XXXVIII
16. Juni – 27. September 1923
Niederschönenfeld, Sonnabend, d. 16. Juni 1923.
Ob dies nun endlich das letzte in dieser Bastille eingerichtete Tagebuch sein wird? Es sieht vieles danach aus, als ob man in Deutschland nun wirklich am Ende aller Weisheit wäre, und die explosiven Aus- und Aufstände, deren jüngster in Oberschlesien wieder Formen zeigt, die auf große Verzweiflung und mithin Entschlossenheit der Arbeiter schließen lassen, könnten Ausblicke rechtfertigen, wie sie 1918 kurz vor dem Zusammenbruch sich auftaten. Pessimistisch muß nur immer wieder die noch immer nicht vom ganzen Proletariat durchschaute infame Gewerkschaftspolitik stimmen. Auch in Schlesien wurde der Generalstreik gegen den Willen der Gewerkschaften von den großenteils unionistisch organisierten Betrieben aus proklamiert und durchgeführt, und schon scheint es, daß die feindselige Haltung der Gewerkschafter auch dort schon wieder die Mittel finden soll, das Aufbegehren der Not zu ersticken und den Kapitalisten ihre Sklaven zu erhalten. Dennoch muß man sich sagen, daß diese Bewegungen, die die unmittelbaren Konsequenzen des unerhörten Elends sind, sich über kurz oder lang selbst gegen die Arbeiterbürokratie durchsetzen werden. Die Dollarhausse, die heute mit 108.000 notiert wird (die österreichische Krone kostet jetzt schon 1 Mark 37 Pfennige) ist in ihrer Rückwirkung auf die Lebenshaltung der arbeitenden Bevölkerung eine Katastrophe einfach unerlebter Größe. Zwar schlagen jetzt die Sozialdemokraten dagegen ein Mittel vor, dessen Annahme der Bourgeoisie wieder eine Atempause schaffen würde, aber die jetzt an die ungeheuerlichste Gewinnhäufung gewöhnte und auf die grenzenlose Auspowerung der Arbeiter eingerichtete Klasse wird es nicht annehmen. Es soll in einer Art Schlüsselzahlmultiplikation zum Friedenssatz bestehn, wie etwa die Bücherpreise durch Multiplikation eines Grundpreises mit einer ausgerechneten Schlüsselzahl festgesetzt werden. Der Unterschied ist nur der, daß die Buchhändler und Verleger den Grundpreis weit höher anzusetzen pflegen als dem Friedenswert entspricht, während selbstverständlich die industriellen Unternehmer den Lohn-Grundpreis enorm drücken werden (ganz abgesehn von den Machinationen, mit denen sie immer auch die Schlüsselzahl niedriger zu halten wissen werden, als ehrliche Berechnung ergeben würde), umgekehrt aber das Preisniveau auf die unnatürlichste Höhe schrauben werden, sodaß der Arbeiter als Konsument doch stets die Besserung wird ausgleichen und ungeheuer verzinsen müssen, die er als Produzent erzielt zu haben glauben wird. Die Unionisten verlangen denn auch kurz und bündig Goldlöhne, was sicher „realpolitisch“ richtig ist – abgesehn davon, daß nicht recht erkennbar ist, wie sie die Forderung werden durchführen wollen –, aber ganz und garnicht revolutionär und sozialistisch. Das Verlangen eines konsequenten Sozialisten dürfte nie abgehn von dem prinzipiellen Postulat: Abschaffung des ganzen Lohnsystems, und wenn mit Recht gesagt werden kann, daß die nur mit revolutionärem Kampf zu erzwingen sein wird, so ist dasselbe auch für die Forderung der „Goldlöhne“ giltig. Zunächst sieht es nun aber aus, als ob der revolutionäre Kampf erst in der Folge einer Offensive von der andern Seite wird einsetzen können. Tagtäglich kommen neue Entlarvungen über konterrevolutionäre monarchistische Verschwörungen, die (wie in Hessen) von den im November 18 ausgerutschten Fürsten selbst geleitet oder (wie in Bayern) gefördert werden. Die vollkommene Hilflosigkeit der „republikanischen“ Regierungen diesen Treibereien gegenüber zeigt sich dabei mit grotesker Deutlichkeit. Der Bandenführer Roßbach leitet z. B. vom Gefängnis in Leipzig aus neue Kampforganisationen, die als Basis die Formationen der Reichswehr selbst haben. Die Zentrale in Magdeburg wird entdeckt, die Organisatoren verhaftet, – und nach ein paar Tagen alle wieder freigelassen: die Völkischen erzwingen das einfach. Ein andrer Landsknechtschleifer Hauenstein (gen. Heinz) wird wegen Vergehn gegen das Republikschutzgesetz verhaftet. Er verlangt von den Behörden, sie sollen ihn freilassen, da er Schlageter aus den Klauen der Franzosen retten will (das Todesurteil war grade gesprochen). Man verweigert ihm das natürlich, Schlageter wird hingerichtet, und ein paar Tage darauf ordnet der Reichsanwalt die Freilassung des Heinz an. Die Nationalisten toben. (Interessant ist dabei, daß der Fränkische Kurier nun schon mehrere wüste Hetzartikel im Falle Schlageter im gleichen oder auszugsweise gleichen Wortlaut gebracht hat wie der Völkische Beobachter. Das „Demokraten“-Blatt des Müller-Meiningen und das Diktatoren-Blatt des Hitler). Aber niemand hat den Mut, einfach auszusprechen, was für Wirkungen der Begünstigungsakt einer preußischen Behörde zugunsten Schlageters gehabt hätte. Es hätte Krieg bedeutet; bis jetzt will man ja aber offiziell grade vermeiden, im Bunde mit den Saboteuren ertappt zu werden. Die Sabotageakte häufen sich stündlich; bald werden französische Besatzungsoffiziere oder Wachtposten erschossen, bald fliegt eine Brücke in die Luft, bald entgleist wieder ein Zug. Schon ist ein zweites Todesurteil gefällt, diesmal in der bayerischen Pfalz. Ob man den Herrn Görges begnadigen wird? Seine Gesinnungsfreunde tun wahrlich alles, um das unwahrscheinlich zu machen. Cuno aber reist im Lande herum und redet so herum und so herum und stößt dabei sowohl die deutschen wie die französischen Nationalisten vor den Kopf (Was kein Wunder ist, sein eigentlicher Politikeinbläser ist der bayerische „Demokrat“ Hamm, sein Kanzleichef, der seine Direktiven jedenfalls von Geistesgrößen à la Müller-Meiningen empfängt.) Indessen bringt der Fuchs-Prozeß mit jedem Tag neues kompromittierendes Material gegen alles, was in Bayern Zeitgeschichte macht, und gegen die französische Politik erst recht. Das wird in Paris nicht verziehen werden. Die Chancen scheinen mir also allgemein nicht schlecht für uns zu stehn, wenn auch hier im Hause alles eher als Abbau bemerkbar wird. Seit heute sind wir wieder 25 Mann statt 24 bisher. Der „Zugang“ ist der Kolbermorer Genosse Rupert Enzinger, den ich von 1920 her schon kannte. Er wurde damals im Dezember von hier auf Bewährung entlassen, hat jetzt 1½ Jahr Gefängnis hinter sich und muß nun hier noch 17 Monate nachexerzieren. Ich erkannte den armen Kerl nicht wieder, so ist dieser robuste starke Mann im Gefängnis zugerichtet worden.
Niederschönenfeld, Montag, d. 18. Juni 1923.
Dem Wetter und der Temperatur nach sollte man eher glauben, drei Tage vor der Wintersonnenwende zu stehn als 3 Tage vor der Sommersonnenwende. Besonders in diesem erbärmlichen Menschenzwinger ist es unerträglich kalt, und ich habe schon wieder einen ekelhaften Darmkatarrh, den ich hauptsächlich auf die mittelalterliche Bauart der Abtritte (System: wasserloses Geruchkloset) mit ihrer Röhrenventilation aus dem Kotreservoir herauf zurückführe. Wer hier auf die Dauer nicht krank wird, der muß schon einen Organismus aus andern Welten auf den Weg bekommen haben. Enzinger war gestern lange bei mir und hat mir seine traurige Geschichte erzählt. Als er aus der Festung (Weihnachten 20) entlassen war, fand er daheim seine Frau unterleibskrank und für sexuelle Freuden nicht mehr empfänglich vor, bei ihr die inzwischen herangewachsene jetzt 19jährige Stieftochter, die sie ihm aus der Zeit vor ihrer Bekanntschaft in die Ehe gebracht hatte, die aber außer dem Hause erzogen war. Der starke, lebenshungrige, durch Müllersche Festungsmethoden geschlechtlich überreizte Mann verliebte sich in das junge Mädchen, in dem er das Ebenbild seiner Frau aus der Zeit seiner besten Leidenschaft wiedererkannte, und das Mädchen erwiderte die Zuneigung. Es kam also zum intimen Verkehr. Eine eifersüchtige Person, die den Mann für sich hätte haben mögen, kam dahinter, machte sich den blödsinnigen § 173 des Strafgesetzbuchs, der solchen Verkehr als „Blutschande“ ansieht, zunutze und denunzierte, denunzierte zugleich auch, daß E. von der Rätezeit her noch seine Waffen aufbewahre. Da er kein Geld hatte, einen Verteidiger zu bestellen, die Frauenhilfe für politische Gefangene ihm die Beschaffung eines Anwalts ablehnte – sogar wegen der Waffen; er zeigte mir den Brief, in dem diese famose Arbeiterorganisation ihm Vorwürfe machte, weil er sie nicht an die Kahr-Pöhner-Regierung abgeliefert habe – und das liebe Verhalten der „Kommunisten“ um Elbert, um mich als Gauner hinstellen zu können, den von mir angestrebten Rechtsschutz verhindert hat, – und das Gericht unglaublicherweise die von ihm verlangte Stellung eines Pflichtverteidigers verweigerte, war der unbeholfene Mann vor den Richtern auf sich allein angewiesen; der Staatsanwalt stellte den Spartakisten als Wüstling hin, dessen Sittenroheit auch beweise, daß er mit seinen Waffen alle Welt gefährdet habe, irgendeine Menschenstimme wurde nicht laut, und er bekam für das sogenannte Inzestverbrechen 1 Jahr 4 Monate, für die Waffenverbergung 3 Monate und dann in einem besonderen Prozeß, bei dem er einen Anwalt gestellt bekam, weil er bei der Verhaftung Widerstand geleistet hatte, noch 7 Tage Gefängnis, und dazu natürlich den Rest von 17 Monaten Festung zum Nachexerzieren. Die arme Frau, die volles Verständnis für Tochter und Mann hat, sitzt nun in bitterster Not, die Frauenhilfe versagt auch ihr jede Unterstützung, sie ist krank und arbeitsunfähig – und die bayerische „Gerechtigkeit“ hat wieder ein Opfer in den Fängen. Man sieht, welcher Segen aus dem bewährten Verfahren der „Begnadigungen“ auf Bewährungsfrist erwächst. Es wäre wahrhaftig an der Zeit, daß die Genossen – es sind ihrer viele hier und im Zuchthaus, deren Familien in ähnlicher Lage sind – heimkehren und die ärgsten Leiden von ihren Familien fernhalten könnten. Selbstverständlich ist daran überhaupt nicht zu denken, solange die derzeit in Bayern maßgebenden Mächte maßgebend bleiben. Die kennen nichts, was mit menschlichem Erbarmen zu tun hätte. Sie lassen sich von blindem Haß gegen alles leiten, was ihr Treiben auch nur zu kritisieren verdächtig ist. Dafür begreifen, decken und unterstützen sie alles, was wie sie von der Aufgabe des Christentums überzeugt ist, eine Racheinstitution der Reichen gegen die Armen zu sein. Sie fürchten keine Hybris, sie laufen in ihr Verderben, wobei sie den Revolutionären alle Vorarbeit abnehmen und sich ihr Schicksal durch provozierende Brutalität, durch Verhöhnung alles Rechts, durch die übertriebenste Berufung auf ihre Macht, die sie für unverrückbar und ewig halten, täglich sicherer bereiten. Den Proleten sperren sie wegen eines Gewehrs und eines Karabiners monatelang ein, die eignen Parteigänger dürfen nicht nur riesige Arsenale der schwersten Kampf- und Sprengwaffen, die schlagkräftigsten Kampf- und Bürgerkriegsverbände gegen die eignen Landsleute, sofern sie Proletarier sind, organisieren, – wer ihre blutrünstigen Pläne enthüllt und von ihren Waffenlagern spricht, ist „Landesverräter“ und kommt ins Zuchthaus. Daß ein solches System, verbunden mit Rechtsbeugungen aller Art – à la „Ehrenhaft“-Vollstreckung und Nichtanwendung giltiger Amnestiegesetze –, verbunden mit der von allen Regierungsinstanzen gemeinsam betriebenen öffentlichen Verleumdung Wehrloser (die man sogar noch zur Widerlegung der Verleumdungen extra wehrlos macht) keinen Bestand für lange Dauer haben kann, ist aus sich selbst klar. Es scheint aber, als sollte der Zusammenbruch dieser Schandwirtschaft nun endlich durch allerlei politische und soziale Konstellationen, die den Boden unter der ruchlosen Herrlichkeit, natürlich ohne das geringste Erkennen der ewigblinden Machthaber, ins Wanken bringen, nicht mehr lange auf sich warten lassen. In der ganzen Welt ist die Offensive gegen das Schreckensurteil im Fechenbachprozeß aufgenommen. Nachdem der republikanische Richterbund, und besonders Freymuth durch Veröffentlichung des Ritter-Telegramms die Tollheit dieses „Rechtsspruchs“ erwiesen haben, rückt ein Münchner Rechtslehrer Kitzinger mit dem Beweis an, daß Fechenbach überhaupt nicht verurteilt werden durfte, da es sich, wenn überhaupt ein Vergehn vorlag, um ein schon verjährtes Pressedelikt handelte. Die Münchner Neuesten Nachrichten sehn sich schon zu einem Leitartikel gezwungen, um die bayerische Volksgerichtsjustiz zu rechtfertigen. Zugleich aber erläßt die sächsische Regierung eine Verfügung an ihre Amtsstellen, wonach Auslieferungsbegehren und überhaupt Hilfshandlungen für die bayerischen Volksgerichte nicht mehr vorgenommen werden dürfen, weil diese Gerichte ungesetzlich sind. Schon droht Bayern mit dem Abbruch der Beziehungen zu Sachsen, und der Gedanke an Krieg zwischen zwei im deutschen Reich vereinigten Ländern ist nicht so absurd, wie man meinen könnte. Die Hetze gegen die „bolschewistischen“ Nordstaaten Sachsen, Thüringen und Preußen (Severing) nimmt in Bayern groteske Gestalt an und die Desperados, die jetzt täglich gruppenweise im Fuchs-Prozeß aufmarschieren, sind durchaus die Leute, solchen Krieg auf eigne Faust zu unternehmen, dem die bayerische Regierung den Segen geben müßte, ob sie wollte oder nicht. Leider sind unsre Presseleute auch bei der Opposition unaufmerksam oder ungeschult, und merken garnicht, wo sie einhaken müßten. Da wird z. B. erörtert, daß Herr v. Knilling gesagt haben soll, falls die Cuno-Regierung stürzt und dafür kommt ein Kabinett Breitscheid-Hilferding, dann muß Bayern das Heft im Reich in die Hand nehmen. Das wird natürlich bestritten, aber kein Mensch erinnert daran, daß ja erst vor ganz kurzer Zeit Herr Held, der eigentliche Leiter der gesamten bayerischen Regierungspolitik genau dasselbe vor aller Öffentlichkeit ausgesprochen hat. An diesem Prozeß wird nicht nur Knilling mit Schweyer und den übrigen Staatsbetreuern scheitern, – außer den Personen wird in wenigstens mittelbarer Folge das ganze bayerische System umkippen. Die Franzosen werden schwerlich weitere Millionen an die „vaterländischen“ Verbände in Bayern zahlen, da sie nicht mehr die Gewähr haben, daß das Geld wirklich überall nur für ihre politischen Zwecke verwendet wird, und sie werden allmählich anfangen, die ewigen Beschimpfungen ihrer Nation, die in Bayern zur Staatspflicht geworden sind, mit entsprechenden peinlichen Quittungen zu begleichen. Jetzt setzt überdies eine große Agitation in Bayern ein, die der Gefahr der Verpfändung der Reichseisenbahnen für Reparationszwecke ausweichen möchte, indem Bayern die „Verreichlichung“ seiner Eisenbahnen rückgängig machen soll. Die bayerische Regierung wird sich, da sie längst nicht mehr Herrin ihrer Entschlüsse ist, dieser sehr populären antiunitarischen Forderung nicht lange widersetzen können, dann ist der Bruch mit dem Reich wie der speziell-bayerische Konflikt mit der gesamten Entente fertig. Denn in Paris und London opfert man keine Reparationsansprüche, um bayerische Empfindlichkeiten zu schonen. Es scheint sich wirklich allmählich ein ganzes Netz von unsichtbaren Fäden um das Bayern von heute zu legen, das diese Ordnungsbestie umso schneller erdrosseln wird, je wirksamer es zur Auslebung seiner Instinkte Zeit hat. – So wie jetzt in diesem Lande sah es in allen Ländern, die große Revolutionen erlebt haben, kurz vor ihrem Ausbruch aus. Ich zweifle keinen Augenblick daran, daß diese Revolution kommen wird, und wir haben die Dummheiten, die zur Niederlage von Revolutionen führen müssen, weiß Gott schon alle in so reichem Maße begangen, daß wir hoffen dürfen, sie werden das nächste Mal vermieden. Eisners Stolz auf die friedliche Durchführung des Umsturzes war fehl am Orte. Noch fast jede Revolution fing unblutig an, und je sanfter sie verlief, um so rascher sammelten sich die gestürzten Mächte und machten aus der Harmonie der Revolution eine fürchterliche Orgie blutigster Reaktion. Wir wissen ein Lied zu singen. Auch in Bulgarien jetzt fing alles ganz unblutig an. Dann dauerte es wenige Tage, Stambulinski sammelte die Seinen und die Metzelei war im Gange. Jetzt ist dieser Stambulinski getötet worden, „auf der Flucht“, wie es nach deutschem Muster heißt. Die Koalition der Nachfolger scheint kaum besser zu sein als die Parteiregierung des bäuerlich-reaktionären Stambulinski, dem jetzt die Kommunisten hilfreich beispringen – die Esel! Aber wahrscheinlich hat ein Marxist ausgerechnet, daß jetzt grade die „Phase“ da sei, wo Bulgarien ein bäuerliches Regiment braucht. Daß die städtischen und ländlichen Arbeiter überhaupt kein noch so phasengemäßes Regiment brauchen, sondern Revolution zur Befreiung von Kapitalismus und Nationalismus in jeder Form, das haben die „Kommunisten“ des Europas nach dem Weltkrieg, sollten sie es schon mal gewußt haben, längst vergessen.
Niederschönenfeld, Mittwoch, d. 20. Juni 1923
Jeder Blick in jede Zeitung bestätigt das Herannahen der Katastrophe. Der neue Ätna-Ausbruch ist wie ein Symbol, wie eine Prophetie der jenseitigen Dämonen, daß sich der Lavastrom in den Kratern der Völker sammelt, um in ungeheuren sozialen Erschütterungen auszubrechen. In Deutschland steht man in völliger Ahnungs- und Hilflosigkeit vor der Tatsache, daß die Währung, also das Kontrollmittel der Zirkulation, für ihren Zweck völlig unbrauchbar geworden ist. Da sitzt im Reichstag ein besonderer Ausschuß zusammen, der die Ursachen des Marksturzes ergründen soll. Als er, vor Wochen schon, zusammentrat, stand der Dollar auf 30.000 Mark, jetzt ist er – nach einer Zeitung von gestern – bei 167.000 angelangt, und man untersucht immer noch, wie das möglich war. Die österreichische Krone sogar hat diesen Tiefstand nie erreicht gehabt – sie kostet jetzt schon an 2 Mark –, und alles plagt sich, wie man die Valuta wieder befestigen, die Mark „stabilisieren“ kann. Die modernste Forderung heißt „wertbeständige Löhne“. Vielleicht quälen sie sich wirklich irgendein Index-Schema heraus, mit dem sie die Proleten wieder mal stille kriegen, bis sie merken, daß sie auch dabei die Betrogenen sind. Das Chaos der deutschen Wirtschaft ist auf keinem Wege mehr zu bremsen. Wie es sich auswirken wird, darüber möchte ich keine Detail-Betrachtungen wagen. Unsereiner hat vor dem Weltkrieg gewußt, daß er schrecklich, grauenhaft, fürchterlich sein würde, aber unsre Phantasie hat jämmerlich versagt vor der Wirklichkeit, die auch die abenteuerlichsten Befürchtungen weit, weit übertraf. Der Wirtschaftskrach, dem wir entgegengehn, wird ebenfalls ein viel wüsteres Bild abgeben, als irgendwer sich in der Phantasie ausmalen kann. Mord und Verzweiflung werden den Tag verdüstern und die Nacht durchlodern, Vertierung und Kannibalismus werden den Tod der Kultur bezeichnen, – die wir bisher Kultur nannten. Was nach deren Tode kommt: das Werden einer neuen lichteren Zeit oder das Hinsinken Europas in den Dämmerungszustand einer qualvollen Entgeistigung, hängt von der Inbrunst, der Konsequenz und dem Erfolg der Revolution ab, die die Reinigung versuchen wird. „Naturnotwendig“ wird ihr Ausgang nicht so oder so sein, – auf die seelische Kraft derer, aus deren Geist sie stammen wird, kommt es an. Aber das sind Zukunftsdinge – und ich kann nicht wissen, ob ich die Kontrolle dessen erleben werde, was ich heute ankündige. Ich muß mich an die Gegenwart halten, die diese Ankündigungen veranlaßt. Im Ruhrgebiet, in der Pfalz, in der ganzen besetzten Zone häufen sich die Sprengungen von Eisenbahnkörpern, Tunneln und Verkehrsanlagen, die Erschießungen von Besatzungssoldaten, die Anschläge auf Truppen- und Passagierzüge. Natürlich werden sie mit all den Repressalien beantwortet, die man von den Deutschen in Belgien, Polen und Serbien gelernt hat. Die völkischen Helden, die samt und sonders aus dem unbesetzten Deutschland, zumeist aus Bayern zu diesen Anschlägen hinüberfahren – unter stiller Duldung der Regierungen Cuno und Knilling – kehren fast alle unbeschädigt zurück, – und wenn mal einer von den Franzosen erwischt und entsprechender Behandlung zugeführt wird, ist er in Alldeutschland Märtyrer und Heros und Ludendorff ruft zur Aufstellung eines Denkmals auf, wie jetzt für Schlageter, den Schill der Hakenkreuzler. Die armen Leute aber, die in den betreffenden Gegenden wohnen, haben den Heroismus der Tapferen auszubaden. Schon wird über das ganze Ruhrgebiet die Blockade verhängt, die Einreise ins gesamte Gebiet wird unterbunden. Die Städte müssen Kontributionen in grotesker Höhe zahlen, Belagerungszustand und Wutausbrüche der gefährdeten Besatzungstruppen tun das übrige, um die hungernde und verängstete Bevölkerung desperat zu machen. Höchst bezeichnend ist in diesem Zusammenhang das Schreiben, das der Vorsitzende der Demokratischen Partei vom Bezirk Niederrhein an Cuno gerichtet hat. Er beschwört ihn, den Sabotageakten zu steuern, die das Volk in die scheußlichste Lage bringen. Es bleibe sonst der Bevölkerung nichts anders mehr übrig, als sich mit den fremden Mächten und den Besatzungstruppen zur Bekämpfung des verbrecherischen Unfugs zu vereinigen, um zu verhindern, daß deutsches Eigentum, deutsche Verkehrsmittel, deutsche Werte andauernd vernichtet werden mit dem einzigen Resultat, daß deutsche Bürger und Arbeiter deswegen die furchtbarsten Nackenschläge aushalten müssen. Schon sei die Wut der Einwohner aufs höchste gestiegen und die Bewegung zur Separation einer rheinischen Republik findet mehr Anhang als je, zumal beste deutsche Patrioten jetzt keinen andern Rat mehr wissen. – Natürlich ist nicht dran zu denken, daß nun Herr Cuno etwas gegen die Dynamitarden unternimmt. Dazu ist ihm denn doch sein Leben zu lieb. Auch keine andre Regierung dürfte es noch wagen, den Völkischen wirkliche Schwierigkeiten zu machen. Die Dinge sind im Lauf. – Die Note, die an alle Regierungen losgelassen wurde – auch nach Moskau –, aber nicht nach Paris, Brüssel und Prag, und worin die Berliner Hanswurste winselnd Protest erheben gegen das Hausen der Franzosen und Belgier im Ruhrgebiet, wird einen verhehlten Heiterkeitserfolg haben, und manchen Regierungen – etwa Mussolinis – ist zuzutrauen, daß sie sich nicht einmal mit ihrer Ironie sehr zurückhalten werden. Man braucht ja nur an die Proteste während des Weltkriegs zu denken: Wilhelms z. B. an Wilson wegen der Dum-Dum-Geschosse und die Antwort, die sehr deutlich durchblicken ließ, daß der Einbruch in Belgien und der Vandalismus in Löwen mehr Grund zum Einspruch gebe als präparierte Geschosse, von denen man hüben nicht weniger Gebrauch machte als drüben. Und ob man in London ohne Erwähnung von Fryatt und Miß Cavell auf diese Note reagieren wird, die kein Wort gegen die Sabotageakte der Schlageter und Görges findet, wohl aber deren Verurteilung bejammert – die das Sprengstoffgesetz von 1884 von Deutschland selbst erfordern würde –, darauf bin ich neugierig. Unsre Pressekamele quälen sich angesichts aller dieser Probleme mit Betrachtungen darüber ab, ob die letzte Abstimmung in der französischen Kammer, bei der die gesamte Linke die Union sacrée aufsagte, ohne sich jedoch deswegen von dem Vertrauensvotum für Poincaré abschrecken zu lassen (was natürlich bedeutet: solange der Konflikt mit Deutschland besteht, darf kein Kabinettschef in Frankreich eine andre Außenpolitik treiben als Poincaré tut, aber deswegen innenpolitisch keine Freundschaft nicht!) – ob diese Abstimmung besseres Wetter ins Ruhrgebiet bringen wird, und darüber, ob die gegenwärtige Kabinettskrisis in Belgien eine Änderung der belgischen Politik durch Übernahme der Regierung durch die „Sozialisten“ bringen wird (nachdem Herr Vandervelde grade erklärt hat, das Ruhrbecken bleibe selbstverständlich besetzt, bis Deutschland zahlt). Sie hoffen auf England, das Tag für Tag zeigt, daß ihm die Freundschaft Frankreichs die größten Opfer, das Wohlergehn Deutschlands garkeines wert ist. Sie warten wie den ganzen Krieg durch aufs Wunder, – aber diesmal kommt’s nicht: oder aber, sie werden es erleben, aber so, wie sie es nicht vorausahnen, – und dieses Wunder, auf das ich warte, wird den Pressekamelen hoffentlich zu allererst und am allergröbsten den wärmsten Platz im Wüstensande anweisen. – Die letzten Zeitungen berichten von einem Attentat auf den Genossen Lunatscharski, auf den bei einer Inspektionsreise in Transkaukasien geschossen sei. Meine Hoffnung ist, daß die erste Nachricht, wonach er getötet sei falsch ist, da eine weitere Meldung schon mitteilt, der Schuß sei fehlgegangen. Dieser sympathischste aller russischen Revolutionsmänner hat für die Kultur einer neuen Menschheit Unermeßliches geleistet. Sein Tod wäre ein grenzenlosen Unglück.
