mit Losowski einen Aufruf an die Transportarbeiter, Eisenbahner und Seefahrer aller Länder und Richtungen veröffentlicht, sie mögen sich dem zwischen ihren Organisationen abgeschlossenen Vertrag anschließen, der diese wichtigste Arbeitergruppe verpflichtet, alle Transporte von Munition, Waffen und Kriegsbedarf zu imperialistischen oder gegen Rußland gerichteten Zwecken zu verweigern. Hier ist ein schöner Anfang im Sinne der Föderation, wie ich sie schon immer in meiner von Pfempfert vernichteten Einigungsbroschüre empfohlen habe. Vivat sequens!
Niederschönenfeld, Donnerstag, d. 31. Mai 1923
Fronleichnam. Glockengebimmel und Langeweile. Die gestrigen Zeitungen brachten wenig Neues. Das Wichtigste ist die Denkschrift der Großindustriellen an die Cuno-Regierung, die an unverschämter Eigennützigkeit den Rekord schlägt. Man will für Reparationsleistungen 200 Millionen Goldmark jährlich garantieren, wenn von Staatswegen der Industrie und dem Besitz die riesigsten Ausbeutervorteile bewilligt werden: völlige Aufhebung der Zwangswirtschaft mit Einschluß der Wohnungsämter, Umstellung der staatlichen Verkehrsorganisationen nach privatwirtschaftlichen Gesichtspunkten, stärkere Heranziehung des agrarischen Grundbesitzes und der Arbeiterschaft. Cuno empfängt die Parteiführer und schon haben Deutsche Volkspartei, Zentrum und Demokraten erklärt, daß sie beglückt sind von der Opferwilligkeit der Industrie. Die Sozi sträuben sich noch, sobald sie wieder zu Ministerposten zugelassen sind, werden sie sich nicht mehr zieren. – Die Kommunisten bremsen die Bewegung im Ruhrgebiet ab, indem sie einen von inneren Widersprüchen strotzenden mit revolutionären Verzierungen gespickten Aufruf loslassen, in dem die nationalsozialistischen Provokateure als Ursache der Hungerrevolten ausgegeben werden. Die Regierung brauche ein Arbeiterblutbad, um für die Auslieferung der Eisenbahnen an die Industrie und die Abwürgung des 8stundentags freie Bahn zu schaffen. Daher dürfe man sich nicht provozieren lassen und müsse sich mit Streiks und Demonstrationen begnügen. Das, während die gewaltsamen Kämpfe schon im Gange sind! Und gewaltlose Demonstrationen zu propagieren, während man selbst behauptet, die Regierung sähe es auf Blutvergießen ab, heißt doch einfach zu frommem Stillhalten beim Gemetzel auffordern. Soll schon gebremst werden, dann müßte man vor allen Dingen vor jeder Demonstration warnen. Andernfalls müßte man die Parole ausgeben: nicht ohne Waffen auf die Straße! Aber es wäre das Richtigste, garkeine Parolen auszugeben und nicht eine Aktion in Bochum, Dortmund und Gelsenkirchen von den Clubsesseln der Rosenthalerstraße aus dirigieren zu wollen. Ganz arg sind die geheimnisvollen Andeutungen, mit denen die Rote Fahne der Regierung droht, sie werde ihre Kenntnisse über die wahren Absichten der Besitzenden unter Namenspreisgabe auspacken, falls die Forderungen der Streikenden nicht bald bewilligt werden. Wenn man etwas weiß, so geht das nicht nur ein paar Redakteure und Parteibonzen an sondern das gesamte Proletariat. Da gibt es nichts zu verschweigen und die Mitteilung von Bedingungen abhängig machen. Aber die Arbeiter, selbst die besten lassen sich derartige Bevormundungen mit vollkommener Selbstverständlichkeit bieten. – In Bayern zeigen sich die Auswirkungen der Notverordnung. Völkischer Beobachter und Miesbacher Anzeiger waren jetzt für 3 bzw 5 Tage verboten für Dinge, die, wenn sie in kommunistischen Blättern gestanden hätten, langjährige Zuchthausstrafen für „Landesverrat“ nach sich gezogen hätten. Die Rote Bayern-Fahne aber ist schon wieder für 4 Wochen unterdrückt und ihr Redakteur verhaftet. Es ist also hierzulande noch alles wie es war. Hybris-Furcht ist den Herren in München fremd.
Niederschönenfeld, Sonnabend, d. 2. Juni 1923.
Mir geht es schon wieder gesundheitlich nicht gut. Ich hoffe mit der Attacke, die gestern zeitweilig recht bedrohlich aussah, diesmal schnell fertig zu werden, da heute mehr Abspannung von der Erschöpfung als der Herzschwächezustand selbst spürbar ist. Hans schrieb mir vor einiger Zeit, er habe in einer Eingabe an die bayer. Regierung Krankenhausbehandlung für mich beantragt und den Anstaltsarzt gebeten, diesen Antrag zu befürworten. Heute kam ein neuer Brief. Dr. Steindl habe ihm geantwortet, daß ich ihn seit Hagemeisters Tod unter Berufung auf die seelische Unmöglichkeit dazu nicht mehr zu Rate ziehe, er also kein Gutachten abgeben könne. Natürlich redet mir Hans mit vielen Gründen zu, den Arzt wieder zu frequentieren, was ich jedoch nicht beabsichtige. Einen Arzt boykottieren, wenn man ihn nicht braucht, aber gleich wieder hinzulaufen, wenn er nötig ist, ist eine Lächerlichkeit, zu der ich nicht zu haben bin. Sein Vertreter hat mich vor ganz kurzer Zeit untersucht, wozu ich ihn mit der ausdrücklichen Begründung veranlaßte, einen ärztlichen Befund festzustellen, da Müller-Meiningen sich erfrecht hat, im Protokoll des Untersuchungsausschusses mein Herzleiden als „angeblich“ zu verdächtigen. Außerdem liegt das Attest meines Bruders selbst vor und die mehrfach bestätigte Tatsache, daß Steindl bei einem Festungsgefangenen bestimmt nichts findet. Ohne Zweifel würde er, selbst wenn ich noch mal zu ihm liefe, mich doch nur als Simulanten hinstellen, wie Hagemeister für ihn noch eine Woche vor dem Tode ein Simulant, nach dem Tode aber ein bockbeiniger Psychophath war, der die wertvolle Tätigkeit des Anstaltsarztes nicht zu schätzen wußte. Und wie, wenn der tüchtige Arzt zunächst findet, daß meine Absonderung ins I Stockwerk das Krankenhaus ersetzen kann? Dann bin ich geliefert, es wäre mein Todesurteil, wie auch August Hagemeister an diesem Krankenhausersatz gestorben ist. – Gestern erhielt ich vom Landtagsbüro die Benachrichtigung, daß meine Eingabe vom 18. Januar, die