Niederschönenfeld, Montag, d. 25. Juni 1923.
Eine ganze Reihe von Gründen hielt mich in den letzten Tagen von Aufzeichnungen zurück. Auch heute – wo endlich anständiges Wetter nach langer Regen- und Kälteperiode – in den Hof einlädt, kann ich mich nicht lange mit dem Schreiben beschäftigen. Einer der Gründe lag in einer von mir unternommenen neuen „Aktion“, mit der es folgende Bewandnis hat. Eine Pressenotiz meldete, daß die Regierungen aller deutschen Länder unter Vermittlung des Reichsjustizministers sich auf eine gemeinsame Verordnung zur einheitlichen Regelung des Strafvollzugs geeinigt haben, die „alsbald“ in Kraft gesetzt und in den nächsten Tagen im Gesetz- und Verordnungsblatt mitgeteilt werden soll. Das sei der erste Schritt auf dem Wege zum Reichsstrafvollzugsgesetz. Ich habe daraufhin an den Rechtsausschuß des Reichstags eine Eingabe verfaßt, die als Material für die beginnenden Vorarbeiten zum endgiltigen Gesetz dienen soll. Bei dieser Gelegenheit mußte ich mich mit der hohen Wuchtigkeit ins Einvernehmen setzen, und es kam bei Schiff eine Besprechung zwischen mir, Olschewski, Schlaffer und Sauber zustande, – wobei amüsanterweise von allen Seiten die Verkehrsform gewahrt wurde, als sei nie im Leben der geringste Schatten auf unser Verhältnis gefallen. Jedenfalls kam eine Einigung zustande, und morgen dürfte das Dokument auf die Reise gehn. Ich muß leider auf die Einzelheiten der Verhandlungen verzichten, da sie sonst bei den bekannten Begriffen von Takt und Anstand bei den bayerischen Regierungsstellen eines Tages dem Landtag vorgelesen werden könnten. Was aber Kühlewein dem Parlament von mir aus erzählen darf, ist, daß hier trotz aller Gegenwirkung dieser Behörden jetzt eine Art Gottesfriede herrscht, der z. B. heute, am Geburtstag unsres Luttner-Ferdl – dadurch zum Ausdruck kam, daß mein Geburtstagsgedicht, was noch nie da war, sämtliche Unterschriften mit Ausnahme von Daudistel und Weber enthielt, denen aus bestimmten Gründen das Ding nicht vorgelegt wurde. – Meine Zeit ist gleich abgelaufen, und so muß ich heute wieder die Politik beiseite lassen, in der sich übrigens auch nichts entscheidendes Neues ereignet hat. Hier drinnen beschäftigt man sich intensiv mit der Strafvollzugs-Verordnung, bei der ich vorläufig der Meinung bin, daß sie der Auslegung genügend Spielraum läßt, um nach den gleichen Paragraphen Gollnow in Preußen und Niederschönenfeld in Bayern fortbestehn zu lassen. Von erheblichem Interesse für uns wird das Urteil im Fuchsprozeß sein, das am 9. Juli verkündet werden soll. Der Staatsanwalt beantragte gegen Fuchs Zuchthaus auf Lebenszeit, gegen Munk 5 Jahre Zuchthaus, für die übrigen kürzere Festungsstrafen. Es ist indessen – zumal nachdem das Gericht dem Staatsanwaltsantrag auf sofortige Festnahme Munks – der gegen 60 Millionen Kaution auf freiem Fuß ist – nicht entsprochen hat, keineswegs ausgeschlossen, daß Munk und vielleicht auch Fuchs, bei dem die Unterstellung der ehrlosen Gesinnung ebenso fadenscheinig begründet wurde, wie seinerzeit bei mir, mit Festung davonkommen. Werden sie dann, wie fast alle meinen, zu Arco nach Landsberg oder zu uns kommen? Ich habe den Witz gemacht: das Gericht wird zwischen Zuchthaus und Festung ein Kompromiß machen, und die Herren nach Niederschönenfeld schicken.
Niederschönenfeld, Donnerstag, d. 28. Juni 1923
Tagesgespräch in der Festung ist eine Rede Radeks im Erweiterten Exekutivkomitee in Moskau. Darin hat er einen wunderschönen Scheiterhaufen für Schlageter aufflammen lassen und mit bengalischer Beleuchtung nationalistisches Heldentum gefeiert. So weit so gut. Auch ich habe großen Respekt vor dem Mut, der Opferfähigkeit und dem Idealismus solcher Gegner, die ihr Leben für ihre Sache hergeben und habe noch nie die alberne Infamie mitgemacht, Leute wie Arco, Fischer, Kern, Schlageter etc. für
Feiglinge zu halten und auszugeben. Aber Radek[t] begnügt sich nicht damit. Er pfeift den Deutschvölkischen allgemein ein lockendes Liedchen vor und meint, jetzt werden sie wie die Hundchen zur KP gelaufen kommen, – oder er meint auch was andres. Der Rede Sinn ist: wollt ihr denn wirklich den Ententekapitalismus unterstützen, indem ihr das deutsche Proletariat niedersäbelt oder wollt ihr nicht lieber mit uns zusammen die Angriffe der westlichen Imperialstaaten bekämpfen? Zu diesem Behuf streichelt er die nationalistischen Empfindungen der Gegner und erklärt zugleich den Arbeitern – was er in einer andern Rede in voller Klarheit getan hat, daß der Nationalbolschewismus heute eine ganz andre Bedeutung hat wie noch vor 2 Jahren. Er sagte z. B.: „Wenn die Sache des Volks Sache der Nation ist, dann ist die Sache der Nation Sache des Volks.“ Überhaupt arbeitet er merkwürdig geläufig mit dem Wort „Volk“, was ihm als Marxisten eigentümlich zu Gesicht steht, denn bisher galt – und grade Marx hat das betont – die Ansicht, mit der auch ich es halte, daß wir noch garkein „Volk“ haben, sondern Klassen. Der Satz ist sicherlich ganz inhaltlos und wird grade darum seine Wirkung tun, die Wirkung nämlich, daß die Arbeiter finden werden: ja, dann haben ja die Sozialdemokraten mit ihrem Patriotismus ganz recht. Kurz und gut: der Internationalismus wird preisgegeben, gegen die Rassenhetze der Völkischen weiß Radek ohnehin nichts zu sagen, – der Burgfriede wird proklamiert, der Klassenkampf hört auf, – mit Trotzki und Ludendorff an den Rhein! (obwohl Ludendorff zunächst noch beschimpft wird). Wie damals als die kommunistischen Koryphäen in München, die Herren Otto Thomas und Otto Graf dasselbe sagten, sind denn unsre Hauskommunisten wieder freudig bereit, auch diesen Hopser – der die „Einheitsfront“, die „Arbeiterregierung“ und weiterhin die Fusion der Parteien vorbereitet – mitzutanzen; wenn auch einige von ihnen – eben war z. B. Schiff bei mir, der sehr beklommen ist – Unrat wittern. Ich möchte wirklich gern, daß es mit meiner Aushändigung nach Rußland ernst würde. Dann würde ich auf alle Gefahr hin dort einmal meine Meinung äußern über die Verwüstungen, die die nur auf das russische politische Interesse hin redigierten Moskauer Parolen in den revolutionären Kreisen der Arbeiter in Deutschland anrichten. – Grade jetzt, wo die deutschen Faszisten täglich tollere Provokationen treiben – im Ruhrgebiet gehn die Attentate fröhlich weiter, die die Bevölkerung dort zu büßen hat, in Münster fliegt die sozialdemokratische Zeitungsdruckerei in die Luft, der neue Polizeipräsident Mantel in München füttert die Auerochsen mit Verboten, die ihn an Tüchtigkeit selbst Pöhner überlegen zeigen (ihre Vollmar-Denkmalsenthüllung hat er ihnen total versaut; übrigens gönne ich’s den Sozi, daß sich ihre niederträchtigen Verrätereien, indem sie der Konterrevolution alle Waffen und Ämter übergaben, jetzt an ihren eignen Leuten und Einrichtungen auswirken), in Parchim ermordeten Rossbach-Leute einen der ihren kraft Fehme-Beschluß, in München wird der Mord an Bauer durch die Verhaftung seines selbstverständlich ebenfalls völkischen Mörders aktuell gemacht (es heißt im Polizeibericht über den Fall: die Motive des Mörders seien noch nicht aufgeklärt; mir ist bisher nur nicht aufgeklärt, welche Motive die Behörden veranlaßt haben, den Mann zu entdecken). In München wird der deutschpatriotische jüdische Kommerzienrat Siegmund Fränkel auf der Straße blutig gehauen,* – so geht’s in dieser lieben Republik jetzt tagtäglich zu. Der Bürgerkrieg ist schon bis zu täglichen Vorpostengefechten gediehen, – da kommen die Russen und kündigen den Internationalismus der sozialistischen Idee auf. Sie werden an den Wirkungen wenig Freude haben. Denn grade die Arbeiter werden ihnen abspringen, die von der USP zu ihnen gekommen sind und ein andrer Teil der kommunistischen Arbeiterschaft wird viel eher seine Hemmungen überwinden, der antisemitischen völkischen Bewegung zuzulaufen als umgekehrt die völkischen Studenten die ihrigen, dem Proletariat die Wertpapiere der Papas zerreißen zu helfen. Es scheint aber nach allen Symptomen allmählich eine Unruhe und Ungeduld über alle zu kommen, die verdächtig nach nahen Stürmen riecht. Vielleicht braucht es wirklich nur noch den letzten Anlaß – ein gestürzter Gaul oder ein Ministermord (Severing scheint an der Reihe zu sein), um den Topf
überlaufen zu lassen. Einen Tropfen noch und dann Wehe der Welt!
* wie sich im Oktober beim Prozeß herausstellte, war der Hauptheld dabei Max Weber, der aber wegen Erkältung nicht vor Gericht erschien und seinen Freund Emil allein zu 1 Monat verdonnern ließ.
Niederschönenfeld, Sonnabend, d. 30. Juni 1923
Gestern war wieder Feiertag (Peter und Paul) und keine Postausgabe. Heut am Samstag war früh um 9 die letzte Briefkastenentleerung vor Montag, und da wir so die Antworten auf die Post, die gestern hätte eintreffen sollen, und die wir heute erst bekommen, nicht mehr vor Ablauf des Monats losbringen, kostet das Porto auf diese Antworten statt 100 300 Mark. Aber es wird zugleich schon öffentlich bekanntgegeben, daß auch diese Summe nur für kurze Zeit gilt und daß am 1. August ein neuer Tarif kommt, nach dem eine Briefbeförderung innerhalb des deutschen Reichs die Kleinigkeit von 1000 Mark kosten wird, – gegen die 10 Pfennige im Frieden also eine Verteuerung um das Zehntausendfache. Die billigste Drucksachenbeförderung wird 200 Mark kosten gegen 80 Kronen in Österreich (64 Friedensmark im Vergleich zur Friedenskrone). Der Dollarstand, der nach seiner Blüte von 175000 in wenigen Tagen wieder auf 100 000 heruntergebracht war, kreist seitdem mit Schwankungen, die täglich in die Zehntausende differieren und bei graphischer Darstellung der Fieberkurve eines an Gehirnhautentzündung Sterbenden gleichen müßten, um 150000 herum – trotz neuer Devisenverordnungen, trotz neuer Stabilisierungsmaßnahmen durch Hinausfeuerung weiterer Gold-Hundertmillionen zur Verschiebung ins Ausland zugunsten der Großindustriellen, trotz der komischen Bemühungen des Reichstagsausschusses zur Untersuchung der Ursache des letzten Valutakladderadatsches, vor dem sich Herr Stinnes junior und Herrn Hugo Stinnes’ senior Finanzchef Herr Minoux im fröhlichen Bewußtsein dessen, was sie sich leisten dürfen, hingestellt haben wie die Herrschaft, die dem Lakaien, der sich über einem von der Gnädigen ausgespuckten Pflaumenkern das Bein gebrochen hat, mit mildem Zuspruch begreiflich macht, daß er selbst schuld hatte, aber keinesfalls Anspruch darauf habe, der Gnädigen Vorhaltungen zu machen, wohin sie ihre Pflaumenkerne zu spucken hat. Wo das alles hinaus soll, darüber mögen sich die hohen Obrigkeiten die Schädel verrenken. Zunächst drucken sie weitere Papierscheine – und die allwöchentliche Produktion der Wische beläuft sich auf einen Nominalwert von mehreren Billionen Mark. Indessen verhandeln die „Arbeiter“-Vertreter mit der Regierung um die schöne Forderung einer Anpassung der Löhne an die Preise, und es wird wohl über kurz oder lang – nicht eher natürlich, als nicht weitere Zehn- oder Hundertausende Hand- und Kopfarbeiter völlig zugrunde gegangen sind – ein Kompromiß zustande kommen, bei dem die Arbeiter wieder die Betrogenen sein werden. Die Reichsregierung gleicht inzwischen hauptsächlich in ihrer Hilflosigkeit dem Ruhrkonflikt gegenüber täglich mehr dem Greis auf dem Dache. Herr Cuno reist weiter im Lande umher und redet (wobei er für die rechte und die linke Presse verschiedene Texte verbreiten läßt), und Herr v. Knilling hat dem bayerischen Wolkenkratzer eine Rede gehalten, die das helle Entzücken aller nationalen Esel entfesselt hat, also eine Eselei war, die selbst für bayerische Verhältnisse die üblichen Maße weit überschreitet. Daß der Mann in dem Augenblick äußerster Anstrengungen der Reichsbetreuer, aus dem gänzlich hoffnungslosen Ruhrabenteuer herauszukommen, die Franzosen hemmungslos vor den Kopf stößt, könnte hingehn: Pack schlägt sich, Pack verträgt sich; aber daß er diesen Augenblick für geeignet hält, die „Schuldfrage“ aufzurollen und mit verblüffender Harmlosigkeit das Deutschland der Hohenzollern, Wittelsbacher e tutti quanti für völlig unschuldig, Frankreich, England und Rußland aber als die wahrhaft Schuldigen zu denunzieren, ist doch allerlei. Damit hetzt er nicht nur sich und seinem Lande, sondern auch Cuno und dem Reich, mit dem er seine absolute Übereinstimmung in allen Fragen fortwährend unterstreicht, die ganze Welt, besonders die Engländer und Amerikaner, für die die Schuldfrage tabu ist, auf den Hals. Tant mieux pour nous. Denn das Reich steht vor der Kapitulation; wenn nichts andres, wird es die terroristische Offensive der Nationalaktiven, die das ganze Rheinland rebellisch macht, dazu zwingen. Dann platzt das Geschwür. Die Roßbäche und Konsorten schlagen los, – der Bürgerkrieg wird akut, und – mögen die Monarchisten auch siegen – weder Franzosen und Belgier noch Engländer, Tschechen, Polen, Italiener werden sich eine deutsche Regierung gefallen lassen, die nur von ihren Anhängern geduldet wird, wenn sie mit aller Erfüllungspolitik bricht, die andern als kriegsschuldig „nachweist“ und also eine Politik der unverhüllten Restauration des ancien regime treibt, also die Wirtschaft wieder herzustellen versucht, aus der die Katastrophe von 1914 erwuchs. Ich glaube, daß alle Entscheidungen nur noch kurze Zeit brauchen. Was die Belgier jetzt in Buer treiben – als Repressalie gegen die Ermordung dreier ihrer Soldaten, ist schauerlich und wird die Ruhrbevölkerung zu rabiaten Gegenmaßnahmen gegen die Leute veranlassen, die ihnen das durch ihre blöden Provokationen der „Feinde“ immer wieder einbrocken. Poincaré zieht die Beantwortung des englischen Fragebogens immer weiter hinaus, – offenbar, um sich den Klamauk in Deutschland erst voll entwickeln zu lassen, die Belgier unterstützen ihn darin durch künstliche Verlängerung ihrer Kabinettskrise, vor deren Lösung angeblich keine Entscheidungen in Paris und Brüssel getroffen werden können, und die Völkischen zeigen durch ihr immer frecheres Auftreten und durch die Kompromittierung der Behörden, besonders der Justiz (die Parchimer Affaire enthüllt einen Justizsumpf von unglaublichen Dimensionen) als ihrer Verbündeten, daß die dilatorische Behandlung der Reparations- und Ruhrfrage keine dumme Taktik ist. Es ist eine Frage höchstens von einigen Monaten, daß wir in Deutschland eine ähnliche Regelung kriegen wie Österreich, nämlich einen Vormund à la Zimmermann mit noch viel weiteren Rechten als dieser Hausknecht des „Völkerbunds“ hat. Die Entmündigung Deutschlands bleibt als einziger Ausweg der Rettung Deutschlands als kapitalistischer Staat. Ihr folgt die soziale Revolution, falls die Arbeiter sich nicht entschließen können, sie ihr vorangehn zu lassen. Aber diese Hoffnung ist gering genug. Die Aufkitzelung ihrer nationalen Instinkte wie sie Radek im Auftrag der russischen Staatsregierung besorgt, und wie sie von den deutschen Parteimamelucken getreulich mitgemacht wird, wird uns teuer zu stehn kommen. Die Konsequenz dieser neuen Methode, die die Arbeiter wieder lehrt, daß die deutschen Militärs ihnen näher stehn als die französischen Proletarier, wird – wenn auch von den Drahtziehern nicht gewollt – die sein, daß wie 1914 der deutsche Arbeiter im deutschen Unternehmer seinen Konpatrioten, im französischen Arbeitsbruder seinen Erbfeind sehn wird. Durch die bürgerlichen Zeitungen wird grade eben ein schmalziger Bericht gezerrt über ein Konzert, daß die Herren Krupp v. Bohlen, Bruhn etc. im Düsseldorfer Gefängnis anhören durften (ich habe bis jetzt vergeblich einen Hinweis auf die Behandlung von Gefängnissträflingen durch die rohen Franzosen im Vergleich mit der bayerischer Festungsgefangener in der Arbeiterpresse gesucht). Einer der Musiker erzählt dann von seiner Unterhaltung mit den Herren – die ebenfalls ohne die Schindereien vor sich gegangen zu sein scheint, die wir beim Besuch unsrer Frauen über uns ergehn lassen müssen – und sogar von seiner Besichtigung ihrer Zellen (mein Gott, wie lange habe ich Zenzl nicht in meinen noch so kläglichen 4 Wänden gesehn). Da schildert der Mann nun wirklich Tragisches, und stimmt das, was er behauptet, dann hätte grade die Arbeiterpresse größte Ursache sich zu erregen. Die Zellen sein nur einen Meter breit und 5 Schritte lang – also wie unsre Seitengangzellen, – aber so niedrig, daß ein größerer Mann nicht aufrecht drin stehn könne. Und darin muß Herr Krupp v. Bohlen leben! Darum fließen jetzt Tränen. Aber ich las in keinem kommunistischen Blatt die Erinnerung, daß er ja im Rheinland, in Preußen, in Deutschland im Gefängnis sitzt, in einem von Deutschen für Deutsche gebauten Gefängnis, daß also seine Zelle seit Jahrzehnten deutschen Insassen als Behausung gedient hat und für weitere Jahrzehnte dienen soll. Die Arbeiterorganisationen hätten die größte Ursache, sich um die Sache zu kümmern, und den Vorwurf von den Franzosen weg, die selbstverständlich die Gefängnisse benutzen, die sie vorfinden, auf die deutschen Baumeister, auf die deutschen Justizorgane zu lenken, die solche Ställe für deutsche Proletarier errichtet haben, die sie der Pein überließen, nachdem sie sie haben schuldig werden lassen. Daß Herr Krupp v. Bohlen in solchen Löchern sitzt – wie er selbst gemeint hat, nur ein paar Wochen – ist nicht wichtig, aber daß es solche Löcher in Deutschland gibt, – das müßte gründlich benutzt werden. Ich habe freilich wenig Hoffnung, daß es geschehn wird. Die Deutschen sind zu oberflächlich geworden, um beim Zeitunglesen mehr als das aktuelle Episodische zu merken, und die Zeitungsschreiber – aller Richtungen – sind entweder zu gewissenlos oder auch zu oberflächlich, um bei der Darstellung der episodischen Aktualität mehr zu tun, als der auftraggebende Verleger oder die propagandabestellende Partei verlangt.
Niederschönenfeld, Montag, d. 2. Juli 1923.
Abschrift: „Lieber Radbruch! Da meine kommunistischen Mitgefangenen keinen Parteigenossen im Rechtsausschuß des Reichstags haben, an den dieser Hinweis sonst gegangen wäre, möchte ich Dich als Mitglied dieses Ausschusses bitten, Dich einer von hier vom 27. Juni datierten und von mir als Absender und ersten Unterzeichner signierten Eingabe anzunehmen. Sie trägt den Vermerk: „Betr. Strafvollzug in Festung“ und soll als Material zu den Vorarbeiten des Reichs-Strafvollzugsgesetzes dienen. Ich mache Dich darauf aufmerksam, um zu verhindern, daß das uns wichtig erscheinende Schriftstück unter der Fülle der Eingänge erstickt, und ich hoffe, Du wirst Dich seiner pfleglich annehmen, trotz der Feststellungen, die darin über das Verhalten Deiner Parteigenossen in der bayerischen Landtagsfraktion getroffen werden mußten (und die leider in überreichem Maße ergänzt werden könnten). – Noch eine weitere Bitte. Die Veranlassung zu der Eingabe war die Pressemitteilung, daß durch Vermittlung Deines Herrn Amtsnachfolgers die Regierungen der Länder sich auf eine vorläufige einheitliche Regelung des Strafvollzugs geeinigt haben, die – wenn ich die Notiz richtig deute – wohl auf dem Verordnungswege eingeführt und als Provisorium bis zum Erlaß des Reichsgesetzes in Geltung bleiben soll. Die Textveröffentlichung der Vereinbarung im Reichs-Gesetz- und Verordnungsblatt wurde angekündigt. Sollte das Übereinkommen noch nicht endgiltig festgelegt sein und Dir – was ich nicht beurteilen kann – Einfluß auf die Textierung zustehn, dann habe ich die Überzeugung, daß Du ihn auch für den Teil der gemeinsamen Verordnung aufwenden wirst, der sich auf eine Regelung der Festungshaft-Vollstreckung bezieht. – Jedenfalls schließe ich die Bitte an, mir möglichst bald nach der Veröffentlichung die betr. Nummer des Gesetz- und Verordnungsblattes zuzusenden ...“ (Folgen kurze Höflichkeiten privaten Inhalts).