von allen übrigen F. G., und die vom 9. Februar, die von uns vieren (Toller, Klingelhöfer, Luttner und mir) unterschrieben war, durch Übergang zur Tagesordnung erledigt wurde. Unter den aufgezählten Punkten der Eingaben, die von den bayerischen Gesetzgebern als nicht der Rede wert beiseite gelegt wurden, befindet sich in beiden Fällen auch der, der die Einrichtung einer Krankenabteilung in der Festung fordert, wie sie jedes Zuchthaus hat und wie sie die Festungshausordnung ausdrücklich verlangt. – Ich hatte das Schriftstück, da es alle anging, in der üblichen Weise im Speisesaal angeschlagen. Am Nachmittag brachte Herr Rainer es mir: der Anschlag sei unzulässig. Ein amtliches Dokument, das ausdrücklich von den „Eingaben von Erich Mühsam und der (!) übrigen Festungsgefangenen in Niederschönenfeld“ spricht! – Zum übrigen. Der Streik im Ruhrgebiet ist beendet – mit einem faulen Kompromiß, 60% Lohnerhöhung, – während zugleich der Dollar auf 69500 steigt und die Preise nicht 60 sondern hunderte von Prozenten in die Höhe gehn. Es liegt eine Abwürgung vor, bei der diesmal die kommunistische Partei, wie mir scheint, aus Bedenklichkeit wegen der rüden Angriffe der Bourgeoispresse eine ziemlich unrühmliche Rolle gespielt hat. Natürlich wird jetzt auf Teufel komm raus verhaftet. Hunderte und aberhunderte von Streikern und Agitatoren sind schon festgenommen; nicht mal die Garantie hat man beansprucht, daß keine Maßregelungen und Prozesse erfolgen dürfen. Na, man wird also eines Tages wieder im Reichstag eine Amnestie für die Revolutionäre von 1923 erlassen, nachdem die von 1920, 1921, 1922 schon amnestiert sind, und wir von 1919 werden dabei ebenso übergangen werden wie bei allen übrigen „Gnaden“kundgebungen auch. – Die neue Note der Cunöden wird immer noch in der Retorte gekocht. Herr Dr. Cuno war so geschickt, sich durch ein Telegramm an die Angehörigen Schlageters noch erst in Paris und Brüssel als ehrlicher Treuhänder zu empfehlen. Er beschimpft nämlich darin nicht nur die Roheit der Franzosen – die ich nicht bestreite, die aber ebenso unbestreitbar das Recht haben, dem Namen Schlageter die gravierenderen Namen Cavell und Fryatt entgegenzusetzen – nein, Cuno rühmt auch noch die vaterländische Tat des Märtyrers seiner Sache – welcher Charakter ihm durchaus nicht entzogen werden darf, nur ist seine Sache – wenigstens offiziell – durchaus nicht die der Regierung. Denn die hat stets den passiven Widerstand gepredigt, Schlageter hat aber aktiven Widerstand geleistet, also reguläre Kriegshandlungen begangen, die mit Kriegsrecht geahndet wurden. Der tapfere junge Mensch hatte ein Risiko übernommen, das er tragen mußte. Seine Freunde mögen ihn bewundern, damit ist die moralische Seite der Angelegenheit erschöpft. Daß die Feinde – die als Kriegsfeinde ja grade durch Schlageters Tat anerkannt sind – ihm das Martyrium wirklich bereitet haben, das er riskierte, nachdem sie durch seine Tat selbst Tote registrieren mußten – ist keine empörendere Angelegenheit als die zwangsweise Gefährdung der bei der Transportsprengung umgekommenen Soldaten durch ihre Entsendung ins Ruhrbecken. Es gibt keine „vaterländische“ Moral über die allgemeine Menschenmoral hinaus. Wer sie geltend macht, heuchelt oder ist ein Schwachkopf.
Niederschönenfeld, Dienstag, d. 5. Juni 1923.
Ich bin krank. Ob der ganz jämmerliche Zustand, in
dem ich mich heute befinde, mit dem Herzanfall vom Freitag zusammenhängt oder [durch] die Prädisposition durch den Anfall nur gesteigert wird, kann ich nicht entscheiden. Allen Symptomen nach schließe ich auf eine Vergiftung, die unter Umständen von den gelben Rüben kommen könnte, die es gestern Mittag gab und die ganz schmutzig und muffig auf den Tisch kamen. Ich hatte eine scheußliche Nacht. Nachdem ich bald nach 10 eingeschlafen war, wachte ich um 12 Uhr schon wieder auf mit leichtem Bauchkrampf und etwas Brechreiz. Der Stuhlgangversuch erwies sich als fast vergeblich, der Brechreiz nahm nach einigen Tropfen meiner Herzmedizin ab. Um ½ 2 und ½ 4 Uhr trieb es mich wieder hinaus, die Magenkrämpfe steigerten sich, doch war kaum Stuhlgang da, obwohl das Wenige, das abging, fast flüssige Substanz war. Um ½ 6 wiederholte sich das Bedürfnis, und nun setzte die Entleerung ein sowohl oben wie unten. Geschlafen habe ich seit 12 Uhr nachts überhaupt nicht, und der Tag heute verläuft zum großen Teil auf dem Abtritt, wo ich grade eben wieder – nachdem ein Stopfpulver die Darmexplosionen eingedämmt hat – die paar Schlucke Kaffee, die ich nach ein paar Löffeln Nudelsuppe als einzige Mittagsspeisung genommen hatte, wieder ausbrach. Ich gehe, solange es möglich ist, gegen den übeln Zustand an. Doch fällt es mir schwer, etwas zu tun, und ich habe das Tagebuch nur vorgenommen, um mich auf etwas andres zu konzentrieren als auf den „Ruhrkonflikt“ im eignen Unterleib. – Politische Betrachtungen versage ich mir aber. Die Cunote ist immer noch nicht abgesandt, man hat wahrscheinlich die „Formel“ noch nicht endgiltig redigieren können, die den Alliierten alles verspricht und die Deutschen zu nichts verpflichtet. Inzwischen ist der Dollarstand auf 80.000 aufgequollen, sodaß die österreichische Krone nun glücklich bei uns bald als Edelvaluta gehandelt zu werden verspricht. Die sämtlichen Gewerkschaftsverbände publizieren eine aufgeregte, hilflose Jeremiade gegen die hanebüchenen Reparationssicherungsvorschläge der Großindustriellen. Sie finden die Ansprüche des Großkapitals ungeheuerlich, fordern wieder mal „Erfassung der Sachwerte“, ohne zu sagen wie und bieten sich endlich ungerufen an, an den weiteren Arbeiten mitzuwirken. Nun, die Katastrophe der deutschen Wirtschaft ist da. Der Lebensstandard der deutschen Arbeiter rutscht unter das Niveau der farbigen Kolonialsklaven. Die Ruhrliquidation mit