Niederschönenfeld, Dienstag, d. 3. Juli 1923
Bis jetzt ist mir die Konfiskation des Briefs an Radbruch nicht mitgeteilt worden. Er scheint demnach befördert zu werden. Andernfalls habe ich die Absicht, von der Neuerung Gebrauch zu machen, die Kühlewein dem Untersuchungsausschuß mitgeteilt hat, daß nämlich ohne Rücksicht auf den Inhalt Eingaben auch an Reichsbehörden durchgelassen werden müssen und meinen Privatbrief an R. dem Rechtsausschuß des Reichstags selbst mit entsprechendem Vorwort zur Übermittlung an sein Mitglied zu senden. – Ich glaube aber, der Brief wird durchgehn. Scheinbar wird nämlich zur Zeit ein etwas schonenderes Verfahren gegen uns beliebt. Genossen, die in den letzten Tagen mit dem Vorstand zu konferieren hatten, berichten übereinstimmend von dem auffallend höflichen Ton, in dem Herr Hoffmann mit ihnen verhandelte. Möglicherweise haben die Hinweise in Oppositionsblättern – und wahrscheinlich auch in Frankreich – auf die Doppelzüngigkeit, die sich gegen die Krupp-Behandlung empört und in Niederschönenfeld einen internationalen Skandal als Dauereinrichtung bestehn läßt, zu einer Dämpfungs-Parole Anlaß gegeben. Übrigens war gestern im Reichstag die sozialdemokratische Interpellation über die Fechenbach-Geschichte auf der Tagesordnung, und auch da wird man – hoffentlich mit Recht – befürchtet haben, daß Niederschönenfeld mit unter Beleuchtung genommen werde. Wir werden wohl in den nächsten Tagen durch zahlreiche Zeitungs-Zurückhaltungen eine Bestätigung dafür erhalten. Die politische Situation hat sich – da die Zuspitzung aller Dinge kaum mehr zu steigern ist und eine Änderung nur durch explosiven Ausbruch von rechts her zu erwarten ist, nicht weiter geändert. Der Papst hat einen Brief an Gasparri geschrieben, worin er die Sympathie der Kurie für die „deutsche Sache“ deutlich durchblicken läßt, und der in Frankreich verschnupft hat. Poincaré hat in der Kammer geredet und das letzte deutsche Angebot als keiner Antwort würdig abgetan. Er verulkte die Deutschen dabei, die wieder mal auf ein Wunder zu warten schienen, das aber nicht immer parat sei. Tatsächlich bilden sich bei uns alle öffentlichen Waschweiber ein, die Kriegsrüstungen in England und Frankreich (plötzliche wichtige Verstärkungen des Luftflottenbestandes), die selbstverständlich wirklich gegeneinander gerichtet sind, hätten ihre Ursache in der Ruhr-Angelegenheit, während sie in Wahrheit im Orient zu suchen sind, da man trotz kontinuierlicher Verhandlung in Lausanne dort zu keiner Einigung gelangen kann. Die Sache scheint mir umgekehrt die, daß die Ruhrbesetzung und die damit zusammenhängenden Vorgänge in Deutschland jetzt noch der Kitt sind, der die bestehenden Konflikte zwischen England und Frankreich noch nicht aufbrechen läßt. Die täglichen Attentate – jetzt wieder die Bombenexplosion auf einer Duisburger Brücke, bei dem ein belgischer Urlauberzug hochflog und 9 belgische Soldaten, die zu Braut und Eltern wollten, getötet wurden, bringen selbstverständlich die ganze Welt gegen Deutschland auf, und die sieben Todesurteile, die die Franzosen wegen solcher Akte neuerdings gefällt haben, werden außerhalb Deutschlands als Folgen, nicht als Ursachen der Attentate bewertet werden. – Die Radek-Rede wird noch ein Übriges tun, um derartige Empfindungen zu stärken. Schon ist der Regiments-Chef des Regiments, dem Schlageter angehörte, gerührt in die offenen Arme des kommunistischen Juden Radek gesunken, der bei dieser Gelegenheit sogar nicht einmal Sobelsohn genannt wurde. Es komme nicht darauf an, was für Fahnen man wehen lasse, die deutsche Jugend, gleich ob rechts ob links, müsse sich an Schlageters Grabe finden, – kurzum: nationalbolschewistischer Burgfriede auf der ganzen Linie, während gleichzeitig die KP-Presse den fluchwürdigen Faszismus mit ungeheurem Stimmaufwand verdammen muß. – Wenn ich Andeutungen in Briefen von Zenzl richtig verstehe, so sieht sie starke Aussichten, daß aus meinem Abtransport nach Rußland was werden könnte. Ich werde in diesem Falle drüben kein Blatt vor den Mund nehmen. Ich glaube sicher, daß ich drüben auch KP-Genossen treffen werde, die aufrichtigen Besorgnissen eines aufrichtigen Mannes zugänglich sind. Wie klug sie manchmal sein können, haben sie grade eben im Falle eines ihrer politischen Gefangenen bewiesen. Der orthodoxe Patriarch Tichon hat vom Gefängnis aus eine klägliche Winselei der Reue und des Wohlverhalten-Versprechens von sich gegeben. Darauf hat man den Mann, der hoffnungslos diskreditiert ist, freigelassen. Wären die Bayern ebenso gescheit, dann wären wir längst hier drinnen nur noch ein paar Männchen, – und von den übrigen, die infolge der Schikanen ein unausrottbares Rachebedürfnis in sich hineinfressen, hätten sie für Zeit und Ewigkeit nichts zu fürchten.
Ich schlage das Buch wieder auf – um eines Toten willen, über den ich nicht viel Worte machen will, dessen Gedenken aber auch nicht hinausgeschoben werden soll: das ist Fritz Mauthner. Unsre persönliche Bekanntschaft beschränkte sich auf ganz wenige Begegnungen ohne Einzelgespräche zwischen uns in Gesellschaft vieler. Dagegen war durch den gemeinsamen Freund Landauer immer eine persönliche Beziehung vorhanden. Mauthner ist 74 Jahre alt geworden. Sein großes Lebenswerk unter den Mitmenschen lebendig werden zu sehn, hat er nicht mehr erlebt. Es wird noch lebendig werden, und man wird über Fritz Mauthner anders schreiben, wenn er zum Leben erwacht als man heute schreibt, da er das Leben verläßt. Unsre Presse nämlich stellt den Toten vor als den bekannten früheren langjährigen Kritiker des Berliner Tageblatts, und so ist es schon oft: was den Denker vor dem Verhungern bewahrt hat, bleibt schließlich als Etikett auf seinen Sarg geklebt. Nicht seine Sprachkritik, nicht seine Geschichte des Atheismus läßt ihn die Zeitgenossen überstrahlen, sondern die Plaudereien, die einstmals Rudolf Mosse bei ihm bestellt hat. So sind die Zeitgenossen meistens. Auch von Gustav Jäger wissen sie nur durch die poröse Jägerwäsche, die als Attribut des deutschen Oberlehrers bekannt ist. Die meisten Deutschen glauben auch sicherlich, Jäger sei der Besitzer einer Textilfabrik und habe als solcher eine lukrative Erfindung gemacht. Von seinem Werk „Die Entdeckung der Seele“, von der „Chemotaxis“-Lehre, von der die Porenpflege und die Jägerwäsche hygienische Konsequenzen sind, weiß niemand. So geht’s Mauthner auch. Aber gewiß nicht dauernd.
Niederschönenfeld, Donnerstag, d. 5. Juli 1923.
Die Fechenbach-Interpellation war. Eine große Anzahl Zeitungen wurden also gestern und heute nicht ausgegeben. Doch erhielten wir die Blätter – bis jetzt nur bürgerlicher Richtung, in denen der kommentarlose Parlamentsbericht enthalten ist. Dittmanns Begründung war darin kaum angedeutet, umso kräftiger die Antworten des Herrn v. Preger, des Reichsjustizministers Heinze und des Herren Emminger unterstrichen. Pregers Erklärung im Auftrage der bayerischen Regierung war trotz der dicken Betonung der Unanfechtbarkeit des Urteils ein verdecktes Zurückhufen. Er erklärte nämlich, die Regierung habe sich entschlossen für den Fall, daß ein Gnadengesuch eingereicht werde, was bis jetzt nicht der Fall sei, eine Nachprüfung des Urteils vom Obersten Landesgericht vornehmen zu lassen und ihre Entscheidung von dessen Gutachten bestimmen zu lassen. Herr Heinze bestätigte seinerseits die Rechtmäßigkeit der bayerischen Volksgerichte, bekannte sich aber zu der Auffassung, daß die Straftat, die als Pressedelikt in die Erscheinung trat, verjährt gewesen sei. Emminger, der Staatsanwalt, mußte dann das Rückzugsgefecht Pregers durch eine Fanfare überschmettern, in der er das Urteil beinah noch zu Milde fand. Eben kam nun die Frankfurter Zeitung mit der Fortsetzung der Diskussion. Da hat denn Herr Bell im Namen des Reichszentrums mit bemerkenswerter Schärfe gegen das Urteil sowohl als auch gegen die bayerischen Volksgerichte überhaupt gesprochen und namens der Partei die Entschließung eingebracht, die Reichsregierung aufzufordern, die neuen Gesetze zur Vereinheitlichung des Strafrechts beschleunigt einzubringen. Nach einer deutschnationalen Rede halb und halb gegen eine katholische und eine demokratische für Fechenbach – wobei sogar Herr Strathmann die Unrevidierbarkeit der Urteile der bayerischen Volksgerichte bemängelte – hielt Heinze eine weitere vorsichtige Rede, in der er die Annahme des Zentrumsantrags empfahl, nach weiteren Äußerungen eines Kommunisten und Ledebours, die die Frankfurterin in zusammen 6 Zeilen erledigt, hielt Radbruch die Schlußrede, in der er mit ungewöhnlicher Forschheit die Volks- und Haßgerichte bekämpfte – wobei er übrigens auch das Leoprechting-Urteil streifte, – Herrn Haß persönlich scharf angriff und sich Heinzes Berufung auf ihn bei seiner Anerkennung der Rechtmäßigkeit der Volksgerichte verbat. Der Bericht verzeichnet „stürmischen Beifall links“. Der Antrag Marx-Bell wurde angenommen. Dadurch ist wieder ein Anlaß entstanden, auch von uns aus bald mit einer neuen Eingabe vorzugehn, in der ich die Nachrevision der Stand- und Volksgerichtsurteile besonders gegen uns Räterepublikaner von einem Reichsgerichtshof verlangen will. Das Ergebnis der Nachprüfung des Urteils gegen Fechenbach ist mir kaum zweifelhaft. Das Oberste Landesgericht wird die Müllersche Formel von der Hieb- und Stichfestigkeit des Urteils akzeptieren und begründen (Müller-Meiningen sitzt ja selbst in der Kammer). Es wird zugleich den Verjährungs-Einwand ablehnen. Es wird jedoch – was Kahl, der Strafrechtsprofessor der Deutschen Volkspartei, verlangte, die Verweigerung mildernder Umstände mit einem in dubio pro reo „revidieren“ und so den Gürtnern und Knillingen die Handhabe schaffen, auf dem „Gnaden“wege eine Umwandlung der Strafe in Festung – wahrscheinlich dann auch gleich für Lembke und Gargas – vorzunehmen. Wir werden also wohl hier in nicht allzulanger Zeit diesen Zugang zu erwarten haben. Der große Unwille gegen Fechenbach bei fast allen Genossen hier, den ich durchaus teile, und der viele schon jetzt beschließen läßt, den Mann gesellschaftlich zu boykottieren, wird mich jedoch nicht zu solchem Verhalten veranlassen. Derartige Abrechnungen soll man draußen in der Freiheit halten. Hier toleriert man Leute, die mehr Dreck am Stecken haben – selbst den Fritz Weber schneidet außer mir fast keiner –, und so werde ich Fechenbach als Zellennachbarn nicht anders betrachten als jeden andern, wenn ich auch keine Intimität aufkommen zu lassen beabsichtige. Am nächsten Montag – an dem Tage, an dem in Leipzig der Erhardt-Prozeß beginnen soll* – wird in München das Urteil gegen Fuchs und Genossen verkündet werden. Vielleicht wird auch den armen Teufeln die Reichstags-Unterhaltung zugute kommen. Sehr lange wird sich wohl die bayerische Justizpflege in den gegenwärtigen Formen überhaupt nicht mehr lebendig halten. Die ganze Welt wartet auf den Zusammenbruch aller Dinge in Deutschland, und obwohl dieser Zusammenbruch in keinem Lande der Welt unter solchen Umständen so lange auf sich hätte warten lassen wie bei uns, wird sie doch wohl nicht auf die Dauer vergeblich warten. Der Papst verlangt von der Reichsregierung ein entschlossenes Abrücken von den Dynamitläufern der Ludendorffschen Politik des aktiven Widerstands; kommt eine solche Kundgebung Cunos, dann ist bei den Völkischen endgiltig das Kraut verschüttet. Schon verlangen sie die Festnahme Nollets als Geisel und predigen offen die levée en masse – unter Berufung auf Stein, Scharnhorst, Schill, Andreas Hofer etc – (dabei werden jeden Tag neue Lumpereien ihrer Prominenten aufgedeckt, zurzeit ist der Sanitätsrat Pittinger mit seinen Kriegsdiebstählen an der Reihe, und die anständigen Kerle, die Offiziere und Beamten in ihrer Verzweiflung, Studenten und Arbeiter in ihrer Verblendung, die kämpfen möchten und nicht wissen wofür, die verehren möchten und nicht wissen wen, die ihre Rache kühlen möchten und nicht wissen nach welcher Seite, sind wieder die Betrogenen). Das Attentat auf die zur Heimat beurlaubten Belgier hat nun aber neue Repressalien bewirkt, und zwar von der ganzen Rheinlandkommission, also auch von England, Italien etc, die in diesen Kreisen Tollheit und Erbitterung auf die Spitze treiben müssen: vollkommene Verkehrssperre zwischen besetztem und unbesetztem deutschen Gebiet – Ausnahmen werden (im Gegensatz zu Niederschönenfeld) für dringende Familienangelegenheiten zugelassen – für 14 Tage – und ferner die Bestimmung, daß in jedem Zuge im besetzten Gebiet deutsche Zivilpersonen als Geiseln mitfahren müssen. Die Attentate richten sich in Zukunft also stets auch gegen eigne Landsleute, was sie natürlich nicht verhindern wird. – Da ich grade bei diesen Gegenständen bin. In der Presse wird mitgeteilt, der im Prozeß über den Rathenau-Mord zu 5 Jahren Zuchthaus verurteilte Herr v. Salomon konnte sich im Zuchthaus nicht nur verloben (vergleiche den Fall Sandtner-Hanna Ritter), er wurde auch beurlaubt, um an der Hochzeit seines Bruders teilnehmen zu können. Mit was für Empfindungen derartige Dinge bei uns gelesen werden, behalte ich auch ohne Tagebuch im Gedächtnis.
* ist schon wieder verschoben: auf den 23. Juli.
Niederschönenfeld, Sonnabend, d. 7. Juli 1923.
Mit Festungsangelegenheiten habe ich mich lange nicht beschäftigt. Das lag zum Teil an der ziemlich ausgedehnten Windstille, die uns schon glauben ließ, Herr Hoffmann habe von oben einen Wink bekommen, erbitternde Maßnahmen nach Möglichkeit zu vermeiden und zum Teil daran, daß ich nach meinen Erfahrungen keine allzugroße Lust habe, wieder wochen- oder monatelang in Einzelhaft zu ziehn oder von Genossen, die beim Rapport waren, zu hören, daß ihnen meine Vermerke – unter gröblichen Entstellungen – zu dem offenbaren Zweck hingerieben wurden, sie scharf zu machen gegen mich und Unfrieden im Hause zu stiften. Jetzt haben wir einen neuen Fall, und der muß doch notiert werden. Anfangs der Woche war ein Augenarzt aus Ingolstadt hier, den Toller auf seine Kosten hatte kommen lassen. Bezeichnenderweise traf der Herr in Begleitung des Herrn Dr. Steindl im Ordinationszimmer ein, sodaß Toller nicht andres übrig blieb, als in dessen Gegenwart seine Augen untersuchen zu lassen. Jedoch mischte sich der Hausarzt nicht in die Konsultation ein, verließ auch auf Tollers Wunsch zeitweilig das Zimmer. Der Spezialarzt ordnete die tägliche Einträufelung von Tropfen an, die bis jetzt von Herrn Bastian besorgt wurde. Heute früh erklärte Bastian Toller, daß er jetzt mit der Behandlung aufhöre, da er keine Bindehautentzündung mehr sehe. Toller berief sich darauf, daß er noch Schmerzen habe, natürlich erfolglos, und verlangte den Vorstand zu sprechen. Nachmittags wurde er hinunter gerufen, hatte eine lange Unterredung mit Herrn Hoffmann, dessen laute Stimme wir bis oben herauf hören konnten – und kam nicht wieder. Er ist in Einzelhaft gesteckt worden. Kritische Betrachtungen erübrigen sich, es sei aber angemerkt, daß in kurzer Zeit (am 19ten) Hans Tanzmaier, Tollers, der in praktischen Dingen beinah so tolpatschig ist wie ich, Aufwärter und Hilfsmann in allen Handreichungen, entlassen wird. (cf. meine Absperrung bis nach Ernst Ringelmanns Entlassung). Toller tut mir leid. Er regt sich leicht auf, ist ungemein empfindlich und wird sich selbst unten das Leben schwerer machen, als bei überlegener Ironie den Robustheiten der Machthaber gegenüber nötig wäre. Bis jetzt hat er in solchen Dingen eine gewisse Rücksicht erfahren. Der Vorstand begnügte sich damit, ihn zu verletzen, wo er konnte, sah aber von Disziplinierungen ab. Vielleicht ist nach der Fechenbach-Interpellation neue Order
gekommen – nach dem gutpreußischen Grundsatz: jetzt grade! – und Gut-Preußen
ist ja zurzeit in Bayern ansässig. Vielleicht wollte man Toller speziell
klarmachen, daß Repräsentationsfiguren der bayerischen Methoden schon garnicht
geschont werden. Denn Toller ist im ganzen Lande der Stichname für
Niederschönenfeld, und es muß zugegeben werden, daß ihm selbst das manchmal
fatal war, wie auch ich mich dagegen sträube, überall in der Öffentlichkeit als
Märtyrer herausgestrichen zu werden, grade als ob meine Verurteilung
Schlimmeres bedeute als die der unbekannten Proleten. Aber es ist wohl in der
Agitation wirksamer, mit repräsentativen Namen Stimmung zu machen als mit allgemeinen
Zusammenfassungen. So ist ja der Name Fechenbach auch mehr Symbol für die
Zustände in Bayern als Ausdruck einer Spezialsympathie. Allerdings ist der Fall
Fechenbach hauptsächlich deswegen so heftig benutzt worden, weil in ihm für die
gesamte Pressezunft eine ungeheure Gefahr heraufbeschworen war. Wäre ich
draußen gewesen, dann hätte ich diesen Gesichtspunkt stark herausgekehrt und im
Anschluß an die Empörung über seine Behandlung [die Aufmerksamkeit] auf die vielen guten, aber unbekannten und von keinem Zeitungsschreiber als seinesgleichen zu reklamierenden Genossen in den bayerischen Zuchthäusern hingewiesen. Zur Behandlung der Sache im Reichstag ist übrigens noch etwas Charakteristisches nachzutragen. Herr Dr. Bell, der offizielle Sprecher des Zentrums verlangte am Schluß seiner Rede die vorläufige unverzügliche Freilassung Fechenbachs, Gargas’ und Lembkes. Die Münchner Post, das bayerische Hauptorgan der eignen Partei Fechenbachs ließ sich von dessen Verteidiger Dr. Loewenfeld anstelle eines Redaktionsleitartikels eine juristische Polemik gegen den bayerischen Standpunkt schreiben, und der schließt mit der Forderung unverzüglichen vorläufigen Überstellung seines Klienten in eine Festungsanstalt. Das war vom Anwaltsstandpunkt vielleicht richtig, da Loewenfeld jedenfalls Bells Rede noch nicht kannte und auch von Herrn Gürtner nicht mehr verlangen wollte, als der allenfalls im Guten zuzubilligen bereit sein könnte. Daß aber die Redaktion als solche sich nicht mal zu der Forderung Bells entschließen konnte, nachdem ihr die schon bekannt war, zeigt wieder mal das Maß von würdeloser Rechnungsträgerei gegen jede Art von Reaktion – gegen die man angeblich wilde Opposition macht –, wie sie von Erhard Auer noch immer bewährt wurde.
Niederschönenfeld, Montag, d. 9. Juli 1923.
Es ist zum Umsinken heiß, und ich wollte, ich könnte bei Zenzl sein, die sich jetzt an der Ostseeküste auf Hiddensee aufhält (auf meine Anfrage schreibt sie mir, daß Oskar Kruse, der gute alte Onkel Oskar vom Stammtisch im Café des Westens, der jedes Jahr nach Hiddensee ging, nicht mehr am Leben ist. Auch dieser prächtige Mensch und Maler soll hier anstelle eines Kreuzchens sein Erinnerungsplätzchen haben). Die Hoffnung, daß die Haft- und Leidensjahre nun wirklich ihrem Ende zusteuern (übernächste Woche erreicht meine Einsperrung die Dauer des Kriegs: vom 28. Juli 1914 – 11. November 1918, also von der ersten Kriegserklärung Österreichs an Serbien bis zum letzten Waffenstillstand, dem von Compiègne, = der Zeit vom 13. April 1919 – 27. Juli 1923), wächst stündlich. Der Dollar ist wieder binnen 24 Stunden um 50 000 Mark gestiegen und steht nach der letzten Meldung auf 228.570. Das trotz der neuen Devisenverordnung. In Berlin stehn 100.000 Metallarbeiter im Streik, der zwar wieder von den Gewerkschaftsführern in den Dreck geführt werden wird, aber ein nicht mißverständliches Symptom der Zustände ist. Überall liest man vergleichende Betrachtungen, die die augenblickliche Lage in Parallele zu der vom Herbst 1918 stellen. Tatsächlich gibt es eine ganze Fülle von Analogieen zwischen damals und jetzt – und zwar trifft zu, was Marx im ersten Satz seiner besten Schrift „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“ sagt: „Hegel bemerkt irgendwo, daß alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andre Mal als Farce.“ Damals der fürchterlichste Krieg der Weltgeschichte im Stadium der endgiltigen Entscheidung – jetzt der groteske Ruhrkrieg, wieder vor der deutschen Kapitulation. Damals die alldeutsche Parole: nationale Verteidigung! – jetzt die Parole der vereinigten Konterrevolution: das letzte Dynamit für Juden und Franzosen! Damals die Hungersnot durch die Blockade, jetzt dieselbe Erscheinung durch die Profiträuberei des Kapitals. Damals Revolution mit Hilfe der Militärrevolte in Sicht, heute die Aussicht auf Pogrome, monarchistische Restauration, nationalistische levée en masse der „republikanischen“ Militärs. Damals die Hoffnung des Proletariats auf endgiltige Beseitigung der dynastischen Herrlichkeit, Aufbau des Sozialismus, Abrechnung mit den Unterdrückern, – heute die Hoffnung desselben Proletariats auf Durchkreuzung der konterrevolutionären Erhebung durch Eingreifen, – wenn nicht Rußlands, so doch Frankreichs und der Tschechoslowakei mit dem Ziel einer „Arbeiterregierung“ (Scheidemann-Brandler). Wenn es nicht doch noch anders kommt! Denn ich mag es nicht glauben, daß die Hölze ausgestorben sind, die schließlich und endlich auf die Pfiffe der Berliner Zentrale-Weisen pfeifen. Wir werden ja sehn. Denn daß der Zusammenbruch der Wirtschaft seine politische Auswirkung zeitigen muß, steht wohl fest. Der Reichstag, der wie zur Illustration seiner Selbsterkenntnis immer dann heimfährt, wenn die Situation kritisch wird, ist überstürzt in die Ferien gereist, – ohne selbst das allerwichtigste und dringlichste Geschäft zu erledigen: die Erhebung des 11. August als des Tages der Weimarer Verfassunggebung zum Nationalfeiertag par ordre du Mufti. Die Herren Ebert und Cuno können also das Ruhrgeschäft morgen liquidieren ohne deswegen vor Oktober von den Deutschnationalen und bayerischen „Volks“partei-Emmingern gerüffelt zu werden, und werden dann erstaunt sein, daß die auch ohne Rüffelung werden zu tun wissen, was durch Reichstagsbeschlüsse nicht geschehn kann. Zunächst hat der Papst von ihnen verlangt, daß sie die Attentate verurteilen sollen. Das ist eine bittere Pille, da sie fürchten werden, sich dadurch selbst ein Feme-Urteil auf den Hals zu ziehn. Dann werden sie das Wolff-Büro allmählich (aber dies alles wird sich sehr schnell vollziehn) zu andern Lügen veranlassen müssen als der vom unmittelbar bevorstehenden Bruch der französisch-britischen Entente um der Ruhrbesetzung willen, dann werden sie ein Ultimatum akzeptieren müssen, das ihnen einen Finanzkontrolleur mit viel weitergehenden Rechten aufoktroyieren wird als Zimmermann sie in Österreich hat, – und im übrigen wird mindestens zuerst Cuno an irgendeiner Station dieses Passionsweges, vielleicht auch erst am Ende davon, sein Kanzlerstühlchen für einen ententegenehmen „linken“ Herrn – der Wirth oder Breitscheid heißen (oder doch sein) wird – freimachen müssen. Denn – auch hier die Analogie – sowenig Wilson mit den Hohenzollern Verträge machen wollte, sowenig werden Poincaré, Theunis und Baldwin es mit der „Regierung des Widerstands“ tun. – Wir aber dürfen guter Dinge sein. Zwar wird der Reichstag uns keine Amnestie bescheren, ohne dazu durch die Verhältnisse gezwungen zu sein, aber die Verhältnisse nehmen einen Lauf, der es vielleicht binnen wenigen Wochen sogar nicht mal mehr wird nötig sein lassen, daß sie dies fossile Gebilde noch zu etwas zu zwingen brauchten. Sehr möglich, daß zunächst eine „nationale Diktatur“ die Parlamente ihrer Sorgen entheben wird. Aber das kurze Provisorium einer solchen Luftspiegelung wird – wenn es auch mich persönlich den Kragen kosten kann – meine Sache nur fördern.
Niederschönenfeld, Dienstag, d. 10. Juli 1923.
Mittags wurden so wenig Zeitungen ausgegeben, daß kaum Neuigkeiten zu vermerken sind. Wir wissen nur, – aus einem Blatt, das wir selbst noch nicht in unsre Lesegruppe bekommen haben, daß Fuchs zu 12 Jahren Zuchthaus, Munk zu 2 Monaten Gefängnis* verurteilt, und die übrigen Angeklagten freigesprochen sind. Darüber können Betrachtungen bis zu genauerer Kenntnis zurückgestellt werden. Aber eine Haussensation ist zu notieren: heute Mittag wurde plötzlich Peter Blößl entlassen. Ein 10–jähriger! Dieses Ereignis regt natürlich die Gemüter stark auf, und es gibt arme Teufel unter uns, die ihr neidisches Mißvergnügen nicht verbergen. Blößl hat sein Glück meiner Ansicht nach ausschließlich seiner Krankheit zu danken, und ich betrachte seine Freilassung als ernstes Zeichen dafür, daß der Hausarzt nicht mehr hofft, ihn hier noch lange am Leben zu erhalten. Schon seit mehreren Wochen erhielt Blößl täglich einen halben Liter Milch und ein Ei, nachdem Zusatzkost sonst schon seit Jahren keinem mehr gegeben wird. Die Lungen und der Gesamtzustand des armen Menschen scheinen tatsächlich kurz vor dem Versagen zu stehn. Allerdings wäre die Befreiung wohl kaum erfolgt, wenn Blößl nicht zu den ganz Wenigen gehörte, die sich von Herrn Dr. Steindl behandeln ließen, und – wenn man beide Beteiligte kennt, ist die Meinung mancher Genossen recht glaubhaft, daß sie gemeinsam die Judenplage in Bayern kräftig kritisiert haben (antisemitische Äußerungen des Herrn Doktor kursieren längst im Hause. Leuten gegenüber, denen er unverdorbenes Empfinden echten Bayerngemüts zutraut, läßt er sich gern als Politiker gehn). Über die Charaktergestalt des Entlassenen will ich mich nicht umständlich auslassen. Es war nicht immer alles erfreulich, was davon in die Erscheinung trat, und Blößl gehört zu der Kategorie von Abiturienten, deren Befreiung mich nicht nur um ihrer selbst willen, sondern vornehmlich auch meines Bedürfnisses nach Menschenauslese in meiner Umgebung wegen freut. Selbstverständlich gehöre ich nicht zu denen, die ihm seine Inanspruchnahme des Dr. Steindl übelnahmen; wie ich überhaupt gegen einen allgemeinen Boykott des Arztes von vornherein war, und jedem, der mich deshalb konsultiert hat, immer geraten habe, Bedenklichkeiten zurückzustellen und sich helfen zu lassen, soweit es möglich ist. Meine eigne Haltung – die des konsequenten Verzichts auf seine Behandlung – betrachte ich als rein individuelle, und soweit ich sehn kann, wird dieser Standpunkt jetzt von allen anerkannt, die sich persönlich zu Dr. Steindl ebenso stellen wie ich. – Eine Freundschaft zu Blößl habe ich nie unterhalten, und erst der Burgfriede, der in der allerletzten Zeit ziemlich allgemein innegehalten wird, führte zwischen uns erst seit wenigen Wochen die Aufhebung des jahrelang durchgeführten vollständigen Schneidens herbei, sodaß wir uns auch mit Händedruck verabschiedeten. Was ich auch gegen den Mann einzuwenden habe, die Meinung mancher Mißtrauischer, daß er sich zu Spitzeldiensten hergegeben habe, teile ich durchaus nicht, wenn auch die Idee wieder andrer Harmloser, daß systematische Bespitzelung durch dazu verführte Mitgefangene überhaupt nicht getrieben werde, nicht nur an sich absurd, sondern neuerdings auch überzeugend widerlegt ist. Wir haben einwandfreie Kenntnis erhalten können von der Methode der Bespitzelung, wie sie Herr Gollwitzer hier ausüben ließ, wissen im Einzelnen von den Diensten Bescheid, die die „Genossen“ Schade und Liebl in dieser Richtung versehn haben, kennen die Rolle, die dabei auch der Vorstand selbst und andre Beamte gespielt haben, wissen, daß auch Herr Staatsanwalt Emminger aus Augsburg, M. d. R. der bayerischen Volkspartei höchst persönlich mit den Agenten und Provokateuren verhandelt hat, und sind nicht naiv genug zu glauben, daß nach der Entlassung der beiden überführten Herren sich keiner mehr gefunden haben sollte, der nicht auch gegen klingendes (vielmehr raschelndes) Geld und verlockende Versprechungen zum Halunken an seinen Kameraden gemacht werden konnte. Meine eignen Verdächte nach dieser Richtung bringe ich nicht zu Papier. Es genügt, sich vorzusehn – und gutes Gedächtnis zu haben.
* Information war falsch: Munk erhielt 1 Jahr 3 Monate Zuchthaus, Ehrverlust und Geldstrafe.
Niederschönenfeld, Mittwoch, d. 11. Juli 1923
Bloß einige Randbemerkungen, da ich ohnedies knapp mit der Zeit dran bin. Ich erwartete heute vergeblich Siegfrieds Besuch. Vielleicht kommt er Freitag. Jedenfalls wurde mir durch das Warten der Tag verdorben. – Gestern nachmittag erschien – nach nur 3 Tagen – Toller wieder an der Oberfläche. Er hatte außer Hofverbot unten keinerlei Verschärfung, empfing sogar seine Kusine zu Besuch, erzählt aber von seiner Auseinandersetzung mit dem Vorstand, zu der der Arzt zugezogen war, recht krasse Dinge, deren Protokollierung aber seine eigne Angelegenheit wäre. Im Hause hält man sich über die milde Art der Disziplinierung auf. Mit Unrecht. Daß wir völlig verschieden und nach Willkür behandelt werden, eben um Mißstimmungen gegen einander großzuziehn, wissen wir doch längst. Außerdem braucht man gelegentlich Daten zur Illustrierung der großen Weitherzigkeit und Sanftmütigkeit, mit der sogar bei Disziplinierungen verfahren wird. Bei Tollers öffentlicher Herauskehrung als Repräsentant der bayerischen Justizgreuel wird es den Leuten natürlich besonders erwünscht sein, solche Beispiele der entgegenkommenden Rücksicht grade an ihm zu demonstrieren. – Heute wurde eine neue Bewilligung eines Bewährungsfristgesuchs bekannt. Sie betrifft den Fritz Weber, der zum zweitenmal auf Festung ist – die erste Entlassung von der Plassenburg erreichte er durch eine infame Denunziation –, und noch 2 Monate vor sich hätte. Er kommt nun am 20. Juli bei 4jähriger Bewährungsfrist heraus und zwar wegen seiner „vorzüglichen Führung am Strafort“. Es ist das erste Mal, daß einer, der seine frühere Bewährungsfrist verpatzt hat, eine neue gewährt bekommt (Amereller hatte nur Strafunterbrechung und kam dann ohne Rückfälligkeit ja auch schon nach wenigen Wochen wieder). Nun gibt es eine große Anzahl Genossen, denen irgendwelche schlechte Führung durchaus nicht nachgesagt werden kann, und die dennoch jedes Gesuch abgelehnt bekommen. Ich habe für meine Person – besonders jetzt nach Kenntnis der Art der Beziehungen, die die Polizei – und ihre Magd, die Festungsverwaltung – mit den Festungsspitzeln unterhält, keinerlei Zweifel, wie sich die ausgezeichnete Führung Webers hier ausgewirkt hat. Na, ich werde froh sein, den Kerl nicht mehr sehn zu müssen. Überhaupt werden wir in diesem Monat noch eine Reihe von Verabschiedungen erleben. So rechnet außer den dreien, deren Strafzeit bis zum 1. August abläuft (Seb. Wagner, Tanzmaier und Mairgünther) auch Schiff stark auf seine Entlassung. Der gute Junge läßt sich seit einiger Zeit ganz anders an als vorher. Er hat plötzlich die hohe Wuchtigkeit verlassen und schließt sich besonders seit etwa einer Woche an mich an – nicht etwa aus gleicher politischer Stellung, sondern offenbar, weil er das Bedürfnis hat, mit jemandem über sein persönliches Erleben, über seelische Probleme und jedenfalls über etwas andres zu reden, als in marxistischen Broschüren steht. Es ist eine Freude zu sehn, wie so ein Mensch aus langer Blindheit aufschreckt und ganz ehrlich Abbitte vor sich selbst tut. Bei Seffert war’s ganz ähnlich. – Ich hätte gern noch über Kurt Wilckens, den prachtvollen anarchistischen Genossen, der jetzt in Argentinien ermordet wurde, ein paar Worte eingeschrieben. Doch muß ich mich, da jeden Augenblick das Abendbrot kommen kann, sehr kurz fassen. Der Fall Kurt Wilckens wird seltsamerweise in der ganzen KP-Presse totgeschwiegen. Darum will ich mir den Fall zur Erhebung des Herzens ganz persönlich aufschreiben. Dieser deutsche Anarchist rächte in Argentinien die entsetzlichen Henkerstaten des Obersten Varela. – Störung. Morgen Fortsetzung.
Niederschönenfeld, Donnerstag, d. 12. Juli 1923
Um also die Geschichte zu beenden, die gestern durch Schiffs Eintritt unterbrochen wurde: Oberst Varela war von der argentinischen Regierung in das Streikgebiet Patagoniens abgesandt. Seine Beruhigungsmethode bestand darin, daß er die streikenden Arbeiter gleich hunderterweise an die Mauer stellte und erschießen ließ. Die Zahl dieser Opfer geht hoch in die Tausend. Kurt Wilckens beschloß, die Rache des Proletariats mit einem Individualakt auf sich zu nehmen und verübte ein Bombenattentat auf den Noske Südamerikas, das an sich mit erschütternden Begleitumständen vor sich ging. Zwischen ihm und dem Oberst stand ein kleines Mädchen, das gefährdet wurde, wenn Wilckens aus der beabsichtigten Entfernung warf. Um das Kind zu schonen, lief er also an ihm vorbei bis in nächste Nähe, sodaß er selbst, während der Offizier fiel, von Splittern verletzt umsank und nicht fliehen konnte. So lag er neben dem Opfer und sah, daß der Proletariermörder noch lebte. Da zog der Verwundete seinen Revolver aus der Tasche und vollendete das Werk der Vergeltung. – Er wurde verhaftet, und ganz Südamerika war begeistert. Überall wurden unter den Arbeitern und selbst unter anständigen Bürgern Sammlungen veranstaltet, um dem deutschen Anarchisten den besten Verteidiger des Landes zu stellen. Die unter faszistischem Druck stehende argentinische Regierung mußte den Wilckens-Prozeß wie die Hölle scheuen, denn das Proletariat drohte mit äußersten Mitteln, falls seinem Helden ans Leben gegangen würde. Auch wäre eine Verhandlung die Entlarvung dieser Regierung als eine nach bayerisch-ungarischer Art beschaffenen gewesen. So half man sich so, wie sich die Regierung Ebert-Scheidemann-Noske im März 1919 im Falle Jogisches half. Ein Soldat drang in seine Zelle ein und ermordete den Mann. Die argentinische Arbeiterschaft soll den Generalstreik proklamiert haben. Weiteres ist aus den anarchistischen Blättern, die von der ganzen Angelegenheit allein berichten, nicht zu erkennen. Ein Anarchist, – die kommunistische Presse schweigt seine Tat und seinen Tod tot. Man muß sich das merken. Und man muß den Fall selbst vor das Gedächtnis stellen, um einmal denen, die im Inland beschämt Herrn Schlageter begreinen, weil in ihm doch ein Deutscher lebte, der auch für seine Sache zu sterben wußte, und die im übrigen ihre eignen Toten, deren Bahn sie verlassen haben, verleugnen, und denen, die im Ausland den Deutschen – bisher mit Recht – vorwerfen, daß sie überall im Leben versagen, ihre Revolutionsopfer im Stich lassen und, wenn sie zu Taten aufstehn, es nur als Reaktionäre können, um Nationalen und Internationalen, bei denen der Name des Deutschen in Verruf ist, Kurt Wilckens als Beispiel nennen zu können eines Mannes, der das Ansehn des deutschen Charakters vor der Welt rehabilitieren könnte.* Reinsdorff, Karl Liebknecht, Max Hölz und Kurt Wilckens: das sind Menschen, bei deren Nennung einen sogar ein Nationalstolz überkommen könnte, –: auch wir haben Landsleute von weltgeschichtlichem Format, wo es um persönlichen revolutionären Mut geht. – – In den Zeitungen – wir haben nur wenige bekommen – steht kaum viel bedeutungsvolles Neues, wenn auch durch jede gleichgiltige Notiz diese Stimmung geht, die in den Gefängnissen politisch Beteiligten jenes Gefühl der unruhigen Spannung, des Geladenseins mit Erwartung, des Vibrierens einer bevorstehenden allgemeinen Veränderung erzeugt, wie sie Dostojewski schon in den Memoiren aus dem Totenhaus beschrieben hat. Aber es ist alles vage und unbestimmt, und nur das ist zu merken, daß die Not allmählich ins Grenzenlose und Unerträgliche wächst, eine Not, die nicht auf Mangel, sondern auf Teuerung, also auf die Blockierung der Armen durch die Reichen zurückgeht. Nun hat man ja glücklich das Mittel gefunden, um die Löhne dem Dollarstandard anzupassen, ohne deswegen die Kapitalisten zu schädigen, will sagen ihnen ihre privilegierte Ausraubung des Proletariats auch nur zu kürzen. Der neue Schwindel ist wahrhaft grotesk. Es fiel auf, daß die Dollar-Valuta nach dem einen Tag der ungeheuren Steigerung auf fast 230.000 Mark am nächsten wieder mit 176.000 und seitdem um 180.000 herum schwankend notiert wurde. Das Geheimnis ist jetzt aufgeklärt. Der Dollar wird laut neuer Verordnung im Inneren zu einer Art Zwangskurs gehandelt, indem dem Ausland an deutschen Börsen und Banken Markverkäufe gegen hochwertige Devisen verboten wurden. Grade das bewirkt aber im Ausland eine weitere Entwertung der Mark, sodaß die Dollarparität in New-York schon auf 280.000 bis 300.000 Mark steht, während der Kurs in Deutschland offiziell mit 100.000 Mark weniger angezeigt wird. Der Witz der Sache ist natürlich der, daß der Berliner Zwangskurs für die Lohn-Angleichung maßgebend sein wird, – es ist noch längst nicht einmal so weit – während selbstverständlich die Preise sich allenthalben den Auslandspreisen, also dem Anschaffungswert und dem Spekulationsinteresse anpassen. Wir wollen sehn, ob es den Sozialdemokraten und Gewerkschaften auch dabei gelingt, das Proletariat wieder einzuseifen und ihm weiszumachen, jetzt werde sich die Lage bessern. – Die Urteilsbegründung im Prozeß Fuchs-Machhaus wird nun veröffentlicht. Man riecht den Verfasser, Herrn Haß aus jedem Satz. Das ganze ist ein einziger Wortschwall aus einseitiger politischer Tendenz, eine Verteidigung aller Kompromittierten von Rupprecht angefangen bis zum Auer-Spitzel Major Mayer, ein Zudecken aller trüben Machenschaften und aller Hintergründe und ein widerliches Dreckspritzen auf die in die Wüste geschickten Opfer des Volks- und Haßgerichts. Radbruch hat sich kürzlich über die Urteile dieses Haß in den Prozessen ctr. Leoprechting und Fechenbach im Reichstag treffend geäußert, sie seien das Tollste, was ihm an eitler Geschwätzigkeit und an anmaßlicher Rabulistik vorgekommen seien. Ich habe die Empfindung, daß das Urteil gegen Fuchs in dieser Beziehung den Rekord schlägt. Auch der Mann wird nicht 12 Jahre im Zuchthaus sitzen müssen, wie es das Spezialtribunal des bayerischen Ordnungsblocks über ihn verhängt hat. Zur Charakteristik dieses Blocks eine kleine Beobachtung, die ich gestern bei der Lektüre des Miesbacher Anzeigers machte. Da wurde kommentarlos die Mitteilung gebracht, wie weit die Vorbereitungen zum Prozeß Erhard vor dem Reichsgericht jetzt gediehen seien und dabei Erhards Mitangeklagte aufgezählt, darunter eine Prinzessin von Öhringen, ein Augenarzt Professor Dr. Schlösser und mehrere noch, denen besonders Verletzung der Eidespflicht vorgeworfen werde. An andrer Stelle eine weitere kommentarlose Meldung: Hofrat Pixis habe den Vorsitz im Bayerischen Ordnungsblock niedergelegt. An seine Stelle gewählt sei Professor Karl Schlösser, der bekannte Augenarzt ...
* Die Konstruktion dieses Satzes ist auch nicht schlimmer als die der Männer, von denen er handelt.
Niederschönenfeld, Sonnabend, d. 14. Juli 1923.
Andauernde ungeheure Hitze. Doch zieht sich heute einiges Gewölk zusammen, sodaß vielleicht für heute abend eine Gewitter-Entladung zu erwarten ist. Auch im öffentlichen Leben ist Schwüle und wachsende Gewitterneigung. Die Auswirkung der letzten „Stabilisierungs“-Aktion in der Doppel-Bewertung der Mark-Valuta enthüllt besser als alles frühere die groteske Hilflosigkeit der Cunöden. Der arme Teufel, der durch einen glücklichen Zufall eine Dollarnote in die Hand bekommt, verkauft sie dem Bankier für 180.000 Mark, und der bezieht, da er sein Geschäft in Amerika direkt betätigen läßt, für dieselbe Note 270.000 Mark. Diese Rechnung ist so einfach, daß sie der Naivste machen kann. Der Groll häuft sich also ins Ungemessene, bei den nationalistischen Kleinbürgern gegen die Juden (wogegen Karl Radek, der seine Bemühungen um die Seelen völkischer Offiziere bei vorsichtiger Verleugnung aller internationalen Prinzipien fortsetzt, ohne auf Gegenliebe zu stoßen, garnichts scheint einzuwenden zu haben), beim Proletariat natürlich gegen das Ausbeutertum und den Staat. Das Gespenst „Bürgerkrieg“ spukt in allen Zeitungen, und mit dem Trost, daß Englands überlegene Einsicht nun doch dem französischen Übermut die Gefolgschaft verweigern und eine Aktion zugunsten Deutschlands unternehmen werde, ist es wieder mal nichts. Die Schmöcke aller Sorten ritten bei uns seit Wochen auf dem Gaul herum, und nun wurde eine Regierungserklärung Baldwins angekündigt, die ein selbständiges Handeln in der Reparationsfrage einleiten werde. Ehe die Rede gestiegen ist, hat nun aber die englische Regierung schon offiziös die schönen Hoffnungen Deutsch-Beschissiens zerstört. In einer äußerst klaren Erklärung wird gesagt, England denke garnicht daran, Deutschland in der Ruhrsache zu helfen, erst recht nicht daran, Frankreich zu brüskieren. Es werde einfach gewisse Vorschläge machen, die es für nützlich hält und keinen Schritt tun, bevor es nicht seine Verbündeten von jeder Einzelheit unterrichtet hat. Die Reisen des Herrn Dr. Rudolf Breitscheid und des Grafen Harry Keßler nach London scheinen also wenig geholfen zu haben. Man hat offenbar den Gedanken gehabt, dadurch aus der Patsche zu kommen, daß man den Engländern sagte: Die Kapitulation vor Frankreich ist wegen der nationalistischen Diktatoren der deutschen Politik unmöglich. Aber vor Euch wollen wir kapitulieren –, das merken unsre Prestige-Herosse nicht. Und Herr Baldwin wird ihnen geantwortet haben: Wieso? Ihr wart doch bisher so zufrieden, weil wir die Franzosen bei der Ruhrbesetzung nicht unterstützt haben, weil wir also keinen Kriegszustand mit Euch haben aufkommen lassen. Wie kommen wir also dazu, mit Euch Frieden zu schließen und eure Kapitulation anzunehmen? – Unsre braven Landsleute merken aber nie was überhaupt vorgeht. Die Zeitungen zitieren grundsätzlich nur die paar oppositionellen englischen Blätter, die der englischen Regierung ganz unverbindliche Vorschläge machen, und diese Vorschläge dünken sie dann schon die perfekte Politik der britischen Staatskunst. Eines Tages wird wie 1918 der Kladderadatsch da sein, – und je nachdem wer dabei siegt, wird die ganze deutsche Presse schreien: wir sind belogen und betrogen worden – eben entweder von den republikanischen Erfüllern oder von den nationalen Verteidigern. Der Wirtschaftszusammenbruch ist so perfekt wie im Herbst 18 der militärische war. Termin und Form der politischen Explosion lassen sich freilich diesmal weniger genau bestimmen wie damals. Nur soviel scheint festzustehn, daß die Farce von 1923 das Grab zuschütten wird, das die Tragödie von 1918 leichtfertig offenstehn ließ. Ob die Helden der Wilhelm-Herrlichkeit gleich drin verschwinden werden oder erst nachdem sie tausende der Unsern weiterhin zu den Gebeinen der deutschen Revolutionsopfer geworfen haben, findet sich wohl bald genug. Hiervon wird es jedenfalls auch abhängen, ob ich selbst das Ende des Trauerspiels noch mit erleben werde oder ob es sich auch über meinem Hügel abspielt. Die Nationalisten werden, das lassen sie deutlich genug erkennen, gelingt ihnen vorübergehend die Restauration, gehörig aufräumen, und die Prozesse gegen die Novemberverbrecher werden, sofern nicht der kürzere Prozeß auch in den politischen Gefängnissen bevorzugt wird, an mir nicht vorbeigehn. Doch dies ist cura posterior. Ich werde, wenn es nicht anders geht, auch mit Anstand zu sterben wissen. – Vorerst tun wir gut, die Dinge des eignen Erlebens so zu betrachten, als ob die Dauerhaftigkeit der gegenwärtigen Verhältnisse, sogar in Bayern, gesichert wären. In diesem Falle, also wenn weder Revolution noch Konterrevolution noch Amnestie noch meine Auswechslung nach Rußland eintritt, rechne ich doch damit, daß wir das Jahr 1923 nicht mehr bis zum Ende in Niederschönenfeld werden absitzen müssen. Die Entlassungen häufen sich wieder auffallend. Gestern erhielt Alois Wagner den Beschluß des Volksgerichts zugestellt, der ihm seine Bewährungsfrist zum zweiten Male zubilligt, ebenso wie Weber wegen der sehr guten Führung am Strafort, ebenfalls bei weiteren 4 Jahren Bewährung die Erlassung von 2 Monaten. Ich muß daher die Schlußfolgerungen, die ich an Webers Begnadung knüpfte, revidieren, allerdings nicht die, die seine Person betreffen. Aber jetzt ohne weiteres schließen, die neuerliche Bewährungsfrist sei die Belohnung für Dienste für die Polizei, geht nicht. Denn was Alois Wagner betrifft, so ist das ein so grundbraver, gutmütiger, harmloser, naiver Prolet, daß man – soweit man überhaupt irgendwem Ehrlichkeit zusprechen kann –, jeden Gedanken, er könne ein Schurke sein, als absurde Lächerlichkeit abtun muß. Wir werden also bis zum 1. August höchstens noch 19 Mann sein. Im September gehn wieder etliche, andre haben vorzeitige Entlassungen fast sicher. Da ist kaum anzunehmen, daß man für uns paar Übrigbleibende hier den riesigen Mechanismus aufrecht halten wird. Die angekündigte Verordnung zur Vereinheitlichung des Strafvollzugs hinzugenommen – die uns doch wohl ein paar Erleichterungen bringen wird, besonders in der Besuchsfrage, – darf man rechnen, daß man hier nicht mehr mit tief einschneidenden Neuerungen anfangen wird (auch Müllers Hausordnung von 19 wurde erst in Kraft gesetzt, als wir von Ebrach fortverlegt waren). Ich vermute auch, daß die Verzögerung der Publikation der Verordnung, die als unmittelbar bevorstehend angekündigt war, auf bayerische Vorstellungen zurückzuführen ist, da man hier vermutlich erst gewisse Vorarbeiten erledigen möchte, zu denen ich in erster Linie die gründliche Reduzierung der Gefangenenzahl rechne und dann die Verlegung in eine Anstalt, die den Übergang zu einer etwas gemäßigten Hausordnung erleichtert. Wenn diese Meinung richtig ist – und sie wird von sehr vielen Genossen und selbst großen Skeptikern bei andern Gelegenheiten, geteilt, dann hoffe ich, daß man meine Freunde vom Mitteldeutschen Aufstand bei dieser Gelegenheit auch freilassen wird, um dem drohenden Krach im Reichstag unauffällig aus dem Wege zu gehn. – Eben aber habe ich meinem Nachbarn Hans Kain helfen müssen, die Merkpunkte für sein erstes Gesuch ans Justizministerium um Bewährungsfrist aufzustellen, da selbst dieser Spötter die Nase hat, kommt je eine günstige Gelegenheit, so ist sie jetzt da.
Niederschönenfeld, Montag, d. 16. Juli 1923.