allen ihren innen- und außenpolitischen Konsequenzen steht bevor – sie wird selbstverständlich im Schlußeffekt völlige Kapitulation sein. Wir werden à la Österreich unter internationale Finanzkontrolle gestellt werden – wobei wesentliche Bedeutung hat, daß Deutschland als Industrieland Konkurrenz für die Weststaaten ist, während die österreichische Industrie längst von britischem und französischem Kapital genährt wird. Man wird also eine Steuerpolitik oktroyieren, bei denen unsern Montan- und Agrarmagnaten der Hintern bluten wird, man wird – um den deutschen Arbeiter nicht länger den größten Gewinnanhäufer der Unternehmer sein zu lassen – die Lohnzahlungen auf halbwegs europäische Normen festsetzen, und dies und andres mehr wird die Nationalsozialisten zwingen, trotz allem zur Offensive zu schreiten, – vielleicht zuerst mit äußerlichem Erfolg. Aber bei der verrückten „Realpolitik“ der kommunistischen Führerschaft – und die Proleten in Deutschland glauben auch heute noch, sie müssen geführt werden – ist leider auf einen spontanen revolutionären Ausbruch von der Arbeiterseite aus kaum mehr zu hoffen. Man muß ja erst in der Zentrale ausrechnen, wann die politische „Phase“ da ist, die es den Arbeitern erlaubt, gegen ihren Hunger und für ihre Zukunft zum Aufruhr zu greifen. Die Abtakelung der linken Opposition in der Partei jetzt in der Ruhrangelegenheit war höchst bezeichnend. Sie wollen eine „Arbeiterregierung“ mit den sozialdemokratischen Parteibeamten zusammen aufstellen, dann hätten sie ihren „Etappensieg“ und bilden sich ein, von da aus gings weiter zum Sozialismus. Und die Kommunisten von 1919 sind schon längst dazu überredet, daß die Mörder Karl Liebknechts ihre natürlichen Kampfgenossen seien. – Ich wollte, die Rußlandreise würde Tatsache. Diesen oder jenen der dort maßgebenden Persönlichkeiten könnte ich vielleicht doch überzeugen, wie irrsinnig der Weg ist, den die KPD geht und wie zuverlässig er von den proletarisch-revolutionären Kämpfen weg zum ödesten Bebel-Reformismus hinführt. Aber ich habe allmählich starke Zweifel, ob aus der Geschichte des Austauschs auch nur ein Verhandeln mit klaren Zielen herauskommen wird. Vor allem drückt mich in letzter Zeit sehr sehr oft der Gedanke, daß meine Abfahrt von Niederschönenfeld sich in denselben Formen vollziehn wird wie die August Hagemeisters. Ich habe nie so deutlich gespürt wie in den letzten Wochen, daß ich auf dem absterbenden Ast sitze, und ein solcher akuter Chok wie der heutige mahnt recht lebhaft an diesen ohnehin lose sitzenden Gedanken. Tagesneuigkeiten vom Hause sind zum Glück ziemlich selten geworden. Gestern erhielt Hager telefonisch die Nachricht vom Tod seiner
Mutter. Man hat ihn für 2 Tage zur Beerdigung beurlaubt.
Niederschönenfeld, Mittwoch, d. 6. Juni 1923.
Zum Gedenken des Todes Eugen Levinés heut vor 4 Jahren auf dem Stadelheimer Bluthof haben wir heute Festtagskleidung angelegt. Es wird ganz gut sein, in diesen Tagen der künstlichen Trauer Alldeutschlands um Schlageter demonstrativ zu zeigen, daß wir unsre von der deutschen Reaktion gemordeten Kameraden (die keine Eisenbahntransporte in die Luft gesprengt hatten) noch nicht vergessen haben. – Mir geht’s auch heute noch nicht gut. Die Vergiftungserscheinungen sind noch nicht beseitigt, und ich fühle mich schwach und abgespannt. – Heute soll die Regierungsnote nun also vom Stapel laufen. Dann wird wieder die gesamte Presse krächzen: dies ist das alleräußerste Höchstmaß unsrer Leistungsfähigkeit, – bis sie nach 14 Tagen finden werden, daß man endlich mal ernsthafte Angebote machen müsse. Interessanter als all dies ist im Augenblick der Prozeß Fuchs-Machhaus in München, der im Augenblick des Beginns zu einem Prozeß Fuchs zusammengeschrumpft ist, da sich der zweite Hauptangeklagte, Kapellmeister Machhaus in der Nacht vor Beginn der Hauptverhandlung in der Gefängniszelle erhängt hat, nachdem der Dritte, Rechtsanwalt Dr. Kühles, schon gleich nach Eröffnung des Verfahrens Selbstmord begangen hatte. Professor Georg Fuchs ist identisch mit dem Gründer des Künstlertheaters im Ausstellungspark und mir aus meiner Theaterkritikertätigkeit eine wohlbekannte Persönlichkeit. Was diesen Mann auf die Idee gebracht hat, das Vaterland retten zu wollen, weiß ich nicht. Was aber bei der Anklageverlesung und seiner Vernehmung am ersten Verhandlungstage über seinen Hochverrat bekannt wird, ist sensationeller als alles, was das mit derartigen Prozessen reichgesegnete Bayern bisher aufzuweisen hatte. Man wollte im Februar mit entscheidendem Coup Bayerns Schicksale bestimmen, den Bolschewismus ein für allemal abmurksen, den bayerischen Landtag, der das ja schon kennt, heimtreiben und einen „Regentschaftsrat“ einsetzen, bis die Stunde Rupprechts selbst gekommen wäre. Dieser nämlich hat dem guten Professor erklärt, er wolle nie und nimmer durch Handgranaten und Maschinengewehre auf Bayerns Thron gelangen, sondern nur durch „Kinder und weißgekleidete Jungfrauen“ (wörtlich) geholt werden. Die ganze Angelegenheit wird aber erst pikant durch die Beteiligung des französischen Generalstabsoffiziers Richert, der sich um Organisation und Finanzierung sehr besorgt zeigte. Schon aus dem ersten Auftakt des Prozesses erklingen Namen, Zusammenhänge, Melodien, die alles, was in Bayern im konterrevolutionären Orchester spielt, in ein und demselben riesigen Sumpfkessel vereinigt erweist. Die zahllosen Millionen, die durch Fuchs-Machhaus’ Hände gingen und von Richert aus französischen Geldquellen geschöpft waren und die die Absperrung Bayerns gegen Norden, die Besetzung des Maingaus inclusive Frankfurt(!) durch Bayern bezweckten, sind großenteils in die Kassen der diversen „vaterländischen Verbände“ geflossen. Alle Namen werden genannt, die uns in Bayern lieb und vertraut sind: Rupprecht, Kahr, Pöhner, Pittinger, Cramer-Klett, dann der Major Mair, durch dessen Spitzeltätigkeit die Sache aufgekommen ist, und der, wie Fuchs ausdrücklich erklärt hat, trotz monarchistischer Gesinnung eng befreundet ist mit – Erhard Auer (wann würde wohl einmal dieser Halunke fehlen, wo es sich um konterrevolutionäre Verschwörungen handelt!); aber auch Heim, Held, Schweyer, Knilling scheinen irgendwie verwickelt zu sein, und daß man die Pforte des Schweinestalls überhaupt geöffnet hat, liegt offenbar daran, daß wieder die Gegenströmungen innerhalb der diversen Gruppen, die unsereiner garnicht unterscheiden kann, genau wie seinerzeit im Fall Leoprechting ein Opfer ans Ufer gespült haben. Aus allem geht hervor, daß Fuchs mit den Seinen im äußersten Gegensatz zur Richtung Hitler-Ludendorff steht, und so ist der Schluß zu ziehn, daß die Justiz in Bayern (der Prozeß wird natürlich wieder von den Herren Neidhart und Haß dirigiert und als Ankläger fungiert Staatsanwalt Kellerer) der Ludendorffschen Schwarz-Weiß-Rot-Tendenz nähersteht als der Rupprechtschen Weiß-Blau-Richtung. Noch ein Name wird genannt, der mir allerlei Erinnerungen weckt. Die Bekanntschaft zwischen Machhaus und Richert wurde vermittelt durch den „Kaufmann Werner Daya“, der – mit ärztlichem Zeugnis seine Vorladung vor die Richter zu umgehn wußte. Dieser Bursche, der sich vor 20 Jahren in Berlin als „Blanquist“ aufspielte – er heißt Werner Karfunkelstein, – dann in unsrer anarchistischen Bewegung eine Rolle zu übernehmen verstand (ich mißtraute ihm schon damals), der dann gegen Senna Hoy eine recht schäbige Intrigantenaktion unternahm, von Karl Liebknecht gestäupt wurde und mich noch während des Kriegs einmal auf der Straße sozusagen überfiel und ohrfeigte, weil ich auf Erkundigungen seine Qualität als Ehrenmann stark in Zweifel gezogen hatte*, der dann als „Demokrat“ wieder an die Öffentlichkeit trat, pantscht also nun zwischen Royalisten und französischen Militärs als ehrlicher Makler herum. Es ist wirklich erstaunlich, wieviel Lumperei sich überall zusammenfindet, wo reaktionäre Schweinerei gesotten wird. Die Leute, die uns den Zuhälter Dosch vorwerfen, hätten Ursache, sehr still zu sein. Solches Gesindel kam bei uns erst auf, als die ganze Herrlichkeit schon im Verfall war und niemand mehr die Macht hatte, die Desinfektionsspritze in der Bewegung zu dirigieren. Bei denen drüben aber, die doch allesamt die „gebildete“ Klasse repräsentierten, ist das übelste Gelichter schon am Werk, ehe sie noch angefangen haben, ihre idealen Kräfte zu entfalten. Die anständigen Elemente unter ihnen, die ehrlichen Reaktionäre wie Cramer-Klett etc., die sich einfangen lassen, ohne zu ahnen, in welche Gesellschaft sie geraten, können einem leid tun. Ich möchte bezweifeln, daß dieser Prozeß, der einen tiefen Blick in den bayerischen Korruptionskessel werfen lassen wird, und der den Riß zwischen Weiß-Blau und Schwarz-Weiß-Rot als unkittbaren Riß durch die ganze „Ordnungs“-Wirtschaft zeigen wird, der selbst mitten durch die Regierungskoalition geht (Gürtner contra Schweyer-Knilling) ohne nachhaltige Folgen für die ganze Bayernpolitik im Innern und im Reich bleiben wird. Sperrt man Fuchs à la Leoprechting ins Zuchthaus – ich vermute allerdings eher, man wird ihn zu Arco nach Landsberg schicken –, dann ist der Krach gegen seine Komplizen kaum zu vermeiden, denn Hitler und Ludendorff sind nicht die Männer, sich günstige Situationen zur Erledigung ihrer Feinde entgehn zu lassen. Außerdem aber wird Frankreich daran interessiert sein, einmal mit einem Bayern, das dauernd die Machenschaften zwischen bayerischen Separatisten und französischen Imperialisten durchkreuzt, und dabei zugleich eine reichsfeindliche, also doppelt unbequeme Politik treibt, Fraktur zu reden. Faßt man hingegen nicht kräftig hinein in das Nest, dann bleibt vor dem ganzen übrigen Deutschland die Komplizenschaft zwischen den bayerischen Regierungs- und Justizmächten und den reichsfeindlichen Royalisten offensichtlich. Was schon jetzt feststeht, die Speisung der Vaterländischen Verbände mit dem Geld des „Erbfeinds“ wird ohnehin deren moralisches Prestige nicht sonderlich festigen. Der ungeheure Gestank, der in immer kürzeren Zeitpausen immer wieder grade aus Bayern aufsteigt, ist für unsereinen der liebliche Wohlgeruch der Hoffnung, daß die Hölle, in der man uns mit allen raffiniertesten Teufeleien peinigt, einmal doch an ihrem eigenen Dreck verfaulen muß.
* die 1905 bei ihm gefundene Liste der russischen Sozialrevolutionäre in Berlin, durch die eine Menge russischer Genossen den Zarenschergen ausgeliefert wurde.
Niederschönenfeld, Freitag, d. 8. Juni 1923.
Montag will Zenzl wiederkommen. Bis dahin muß ich mich nun ernsthaft zusammenraffen, denn meine Gesundheit läßt immer noch zu wünschen übrig. Der Gedanke, es meinem Freund Hagemeister nachmachen zu müssen, ist mir über alles Maß zuwider. Sowenig Todesfurcht ich habe, – die letzten Tage und Stunden möchte ich von lieberen Gesichtern umgeben sein als von Beamten, die mich jahrelang quälen mußten, um davon ihre Familien zu ernähren. Die russische Austauschsache scheint ganz zu schlummern, wenigstens schreibt Zenzl kein Wort darüber außer daß „Sichel und Hammer“ das angeforderte Bild von mir erst bringen will, wenn etwas Bestimmtes in der Sache zu sagen sei. Dagegen kann sich ein Optimist wie ich aus der Gesamtlage eine neue Amnestie-Drehscheibe konstruieren, die ziemlich plausibel aussieht. Gestern muß die neue Note abgegangen sein: heut abend werden wir wohl den Inhalt kennen lernen. Soll das deutsche Angebot auch nur zur Prüfung zugelassen werden, so muß die Einstellung des passiven Widerstands Vorbedingung sein. Das ist jetzt beim Besuch Poincarés in Brüssel ausdrücklich noch einmal postuliert worden. Wird aber