Wieder mal ein Tag vergeblichen Wartens. Siegfried, von dem ich Dienstag die Mitteilung bekam, er habe sich für Mittwoch oder Donnerstag bei der Verwaltung angemeldet und den ich dann Mittwoch und Freitag erwartete, telegrafierte am Freitag, er werde Montag – also – heute kommen. Bis jetzt – 2 Uhr – ist er nicht erschienen, und ich bin sehr neugierig auf die Gründe des Ausbleibens. Vielleicht hängt es mit politischen Dingen zusammen. In München findet zur Zeit das gemeinsame Turnfest aller deutschen Springfritzen- und Bauchwellenschorschen-Verbindungen statt, zu dem 180.000 Teilnehmer gemeldet sind. Da dazu auch die demokratischen und sonst nicht ganz teutoboldischen Vereine nach München kommen, war Familie Hakenkreuz zuerst geneigt, grollend abstinent zu bleiben, überlegte sich das aber und proklamierte nicht bloß Teilnahme sondern Führung des Unternehmens, weshalb man auch die deutschösterreichischen und deutschböhmischen völkischen Turnklubs einlud. Herr Polizeipräsident Mantel gab der Öffentlichkeit von seinen prophylaktischen Maßregeln Kenntnis, die in der Konzentrierung von ganzen 300 Mann Verstärkung der Sipo aus andern bayerischen Orten nach München bestehn. Alles erwartet Krach. Diese Erwartung erhält einen neuen Kitzel durch die höchst allarmierende Nachricht, daß Kapitänleutnant Erhardt 8 Tage vor Beginn des immer und immer wieder verschobenen Prozesses aus dem Leipziger Untersuchungsgefängnis verduftet ist. Dieser brillante und energische Organisator mit seiner fabelhaften Autorität und Popularität bei allem, was schwarzweißrot genäht ist, wird natürlich sofort in das sicherste Asyl für deutschmonarchistische Hochverräter entkommen sein, das in der ganzen Welt zu finden ist, nach München, – und zum zweiten Mal wird es den nordischen Sendlingen des Weimarasmus nicht gelingen, ihn dem Schutz seiner Freunde in der bayerischen Regierung und der bayerischen Justiz zu entreißen. Die Art der Flucht hat auch für uns ihr Interessantes. Es heißt, er habe ein Bad verlangt und sei dann aus der Badezelle nicht wiedergekommen. Es wurde vermutet, er sei dort unbemerkt die Treppe hinabgelaufen und habe mit einem Nachschlüssel die Gefängnistür geöffnet, vor der ihn ein wartendes Auto in Empfang nahm. So einfach hätten wir es nicht in unsrer „Festung“, selbst nicht, wenn einmal anzunehmen wäre, er habe bei seinem Wachpersonal keine aktive Mithilfe gefunden. Wir könnten schon zu keiner Treppe gelangen, ehe nicht eine Gittertür aufgeschlossen wäre und wir fänden keine Treppe, auf der unbemerkt hinabzulaufen wäre, da bei Tag und Nacht alle Treppen und Gänge bewacht werden. Endlich brauchten wir mindestens 4 – 6 Nachschlüssel, ehe wir aus der Anstalt wären, und der Gedanke, hier draußen könnte ein Auto auf uns warten, in das wir ungesehn einsteigen könnten, wäre ganz phantastisch. Aber dafür sind wir auch längst verurteilte Festungsgefangene und Erhardt ist ein wegen Hochverrat, Geheimbündelei und Meineid verfolgter, von allen seinen Widersachern als gefährlichster aller Rebellen verschrieener und angeblich mit ungewöhnlichsten Sicherungsmaßnahmen bewachter Untersuchungsgefangener gewesen. Dieser sicherlich sehr kühne, entschlossene, draufgängerische Mann plötzlich beim Turnfest in München auftauchend – das wäre mehr als Sensation, es wäre das Signal zum Loshauen. Schon hat Zeigner im sächsischen Landtag gesagt, es sei bei der außenpolitischen Lage für die nächste Zeit nicht nur die schwierigste Komplikation in der Ruhrangelegenheit zu erwarten, sondern parallel dazu innerpolitische Auseinandersetzungen „zwischen der Republik und ihren Gegnern“, die in einer „nationalen Erhebung“ aufs Ganze gehn könnten, und Sachsen werde dann die Republik, „gestützt auf Polizei und die breiten Schichten der Bevölkerung“ mit allen Mitteln verteidigen, wobei er durchblicken ließ, daß die Verteidigung gegen die Reichswehr als Haupttrupp der Reaktion werde erfolgen müssen. Also die klare Ankündigung des Bürgerkriegs vom Ministerpräsidenten eines deutschen Landes. – Baldwins Rede ist noch nicht da. Ohne Frage wird sie allen Träumern von Englands Deutschfreundlichkeit die letzten Felle fortschwemmen und den Ankündigungen von Havas entsprechen. Die Kapitulation Frankreichs vor den englischen Ansprüchen in Lausanne wird ja nicht gratis bewilligt worden sein, und was England im Orient von Frankreich bekommen hat, muß es natürlich am Rhein bezahlen. Die Flucht Erhardts aber in diesem Augenblick kann tatsächlich die ganze Ladung jetzt zum Platzen bringen. Leider wurden heute hier wieder viele Blätter zurückgehalten, wahrscheinlich wohl eben wegen der Flucht Erhardts und den daran geknüpften Kommentaren. Aber der Miesbacher Anzeiger hat ganz sicher recht, wenn er meint, daß die republikanische Justiz in Berlin und Leipzig heilfroh sein wird, durch diesen Coup allen Ängsten vor dem Prozeß enthoben zu sein. Gott weiß, ob nicht die häufige Hinauszögerung des Verhandlungstermins eben damit zu erklären ist, daß die Vorbereitungen zur Flucht noch nicht fertig waren und daß die Befreiung jetzt eine Woche vor dem offiziellen Termin als Teilaktion eines umfassenden Verständigungsprogramms zwischen der Republik und ihren Widersachern aufzufassen ist. Wir sind jedenfalls mal wieder bei einer Kurve angelangt, bei der der Wagen leichter kippen kann als je zuvor – und für uns ist jede politische Peripetie eine Schicksalsperipetie der eignen Personen. Wieviele von uns werden überhaupt noch in die Lage kommen, als Festungsgefangene Entscheidungen abwarten zu müssen? Seit heute sind wir noch 23 Mann, da Sebastian Wagner seine Zeit nun endgiltig überstanden hat. Wir verlieren mit ihm keinen überwältigend wichtigen Zeitgenossen, auch keinen allzu sympathischen Kameraden. Eine der vielen Revolutionswanzen, die – nachdem dies Geschäft versagt hat und sie sogar dafür eingesperrt waren – dann die Kräfte aufs Schieben verlegten und sich dadurch die Bewährungsfrist verschütteten.
Niederschönenfeld, Dienstag, d. 17. Juli 1923
Vor mir liegt das „Reichsgesetzblatt“ Nr. 23 vom 27 Juni 1923, enthaltend die „Grundsätze für den Vollzug von Freiheitsstrafen. Vom 7. Juni 1923“ und eingeleitet mit dem vom Reichsminister der Justiz Dr Heinze unterzeichneten Satz: „Die Landesregierungen haben heute die nachstehenden Grundsätze für den Vollzug von Freiheitsstrafen vereinbart.“ Ich habe dem erweiterten Zirkel unsrer Lesegruppe eben zuerst die für Festungshaft speziell[,] dann die für Freiheitsstrafen allgemein giltigen Bestimmungen vorgelesen. Als Ergebnis dieser Vorlesung ist festzustellen, daß alle Paragraphen, die für uns in Betracht kommen, als einzige Wirkung Heiterkeit auslösten, zwar keine ungetrübte, sondern eine recht bittere Heiterkeit. Man kann das Urteil über das Gesamtmachwerk dahin zusammenfassen: es ist ein voller Triumph der bayerischen Justizeigenart über alles, was bisher in Deutschland rechtens war, nämlich über das Prinzip der wenigstens formal giltigen Rechtsgleichheit. Es ist die Sanktionierung der sämtlichen Ruchlosigkeiten, Rechtsbrüche, Gehässigkeiten, politischen Knebelungen und Ausnahmequälereien für Nichtmonarchisten, wie sie gegen uns jetzt seit Jahren begangen werden, bei gleichzeitiger Ermöglichung für die übrigen Länder, soweit dort das Hakenkreuz noch nicht die offizielle Staatspolitik bestimmt, bis zur Erreichung dieses bayerischen Zustands weiterhin so tolerant mit Festungsgefangenen zu verfahren, wie Bayern das bisher mit Arco gehalten hat, weiterhin übrigens nach diesen Bestimmungen ungeniert auch halten kann. Das reizvolle Prinzip, Rechtsfragen als Ermessungsfragen zu betrachten, wie es Kühlewein mit Zustimmung des bayerischen Landtags postuliert hat, ist nunmehr zur Rechtsnorm der deutschen Republik erhoben. Arco und Jagow werden so wenig zu klagen wie wir zu lachen haben. Wo irgend Rechte oder „Vergünstigungen“ (das Wort wird allenthalben bevorzugt) für uns anerkannt werden, werden sie mit der Einschränkung versehn, daß dadurch „Ordnung und Sicherheit“ nicht gefährdet werden, was natürlich der Vorstand zu entscheiden hat. Über die Art des Besucherempfangs für die Festungsgefangenen keinerlei besondere Anweisung, außer der, daß die Genehmigung zum Besuch auch andern Personen als Angehörigen nur versagt werden darf, „wenn von dem Besuch eine Störung der Ordnung oder Sicherheit oder ein schädlicher Einfluß zu befürchten ist“. So hat man die Abweisungen auch bisher begründet. Von Überwachung ist im Festungsabschnitt keine Rede, es wird also beim § 114 dieser Verordnung unter den allgemeinen Bestimmungen bleiben, wenigstens in Niederschönenfeld, der besagt: „Die Unterhaltung des Besuchers mit dem Gefangenen soll regelmäßig von einem Beamten überwacht werden. Der Vorsteher kann Ausnahmen zulassen.“ Aber er wird nicht. Selbst in der Müllerschen Hausordnung war noch die Überwachung als Ausnahme giltig – und wurde erst in der bayerischen (nicht Landsbergischen) Praxis zur Regel ohne Ausnahme. Auch für die Zensur ist das bayerische System generell gebilligt: „Von einer Überwachung des Briefverkehrs kann abgesehn werden.“ „Kann“! Wir wissen, was dieses Wort bei bayerischen Quälgeistern bedeutet. Natürlich gibt es auch Punkte, an denen wir bei künftigen Beschwerden einhaken können, charakteristischerweise jedoch kaum irgendwo in den speziellen Festungsvorschriften, sondern nur im allgemeinen Teil. Besonders bietet der § 2, Abs. 3 für den Fall, daß die erwartete Verlegung von hier nicht erfolgen sollte, Anlaß, denselben Einwand, gegen unzulässige Unterbringung zu protestieren, wie vorher der § 17 des Strafgesetzbuchs, obwohl jetzt der Grundsatz, daß die Strafe „in Festungen oder andern dazu bestimmten Anstalten“ (die nach Radbruchs Bestätigung an mich eben keine Gefängnisse sein dürfen) zu vollstrecken ist, aufgehoben ist. Es wird jetzt die Vollstreckung „in besonderen Anstalten oder derart in besonderen Abteilungen“ verlangt, „daß die Festungshaftgefangenen von Gefangenen andrer Art getrennt bleiben.“ Wir müssen jetzt abwarten, ob unsre Befürchtung sich rechtfertigt, daß nach dem 1. August, wo unsre Anzahl genügend verringert sein wird, um uns alle auf dem einzigen Mittelgang unterbringen zu können, der letzte Seitengang auch noch für uns gesperrt wird und hier oben an den beiden Flügeln wie unten Quartiere für Strafgefangene eingerichtet werden. Ich glaube freilich fest, daß unsre Verlegung im Herbst spätestens vor sich gehn wird. Die Justizbehörde kann sich nämlich Zeit lassen. Die Zeitungsnotiz nämlich, die die Veröffentlichung der neuen Grundsätze ankündigte, hatte versichert, sie sollten sofort nach Erlaß in Kraft gesetzt werden und als vorbereitender Schritt für das bevorstehende Reichsstrafvollzugsgesetz angesehn werden, das ebenfalls sehr bald zu erwarten sei. Jetzt wissen wir es besser. Der letzte Satz des Reichsgesetzblattes (§ 233, Abs. 2) heißt nämlich so: „Die Landesregierungen werden sie (die Grundsätze) bis spätestens 1. Juli 1924 zur Durchführung bringen.“ – Also wieder eine Illusion ärmer. Unsre Frauen bleiben Witwen, unsre Ehen aufgelöst, unsre „Ehrenhaft“ (das Wort findet sich nicht mehr vor) Verbrecher-Korrektion. Herr Dr. Gürtner hat mit Hilfe des Herrn Dr. Heinze das bayerische Recht alter preußischer Tradition zur Quelle deutsch-republikanischer Gerechtigkeit gemacht, und die sächsischen, thüringischen und sonstigen „bolschewistischen“ Länder haben sich einseifen lassen. Unsre kommunistischen „Taktiker“ aber, die immer noch meinen, man müsse in Parlamenten und mit Gesetzreformen die Welt kurieren, empfangen wieder mal die praktische Belehrung, daß uns kein Gefeilsch und kein Geschwätz helfen kann, sondern nur die Tat der Massen. Auf sie setze ich meine Hoffnung, auf sie mein Leben.
Niederschönenfeld, Donnerstag, d. 19. Juli 1923.
Alle festen Voraussagen über das, was die nächsten Wochen oder schon Tage bringen werden, sind müssig. Nur das glaube ich als entschieden betrachten zu dürfen, daß Erschütterungen im politischen Geschehn eintreten werden, die jede Möglichkeit in sich tragen. Die Wirtschaftskalamität verschärft sich stündlich, doch könnte der Gewerkschaftsschwindel von den „wertbeständigen Löhnen“ das Proletariat da wieder für einige Zeit weiter beeinflussen, in Geduld zu verhungern. Den durch die allzu offenkundige Doppelbewertung der Mark unhaltbar gewordenen Betrug der Valuta-Ausraubung des Volks durch die Großindustrie hat man auch wieder prolongieren können, indem – wahrscheinlich durch neuerliche Hinausschleuderung von Goldbestand der Reichsbank (das aus der Konfiskation aller „mündelsicheren“ Ersparnisse stammt) – der amerikanische Markkurs einigermaßen auf den deutschen heruntergedrückt wurde – etwa 190.000 zu 225.000. Man sucht überall nach Hinauszögerungen, aber es wird schwerlich überall noch die Möglichkeit dazu bestehn. Baldwins Rede wird von unsern Beruhigungsschreibern gedreht, geschliffen, gewendet, geputzt, um den deutschen Leser nicht merken zu lassen, daß ihr für Deutschland bestimmter Teil heißt: Lasziate ogni speranza. Der mit Frankreich polemisierende Teil wird wieder mal so kommentiert, als ob da unüberbrückbare Gegnerschaften bestehn, während in Wahrheit Baldwin so offen wie möglich den Gegensatz als reinen Zweckmäßigkeitskonflikt dargestellt hat. Die Engländer fragen als Kaufleute, wie sie vom widerspänstigen Schuldner am besten zu Geld kommen, die Franzosen fragen dasselbe vom Standpunkt des Gerichtsvollziehers aus. Das ist alles. Einig sind sie darin, daß unter allen Umständen bis zur Grenze der Leistungsfähigkeit gezahlt werden muß, und selbst darin scheint kein Unterschied zu sein, daß ihnen die Separation des Rheinlands gleich wünschenswert scheint. Nun wird inzwischen die britische Note an Deutschland den übrigen Siegerstaaten zur Unterschrift vorgelegt werden, und wenn wirklich, wie unsre Schmöcke hoffen, die Forderung auf Aufgabe des passiven Widerstandes nur auf die Formel beschränkt bleibt, sie wäre „weise und zu wünschen“ und Großbritannien – eventuell mit Italien – müßte ohne Frankreich und Belgien die Note allein absenden, wäre für die deutschen Durchhalter damit nichts irgend Belangvolles geändert. Das ganze Gerüst von Staat und Wirtschaft ist zum Einsturz reif. Mag nun zunächst der erwartete Putsch der Separatisten im Rheinland erfolgen, den wie versichert wird, die ganze Bevölkerung dort mit dem Generalstreik beantworten werde (woran ich zweifle, obwohl Sozialdemokraten und Kommunisten die Parole dazu ausgeben werden; aber weder Christliche Arbeiter noch revolutionäre Unionisten, Syndikalisten, Anarchisten etc. werden um staatsautoritärer Wünsche willen in den Streik treten) und daraus die wohl sicher zu erwartende „nationale Erhebung“ des Hakenkreuzes folgen, oder mag der Nationalistenputsch ohne dies inszeniert werden – die Befreiung Ehrhardts wird allgemein als Signal gedeutet – das spielt keine große Rolle mehr. Es sieht alles danach aus, als ob wir nur noch ganz kurze Zeit unsre Ungeduld werden zügeln müssen und bald wissen werden, wie der Hase läuft. An das Turnfest in München – bei dem die von Mantel als „Notpolizei“ in Anspruch genommenen Nationalsozialisten schon mit der ordentlichen, blauen Polizei ins Handgemenge und zu blauen Flecken gekommen sind – soll sich der Kongreß dieser Partei schließen. Möglich, daß dabei die Bombe platzt. Jedenfalls dürfen wir wohl annehmen, daß Bayern der wichtigste Schauplatz der werdenden Ereignisse sein wird. Die Zustände in München, wo jeden Tag Überfälle auf herumgetragene schwarzrotgoldene Fahnen stattfinden, wo Leuten, die ein republikanisches Blatt lesen, ihre Lektüre auf der Straße aus der Hand gerissen wird, wo Prügel – gewöhnlich unter Teilnahme der Polizei auf Seiten der Prügelnden gegen Anhänger der Weimarer Herrlichkeit – als gebräuchliche Umgangsformen des bürgerlichen Lebens anerkannt sind, müssen grotesk sein. Haltbar sind sie jedenfalls nicht mehr lange, und die bayerische Regierung ist eine Spottgeburt aus unter Brutalität und markierter Forschheit versteckter schlotternder Angst. Für uns hier kann aus alledem hoffnungsvolle Zukunft erwachsen. Für wie viele überhaupt noch grundsätzliche Veränderungen entscheidenden Vorteil bringen werden, hängt von der Schnelligkeit ab, in der sich die erwarteten Ereignisse entwickeln werden. Gestern nahmen wir Abschied von einem der besten Kameraden, den letzten der eigentlichen Rotgardisten ohne auch nur kleinste Führerqualität, der seine ganze Strafe verbüßt hat – vier volle Jahre – Hans Tanzmaier. Heute früh ist er entlassen worden. Einer, der sich mit fast allen vertrug, der immer allen ein guter Kamerad war, gefällig und treu, heiter und bescheiden – trotz seiner Eigenschaft als „Lumpenproletarier“, die er auf Grund seiner Vergangenheit zweifellos hat. Der arme Kerl hat sich traurig genug durchs Leben quälen müssen, hatte schon 4 Jahre Zuchthaus hinter sich, ehe er in die Revolution geriet, kannte die Staatsinfamie der Polizeiaufsicht und des Arbeitshauses (womit sich unsre Kriminalisten auch einmal beschäftigten dürften, z. B. Radbruch, wenn er menschliche Formen in den Umgang mit „Verbrechern“ bringen will). Tanzmaier fand hier in der Festung zum ersten Mal Menschen, vor denen er sich – obwohl sie nicht seine Vergangenheit haben – ohne Beschämung offen geben durfte, und als wir gestern im großen Speisesaal versammelt saßen, um ihn zu feiern – nur Weber (der gottseidank auch von Morgen ab nicht mehr hier sein wird) und Daudistel (dessen Verbitterung immer peinlichere Formen der Provokation, Denunziation und Gehässigkeit annimmt) waren nicht eingeladen, während die Spitzen der hohen Wuchtigkeit, Sauber, Schlaffer, Olschewski nicht Tanzmaiers wegen, sondern um nicht mit uns andern zusammenzukommen fernblieben (Egensperger hat sich ein wenig, Schiff, dem das sehr gut bekommt, völlig bekehrt) – Klingelhöfer hatte Besuch und Hornung schließt sich grundsätzlich von jeder gemeinsamen Sache aus – sonst waren wir vollzählig, da gab es eine sehr rührende Szene. Der gute Tanzmaier hielt in seiner unbeholfenen Dialektsprache eine Abschiedsrede, ganz einfach und anspruchslos, in der er betonte, daß er glaubt, allen ein guter Kamerad gewesen zu sein. Er kam nicht weit. Seine Stimme fing an zu zittern und mitten im Satz sank der Kopf und die Worte gingen in ein kindliches Weinen über. Ich half ihm über die Verlegenheit hinweg, indem ich sofort mit ein paar Worten anschloß und ihm bestätigte, wie schwer wir auch ihn scheiden sehn, so sehr wir uns immer mit ihm freuen, daß ihm die Freiheit endlich wiedergegeben wird. Nachher sprach Schiff ein paar nette Worte über den Jimmy Higgins-Charakter Tanzmaiers und endlich Sandtner mit köstlicher Frische und richtigem Schmiß vom Standpunkt des revolutionären Proleten aus. Wer bei uns noch überheblich von Lumpenproletariern reden sollte, dem werde ich den Namen Tanzmaier zurufen. Er war schon 1909 einer meiner Hörer in der Gruppe Tat und er wird, wenn ich mal wieder zuverlässige Helfer brauchen sollte, ganz gewiß von mir nicht übergangen werden. – Während sein Abschied am Abend vor dem Hinunterziehn stattfand, traf schon wieder Ersatz ein, wie es denn scheint, als sollte der Zugang hier nie ein Ende finden. Ein weißbärtiger Alter – 58 Jahre – kam nach Verbüßung von 3 Monaten Stadelheim (er hat, wie er ganz naiv selbst erzählte, von seiner Arbeitsstelle „Werkzeug ’krampft“ um für Weihnachten seiner Familie eine kleine Freude machen zu können) zur Nachleistung von 8 Monaten Festung an. Am Gitter begrüßten Tanzmaier, der hinunterging und er sich, der eben einquartiert war. Der Neue heißt Georg Schmid, und sein Fall ist wert, festgehalten zu werden. Er war von St. Georgen nach Verbüßung von 7 Monaten Festung auf Bewährungsfrist entlassen worden. Die Frist wäre am 1. April 1923 abgelaufen. Sein Prozeß wurde auf den 24. März angesetzt. Daß das ohne Absicht geschehn sei, werde ich nie glauben, ebensowenig, daß man ihm 3 Monate gegeben hätte ohne die Vorschrift, daß soviel Freiheitsstrafe verwirkt sein muß, um eine Bewährungsfrist hinfällig zu machen. Man hat ihn nun ein Vierteljahr – bei entsetzlicher Kost – in Stadelheim gehalten, ohne ihm mit einem Wort zu sagen, daß er danach noch nach Niederschönenfeld komme. Die 8 Monate jetzt trafen ihn also völlig überraschend. Ebenso ist es auch Enzinger gegangen, den seine Familie schon abholen wollte, bis sie erst an Ort und Stelle erfuhren, daß er erst nach 17 Monaten heimkehren darf. Es liegt also offensichtlich ein System vor. Bayerns Rechtswalter haben wieder etwas gefunden, womit sie Proleten die Qualen ihrer Proletenschaft vermehren können.
Niederschönenfeld, Sonnabend, d. 21. Juli 1923.
Ich leide seit fast einer Woche an einer für mich ganz neuen Plage, die sehr wahrscheinlich rheumatischer Art ist, nämlich ganz empfindlichen Rückenschmerzen. Ob es sich um Hexenschuß handelt, oder um Erkältung der Kreuzgegend, weiß ich nicht sicher. Doch scheint mir die Annahme, daß keine Verrenkung, sondern eine Erkältung vorliegt, glaubhafter. Ein Wunder ist es ja nicht, wenn man sich hier für Zeit und Leben etwas zuzieht. Grade die sehr heißen Tage, die hinter uns liegen, brachten bei der Zugigkeit des Hauses Gefahren mit sich. Denn der ständige Wechsel von Schweiß und Zug bekommt nicht gut. Bis gestern behandelte Sandtner den Buckel mit Massage – und seine Seemannpfoten kneten gründlich –, aber der Schmerz ist eher böser als besser geworden, und so habe ich es vorgezogen, den Verlauf der Angelegenheit jetzt ohne Behandlung abzuwarten. Es ist halt nicht einfach, einen Arztboykott durchzuführen, wenn man Behörden ausgeliefert ist, die eher die ganze Anstalt verrecken lassen als die Verfehlungen ihres ärztlichen Beamten zuzugeben und abzustellen. Meine Hoffnung, daß eine Verlegung von Niederschönenfeld in absehbarer Zeit erfolgen wird, wird durch den Wunsch sehr bestärkt, endlich wieder die verschiedenen Leiden des alternden Leibes von einem vertrauenswürdigen Arzt kontrollieren lassen zu können. – Seit gestern abend sind wir wieder um einen Mann weniger. Herr Fritz Weber ist heute früh zum zweiten Mal auf Bewährung hinausgegangen. Gott hab ihn selig; ich bin froh, ihn nicht mehr sehn zu müssen und hoffe nur, daß der Kerl sich den Nationalsozialisten baldmöglichst anschließen wird. Dann wird die nächste kriminelle Handlung jedenfalls keinen nochmaligen Einzug bei uns nach sich ziehn. Ich habe mit dem Mann zeit seines Hierseins außer dem einzigen „Nein – ich gebe keine Adressen her!“, das ich ihm auf die Bitte antwortete, ihm den Aufenthalt eines guten Kameraden, an dem er sich gern hätte rächen mögen, zu verraten, nicht ein Wort geredet. Ob die Wuchtigen das Vertrauen, mit dem Weber von ihnen betraut wurde, nicht noch einmal peinlich quittiert kriegen werden, wird sich herausstellen. – Politische Bemerkungen können unterbleiben. Zu notieren wäre allenfalls eine Parlamentsrede des Ministers Schweyer, worin er sich zum Fuchs-Prozeß äußerte, der die Konsequenz der – November-Revolution sei. Sie (den Krieg hat es anscheinend nie gegeben) war der Ursprung alles Unglücks und nicht nur ein strafrechtliches, sondern auch moralisches Verbrechen, und es fehle dem Staat nur noch an Machtmitteln, es zu sühnen. Man traut sich also schon ziemlich weit vor, und den Sozi mag es einigermaßen grauen, was die Reden des Herrn Alwin Sänger und des Herrn Ackermann auch schon beweisen. Aber sie werden’s, wenn es soweit ist, wohl wieder so einrichten können, daß nur wir – ihre Opfer – an die Wand kommen und sie die Henker der jetzt so befehdeten Reaktion machen werden. (Ich lese eben Noskes „Von Kiel bis Kapp“. Der Kerl ist ein noch größerer Halunke, als aus seinen Taten allein hervorgeht. Ein bewußter Reaktionär, Arbeiterfeind und Konterrevolutionär, der für seine Schlachtopfer nur Hohn hat). Im übrigen nichts Entscheidendes. Es ist eine schwüle Windstille in Deutschland, und viele Anzeichen sprechen dafür, daß das Unwetter stündlich ausbrechen kann.
Niederschönenfeld, Sonntag, d. 22. Juli 1923.
Vormittag. Ich habe am Nachmittag an Zenzl zu schreiben, und zwar nach Lübeck, wo sie leider zum ersten Mal nicht in meiner Begleitung sein kann. Weigel reist mit ihr, der nicht immer die Delikatesse hat, in seinen Briefen an mich Empfindlichkeiten, – die übrigens nichts mit Eifersucht zu schaffen haben; in dieser Hinsicht habe ich erstens keine Gründe Zenzls Versicherungen ihrer Liebe und Treue im geringsten zu mißtrauen, zweitens bin ich kein Schutzmann, bei dem Liebe ein Kontrollapparat ist – meine Empfindlichkeiten aber im Hinblick auf gewisse seelische Luftraum-Respektierung zu schonen. Er redet in einer Weise von Zenzl und sich als „Wir“, die Zenzl herunterwürdigen könnte, die so zart, taktvoll und in allem so selbstverständlich ist und handelt, und die sich W. nicht halb so nah fühlt wie er ihr. Er hat das Gefühl nicht, daß es eine innere Gemeinsamkeit gibt zwischen Menschen, die garnichts Sexuelles an sich hat, Bettrechte ganz außer Betracht läßt, und in die ein Eindringen peinlich wirkt. Ich mußte mir das mal schriftlich abreagieren, und in Briefen ist es unter den obwaltenden Zensurverhältnissen und bei der Auffassung von Beamtenschweigepflicht, die der Vorstand auch neuerdings wieder durch Ausplaudern von Tagebuch-Eintragungen aus meinen Heften an andre Festungsgefangene (wobei er sich sogar krasse Entstellungen gestattet) an den Tag legt, gänzlich unmöglich. Wenn Zenzl das nächste Mal, vielleicht noch Ende dieses Monats herkommt, werde ich ihr andeuten, was ich meine. – Inzwischen hatte ich das fünfte Mal das Vergnügen, auf Siegfried vergeblich zu warten. Ich habe ihm nun geschrieben, daß ich fürs Erste auf seinen Besuch verzichte, zumal er mich mit einer telegrafischen Entschuldigung, er sei geschäftlich verhindert, offenkundig angelogen hat. Ich habe ihm geschrieben, daß ich keine Aufrichtigkeit von ihm verlangen könne. Die sei Vertrauenssache, daß ich aber sehe, daß ich sein Vertrauen nicht habe und mir nur ausbitten müsse, mich nicht mit Lügen zu füttern, die ich sofort als Schwindel durchschauen müsse. Das sei beleidigend für mich, da er dadurch zeigt, daß er mich für dumm ansieht. Ich denke, der gute Junge wird sich die Lektion merken. Außer der Korrespondenz muß ich auch endlich mit der Reinschrift des 7. Kapitels Bröschke weiterkommen, die ich Zenzl unbedingt mitgeben will, um dann überhaupt vorwärts zu kommen und womöglich in diesem Jahr noch den ersten Teil des Romans fertig zu kriegen. Dann habe ich bestimmt noch Anfang dieser Woche einen Artikel für das neubegründete Organ der Internationalen Roten Hilfe zu schreiben und zwar über Kropotkins Werk „Ethik“, sodaß meine Zeit reichlich mit professionellen Aufgaben besetzt ist. – Wie weit ich mit allem, was ich mir vorgenommen habe, kommen werde, ist allerdings sehr fraglich. Die politische Atmosphäre ist so dick und von soviel Qualm durchraucht wie noch nie. Die Reichsregierung erläßt eine Proklamation gegen die Ängstigungen der Bevölkerung mit Bürgerkriegs-Gerüchten. Schon diese Beschwichtigungen lassen an sich erkennen, daß man dem Burgfrieden oben nicht mehr traut. Dann wird zugesichert, daß gegebenenfalls alles zum Niederschlagen bereit ist und angedeutet, daß man speziell die Vorgänge in Sachsen und Thüringen beobachte. Im Hintergrund fuchtelt die Erklärung mit der Reichsexekutive gegen die sozialdemokratischen Regierungen dieser Länder. Von Bayern ist keine Rede, obgleich in denselben Zeitungsnummern berichtet wird, daß man Ehrhardts Flucht-Auto in München gefunden hat. Ehrhardt war aber schon ausgestiegen und der Karren stand in einer Garage. Man will nun Ehrhardt Ehrhardt sein lassen – mein Gott, der Mann hat mit der Mobilisierung der „nationalen Erhebung“ genug zu tun – und in Leipzig erst mal gegen den einzigen Delinquenten verhandeln, über den man in der Sache noch verfügt. Der arme Schlösser ist transportunfähig, was ihn nicht hindert, den Vorsitz der Vaterländischen Kampfverbände in Bayern zu führen – nötigenfalls bewaffnet gegen die Arbeiter, – und ein mitangeklagter Leutnant ist wie der Prinzipal ohne Adresse. Die vaterländischen Helden lassen nun also die einzige Person in der Tinte, die die juristischen Helden in Leipzig zum Zwecke der republikanischen Verfassungssicherung zwiebeln dürfen, das ist die des Meineids beschuldigte Prinzessin v. Hohenlohe-Öhringen. Man wird der durchlauchtigen Dame wohl nicht allzu wehe tun. – Inzwischen häufen sich die Zeichen, daß der Krach bevorsteht. In München tagen die Faszisten und Hakenkreuzler in von oben wohlgelittenen Kongressen, und am 29. Juli soll im ganzen Reich ein von Kommunisten und andern revolutionären bzw. geängstigten Organisationen veranstalteter Anti-Faszisten-Tag stattfinden. Radeks Rede hat ja dem Giftpfeil schon seine Wirkung genommen, zudem ist die Braunschweiger Regierung den übrigen schon mit gutem Beispiel vorangegangen und hat die Gaudi verboten, und die deutschen Arbeiter tun nichts, was polizeilich verboten ist. In Bayern, wo man im Süden ohnehin nichts von links zu fürchten hat, will man den Norden damit bezwingen, daß man der schönen Stadt Nürnberg neben den republikanischen Oberbürgermeister Luppe als Polizeipräsidenten wen hinsetzen will?: Herrn Christian Roth, ehedem Justizminister des „Freistaats“, neben Pöhner die wuchtigste Kahr-yatide der Ordnungszelle. Da man hier auch noch über die „Notverordnung“ verfügt, die konsequent gegen alles angewendet wird, was „marxistisch“ genannt wird (die Völkischen rechnen im Gegensatz zu den Betroffenen selbst die Sozialdemokraten auch dazu), wird man hier das Proletariat kaum fürchten. Aber die Hungersnot wächst. Die Devisenspekulationen gehn ins Aschgraue. Die letzte Devisenverordnung – durch die jetzt wieder der Dollar in Deutschland für 218 000 gekauft und in Danzig mit 320 000 Mark verkauft wird – bewirkt einerseits Devisennachfragen an der Börse, die an einem Tage 20 Billionen allein in Berlin erreichen, für deren Beschaffung der gesamte Goldbestand der Reichsbank hergegeben werden müßte, andrerseits Unzufriedenheit sogar bei rheinischen Großindustriellen, die schon drohen, die Separationsbestrebungen ihrerseits zu fördern und mitzumachen. – So ist alles in Auflösung. Niemand weiß, wer losschlagen wird, wo losgeschlagen wird und wie es ausgehn wird. Und nur in Niederschönenfeld geht alles seinen alten Gang weiter. Zum Beispiel: Amereller, ein schwerer Hysteriker, schloß sich seit vorgestern in seine Zelle ein und verweigerte die Nahrungsaufnahme. Er will jedenfalls bei der Fülle der Entlassungen jetzt die Aufmerksamkeit wieder auf sich hinlenken, und tatsächlich hat man ihn gestern abend hinuntergelegt, wahrscheinlich als Wirkung eines Briefes Schlaffers an den Vorstand, der darauf hinwies, daß sich niemand um Amereller kümmere. Schlaffer wurde daraufhin hinuntergerufen und – kam nicht wieder. Einzelhaft – jedenfalls wegen „Einmischung“. Niederschönenfeld bewährt sich. Mags draußen krachen, splittern und drunter und drüber gehn, mag Frankreich seinen Marty amnestieren und Cuno die Amnestie der Herren Krupp und Genossen – von Frankreich – als Forderung der ganzen Menschheit verlangen – Niederschönenfeld ist der ruhende Pol in der Erscheinungen Flucht.
Niederschönenfeld, Dienstag, d. 24. Juli 1923.
Bis jetzt hat sich die Situation draußen nicht viel verändert, obwohl die Breslauer Teuerungsrevolten nicht leicht zu nehmen sind. Sie weisen, neben der üblichen Brutalität, mit der die Behörden vorgehn: verschärfter Belagerungszustand, Tote und Verwundete einige wichtige Charakteristika besonderer Art auf. Die republikanische Presse (Berliner Volkszeitung) ist ängstlich bestrebt, die KPD bei der Sache reinzuwaschen, indem sie erklärt, die Arbeitslosen in Breslau, die die Plünderungen hauptsächlich betrieben, seien seit längerem ganz bei den Unionisten gelandet, und zugleich bestreben sich die Kommunisten selbst, alle Schuld von sich wegzustreiten und sie den Knüppel-Kunze-Garden anzuhängen, die auch tatsächlich insofern entscheidend eingewirkt zu haben scheinen, als die großen Geschäfte, die betroffen wurden, großenteils jüdischen Firmen gehören. Daß das kein Beweis dafür ist, daß die offenkundigen Hungerexzesse einfach von völkischen Provokateuren veranstaltet sind, sondern von denen nur auf bestimmte Gegenstände abgelenkt worden sind, liegt auf der Hand. Im ganzen stellt sich die Aktion selbstverständlich als Symptom der Not dar, und die Revolutionäre aller Richtungen hätten jedenfalls Besseres zu tun, als andre Kreise als die Cunöden und ihre wirtschaftliche Schandpolitik verantwortlich zu machen. – Ein solcher Anfang wie der Breslauer deutet auf Fortsetzungen hin, und es fragt sich nur noch, ob und wie lange sich Einzelrevolten lokalisieren lassen, bzw. ob und wann die reaktionären Organisationen die Not des Proletariats mit ihren lokalen Auswirkungen für ihre politischen und militärischen Zwecke ausnutzen werden. Mit der Parole des Heimatschutzes gegen bolschewistische Umtriebe läßt sich, seit die Sozialdemokraten die Arbeiterschlächtereien unter diesem Vorwand zur täglichen Übung der deutschen Innenpolitik gemacht haben, die Geste der Moral am besten wahren. Bei der Spannung, die der vor dem 7. November immer ähnlicher wird, ist eine neue Nachricht aus Rußland von Bedeutung, die wir bisher nur im Fränkischen Kurier fanden, und die nicht weniger meldet als den Versuch eines gewaltsamen Systemwechsels dort durch ein Komplott, an dessen Spitze Bela Khun stehn soll. Der Plan sei gewesen, Lenin und Trotzki zu verhaften, ein Direktorium aus 12 Kommunisten aus verschiedenen Ländern – vornedran Bela Khun – einzusetzen, das die „Diktatur des Proletariats“ allein ausüben sollte und zwar im Sinne der radikalen neuen kommunistischen Partei, die Khun bereits gegründet habe. Khun selbst habe nach der Entdeckung des Komplotts flüchten können, doch sei der Chef der Petersburger Roten Armee, der sein militärischer Mitverschwörer sei, verhaftet und werde in Moskau vor ein Revolutionstribunal gestellt werden. Der Verrat der Khun erwiesenen revolutionären Gastfreundschaft errege in Sowjet-Rußland die größte Entrüstung. Der Charakter Bela Khuns läßt die Nachricht nicht ganz unwahrscheinlich klingen. Stimmt sie, wo[so] wäre das ein Zeichen dafür, daß die Opposition gegen die „Nep“ (Neue Wirtschaftspolitik) in Rußland große Fortschritte gemacht hat. Das Verhalten des aus der ungarischen Sache schon nicht ganz reinlich hervorgegangenen Mannes wäre allerdings unqualifizierbar. Ich habe seinerzeit, als ich gefragt wurde, wie ich mich gegenüber einer Aktion der russischen Regierung zu meinen Gunsten verhalten würde, erklärt, ich würde mich verpflichten, drüben nichts gegen die bestehende Regierung zu unternehmen und im Fall, daß dort mir Unerträgliches geschehe, das Land zu verlassen. Für Emigranten scheint mir das die allerprimitivste Anstandspflicht. – Aber ist die ganze Geschichte wahr? Wenn nicht, so müßte man die Ente als Sturmvogel betrachten. Dann soll dem Volk imputiert werden, daß es keine Hoffnungen nach Rußland schicken soll, daß drüben auch etwas stinkt und daß auch dort nicht aller Tage Abend ist. – Man wird wohl bald Klarheit haben. Sonst erfüllt die Lösung der Reparations- und Ruhrfrage alle Spalten. Was hat Baldwin in seiner von den Alliierten zugestellten Note vorgeschlagen? Obwohl das völlig klar ist, nämlich daß nichts drinsteht, worauf deutsche Patrioten einen Optimismus gründen könnten, hofft man. Eins ist ganz gewiß: Deutschland kriegt eine Finanzkontrolle, die viele Striche durch alle Rechnungen machen wird. Der Besuch Beneschs in Paris und London wird außerdem die bayerische Eigenart ein wenig ins Licht gestellt haben, denn die Tschechen haben mit ihren Hakenkreuz-Deutschböhmen genug zu tun und wünschen sich keine bayerische Monarchie als Aufmarschgebiet für tschechische Habsbourgeois als Nachbarschaft. Den Nationalisten aller Länder, speziell der Besiegten, schwillt ohnedies der Kamm gewaltig infolge der Lausanner Endergebnisse, die einen Riesenerfolg der Türken bedeuten, die den Vertrag von Sevres völlig zerrissen haben. Da hat Frankreich gegenüber England sehr weit nachgegeben, und kein Mensch kann zweifeln, daß diese Rechnung in der Kontinentalpolitik, d. h. jetzt in der Rhein-, Ruhr- und Reparationsfrage ausgeglichen wird. Die Sache muß in kurzer Zeit zur Entscheidung kommen, – und dann kommt alles zur Entscheidung, auch ob der Versuch, dem osmanischen Beispiel durch teutonische Bizepse nachzueifern, endgiltig unternommen und ob das Unternehmen Erfolg haben wird. – Im Hause gibt es unter den Genossen wieder verschiedene Unerfreulichkeiten, die diesmal nicht in den Richtungen begründet liegen, also auch unabhängig sind von Gruppierungen, sondern in den Absonderlichkeiten mancher Charaktere liegen. Ein gewisser Einzelgänger stänkert – um durch Provokation von Krach sein Herauskommen zu fördern; ein andrer gibt Anlaß an seiner Ehrlichkeit zu zweifeln – und zwar nicht in politischer Beziehung, sondern man hat die peinliche Empfindung, daß seine Finger mitunter das Wachsen kriegen. Ich und mein engerer Kreis haben gottseidank mit diesen Dingen wenig direktes zu tun. Endlich Amereller: dessen Gebahren – er bekam gestern am Tage, heute in der Nacht wieder hysterische Anfälle, die das ganze Haus in Bewegung setzten, hat den Erfolg gehabt, daß heute seine Zelle ausgeräumt wurde. Er dürfte also schon fort sein. Vermutlich hat man ihn nach Erlangen gebracht. Der arme Kerl ist sicherlich krank und haftunfähig. So kann man sich der Befriedigung, den unfriedlichen Menschen nicht mehr zum Nachbarn zu haben, mit umso uneigennützigerer Genugtuung hingeben. Möge er in der Anstalt völlige Heilung finden und in der Zukunft allen Bewegungen, die revolutionäre Hingabe verlangen, fernbleiben.
Niederschönenfeld, Mittwoch, d. 25. Juli 1923.
Eigentlich wollte ich heute das Tagebuch ruhen lassen. In den Zeitungen stehn keine wichtige Neuigkeiten. Die Baldwin-Note wird von Frankreich ängstlich geheimgehalten. Der Prozeß in Leipzig gegen die Prinzessin Hohenlohe-Öhringen ist erst am ersten Anfang. Über die Verschwörung Bela Khuns steht nirgends ein Wort der Bestätigung oder des Widerrufs. Es scheint sich also tatsächlich um eine Latrine zu handeln, die lediglich der Vorverjauchung der Bürgerkriegs-Athmosphäre dienen soll. – Dollarstand: 350.000 Mark – ob in New York oder in Berlin, weiß ich nicht genau. Jedenfalls werden die chaotischen Finanzverhältnisse bei uns täglich absurder, und schon druckt die Reichsdruckerei jeden Tag einen neuen „Geld“-Vorrat von etwa 1 Billion Mark, sodaß bei der progressiven Steigerung des Papierbedarfs in absehbarer Zeit wohl auch der russische Rubel von der deutschen Mark eingeholt werden wird. Die Kosten aller Dinge sind entsprechend. Selbst hier im Hause, wo die Anstaltswerkstätten doch sehr billig wirtschaften, kostet die Besohlung eines Paars Stiefel schon 150.000 Mark. Aus Timmendorf erhielt ich Brief einer Paketgönnerin, worin sie berichtet, dort kostet die Pension im Hotel pro Tag und Kopf 100.000 Mark. Die „wertbeständigen Löhne“ werden nun also eingeführt, – und zwar haben die Gewerkschaften sich darauf eingelassen, die augenblickliche Lebenshaltung der Arbeiter – demnach den tollsten Hungerstandard, der je erlebt ist, – als Grundlage anzuerkennen. In der Wirkung bedeutet das also keine Verbesserung, sondern weitere Verschlechterung der Lage des deutschen Arbeiters. Von diesem Gesichtspunkt aus verdienen auch die Bonzenwahlen des deutschen Metallarbeiterverbands Aufmerksamkeit, bei denen die Listen der Opposition – also die kommunistischen Kandidaten – nach den vorliegenden Meldungen die alten Bürokraten überall zu schwächen bzw. ganz zu verdrängen scheinen. Meine Genossen sind über die bisher gemeldeten Resultate ganz in Seligkeit. – Vom Hause: Schlaffer kam gestern schon wieder aus der Einzelhaft herauf. Vielleicht hängt die verhältnismäßige Milde der Bestrafung für das Verbrechen, um einen Kranken Besorgnis gezeigt haben, mit Amerellers Fortschaffung zusammen. Über den Abtransport gehn merkwürdige Gerüchte um. Es heißt, man habe ihm bei einem Anfall den Arm gebrochen und erst daraufhin weggebracht. Ich glaube daran nicht in der Form. Vermutlich wird man ihn mit einem polizeilichen Jiu-Jitsu-Griff in die Zwangsjacke haben quälen wollen, und dabei wird man das Armgelenk etwas ausgekegelt haben. Er wird vor Schmerz gedacht haben, der Arm sei gebrochen und es zur Orientierung der Genossen herausgebrüllt haben. Es würde ja auch schon das ausreichen, um die Festungsbehandlung hier zu charakterisieren. Doch will ich vorläufig garnicht urteilen, da mir solche Gerüchte von vornherein immer verdächtig sind. – Man hat ja auch ohnedies hinlänglich Material zur Kennzeichnung der Methoden gegen uns. Von den fortgesetzten Zeitungszurückhaltungen nehme ich hier garkeine Notiz mehr. In diesem Monat habe ich, glaube ich, von der Berliner Volkszeitung kaum mehr Einzelnummern ausgehändigt bekommen als beschlagnahmt wurden, und so geht’s mit vielen Blättern. – Aber folgender Fall verdient Vermerkung. Gestern abend gab es – wie jetzt mindestens 4 mal in der Woche, zum Abendbrot Wurst, und zwar diesmal eine Art Preßsack. Das Zeug kam ganz weich auf die Teller, sah schmutziggrau aus und sonderte eine gelbbraune Sauce ab. Außer mir, der ich im vorigen Jahr hier mit schlechter Wurst die übelsten Erfahrungen gemacht habe (der Arzt deutete damals an, ich könne sie wohl bloß nicht essen, da sie aus Schweinefleisch gemacht sei), fanden auch alle andern – die wahrhaftig nicht heikel sind, ihre Genießbarkeit unmöglich und wir zeigten dem Personal das Zeug mit dem Verlangen nach Ersatz. Es kam der Bescheid, die „Gesundheitskommission“ (aus wem die besteht, weiß niemand von uns) stelle fest, daß die Wurst nur etwas weich, aber noch durchaus eßbar sei. Selbstverständlich hatte niemand Lust, das Experiment zu machen, und so hatten wir gestern abend außer einem Teller Erbsensuppe nichts. Die Wurst wurde vollzählig wieder weggetragen. Vielleicht hat sich die Gesundheitskommission nachher daran delektiert.
Niederschönenfeld, Sonnabend, d. 28.Juli 1923
Zenzls 39. Geburtstag. Leider weiß ich nicht mal, wo sie an diesem Tage ist. Sie war jetzt in Lübeck, wollte von dort heute nach Hamburg, dann nach Berlin und von da heim. Aber auf einer Karte von vorgestern steht nun, sie fahre noch denselben Tag nach Berlin, sodaß ich garnichts sicheres weiß. Diese ganze Reise war für mich eine Nervenquälerei, da außer einem kurzen Aufenthalt in Vitte auf Hiddensee ein ständiger Wechsel da war, und ich werde froh sein, sie wieder daheim zu wissen. Das umso mehr, als die Situation draußen täglich deutlicher auf Katastrophe weist. Der Dollar ist, seit ich hier zuletzt darüber schrieb, auf 780.000 Mark gestiegen. Die Verordnungen, mit denen man dieser Entwicklung an den Leib will, werden täglich lächerlicher. Die Industrie sabotiert jeden Versuch, eine gewisse Regelmäßigkeit ins Chaos zu bringen, und die Gärung treibt unaufhaltsam zum Überschlagen des Gebräus. Am 29ten, also morgen, sollte der Antifaszistentag in ganz Deutschland steigen. Dumm wie jede Reaktion verbietet Herr Severing für Preußen, Herr Schweyer – par nobile fratrum – für Bayern, fast alle übrigen Polizeiminister für die andern Länder und Herr Öser schließlich fürs ganze Reich alle Kundgebungen überhaupt an diesem Tag, mit dem einzigen Unterschied, daß in Bayern das Verbot auf die Arbeiterparteien beschränkt wird. Man beruft sich überall auf die Vorgänge in Breslau und den inzwischen vorgefallenen Krach in Frankfurt, wo nach einer gemeinsamen Demonstration von Sozialdemokraten und Kommunisten, als schon alles vorbei war, ein Staatsanwalt Haas, der sich sehr unbeliebt gemacht hatte und die Demonstranten offenbar bei der Demonstration schwer provoziert hat, totgeschlagen wurde. Im ganzen Lande, wo sonst die guten Bürger und ihre dienenden Brüder von der Sozialdemokratie täglich zum Frühstück über etliche Proletarierleichen, die das Ergebnis nationalistischer Muskelschwellungen sind, hinweglesen, ist ein Sturm des Entsetzens und der Entrüstung ausgebrochen, und der „Vorwärts“ im Bunde mit den Organen der Nationalisten kann sich vor Schmerz nicht fassen, daß ein Staatsanwalt erleiden mußte, was tausende von Proletariern unbeweint von der Berliner „Arbeiterzeitung“ erlitten haben. Ob nun morgen etwas Entscheidendes passieren wird oder ob wieder mal eine Hinauszögerung des unvermeidlichen Kladderadatsches gelingen kann – denn ich glaube schwerlich, daß ein Polizeiverbot (außerhalb Münchens) die hungernden Massen wirklich dauernd von Protesten zurückhalten wird – ist sowenig vorauszuerkennen wie der Erfolg, der meines Erachtens bei denen sein wird, die den revolutionären Angriff wagen. Darin aber unterscheidet sich die Situation von der von 1918, daß damals Militär und Arbeiterschaft eo ipso gegen Regierung und Kriegsleitung standen, wohingegen diesmal von zwei Seiten am Ordnungsstrang gerissen wird, auf der einen unter der roten Fahne auf der andern unter der Hakenkreuzflagge Schwarz-weiß-rot. (Eine Niederschönenfelder Kleinigkeit als Anmerkung: eben liegen 2 Fahnenstangen vor der Anstalt, von Strafgefangenen für das Gebäude der freistaatlichen Anstalt frisch gestrichen, die eine weiß-blau, die andre schwarzweißrot). – Was aus uns in der nächsten Zeit wird, hängt natürlich in äußerstem Maße mit der Entwicklung der politischen Dinge überhaupt zusammen. Über die Gerüchte, die von einer Amnestie zur Feier des Weimarer Verfassungstages am 11. August faseln, – in Verbindung mit der Freilassung der von Frankreich Verurteilten, lache ich: eher noch halte ich unsre Befreiung vorher – eben durch Revolution – für möglich, doch hüte ich mich, bestimmte Erwartungen an die nächsten Tage zu hängen. Es kann alles ganz anders kommen. – Jedenfalls ist das Geschrei auf beiden Seiten sehr groß, und die Bürgerpresse beschwört Ruhe, Ordnung und Polizei und weiß vor Angst nicht mehr ein und aus. Aus den 6 Monaten Gefängnis für die Prinzessin Hohenlohe wird ein schreckliches Brutalitätsdelikt der Republik gemacht. Die Reichsregierung zankt sich mit der sächsischen herum, wer Schuld hat an Ehrhards Flucht. Die Teuerung rast in ungeheuren Sprüngen aufwärts (vom 1. August ab kostet ein Brief zum Frankieren 1000 Mark, zum 1. September ist die weitere Verdopplung schon beschlossen), Wut, Verzweiflung, allgemeiner gegenseitiger Haß, daneben gradezu unglaubliche Gewinne der Stinnes- und sonstigen Konsortien, Protzerei und Luxus – das ganze Bild, das vor Revolutionen Leben zu gewinnen pflegt, ist fertig. Und die Pinsel, die es zusammengeschmiert haben, bemerken garnicht den Pygmalion-Charakter ihres Werks. – Bei uns hier drinnen werden die Gemüter vorläufig noch von den Hausereignissen bewegt. Heut früh ging der junge Genosse Alois Wagner, ein lustiger, herzensguter, einfach konstruierter Bergarbeiter, zum zweiten Mal auf Bewährung. Wir übrigen 20 Mann sind nun samt und sonders auf dem einen Mittelgang untergebracht, und der zweite Seitengang, der uns bisher noch offen stand, ist seit heute früh auch geschlossen, sodaß der Haftraum wieder ganz empfindlich verkleinert ist. Auf dem andern Seitengang sind bereits Strafgefangene einquartiert, und es besteht die Befürchtung, man möchte uns, wie es vor einem Jahr im I. Stock tatsächlich gemacht wurde, auch noch den breiteren Vorraum zwischen den Gängen vor dem Scherengitter absperren, sodaß wir gezwungen würden, unser Trinkwasser vom Abtritt zu holen. Ich glaube vorläufig nicht dran, werde mich aber gegebenenfalls mit allen Beschwerdemitteln dagegen wehren. Die neue Einengung ist an und für sich peinlich genug. – Aber wer kann denn wissen, wielange diese Probleme überhaupt noch Wert für uns haben? Heute hat Zenzl Geburtstag. Da will ich meine Hoffnungen doch lieber auf frohere Gedanken lenken.