verhandelt und kommen die Verhandlungen zum Ziel, was ja über kurz oder lang einmal soweit sein wird, eventuell durch Diktat, – dann ist ein Vertragspunkt selbstverständlich: Die Amnestierung der von den Franzosen verurteilten deutschen Industriellen und übrigen Patrioten, mit denen Loucheur dann ja wieder Geschäfte machen will und selbstverständlich werden gleichzeitig auch die jetzt im Ruhrgebiet beteiligten deutschen Aufständischen mitsamt den „Verrätern“ außer Verfolgung kommen. Dieser Fall wird erst recht eintreten, wenn die Note ebenso wie die vorige ohne weiteres zurückgewiesen wird, was ich als sicher annehme, da bis jetzt von ihr nichts weiter bekannt ist, als daß sie von fast allen Parteien gebilligt wird, nämlich vom gesamten Bürger-Mittelblock und von den Sozialdemokraten, und daß die Deutschnationalen zwar einige Einwendungen erhoben, aber im ganzen auch befriedigt schienen. Cuno hat demnach allem Anschein nach seinen Zweck wieder erreicht: im eignen Lande gut Wetter erlangt zu haben. Die Hoffnung, das Ausland werde nicht merken, daß es angeschmiert werden soll, muß den Herren ja jedesmal von neuem als trügerisch erwiesen werden. „Mangel an Psychologie“ drückte man das in Paris und London schon das letzte Mal aus. Sehr wahrscheinlich also wird nächste Woche wieder ein Reichskanzlerposten in Deutschland vakant werden, und daß die Sozi dumm genug sein werden, ihn zu besteigen, unterliegt garkeinem Zweifel. Dann wird sich alles erheblich schneller abspielen als mit Cuno. Die Liquidation der Ruhrgaudi und die Abrüstung aller nationalen Entrüstung, wenigstens äußerlich. Die Ruhr-Amnestie auf Gegenseitigkeit braucht nun uns noch nicht direkt mit zu berühren, denn die heilige Angst des Reichs vor Eingriffen in die bayerische „Hoheit“ wurde erst jetzt wieder bei der ersten Beratung der Schwurgerichtsnovelle von Herrn Heinze betont, als Herzfeld auf uns hinwies. Es müssen schon noch andere Momente hinzukommen und die sind auch da. In der allernächsten Zeit soll der Prozeß gegen Erhardt beginnen, der wahrscheinlich tiefer hineingetunkt wird als Jagow, da er nicht nur wegen seiner Kapptätigkeit sondern noch wegen einer Reihe schwererer Dinge und als Leiter der Organisation C gefaßt werden soll. Ferner steht Tillessen wieder vor dem Staatsgerichtshof wegen der Befreiung der seinerzeit verurteilten U-Boot-Kommandanten Boldt und Dittmer aus dem Gefängnis. Von Bayern verlangt der Staatsgerichtshof noch diverse Leute zur Aburteilung, und die Krankheit aller dieser Herren Eckart, Weger, Hottenrott etc. muß ja schließlich deren Bundesgenossen selbst fatal sein, da das Mittel doch nicht eben als heldenhaft gilt. Somit liegt für die rechte Seite viel Anlaß vor, grade vom Reich eine neue Amnestie zu verlangen, die eine Erweiterung der Kappamnestie von 1920 auch auf die Führer bedingen, dann aber Bayern kaum mehr umgehn könnte. Die Ruhramnestie, die absolut zweifellos kommt, sobald dort Friede geschlossen wird, und die dann das Argument schaffen wird, Frankreich gegen Deutsche weitaus toleranter zu zeigen als Bayern, die Verlegenheit in den Fällen Erhardt und Kohorten, die Gelegenheit der Justizgesetz-Novellen, die täglich unübersehbarer werdende Teuerungsnot (vom 1. Juli ab wird das Briefporto von 100 auf 400 Mark erhöht; Zenzl teilt mir an Tagespreisen mit: 1 Ei = 560 Mk, Schweinefleisch Pfund 10.000 Mk, Rindfleisch Pfund 8000 Mk, 1 Salatkopf 800 Mk, 1 Rettig 1000 Mk, 1 Krautkopf mindestens 5000 Mk etc.) – kurzum, eine ganze Serie von Gründen, die die Amnestieforderung auch für uns stützen werden, treten an Bayern heran. Zu alledem kommt jetzt der Prozeß Fuchs, den überhaupt inszeniert zu haben, die Drahtzieher eines Tags sehr bereuen werden – ob die klügeren Leute unter ihnen sich nicht heute schon die Haare raufen? – Da enthüllt sich von Tag zu Tag stinkender ein Korruptionssumpf des bayerischen Nationalismus, von dem sich auch der übelwollendste Gegner keine Vorstellung gemacht hätte. Das wird dem ganzen Regime früher oder – wenig – später das Genick brechen. Allein Fuchs’ wahrscheinlich zutreffende Behauptung, nur seine Intimität mit dem Oberstleutnant Richert, der als der Hauptarrangeur der Knechtung der Saarbevölkerung durch die Franzosen gilt, habe verhindert, daß die bayerischen Selbstschutzorganisationen seit 1921 von den Franzosen nicht belästigt wurden, – wird ja in Frankreich auch von denen ad notam genommen werden, die – zumal jetzt, wo drüben die camelots du roi übermütiger auftreten denn je – jeden Anlaß benutzen, um auf eine Stützung der demokratisch-republikanischen Tendenzen in Deutschland zu dringen. Es ist also mehr als wahrscheinlich, daß alle diese Organisationen – und so auch der „Blücherbund“ („Treu-Oberland“) in dessen Mitgliedlisten der brave Richert sich als ein Herr Kreuzer einreihen ließ und die ganze VVV „mit Hakenkreuz am Stahlhelm und schwarzweißrotem Band“, mit Handgranaten und Gummiknüppeln, Maschinengewehren und Schießwaffen auf Grund der Entwaffnungsbestimmungen von Versailles auffliegen werden. Dann hängt auch die Regierung dieses Musterstaats mit blankem Arsch in der Luft. – Übrigens ist aus der Führung des Prozesses und der Behandlung des Majors Mayr, der die gemeinste Lockspitzelrolle der Welt gespielt hat, den armen Fuchs in den dicksten Dreck hineingeführt hat (und sich nun also der Freundschaft Erhardt Auers erfreut, aber vereidigt und als Ehrenmann behandelt wird), schon jetzt zu erkennen, daß man Fuchs à la Leoprechting und Fechenbach als ehrlos ins Zuchthaus bringen will. Ich glaube kaum, daß er – wieviel man ihm auch an Jahren aufbrummt, lange drin sitzen wird. Aber ich glaube auch nicht, daß er früher herauskommt, als die „Festung“ Niederschönenfeld aufgelassen wird. Nur nicht sterben vorher! Die Knochen zusammenhalten!