Niederschönenfeld, Dienstag d. 31. Juli 1923
Vormittag, da ich zur üblichen Zeit heute schwerlich zum Einschreiben kommen werde, die Angelegenheiten dieser Tage aber gern einigermaßen übersichtlich notiert haben möchte. Gestern kam Zenzl. Vormittag wurde mir mitgeteilt, sie habe antelefoniert und werde erst gegen ½ 3 da sein können. Ich wußte aber überhaupt noch nicht, daß sie schon unterwegs sei. Erst mittags kam eine Karte aus Charlottenburg mit der Ankündigung. Sie war auf der Rückreise nach München und hatte den Abstecher hierher für die knapp ¾ Stunden, nach denen sie, um in Rain den Zug zu erreichen, schon wieder fortmußte, unternommen. Die Seeluft hat ihr ausgezeichnet getan. Sie sah gesund und jung aus und war guten Mutes. Die Aufsicht (Krebs) war anständig. Bei der Kürze des Zusammenseins war leider eine richtige Orientierung garnicht möglich. Als sie weg war, merkte ich erst, daß ich sogar vergessen hatte, sie zu fragen, ob der Tag vorher in Berlin ruhig verlaufen sei. Das, was mich sonst stündlich beschäftigt, verkroch sich unter dem Persönlichen, das wir uns zu sagen hatten. Da brachte sie nun einige erfreuliche Botschaften. Zunächst: meine Denkschrift an das Reichsjustizministerium vom Dezember 1921 erscheint in 14 Tagen, eingeleitet von demselben Werner (Frölich) der in der Broschüre über die Räterepublik so geringschätzig wie möglich über mich geurteilt hat. Der Genosse hat mir schon mehrmals sein Bedauern und seine Reue deswegen ausdrücken lassen. Ich werde nun also, obwohl das Dokument nach der Beschlagnahme doch noch legal herausgekommen ist, für einen Umzug in Einzelhaft Vorsorge treffen. Es ist nicht nötig, daß alle Tagebuchhefte im bayerischen Parlament vorgelesen werden. Die Austauschangelegenheit nach Rußland sei in gutem Gange und werde von der Liga für Menschenrechte in Verbindung mit der russischen Regierung gefördert. Zenzl hält die Sache für aussichtsvoll, – falls überhaupt noch derartiges in Frage kommen sollte. Denn draußen glaube kein Mensch, daß wir auch dieses Jahr hindurch noch eingesperrt bleiben, wenn auch eine Amnestie nicht erwartet werde. Mir wäre das Herauskommen auf anderm Wege als dem einer Amnestie – es sei denn, es handle sich wieder um eine Angstamnestie à la Oktober-November 1918 – auch bedeutend sympathischer. – Inzwischen habe ich einen neuen Vorstoß gemacht zur Erschütterung der Rechtsgrundlagen, auf die unsre Einsperrung gestützt wird. Ich habe eine Äußerung Radbruchs bei Gelegenheit der Fechenbach-Interpellation benutzt, um die Zuständigkeit der Standgerichte für Fälle, die vor Verhängung des Standrechts am 25. April 19 abgeschlossen waren, neuerdings zu entkräften. Mein Urteil enthält die Begründung, daß – wie ich das auch in der jetzt als Broschüre erscheinenden Denkschrift bemerkt habe – der Kriegszustand, der im übrigen Deutschland kraft Proklamation des Rats der Volksbeauftragten aufgehoben war, in Bayern aus den Versailler Bündnisverträgen nur durch eine eigne Verordnung aufzuheben war, die nicht erfolgt ist. Radbruch erklärte nun unter Bezug auf eine Äußerung des Ministerpräsidenten Hoffmann vom 21. Juli 1919 im Landtagsausschuß für Auswärtige Angelegenheiten, wonach die Versailler Verträge mit der Revolution automatisch außer Kraft gesetzt seien, die Rechtsungiltigkeit der Volksgerichte für erwiesen. Den Widerspruch der Hoffmannschen Erklärung im Auswärtigen Ausschuß mit den Unterstellungen der Standgerichte, die im Auftrag eben der Regierung Hoffmann judizierten, habe ich zusammen mit Sauber, Olschewski und Egensperger, den drei übrigen Betroffenen der ersten Räterepublik, in einer Eingabe an den Reichsjustizminister festgestellt, etliche Bemerkungen über die Haftmethoden und gegen Sozialdemokratie und Bauernbund mit eingeflochten, eine Abschrift zugleich an den Rechtsausschuß des Reichstags geleitet und noch einen Privatbrief an Johannes Hoffmann gerichtet, in dem ich ihn aufgefordert habe, klarzustellen, ob nun die Berufung auf die Versailler Verträge in seinem Namen statthaft war oder nicht. Die Eingabe selbst, die ich verfaßt und Olschewski und Zäuner auf mein Diktat ins Reine geschrieben haben, schließt mit der Aufforderung an den Reichsjustizminister, die bevorstehende Reich-Strafprozeß-Reform, die die Aufhebung der bayerischen Volksgerichte bringen soll, mit der Vorschrift zu versehn, daß alle von bayerischen Volks- und Standgerichten Abgeurteilten berechtigt sein sollen, eine neue Verhandlung vor einem ordentlichen Gericht (in unserm Fall vor dem Reichsgericht) in ihrer Gegenwart zu verlangen. – Das Ergebnis der Eingabe wird natürlich nicht unmittelbar positiv sein. Es genügt aber, daß die Sozialdemokraten im Reich sich wieder mal den Kopf kratzen und den Wunsch lebhaft empfinden werden, die Sache aus der Welt zu bringen, die sie scheußlich kompromittiert. – Alle diese Dinge sind aber nur dann überhaupt problematisch, wenn die mehr als brenzliche Situation wieder abflauen sollte. Schon hat das Zentrum in seinem offiziellen Parteiblatt „Germania“ eine Kriegserklärung gegen das Kabinett Cuno losgelassen. Es herrsche 9. November-Stimmung. Die Regierung hätte überall völlig versagt – kurz und gut ist es, wie die schöne Zeitungsphrase in jeder Spalte zehnmal heißt: „5 Minuten vor 12“. Die Sozialdemokratischen Funktionäre haben straffste Opposition angekündigt, und die Herren Ebert und Cuno erlassen eine Proklamation, worin sie allerlei vage Versprechungen machen, daß man es jetzt plötzlich besser machen will. Der Dollar hat die Million erreicht. Hunger, Elend, Wut, Aufruhr in den Parteien und Gewerkschaften – dabei größte Versorgungsschwierigkeiten in den Städten – das ist die Signatur der Zeit. Zwar hat die KPD sich ihren Antifaszistentag tatsächlich von der Polizei einfach verbieten lassen, und es fragt sich, ob die Arbeiter nun auch gegen den Willen der „Führer“ zu demonstrieren gewagt haben. Aber man kann vielleicht den Deckel über dem siedenden Wasser noch künstlich eine Weile aufpressen. Um so sicherer wird der gesamte Apparat bald in die Luft fliegen. Ich bin sehr hoffnungsvoll.
Niederschönenfeld, Mittwoch, d. 1. August 1923.
Jetzt kann man das Ergebnis des kritischen 29. Juli übersehn. Es ist gleich Null. Die Kommunisten haben ihre Mannschaft zurückgepfiffen, mit der schönen Begründung, sie seien so stark, daß sie sich den Termin zum Handeln nicht von der andern Seite vorschreiben zu lassen brauchen. Aber sie selbst waren es, die den „Antifaszistentag“ angesetzt und mit furchtbarem Geschrei propagiert haben. Dabei konnten schon Zweifel kommen, ob es ihnen überhaupt um Faszistenbekämpfung zu tun war. Denn die Radeksche Schlagetermelodie wird jetzt von allen kommunistischen Partei-Orchestern geblasen. Erst vor wenigen Tagen gab es einen Aufruf der Zentrale, dessen nationalistischer Pferdefuß überall herumstampfte und der sogar den Antisemiten durch besondere Hervorhebung der jüdischen Kapitalisten neben den übrigen, durchsichtige Konzessionen machte. Der ganze Quark bedeutete ein Schalmeigeflöte zum Mittelstand hinüber, der jetzt plötzlich nicht mehr zwischen der besitzenden und besitzlosen Klasse zermantscht werden, sondern von den Marxisten in Reinkultur – wahrscheinlich für die nächstfällige „Entwicklungsphase“ – mit dringlichen revolutionären Aufgaben betraut werden soll. Die Sozialdemokraten benutzten diese Tiraden der Konkurrenz von links zu ödesten konterrevolutionären Hetzereien gegen alles was sie für ihre Bonzenprivilegien als gefährlich ansehn, liefen mit den Nie-wieder-Kriegern (ihrer heut vor 9 Jahren entzündeten patriotischen Hoffnungen auf gute Verzinsung der Kriegsanleihen), mit Pazifisten und Syndikalisten (die moralische Predigten an die Bürger im Sinne Berta v. Suttners für „Antimilitarismus“ halten) in Parallelversammlungen zu den kommunistischen Ersatz-Demonstrationen in geschlossenen Sälen, und abgesehn von Lebensmittelplünderungen, selbstverständlich mit Toten und Verwundeten bei den Demonstranten, verlief der Tag in schönster Ruhe und Ordnung. Der sozialdemokratische Polizeipräsident von Berlin Richter hatte ein übriges getan, indem er dem französischen Pazifisten, Professor Langevain, das Reden verbot, weshalb sich sogar seine eignen Parteigenossen (Rabold drohte mit Austritt aus der Partei) schwer alterierten. Die kommunistische Presse aber preist den Tag, an dem sich notabene die Völkischen völlig stille verhielten, als einen Sieg ihrer Partei: Man habe – heißt es in dem lächerlichen Kriegsberichterstatter-Stil, mit dem man seinem Schafcharakter Löweneigenschaften geben möchte – die „Front zurückgenommen“, aber nur soweit, wie es ohne Aufgabe aller strategischen Punkte nötig war – und kurzum: es war ein riesiger kommunistischer Erfolg. Die Sozi rechnen statt dessen zum Beweise, daß der Wahre Jakob nur bei ihnen ist, ihre Mitglieder und Kassenbestände zusammen, und so ergibt sich das Resultat: die Einen sind glücklich, wenn sie die Kassen voll haben, bei den andern wird das Maul möglichst voll genommen – und beiden gelingt es, das arme deutsche in Not und Enttäuschung verschrumpfte Volk mit solchen Mitteln darüber hinwegzutäuschen, daß sie alle die Hosen gestrichen voll haben. Schon redet man auch nicht mehr von Revolution oder Bürgerkrieg sondern davon, wer die Erbschaft der Regierung Cuno übernehmen solle, und die große Frage ist: große Koalition oder kleine Koalition (à la Wirth) oder Personenwechsel innerhalb des Cuno-Kabinetts (wiederum mit oder ohne Cuno) oder gar – und dies ist schon die verwegenste aller Erwartungen: Auflösung des Reichstags. – So werden wir hier drinnen – was keineswegs ein Resignieren von meiner Seite bedeutet, denn unmittelbar habe ich ohnehin nichts erwartet – uns vorerst wieder mit den Beobachtungen beschäftigen können, die wir hier drinnen machen. Seit heute früh schwindet unsre Zahl zum ersten Mal auf unter 20. Mairgünthers Zeit ist abgelaufen. Tatsächlich war sie’s ja schon vor einem vollen Jahr. Aber die Rache der Ordnungszelle war mit den 3 Jahren Festung, die ihm das Standgericht auferlegt hatte, nachträglich nicht zufrieden, und er mußte wegen „Anstiftung zum Diebstahl“, die in seinem als Polizeipräsident gegebenen Befehl gefunden wurde, bei der Räumung des Hauses vor den Weißgardisten Nahrungsmittel und alle verwendbare Kriegsmunition mitzunehmen, also in einer Handlung, die unter allen Umständen schon in der Verurteilung wegen „Hochverrats“ einbegriffen war und sogar bei der Standgerichtsverhandlung erörtert worden war, noch vor einem Münchner Volksgericht antreten, das ihn zu 1 Jahr Gefängnis verurteilte, die er zwischendurch in Amberg unter den widerlichsten Qualen der Strafvollstreckung verbüßen mußte. Der arme Teufel hat’s jetzt überstanden, aber er kommt als gebrochener kranker Mensch hinaus, als typischer Monomane bei erschreckend häufigem Wechsel des Gegenstands seiner Monomanie. Sein politischer Fanatismus von früher ist völlig verloren – war es übrigens schon, als er ins Gefängnis ging, worauf die bayerische Justiz keine Rücksicht nahm, sowenig sie ihm dann auch nur einen Tag seiner Festungsreststrafe nachließ. Aber bei seiner Veranlagung kann niemand wissen, ob sich sein Fanatismus, der zuletzt von Sexual-Libertinismus entflammt war, und vorher schon bei der Philosophie, Religion und Gott weiß was für Dingen einhängte, nicht eines Tages beim Anarchismus, Kommunismus oder auch auf der extrem entgegengesetzten Seite wiederfinden wird, wenn ich es auch für wahrscheinlicher halte, sein Weg wird etwa über die ernsten Bibelforscher oder die Antialkoholiker, Vegetarier, Esperantisten nach und nach zu ganz abseitigen fixen Ideen und schließlich wohl in eine Anstalt für Hoffnungslose führen. Schade um den gescheiten, sehr gut beanlagten und selbständig grübelnden Menschen. Wir vertrugen uns zum Schluß alle ganz gut mit ihm, und ich verliere mit ihm den letzten meiner adäquaten Schachspieler. – Jetzt bleiben noch 19 Mann zurück, und heute erhielt Hager den überraschenden Bescheid, daß die Bewährungsfrist, die ihm das Augsburger Gericht bei der Verurteilung zu einem Jahr Festung nach 6 Monaten bewilligte, bereits noch einem Monat vorher, am 15. August in Kraft treten soll. Es scheint also keine längere Pause in den Entlassungen zu kommen, und meine Ansicht verstärkt sich, daß vor der Einführung einer neuen Hausordnung, die bis 1. Juli 1924 kommen muß, die Reduzierung der Festungsgefangenen auf den beabsichtigten kleinen Prominenten-Zirkel und dessen Verlegung in eine andere Anstalt erfolgen soll. Sehr auffällig ist nun der Fall Schiff. Schiff hat in Mexiko eine Anstellung als Flugzeugführer fest. Er hat daraufhin seine Entlassung in so sichere Aussicht gestellt bekommen, daß ihn die Verwaltung selber veranlaßte, seine Bücher und alles überflüssige Gepäck heimzuschicken. Seine Entlassung sei nur noch davon abhängig, daß er Aus- und Einreisepapiere beschaffe und nachweise, daß für die Mexikoreise schon die Schiffskabinen belegt seien. Er rechnete bestimmt mit seiner Entlassung für heute. Gestern kam nun ein Telegramm seines Vaters, wonach sich der Beschaffung der Papiere unerwartete Schwierigkeiten in den Weg stellen. Offenbar will die Münchner Polizei die Auslandspässe nicht ausstellen. Das, obwohl es die Justizbehörde nur einen Wink kosten würde, um die Sache zu erledigen und obwohl ihm hier noch in den letzten Tagen – durch die Mitteilung, die Verwaltung würde ihm evtl. rechtzeitig die Fahrkarte nach Berlin noch vor dem 1. August, der eine Erhöhung der Fahrkosten um mehr als das Dreifache brachte, besorgen und durch die Antwort des Sekretärs auf die Frage nach den bis jetzt erwachsenen Haftkosten: bis 1. August so und soviel und für später komme ja für ihn doch nicht mehr in Frage. Der arme Kerl ist natürlich, nachdem er schon mit allen Nerven draußen war, ganz auseinander. Heut ist seine Frau zu Besuch bei ihm. Sie hoffte, ihn gleich mit herausnehmen zu können und erfährt nun, daß alle ihre Erwartungen wieder völlig ins Nebelhafte zurückgeschwommen sind. Eine Erklärung für den merkwürdigen Fall kann man sich bis jetzt schwer denken: möglich, daß die verworrene politische Lage die Behörden bedenklich gemacht hat, möglich, daß die Schuld einfach bei bürokratischen Umständlichkeiten liegt, – möglich schließlich auch, daß trotz allem doch noch eine günstige Entscheidung kommt. Ich will Schiff das Letzte sehr herzlich wünschen – und ich glaube es auch noch, da ich das Entgegenkommen von vornherein der Absicht zuschob, hier auszuräumen und niemanden länger zu halten als das bayerische Justizhoheits-Prestige zur Zeit noch erfordert. Uns Wauwau-Räterepublikaner aber wird man auch nicht solange halten, wie man möchte. Denn Bayerns Prestige wird eines Tages erstaunlich bescheiden in seinen Ansprüchen werden.
Niederschönenfeld, Freitag, d. 3. August 1923.
Die „Krise“ ist – vorerst bis zum 8ten August abgesagt. Da die Kommunisten die Revolution abbestellt hatten – wegen zu großer Stärke –, läßt sich’s auch noch eine Woche mit Cuno aushalten, und bis dahin hat man vielleicht schon vergessen, daß man kurz zuvor so aufgeregt spektakelte, mirakelte als ob’s ein Wunder wär. Nachdem die Herren Ebert, Cuno, Becker, Hermes in ihrer Proklamation selbst für komplette Ignoranten sinnfällig klargemacht haben, daß sie nicht beabsichtigen, die Reichsfinanzen auf Kosten des Besitzes aufzupulvern und sich mit der Lüge begnügten, die „Wertbeständigkeit“ der Löhne und Gehälter, die selbst wenn sie da wäre, noch ein Schwindel wäre, sei „gesichert“, im übrigen aber jenes Vertrauen für sich begehrten, das man stets dann für notwendig hält, wenn die eigne Entbehrlichkeit durch das Fehlen des Vertrauens festgestellt ist, – nachdem also die annoch waltende Regierung alle Beweise ihrer Unfähigkeit mit dem Versprechen, sie fortzusetzen, als Werbungsmittel für vermehrtes Vertrauen proklamiert hat, hat sich die Sozialdemokratische – wenn auch Vereinigte – Partei nunmehr mit eignen Forderungen zur Hebung der Valuta und zur Sanierung der Finanzen vor Cuno und Volk gewagt. Es lohnt sich nicht, ein Wort zu dem Programm dieser „Revolutionäre“ zu sagen. Ein paar winzige Palliative sollen die Kümmerlichkeit ihres Entschlußvermögens bemänteln, und selbst die frömmste Parteipresse rechnet heraus, daß mit diesen Mittelchen das Reichsdefizit kaum spürbar abnehmen würde. – Aber was will man denn auch? Die Mark, die im Laufe von 10 Tagen die Rekordtour von 150.000 bis über 1 Million gemacht hat, ist seit 3 Tagen „stabilisiert“: hat sich nämlich auf 1.100.000 zum Dollar gehalten und scheint sogar jetzt um 50.000 Mark gebessert zu sein. Na ja, wenn sich nun erst alle Preise wieder verzwanzigfacht und dementsprechend alle Löhne und Gehälter verdreifacht haben – welche Lohn- und Gehaltssteigerung dann die Bourgeoispresse als Grund für die Preissteigerung ausgibt, dann ist auch die nächste Multiplikationsorgie des Dollars wieder fällig, mag nun Hermann Müllers Traum von der „Großen Koalition“ Wirklichkeit werden, oder mag die Opposition der Leviten und Sachsen Oberhand behalten und statt Radbruch Bell Justizminister werden. An all diesen Fragen hängt garnichts. Der Krach kommt – von rechts oder links, von unten (Proletariat) oder von oben (Bayern). Daß die die bayerische „republikanische“ Regierung regierende Clique nicht mehr lange zuzusehn gedenkt, zeigt sich täglich an vielerlei Symptomen. Da ist die Verurteilung Putkamers wegen „Aufreizung zum Mord“, die darin gefunden wird, daß P. aus dem – inzwischen selbst ermordeten Bauer – dessen Absicht, Scheidemann „umzulegen“ heraushorchte und natürlich, um alles zu erfahren, so tat, als billige er den Plan, inzwischen aber Scheidemann, die Reichsregierung und einen Münchner republikanischen Rechtsanwalt verständigte. Die offiziösen Meldungen gleich nach seiner Verhaftung hatten schon verraten, wofür man ihn eigentlich bestrafen wollte, nämlich dafür, daß er völkische Geheimbünde bespitzelte. Das Münchner „Volksgericht“, das zu entscheiden hatte, tat seine Pflicht als völkisches Exekutivorgan und verhängte 8 Monate Gefängnis. Außerdem soll Putkammer auch noch nach § 175 herangeholt werden, und schon hat man noch ein weiteres Delikt von gleich ernsthaftem Kaliber gegen ihn entdeckt. Diese Verurteilung gleich nach dem Fuchs-Prozeß mit der auffälligen Rücksicht auf die Spitzel unter den Franzosensöldnern, die, wie ein Blinder mit dem Stecken tasten konnte, an den ihren wirklich Dreck in Fülle hatten, ist eine neue Blüte am Baume der Ordnungszellen-Justiz. Diese Anstrengungen in Bayern zielen aber alle auf denselben Punkt: Kompromittierung jeder Person, jeder Richtung, die mit den 1918 entstandenen Verhältnissen sympathisiert, Kompromittierung der Weimarer Verfassung und des Reichs. Hierher gehört der neue Affront der Bayerischen Volkspartei gegen den toten Eisner, zu dem diesmal die als nobel, gemäßigt und modern verschrieene „Augsburger Postzeitung“ benutzt wurde. Da wird Eisner und über ihn hinaus allen Republikanern vom „Novemberverbrechen“ – komischerweise inclusive Auer – vorgeworfen, er (Eisner) habe die Revolution mit französischem Gelde, wobei sogar die Summe – 700 Millionen Goldmark – genannt wird, „gemacht“. Zwar saß der Verbrecher zur Zeit, wo er das „gemacht“ haben soll – nämlich vom 1. Februar bis Mitte Oktober 1918 im Gefängnis und zwar weiß jeder, der damals beteiligt war, daß sich die Revolution, grade in Bayern, wahrhaftig ohne jeden Pfennig Beeinflussungsgeld vollzog, und daß Eisner wohl ehrgeizig und in mancher Hinsicht entsetzlich verrannt war – grade was seine Vertrauensseligkeit zu allem was Entente war betraf, daß er aber – ich spreche hier von einem persönlichen und sachlichen Feind, der mir viel Grund gegeben hat, ihm garnicht gewogen zu sein, – ganz gewiß nicht habgierig war und obendrein viel zu skrupelhaft und obendrein zu ungeschickt, um für Zwecke seiner revolutionären Pläne Korruptionsgelder zu nehmen und zu gebrauchen. All dies weiß natürlich auch jeder bayerische reaktionäre Schmock. Tut nichts: wo dieses wirklich für Meinungsmache und Meinungsvergiftung bezahlte und bestochene Geschmeiß sich bei den Geldgebern für ihre Verdorbenheit beliebt machen kann, wird ins Grab eines Toten mit derselben Nonchalance geschissen, mit der man sich morgen bereit findet, für Bezahlung jeden beliebigen Lebenden in Kot ersticken zu lassen. Es ist wahr: die Erfindung des Schießpulvers hat viel, viel Verderben und Elend über die Welt gebracht, aber sie wäre ein Segen für die Menschheit geworden, wenn nicht die Erfindung der Buchdruckerkunst und damit der Fluch der Presse aus diesem wie aus jedem Mittel, die Natur dem menschlichen Geist zu unterwerfen, das infame Instrument gemacht hätte, den menschlichen Geist der Habgier der Gewissenlosen unterzuordnen, bis zu dem Maße, daß Mord, Verrat und jegliche Schändlichkeit unter der Rotationsmaschine geheiligt, Anstand, Treue und jegliche Menschlichkeit unter ihr zu einem stinkenden Fladen entstellt worden ist. – Jetzt ist wieder die Saite in mir berührt, die mein ganzes Wesen mit Wut und Empörung durchzittert, und ich bin, aufgeregt allein durch den Gedanken an die Zeitungsverbrecher, nicht mehr imstande, über die übrigen Schweinereien in Bayern Betrachtungen auszulassen: denn die Presse ist die Mutter aller Gemeinheit, und man soll die Pfennigwucherer nicht schelten, ehe man die Millionenschieber nicht gestraft hat. – Daher für heute nur noch die persönliche Notierung, daß mir gestern wieder die ärgerliche Eröffnung zuteil wurde, daß ein Brief von mir an Zenzl wegen „agitatorischen Inhalts“ zu den Akten genommen wurde. Ich hatte nämlich Zenzl gebeten, Lederer, der ein Heft seines „Revolutionär“ für „unterirdische Literatur“ während des Krieges füllen möchte, gewisse Aufrufe und Kundgebungen von mir aus den Jahren 1916 – 18 zu senden. Die bayerische Republik wird nun gottlob vor dem Genuß dieser ehedem giftigen Stoffe bewahrt bleiben. Ich sehe aber wieder, daß ich auch im fünften Jahre bayerischer Ehrenhaftspraxis das Balanzieren auf dem dünnen Brett erlaubter Verständigung mit der angetrauten Frau noch nicht gelernt habe.
Niederschönenfeld, Sonnabend, d. 4. August 1923.