Niederschönenfeld, Sonnabend, d. 9. Juni 1923
Die Cunote ist da. Aber sie ist nur ein „Memorandum“ geworden und soll bloß als Ergänzung des vorigen Angebots angesehn werden, sodaß alles, was nicht extra drin steht, in dem früheren Angebot nachgelesen werden kann. Und daran wird die Cunote vorerst mal trauervoll sterben. Ihr Inhalt im übrigen geht weiter als man hätte annehmen können, und zeigt jedenfalls, wieviel Unannehmbares von ehedem mit der Zeit annehmbar geworden ist. Eine Summe wird im Gegensatz zur alten Note nicht genannt, sondern die Festsetzung der deutschen Zahlungsfähigkeit einer „internationalen Instanz“ überlassen, deren Entscheidung blind anerkannt wird. Was für eine Instanz das sein soll, wird nicht gesagt, jedenfalls soll ihre Konstitution den mündlichen Verhandlungen vorbehalten werden, die Cuno als letzten Punkt und als letzten Hoffnungsanker anstelle schriftlicher Auseinandersetzungen vorschlägt. Interessanter sind noch die positiven Garantieen, die man geben will. Die Reichseisenbahnen sollen ihres bisherigen Charakters als Kategorie der gemeinsamen fiskalischen Wirtschaft entkleidet und unter eigne staatliche Verwaltung genommen werden, und zwar sollen auf sie Obligationen im Wert von 10 Goldmilliarden ausgegeben und von 1927 ab mit 5 % verzinst werden: Jahresertrag für Reparationen 500 Goldmillionen (ein Kompromiß also an die Forderung der Industrie, sie nach privatwirtschaftlichen Grundsätzen zu verwalten). Ferner soll die Gesamtwirtschaft durch Pfandrechtseintragungen auf Industrie, Banken, ländlichem und städtischem Grundbesitz etc. garantieren und zwar ebenfalls in Höhe von 10 Goldmilliarden mit 500 Millionen jährlichem Ertrag. – Soweit ich nach der kurzen ersten Orientierung die Sache ermessen kann, halte ich die sachlichen Angebote selbst für das, was die Engländer als mögliche Verhandlungsgrundlage ansehn werden. Aber die Dummheit liegt wieder in der übergroßen Klugheit, die von der Rücksicht auf die deutsche Volksstimmung, die die Regierung ja aber unter völkischem Druck selbst inszeniert hat, bestimmt war. In den Einleitungszeilen, die Wolff dem Wortlaut der Note vorausschickt, wird erklärt, man habe sich auf die Beantwortung nur der Punkte der gegnerischen Erwiderungen auf die vorige Note beschränkt, die ihnen allen gemeinsam waren. Die Blätter geben aber schon den Franzosen das Stichwort: demnach bleibt alles nicht Erwähnte in der früheren Fassung aufrecht, und die begann ja gleich mit der Beteuerung, der passive Widerstand an der Ruhr werde fortgesetzt. Blätter vom Kaliber des Fränkischen Kuriers hängen da auch sofort ein und verlangen: fest bleiben! – berichten aber in derselben Nummer schon, daß Poincaré, Theunis und Jaspar bei Kennenlernen des deutschen Wortlauts sofort erklärten: also wird nicht verhandelt, wird die Note garnicht geprüft. Es ist garnicht unwahrscheinlich, daß nun auch England und Italien erklären werden: wenn man den Gegner um Friedensverhandlungen bittet, ist es üblich, zugleich die Einstellung der Kriegshandlungen als Voraussetzung dazu anzubieten. Daran wird Cuno mit seinem Becker wohl kaput gehn (dieser Becker hat jetzt im Reichstag erklärt: der deutschen Wirtschaft sei es gesünder, wenn Goldwerte ins Ausland verschoben werden, als wenn sie dem Fiskus zugute kommen. Für den Reichwirtschaftsminister eine stattliche Leistung!), denn in Deutschland gilt die Reputation alles, – das Volk selbst mag zum Teufel gehen; cf. Versailler Vertrag, wo man die vollen wirtschaftlichen Lasten auf sich nehmen, nur aber die Entwaffnungs- und Kriegsschuldigen-Bestimmungen mit der „Ehre“ nicht vereinbar finden wollte. – In Brüssel hat man zugleich gegen den passiven – und speziell den wachsenden aktiven – Widerstand verschärfte Maßnahmen beschlossen. Die Notkrawalle und Streikbewegungen steigern sich im ganzen Land: in Schlesien ist eine riesige Bergarbeiterbewegung im Gange, die nun durch ihr Übergreifen zu den Landarbeitern sehr bedeutsame Formen annimmt. Im „roten“ Sachsen gab es Teuerungskrachs, wobei in Dresden und Leipzig und Bautzen die Polizei der Zeigner-Regierung gegen die Arbeiter die Polizeirevolver knallen ließ. Im Rheinland selbst ist noch lange nicht alles beigelegt, und außerdem treiben die dunkeln Kräfte der Reaktion, wo sie können, zu „bolschewistischen“ Exzessen. Auf den infamen Überfall der bayerischen Schupo auf die sozialdemokratische Versammlung in Feucht, hat jetzt Schweyer im Landtag eine Aufklärung gegeben, die ganz einfach die Darstellung der Organisation „Reichsflagge“ ohne Kritik übernimmt und die ganze Schurkerei im Namen der Regierung deckt. Um aber die größten Schweinereien aus dem Fuchs-Prozeß nicht in die Presse kommen zu lassen, hat man die Münchner Post für 5 Tage verboten – die „Münchn. Neuesten Nachrichten“ bringen zwar täglich viele Spalten voll Prozeßbericht, die interessantesten Dinge erfahre ich aber immer aus den wenigen Zeilen, die die Berliner Volkszeitung bringt, und deren Inhalt immer zufällig in den M. N. N. fehlt. Das Verbot der Münchn. Post, dem nun das der Schwäbischen Volkszeitung in Augsburg gefolgt ist, gründet sich auf § 1 der bayer. Notverordnung, nach der mit Zuchthaus (bis lebenslänglich) bestraft wird, wer während der Besetzung deutschen Gebiets dem Feind Vorschub leistet. Der Artikel, in dem diese Vorschubleistung gefunden wurde, hieß „Aus dem Sumpf der Nationalaktiven“ und enthielt bestimmte Angaben über schon außerordentlich weit gediehene Vorbereitungen der bayerischen Konterrevolution, deren militärische Führer Hitler und Ludendorf seien, während als Mittelsmann mit der Reichswehr der General von Tuchek bezeichnet wird. Die ganze Einteilung Deutschlands nach Regimentern wird aufgezählt, und die 4 auf Bayern fallenden – im Ganzen sind etwa 50 Regimenter zu je 10.000 Mann vorgesehn – seien schon fix und fertig. Hier wird also eine unmittelbar drohende Gefahr für den Bestand der Deutschen Republik aufgedeckt, mit dem Ergebnis, daß der republikanische Polizeipräsident, Herr Mantel, der sich damit zum ersten Mal präsentiert, den Aufdecker verhaften läßt und ihn einem „Volksgericht“ übergibt, das nicht zögern wird, die saubere „Notverordnung“ auf ihn anzuwenden. Herr Auer aber, dessen eignes Blatt, dessen eigne Leute diesmal betroffen sind, wird Zeter und Mordio schreien und unter der Hand schon wieder mit den Mayrs und andern Lumpen konspirieren, um gegen das Proletariat für seine ersehnte Ministerherrlichkeit Weiße Garden verfügbar zu haben. Dieser Herr hat jetzt im Landtag die Rede gegen die Feuchter Verruchtheit und gegen das ganze bayerische Gemächel gehalten und dabei entrüstet von der Korruption gesprochen, die das Land beherrscht. Die Sozi täten gut, sich für solche Philippiken jemanden auszusuchen, dem mit weniger Recht die Geschichte vom Glashaus erwidert werden könnte. – Vorhin erhielt ich die Eröffnung, daß meiner Frau bereits mitgeteilt sei, daß ihrem und dem Besuch ihrer 8jährigen Nichte Elfinger am Montag nichts im Wege stehe. Ich vermute, es handelt sich um Resls kleine Erika, die wir eventuell adoptieren wollen. Damit wird Zenzl auch das Gesuch, sie mitbringen zu dürfen begründet haben – und so konnte es nicht verweigert werden. Wie unsagbar ich mich freue, ein Kind wiedersehn zu sollen, kann ich in keinen Worten ausdrücken.
Niederschönenfeld, Dienstag, d. 12. Juni 1923.
Es war nicht Resls Erika, sondern die 11jährige Kathl von Zenzls Bruder Josef, die mit ihr hier war. Ein entzückendes Kind. Ich konnte mich garnicht sattsehen an der zierlichen Anmut der Kleinen, den feinen Gelenken, den Händchen und der lebendigen Beweglichkeit. Dieser Besuch hat mir wirklich wohlgetan, zumal auch die Aufsicht (Krebs) durchaus manierlich war. Eine einzige Unterbrechung fand statt, bei der der Aufseher selbst lachen mußte. Kathl sang mir Lieder vor, die in der kommunistischen Kindergruppe gepflegt werden, erst einen Reigen, nachher die Internationale, die der Mann nicht zulassen durfte. Zenzl sah gut und hübsch aus wie immer. Viel Neues erfuhr ich nicht. Sie fährt Ende der Woche wieder nach Berlin – zum Russenhilfe-Kongreß – und dann, mit Weigel, an die Ostsee. Ich bat sie, bei Krestinski auf meinen schlechten Gesundheitszustand aufmerksam zu machen, damit die Austauschgeschichte wenn möglich beschleunigt wird. Im Ganzen befriedigte mich das Zusammensein mehr als bei den meisten Besuchen, wenn auch das Gefühl, nun seit fast 3 Jahren nie eine Minute allein mit der Frau sein zu können, sehr deprimierend wirkte, besonders bei dem Gedanken, daß das ja garnicht so im Urteil begründet ist und früher auch anders ging. – Vielleicht ist nun aber wirklich bald der Skandal vorbei. Der Fuchs-Machhaus-Prozeß ist nach meinem Empfinden für uns das große Los. Die Entlarvung der nationalistischen Treibereien wird immer grotesker. Fuchs selbst ist sicher nur geschoben, wird aber sicher ins Zuchthaus kommen. Der Vorsitzende (Neidhart) hakt immer wieder bei den 100 Millionen französischer Herkunft ein. Ich glaube, daß man heute schon in der Regierung bereut, überhaupt diesen großen öffentlichen Prozeß veranstaltet zu haben. Im Hintergrund der Machenschaften stehn alle Zierden dieser Nation: Ludendorff, Hitler, die bayerische Regierung (Schweyer und Knilling) selbst werden mindestens noch in der republikanischen Kritik nachträglich übel zu tun kriegen, um all den Dreck von sich abzuwaschen. Ich persönlich sehe erstaunt und interessiert immer mehr alte Münchener Bekannte aufmarschieren: das ganze Café Noris tritt vor den Richtertisch: Der Hofrat Pixis, Schramm-Zittau (der Schwiegersohn Schaumbergs) u. s. w. Man lernt natürlich auch neue Leute kennen, die das München von heute interessant illustrieren; da ist ein Zeitgenosse, Doktor Ruge, Antisemit, Royalist und Mörder von Passion. Der Kerl wollte gleich eine Tscheka gründen und alle Welt „umlegen“, zuerst den Dr. Heim, aber auch Dietrich Eckart und ähnliche Gestalten. In Oberschlesien, wo sich diese Stütze der Gesellschaft schon kämpferisch betätigt hat, habe er so eine Tscheka schon praktisch inszeniert. – Die ersten außenpolitischen Wirkungen sind schon spürbar. Eine Note der Botschafterkonferenz hat der deutschen Regierung angezeigt, daß die interalliierten Kontrollkommissionen für die Entwaffnung wieder eingesetzt werden sollen. Begründet wird das zwar mit andern Vorwänden: man habe bei Schlageter Dokumente gefunden, die auf militärische Rüstungen schließen lassen etc. Ich glaube aber, daß Fuchs’ sehr glaubhafte Aeußerung, er habe durch seine Verbindung mit Richert verhindert, daß Frankreich seit 1921 die bayerischen Selbstschutzorganisationen behindert habe, ferner die Enthüllungen eines Tiroler Blatts, für deren Nachdruck die Münchner Post und andere sozialdemokratische Blätter verboten wurden, viel zu dem Beschluß beigetragen haben. Die faszistischen Bestrebungen in Frankreich gehn drüben auf die Nerven, und die Dummheit dieses Prozesses macht die politischen Gründe, die Frankreich bisher die separatistischen Putschgelüste in Bayern fördern ließen, hinfällig. Ich bin überzeugt, Bayern wird jetzt plötzlich gewisse Bestimmungen des Versailler Vertrags recht eindringlich kommentiert bekommen. – Die Position des Cuno-Kabinetts scheint mir sehr wacklich geworden. Die Aufnahme der Note entspricht meinen Erwartungen. Die Engländer und Italiener möchten verhandeln, die Franzosen und Belgier beharren auf der Vorbedingung der Einstellung des Ruhr-Widerstands. Die Entscheidung kann noch ein wenig hinausgezögert werden, da zuerst zwischen den alliierten Regierungen beraten werden soll. Das Ende wird der Rücktritt des Cuno-Becker-Kabinetts und die Übernahme der Geschäfte in die Hände einer neuen Koalition – mit oder ohne Stresemann, aber sicher mit einem der beiden Rudis – Breitscheid oder Hilferding – sein. Bayern tritt vorerst wieder in den Vordergrund. Die bayerischen Auerochsen im Reichstag haben schon beschlossen, den ganzen Komplex von Schweinereien und Schweyereien der letzten Wochen zur Sprache zu bringen: die Feuchter Mordaktion, die Rede Schweyers im Landtag, die Verbote der Münchner Post etc (gegen die der Fachrat des Buchdruckerverbands schon den Zeitungsstreik proklamieren wollte; für die auf 4 Wochen verbotene Rote Bayern-Fahne hält man das nicht für nötig) und die Enthüllungen des Fuchs-Prozesses. Möglich, daß man dabei auch an uns denken wird. Jedenfalls ist die kommunistische Reichstagsfraktion jetzt endlich entschlossen, in der Angelegenheit der Amnestieverweigerung für unsre Mitteldeutschen Lärm zu schlagen. In Verbindung mit allem andern kann das nur nützlich sein. Die beteiligten Genossen erhielten heute einen Brief der juristischen Kommission der kommunistischen Fraktion, aus dem sich ergibt, daß die Leute erst jetzt richtig informiert worden sind, nachdem ihnen der ganze Briefwechsel mit Pestalozza (der von hier aus ständig auf mein Diktat zurückführt) zugestellt worden ist. Da wird nun auch Adolf Schmidt von oben her seinen Rüffel kriegen wegen seines gänzlichen Versagens in der Sache. Helfen wird das alles unmittelbar nichts, denn auch im Reich wird – nur etwas versteckter – bayerische Politik getrieben. Der Genosse Menzel spricht es in dem Brief offen aus, daß bei dem Kuhhandel zwischen Reich und Bayern als Opfer wir politische Gefangene preisgegeben wurden (von Radbruch!). Neue Enthüllungen zeigen, wie von Berlin her z. B. gegen „Sowjet-Sachsen“ gearbeitet wird (du lieber Himmel: Sowjet-Sachsen!). Der Reichswehrminister Geßler hat bei den letzten Unruhen über den Kopf der sächsischen Regierung weg einfach bayerische und hannoversche Truppen nach Dresden geschickt. Die Republik ist wahrlich in guten Händen! Zugleich wackelt aber das Zeigner-Kabinett ohnehin, weil es die sozialdemokratischen Polizeigewaltigen nicht wegen ihrer forschen Arbeitermetzeleien abberufen will. Trotz allem: die Kommunisten wissen keine bessere Parole als: Arbeiterregierung! und verstehen darunter eben Zeigner-Kabinette mit Brandlers Garnierungen. – In Bulgarien hat inzwischen ein Revolutiönchen mit dem à la Bayern orientierten Stambulinski-Ministerium aufgeräumt und nach Festsetzung sämtlicher Minister eine Koalitionsregierung mit allen Oppositionsparteien (außer Kommunisten) oktroyiert. Damit scheint diese „Revolution“ schon beendet zu sein. Doch muß man weitere Nachrichten abwarten. Vielleicht begreift das Proletariat dort die einfache Maxime, daß man einer in Lauf gesetzten Revolution nur die Hindernisse aus dem Weg zu räumen braucht, um ihr die weitesten Ziele stecken zu können.
Niederschönenfeld, Freitag, d. 15. Juni 1923.
Alldeutschland zittert. Es ist eine neue Rekordgrenze überklettert: der Dollar steht über 100.000, nachdem er in der vorigen Woche erst von 80 wieder auf 60 000 zurückgegangen war. Die Münchner Neuesten Nachrichten, diese Schneppe des Stinneskonzerns, die ihre Hautkrankheiten schamhaft nur im Handelsteil bloßlegt, erklärt dort, die Börse sei diesmal von der Devisenhausse garnicht sehr entzückt, weil sich darin jetzt der Zusammenbruch der gesamten deutschen Wirtschaft ausdrücke. Aber das wird nicht viel ausmachen. Die Gesinnungskäufer der Kuhhaut sind ja nicht die Leidtragenden dabei. Sie werden, wie sie Kriegs-, Durchhalte-, Niederlage- und Friedensvertrags-, Reparations- und Ruhrbesetzungsgewinner waren, auch verstehen den letzten Zusammenbruch der staatlichen Wirtschaft in Deutschland zu einem ausgezeichneten Geschäft für sich umzugestalten, – solange sie fähig bleiben, den Kampf zu behaupten, den sie unter der zündenden Parole: Gegen den Bolschewismus! bis jetzt mit allen Mitteln des Mordes, des Volksbetrugs, der Rechtsbeugung, des Verrats an allem, was sie beschworen haben und der Niedersäbelung ihrer proletarischen Volksgenossen so ziemlich bestanden haben. Der ungeheure Dreck, der jeden neuen Tag aus der Kloake des Fuchsprozesses aufstinkt, und von dem viel mehr Finger beklext sind als man hätte ahnen können, wird ja mit der Marke: gegen den Bolschewismus! von den Beklagten und von ihren Anklägern – lauter Lockspitzel, die wie es scheint, beim Gelingen des Hochverrats treue Helfer bis zuletzt gewesen wären – und von den Richtern und dem Staatsanwalt als die Entschuldigung für jede, absolut jede Schurkerei betrachtet, und die Untersuchung geht mehr als um genaue Erkundung der Tatsachen um die Motive, weshalb mit den Franzosen gebandelt wurde. Läßt sich beweisen, daß das französische Geld und die Abspaltung Bayerns vom Reich wirklich dem Kampf gegen den Bolschewismus dienen sollte, dann werden die Herren Neidhard und Haß die übrigen Kleinigkeiten nicht allzu scharf beurteilen. Vorerst decken sie mal die sauberen Lockspitzel Kautter, Mayr, Schäfer, Friedmann und wie sie heißen, vereidigen sie trotz ihrer höchst verdächtigen Machenschaften mit den Beschuldigten und lassen keinen der Pestalozzaschen Beweisanträge zu, womit ihre anrüchige Vergangenheit an die Luft gehängt werden könnte (natürlich beschimpft die Auerochsenpresse den Verteidiger wegen dieser Anträge: denn Mayr ist ja Intimus des Auervaters noch heute). Die Anträge Pestalozzas, die die Rolle des Exkronprinzen und Königsprätendenten Rupprecht im Jahre 21 aufdecken könnten – denn dieser Herr war allem Anschein nach d’accord mit den Franzosenbündlern – sind vorläufig zurückgestellt. Sie werden selbstverständlich abgelehnt werden, und nur die phantasievollen kleinen Gernegroße à la Fuchs werden dran glauben. Jedenfalls ist dieser Prozeß eine noch kaum erlebte Aufdeckung der Zustände in diesem Bayern. In diesem Augenblick, wo alle Reaktion Deutschlands hier immer noch in der Regierung kulminiert, ist das von unschätzbarer Bedeutung. Die Erregung unter den Arbeitern wird von den Auerochsen nicht mehr lange gebremst werden können, zumal in Nordbayern nicht, wo der Staatssekretär Gareis die provozierendsten Dinge treibt. Ein entschlossen durchgeführter Generalstreik könnte in Bayern in wenigen Stunden mit dem ganzen Schmutz aufräumen. Aber die „Führer“ sind feige. Das zeigen sie besonders deutlich in der Übernahme aller nationalistischen Schlagworte zur Anpulverung des Teutonenzorns. Alles verteidigt sich gegen den Vorwurf, Schlageter nicht hinreichend in seinem Treiben gedeckt zu haben, sodaß der belgische Minister Jaspar mit gutem Recht sagen kann, es gibt garkeine „zwei Deutschland“, – sie sind alle die gleichen. Die Sabotageakte im Ruhrgebiet häufen sich täglich dichter; natürlich folgen ihnen sofort die Repressalien. Die Cunöden reden zwar nur immer vom passiven Widerstand (und zwar offiziell neuerdings mit starker Dämpfung), protestieren aber nie dagegen, daß der aktive Widerstand in regulären Kriegshandlungen von den Völkischen organisiert und praktiziert wird. So sehr ich die Leute achte und schätze, die für diese Taten ihre Haut zu Markte tragen, so dumm ist doch ihr Gewährenlassen vom Standpunkt jeder deutschen Regierung aus. Die Standpunkte Frankreichs und Belgiens werden dadurch gegen den nachgiebigeren Englands ungemein gefestigt. Wie und wann die Wirkungen davon sich für uns fühlbar machen werden, ist noch nicht vorauszusehn. Nur wie Herr Müller-Meiningen sich die Lösung der Niederschönenfelder Frage denkt, wissen wir jetzt aus dem stenographischen Bericht des Landtags vom 30. Mai. Er findet, „daß man das Kapitel ‚Niederschönenfeld’ jetzt endlich einmal auf längere Zeit schließen sollte“ (Lebhafte Zustimmung rechts und in der Mitte) „und zwar im Interesse der Beteiligten selbst“ (Sehr richtig!) Denn die Verhandlungen des Untersuchungsausschußes haben ein Bild „überraschenden moralischen und sittlichen Tiefstandes einzelner Beteiligter ergeben“ (Sehr richtig). Und darum fand denn auch der Landtag, daß man nichts mehr zu untersuchen habe, Hagemeister tot sein lassen könne und auch über die Einrichtung einer Krankenpflege für Festungsgefangene zur Tagesordnung schreiten müsse. Präsident: „Es liegt keine Wortmeldung vor.“ – Ob Adolf Schmidt überhaupt anwesend war, bleibt offen.