Die Herren Baldwin und Curzon haben, nachdem sie auf ihre Anfragen an die Verbündeten Antworten erhalten haben, und nachdem bislang die ganze Affaire nach dem alten Rezept der Geheimdiplomatie dem Entenflug schmöckischer Phantasien preisgegeben war, in den britischen Ober- und Unterhäusern vorerst erzählt, was sie vorgeschlagen hatten und angedeutet, was aus Belgien und Frankreich darauf für Bescheid gekommen ist. Daß dieser Bescheid ablehnend lautete und die Engländer voraussichtlich zu einer Separatantwort auf die deutsche Juni-Note bewegen wird, deucht die Journaille bei uns schon wieder der Anfang vom Ende der Entente. In Wirklichkeit ist immer noch nur eine taktisch-technische, keineswegs eine prinzipielle Meinungsverschiedenheit zu sehn. Baldwin hat auch die eventuelle Sonderaktion gleich mit der Erklärung angekündigt, daß weiterhin versucht wird, die Regierungen von Brüssel und Paris (die italienische ist an und für sich schon dabei) für gemeinsames Handeln zu gewinnen und daß auch ohne das die Gemeinsamkeit der Interessen unbeschadet bleibt. Worauf hingegen unsre Presse garnicht eingeht, ist das von England positiv Verlangte. Das ist zunächst mit hinlänglicher Deutlichkeit die Aufgabe des passiven Widerstands durch Proklamation der Selbstentscheidung der im Ruhrgebiet wohnenden Bevölkerung und die ausdrückliche Verurteilung aller Sabotageakte. Dann aber: als Vorbedingung jedes Entgegenkommens in der Reparationsfrage die Stabilisierung der deutschen Währung, die Ausbalanzierung des Finanzetats, gesichert durch internationale Finanzkontrolle. Solche Peinlichkeiten bringt man bei uns zwar im Text der Rede, ignoriert sie aber in den Kommentaren, im – berechtigten – Vertrauen darauf, daß der deutsche Zeitungsleser durch die deutschen Zeitungsschreiber bereits derart verblödet ist, daß er nichts merkt. Der Fall liegt also nicht so, als ob England Deutschlands Verbündeter gegen Frankreich wäre, sondern so, daß England ganz präzise Forderungen gegen Deutschland schon als Minimalprogramm fertig hat – und zwar Forderungen, die die Presse früher als gänzlich unmöglich, als vernichtend und auflösend bezeichnen mußte, wenn sie laut wurden, und daß dieses Minimalprogramm von Frankreich und Belgien abgelehnt wird, also nicht in dieser Form, sondern eines Tages durch Kompromiß in einer den westlichen Maximalisten mehr entsprechenden Form Wirklichkeit wird. Wann und wie das sein wird, hängt wohl zumeist von der Entwicklung der Verhältnisse im Inneren Deutschlands ab. Augenblicklich sieht es noch ganz so aus, als wolle diese Entwicklung in kürzester Zeit den Charakter revolutionärer Kämpfe annehmen. Die Hungerrevolten, die solche Kämpfe einzuleiten pflegen, häufen sich mächtig, und grade im Ruhrgebiet (Oberhausen) demonstriert Herr Severing, der große Konterreaktionär, die allgemeine Einigkeit des Vaterlands im Abwehrwillen gegen die Eindringlinge, durch das Totschlagen deutscher Proletarier bei Hungerdemonstrationen den Eindringlingen ad oculos. – In München sogar hat es eine Demonstration gegeben vor dem Knillingschen Außenministerium, und zwar – die Männer in Bayern linsen durchs Küchenfenster, was draußen vorgehn mag – eine Frauendemonstration. Im Bericht der Correspondenz Hoffmann wird schon angedeutet, daß man bei Wiederholungen auch in Frauen und Kinder hineinknallen wird. – Wegen der Presse-Lumpereien gegen Eisner rührt sich in der Münchner Post unser lieber Auer-Vater, und – Wunder über Wunder – er spricht die lautere Wahrheit. Er verteidigt sich vor den Bourgeois, – und da muß ihm die Wahrheit wahrlich zur Rechtfertigung dienen. Er bestätigt, daß er den Januarstreik 1918 abgewürgt hat, daß er als Eisners Innenminister dauernd gegen den Chef und dessen immerhin-revolutionäre Politik gebohrt, sabotiert und intrigiert hat und daß er es war, der der „Demokratie“ gegen den Willen des ganzen Proletariats die Möglichkeit wieder geschaffen hat, der Konterrevolution alle Wege freizumachen. Ließen sich die bayerischen Kommunisten einmal von gesunden Eingebungen leiten, statt immer und überall auf eine Auer genehme „Taktik“ zu schauen, dann verbreiteten sie Auers Artikel, selbst ohne kommentierenden Text – Hervorhebungen im Druck würden völlig genügen – durch Flugzettel in allen Betrieben. Damit könnten sie den Kerl wirklich unmöglich machen. Sie sind ja jetzt grade so kolossal stolz auf ihren „Sieg“ über die Auerochsen bei der Wahl zur Beschickung des Casseler Metall-Arbeiterkongresses, bei der in München die Kommunisten die doppelte Stimmenzahl gegen die Sozialdemokratie mustern konnten. Tatsächlich ist das Zahlenverhältnis so, daß von 60.000 Wahlberechtigten überhaupt nur 6000 mitgewählt haben, was nicht, wie besonders die Sozi schreien, die „Indifferenz“ der 54 000 Passiven beweist, sondern die Tatsache, daß die Mehrzahl allerdings durchschaut hat, daß ihre Interessen bei den Mehrheits-Gewerkschaftern verdammt schlecht aufgehoben sind, aber nur ein kleiner Teil – aber von den 6000 Stimmenden immerhin fast 4000 – meint, daß die Kommunisten es viel besser machen werden. Schätzbar ist jedenfalls als Symptom die Feststellung, daß wichtige Proletariatsgruppen den Betrug der Sozialdemokraten durchschaut haben. – Die spärlichen Zeitungen von heute bringen nicht viel Neues, es sei denn, daß der Tod des amerikanischen Präsidenten Harding – der arme Mann hatte sich bei einem Festessen zum Wohle des Volks an Krabben übernommen – durch die Zufallsmöglichkeit, daß sein Nachfolger Persönlichkeitsformat hat (ich weiß bis jetzt nicht mal den Namen des Vize) in den europäischen Nachkriegsangelegenheiten neue Komplikationen schafft, die dem Revolutionär Freude machen könnten. – Jetzt ist’s Hofzeit. Ich muß die Fortsetzung hinausschieben.
Eine Stunde habe ich jetzt im Hof „Dienst“ getan, d. h. beim Deutschballspiel die Rolle des Unparteiischen gespielt. Bei der Abnahme unsrer Präsenzziffer wird es immer schwerer, die Gesellschaftsspiele im Freien, zu denen laufstarke Lungen und Beine und gesunde Organe gehören, mit genügenden Mitspielern aufzufüllen, und so müssen wir Alten zum Aushilfsdienst heran. Wenn jetzt auch Hager noch gegangen sein wird, wird das Auffüllen sehr schwer werden, und das beliebteste Ballspiel muß wohl ganz eingestellt werden. Nun besitzen wir in Gemeinschaft ein schönes Kegelspiel, das seinerzeit auf der Plassenburg von Enzinger fabriziert, dort reichlich benutzt und hier von der Verwaltung in Verwahrung gehalten wurde. Gespielt wurde hier damit nur von den Braven des I. Stocks vor 2½ Jahren, als Vollmann ihnen den kleinen Hof mit Bänken schmückte, damit sie dort auch für die wenigen Stunden, die wir überhaupt im Hof sein durften, ihre Tugend im Freien auslüften konnten, und sie schoben auf den glatten Steinen unter der Hausmauer Kegel. Seitdem ruhte das Kegelspiel völlig in Ermanglung einer Kegelbahn. Nun überlegten wir, wie wir im Hof eine Bahn anlegen könnten und Enzinger als Fachmann schrieb vor und teilte seinen Plan mit, mit einem Brett und ein paar Latten und bei gänzlichem Verzicht auf Hilfskräfte außer den Festungsgefangenen in der Hofvertiefung eine Bahn anzulegen. Zunächst bekam er den Bescheid, der Benutzung des Kegelspiels stehe nichts im Wege und es handle sich bei der Bewilligung der Bahnanlage nur um die (übrigens ganz minimalen) Kosten. Enzinger reichte darauf eine Zeichnung mit Vermerkung aller Einzelheiten ein. Heute früh wurde ihm nun – durch Fetsch – eröffnet. Erstens: das Kegelschieben wird aus Sicherheitsgründen überhaupt nicht gestattet, also auch die Anlage der Bahn verboten. Zweitens: das Kegelspiel – das also seit fast 3 Jahren bei der Verwaltung im Quartier liegt, ist von Enzinger fortzuschicken, widrigenfalls es vernichtet wird. Dazu hat Herr Fetsch noch auf die verwunderten Fragen Enzingers den Kommentar gegeben, es sei zu besorgen, wir könnten uns mit den Kegeln auf dem Hof gegenseitig zu Leibe gehn oder auch mal das Personal attackieren. Derlei Insinuationen werden, nachdem in den 3½ Jahren, seit diese Schmachburg zur Korrektion politischer Überzeugungen dient, niemals ein ähnlicher Fall unterlaufen ist, ohne weiteres herausgelassen, und muckt man auf, dann erfahren wir aus Justizministerreden oder -Publikationen, daß solche Sachen hier „an der Tagesordnung“ sind, – oder wir erfahren das auch nicht, da man ja neuerdings Sorge trägt, daß wenn die Lügen über uns, die Kommunisten und Sozialdemokraten überzeugen, daß es in unserm eignen Interesse besser ist, von Niederschönenfeld ganz zu schweigen, überhaupt nicht zu sehn kriegen und also nicht korrigieren können. Haarsträubend ist die Forderung, das Spiel, das allen zusammen gehört, solle plötzlich auf Kosten irgendeines oder der Festungsgefangenen weggeschickt werden, – bei den unsinnigen Frachtkosten – und wohin? Und dann die Drohung, wird diese Bedingung nicht erfüllt, so vernichtet man einfach unser Eigentum! Es hat keinen Zweck, die Gedanken, die sich da einstellen, auszuführen. Man hat mir angewöhnt, mich „aus Sicherheitsgründen“ mehr oder weniger hier auf tatsächliche Feststellungen zu beschränken. Aber die Feststellung dieses ganzen Vorgangs soll doch nicht fehlen, wenn es mal ans Auspacken geht. Das kann ja doch eventuell bald sein. Die Russen sollen mit großem Nachdruck tätig sein, um die politischen Gefangenen – speziell in Bayern – frei zu handeln (ich denke mir, daß sie mit dem Boykott der bayerischen Industrie bei der Vergebung der Aufträge drohen). Sauber (der sich zu meinem Erstaunen gestern im Hof mir und Schiff anschloß, tempora mutantur, und die Wuchtigkeit merkt langsam auch, wie blöd sie war. Ich für meine Person bin zufrieden, wenn ich wenigstens äußerlich mit allen in Frieden und guter Nachbarschaft lebe: Ich vergesse deshalb nicht das Geringste), – Sauber also erzählte, daß seine Frau, die gestern hier war, sehr optimistisch in dieser Hinsicht sei. Man scheint also außer der Spezialaktion für mich die Sache der bayerischen Räterepublikaner überhaupt sehr ernsthaft in die russisch-deutsche Politik einzufügen, wofür auch die kürzlich eingetroffene Nachricht spricht, die Arbeiterschaft in Wjatka, wo auch „mein“ Reiterregiment garnisoniert, habe die Patenschaft über Niederschönenfeld übernommen (NB: das Dankschreiben dafür von uns ging natürlich zu den Akten). Was nun das Interesse an mir besonders anlangt, so hängt vielleicht damit zusammen eine als „Deklaration der russischen Anarchisten“ bezeichnete Kundgebung, die die Internationale Presse-Korrespondenz veröffentlicht. Darin werden ganz ähnliche Gedanken entwickelt, wie ich sie vor fast 4 Jahren zur Begründung meines Übertritts zur KPD heranzog und wie ich sie, auch als die Voraussetzungen für diesen Schritt sich schon nach 5 Wochen als hinfällig erwiesen hatten, vor über 3 Jahren in der von Pfempfert erdrosselten Broschüre ausführte. Es wird mit Entschiedenheit die proletarische Diktatur bejaht, was – sofern die russischen Genossen dasselbe darunter verstehn wie ich, meine größte Billigung hat, und es wird, wenn auch nicht der Beitritt zur „Komintern“, so doch die „aktive Unterstützung“ durch die Anarchisten, jedenfalls aber Unterlassung jeder die Bolschewiken schädigende und daher der Konterrevolution nutzbringenden Agitation gefordert. Der Aufruf stammt offensichtlich aus jüngster Zeit, und ich nehme, falls die Namen der Unterzeichner wirklich eine Kollektiv-Legitimation der oder doch der ernst zu nehmenden Anarchisten besitzen, als wahrscheinlich an, daß ein Abkommen zwischen der KPR, bzw. der russischen Regierung und den Anarchisten getroffen wurde, das gegenseitige Toleranz und nach Möglichkeit Bündnisvertrag bedeutet. Ich wäre glücklich, wenn das zuträfe und die furchtbare Last, daß in Rußland gute Revolutionäre in Gefängnissen leiden und selbst für ihre Überzeugung sterben müssen, von unserm Gefühl weggenommen würde. Dann wäre wohl auch zu hoffen, daß man von der Verfolgung Machnos absieht und ich könnte die Aufmerksamkeiten, die mir von Rußland erwiesen werden, und die sich dann als prachtvolle Bekundung der Vertragstreue auch auf der Seite der Bolschewiken ausweisen würden, von ganzem Herzen glücklich annehmen. Es werden sich jawohl in der Roten Fahne entsprechende Kommentare noch einfinden, und dann muß sich zeigen, ob man endlich bereit ist, Antiparlamentarier Antiparlamentarier, Anarchisten Anarchisten sein zu lassen und die Bekämpfung des Faszismus international mit allen wirklichen Revolutionären zusammen zu betreiben oder ob die Tatsache, daß die Rote Fahne jetzt Radek und Reventlow schon gemeinsam zum Wort zuläßt und einen Nationalbolschewismus in Deutschland großzüchtet, an dem nur noch der Bolschewismus zweifelhaft ist, eine Abkehr vom Internationalismus, vom prinzipiellen Klassenkampf und von der Weltrevolution bedeutet. Ich würde inbrünstig gern ja sagen zu der Deklaration der russischen Genossen. Möge es keine Enttäuschung geben!
Niederschönenfeld, Sonntag, d. 5. August 1923
Festungsthema: Paul Frölichs Polemik gegen (?) Reventlow, aus der der uns vorenthaltene Artikel des völkischen Gegenspielers einigermaßen erkennbar wird. Erkennbar wird außerdem, daß die Kommunisten die Reventlöwen zu einem Bündnis gegen den Stinnes-Kapitalismus eingeladen haben, und daß man sich drüben noch ziert, weil die nationale Zuverlässigkeit der Kommunisten anscheinend dort noch zweifelhaft ist. Frölich hat nun also von seiner vorgesetzten Behörde, der Parteizentrale, die Schulaufgabe gestellt bekommen, in einem Artikel einerseits die vaterländische Zuverlässigkeit der Kommunisten den Völkischen gegenüber außer Zweifel zu stellen, andrerseits den proletarischen Lesern der Roten Fahne die natürlichen Bedenken gegen eine solche Preisgabe aller Prinzipien zu zerstreuen. Er hat sich dieser Aufgabe nicht ohne Geschick entledigt, zitiert (sehr gewaltsam) Rosa Luxemburgs Junius-Broschüre und (durchaus für ihn verwendbar) Clara Zetkins letzte Reichstagsrede, bei der sie sich schon hinlänglich patriotisch ausdrückte, um von deutschnationaler Seite den von Frölich vermerkten Zwischenruf „Dann sind wir einig!“ zu rechtfertigen. Die Verelendung des Mittelstands rechnen die sonst so strammen Marxisten nicht mehr dem natürlichen Lauf der sozialen Klassenentwicklung zu, der den Mittelstand auflöst und dadurch eo ipso im Proletariat verschwinden läßt, sondern sie wird benutzt, um die Don Quixoterie des Nationalsozialismus nämlich den Wunsch der Erhaltung des Mittelstands als dem Proletariat von Natur feindliche Gesellschaftsschicht nachzuweisen und sie zu einem „Bündnis“ zu gewinnen. Dafür gibt man den Internationalismus überhaupt, den Klassenkampf, wenn auch gegen die Absicht, de facto ebenfalls auf. Man merkt nicht, daß man nicht die Reventlows und Ludendorffs für die Absichten der proletarischen Aktion einspannt, sondern sich selbst als Werkzeug gegen Proletariat und Sozialismus einspannen läßt. Denn die Völkischen sind, wenn sie auch alles andre als klug sind, doch keine solchen Trottel, als daß sie nicht die Arbeiter, die ihnen zum Sieg verhelfen werden, in der Meinung, dies sei der Sieg des Kommunismus, schleunigst unschädlich machen sollten, wenn sie ihre Arbeit getan haben. Das haben ja sogar die Herren Ebert, Noske, Severing, Hörsing etc nach dem Kapp-Putsch auch fertig gebracht. Daß hier drinnen die Sauber, Schlaffer, Olschewski etc., die jede Zentrale-Parole als Quelle höchster Weisheit schlürfen, mit derselben Wut gegen mich und gegen alle, die sich sonst noch Kritik gewahrt haben, vor dem Kommando: Ans Vaterland, ans teure, schließ dich an! stramm stehn, wie sie seinerzeit vor Thomas’ und Grafs Anbiederung an die Nationalisten und gleich danach vor der Zentrale-Entscheidung: Raus mit diesen Verrätern aus der revolutionären Partei! stramm gestanden haben, versteht sich von selbst. Sehr schlimm ist aber, daß sich, wie ich das z. B. an dem ehrlichen Sandtner sehe, auch gute proletarische Genossen von solchen[r] windigen und in der Konsequenz verräterischen „Taktik“ einwickeln lassen und die Betonung, daß die besiegte Klasse nur unter der Diktatur der siegenden Klasse niedergehalten werden kann, die Garantie sehn, daß man ja die „Diktatur des Proletariats“ zur Bedingung stellt, aber nicht sehn, daß dahinter ja schon ein Zwinkern zu Reventlow hinüber steckt, daß er und die Seinen als Exekutive dieser „proletarischen Diktatur“ selbstverständlich mitgemeint sind. – Dieses Weichenverstellen im Augenblick höchster politischer Spannung ist unendlich gefährlich. Grade jetzt steht die kaum erst „Vereinigte“ Sozialdemokratie vor ernstesten Konflikten in ihren eignen Reihen. 30 Reichstagsabgeordnete haben schon in Weimar eine Sonderkonferenz abgehalten und der Reichstagsfraktion wuchtig klingende Forderungen gestellt, unter denen die interessanteste grundsätzlich das Zusammenkämpfen mit den Kommunisten verlangt. Natürlich hat die Fraktion, eben im Begriff, sich für die „Große Koalition“ beliebt zu machen, alle Forderungen schon deswegen abgelehnt, weil sie sich von keiner Sonderkonferenz was vorschreiben lasse, und der „Vorwärts“ jammert schon was von Spaltung. Doch dürfte das keine Bedeutung haben. Wahrscheinlich ist das Ganze Theater für die bald beginnende Wahlpropaganda. Da kann man denn nach rechts rüber auf die bourgeoise Bravheit der Partei, nach links auf die den Proletariern entgegenkommende „Opposition“ verweisen. Liest man Crispien oder Levi, dann findet man plötzlich Töne wie in den Zeiten sozialdemokratischen Opponenten-Schneids, liest man Müller-Franken oder sonst einen Bonzenpater, dann weiß man wieder, daß sie dieselben geblieben sind wie im Kriege und seitdem, faute–de mieux-Raisonnierer, wenn man mal ohne sie gegen das Proletariat regiert, da sie doch gezeigt haben, daß man mit ihnen, oder am besten durch sie allein, noch besser gegen das Proletariat regieren kann. Die deutsche Arbeiterschaft ist ärmer dran als sie weiß.
Niederschönenfeld, Donnerstag, d. 9. August 1923.
Ein Dollar – 4 Millionen Mark, wenigstens im freien Handel. Offiziell notiert er „erst“ 3½ Millionen. Dieser wilde Sturz erklärt sich zunächst aus der Aufhebung des Verbots des freien Devisenhandels, in Wahrheit aber erklärt sich schon diese Aufhebung aus der absoluten Pleite der gesamten deutschen Wirtschaftspolitik. Die Zustände draußen sind grotesk. Die Läden schließen, weil sie das Geld für ihre Waren nicht mehr annehmen wollen, denn sie wissen nicht, was sie morgen dafür werden neu einkaufen können. Die Geldschnellpresse kann trotz der täglichen Herstellung von etlichen Billionen Mark Papierwische der Nachfrage nach Zahlungsmitteln nicht mehr nachkommen, sodaß die Arbeiter z. B. in München von den eignen Gewerkschaften in Plakaten aufgefordert werden, als Entlöhnung Schecks anzunehmen und sich ihr Geld selber von der Reichsbank zu holen. Nach 8stündiger Arbeit, die den Unternehmern sofort ihren Profit in die Taschen geleitet hat, müssen sie also, während ihre Frauen in langen Reihen vor den Lebensmittelgeschäften warten, um ein viertel Pfund Fett zu kriegen, vor der Bank drei, vier Stunden lang Queue stehn, um sich für das was sie kriegen, noch nicht mal ein paar Schuhsohlen erneuern lassen zu können. Die Angst um das dürftigste Bißchen Leben ist riesengroß, Streikbewegungen, kleine Tumulte und Plünderungen zucken allerorts auf. Die Situation ist überreif zur Revolution. Die Nationalsozialisten trumpfen auf, Herr Hitler erklärte auf das Gejammer: die Republik ist in Gefahr – jawohl, sie ist in Gefahr! Die Kommunisten aber wissen nichts besseres, als in diesem Augenblick den Völkischen ihre Brüderschaft anzutragen. In der Roten Fahne umarmen sich Radek und Reventlow, in Jena wird von den versammelten Völkischen neben Artur Dinter unser ehrenwerter Otto Thomas angehört und angejubelt, in Stuttgart gar spricht neben Max Weber, dem ehedem „kommunistischen“ Deserteur und Spitzel, der bisher als bester Revolutionär unter den KP-Parlamentariern beliebte Remmele, – so zwar, daß jeder Satz von ihm mit Heilrufen und Händeklatschen bejauchzt und er von Weber als „Genosse“ betitelt und bescheinigt wird, er habe gesprochen „wie einer der Unsrigen“. Meine Freunde hier drinnen bemühen sich, etwas betreten, den ungeheuerlichen Verrat – die Rote Fahne macht sogar schon regulär in Antisemitismus und hält den neuen Bundesbrüdern vor, wie verkehrt sie seinerzeit taten, als sie „die jüdische Hetzpresse“ gegen die Spartakisten unterstützten – als taktisches Manöver zu erklären. Man sehe den Zusammenstoß unmittelbar bevorstehend. Da wolle man Verwirrung in die Reihe der Völkischen tragen und sie von antiproletarischen Gewalttaten zurückhalten. Auf meinen Einwand, die Verwirrung werde doch eher in die proletarischen Reihen getragen werden, wird entgegnet, jedenfalls erhielten die kommunistischen Arbeiter durch ihre Funktionäre (Zehnerräte) neben den Presse-Parolen beruhigende Aufklärungen. Die Befürchtung, daß eine sogenannte revolutionäre Situation doch vor allem scharfe Abgrenzung der Kampflager verlange, gilt nicht. Taktik geht über Prinzip, Manöver über Kampf. Die Wirkung wird einfach die sein, daß die bevorstehenden Pogrome keine Abwehr durch die Kommunisten erfahren, sondern mit ihrer Beteiligung stattfinden werden. Das sind dieselben Leute, die jetzt – nicht etwa den temperamentvollen, verzweifelten Schlageters, deren Leidenschaft und Opfermut wahrhaftig Respekt verdient, für ihre Personen, sondern für ihre schandschlechte Sache freie Bahn schaffen und sich auch garnicht an diese jungen Menschen wendet sondern an die gefährlichsten Demagogen, Reventlow, Dinter und solchen Lumpen wie den Weber, – dieselben Leute, die zugleich die Phrasen von der proletarischen Einheitsfront papageienhaft plappern und – wieder nicht die sozialdemokratischen Arbeiter sondern ihre „Führer“, die Noskes, Scheidemann und Auers meinen. Machen sich die Arbeiter – die Kommunisten erst recht – nicht in dem Augenblick, wo die latente Revolution in ihr akutes Stadium hinüberspringt, nicht absolut von jeder Führerschaft frei, dann wehe ihnen! Ich fürchte sehr böse Folgen des furchtbaren Verrats, der jetzt ans Licht tritt. – Inzwischen gehn hier drinnen die üblichen Verwaltungsmaßnahmen gegen uns fort. Vorgestern wurde von mir und einigen andern plötzlich verlangt, wir sollten unsre alten Kartons heimschicken. Ich erklärte, das könne die Verwaltung auf ihre Kosten tun. Die Behauptung, es sei kein Platz, könne ich nicht anerkennen, da zur Zeit, als wir 90 F. G. waren, Platz genug da war und also für die Schachteln von 19 Mann erst recht Raum da sein müsse. Außerdem habe man 8 Tage vorher damit kommen können, ehe die Portokosten auf mehr als das Dreifache gestiegen waren. Erst kam zu mir ein Aufseher, dann der Oberwachtmeister Rainer, und dann ließ der Vorstand Karpf, der sich auf denselben Standpunkt stellte, kommen und redete ihm gut zu. (Ich hatte inzwischen schon Bücher, Tabak etc hergerichtet, um evtl. in Einzelhaft zu ziehn). Gestern vormittag hatte ich über die Sache eine Aussprache mit Herrn Fetsch und stellte ihm meinen Standpunkt vor. Der Ton war viel höflicher als der, in dem ich ursprünglich aufgefordert war. Es liege kein Befehl vor, aber der Vorstand habe sich das Lager angesehn und gefunden, es müsse ausgeräumt werden. Offenbar hatten also die Unterbeamten eine Bemerkung als Befehl aufgefaßt und jetzt mußten sie sich aus der Affäre ziehn. Ich erklärte, ich hätte die Verwaltung nicht gebeten, sich um die Unterbringung meines Packmaterials zu bemühen, und nur unter Zwang darauf verzichtet, die Kartons, Bindfaden etc. in meiner Zelle unterzubringen. Weiteres gehe mich also nichts an. Übrigens beweise der Einwand, daß der Platz, der bisher für Festungszwecke verwandt wurde, mehr und mehr für andre Dinge gebraucht werde, nur, daß schon räumlich der Charakter der Festung immer mehr den des Gefängnisses annehme. Nebenbei gab sich, als ich die Möglichkeit betonte, ich könne ja plötzlich das Zeug mal für meinen Umzug oder für die Freilassung brauchen, die Bemerkung des Herrn Fetsch: wer hätte vor 3 Monaten voraussehn können, wie die Zustände sich auswachsen würden, und ich erwiderte: ich bin überzeugt, daß in 3 Monaten überhaupt keine Festung mehr bestehe, worauf Fetsch versicherte: Da wäre niemand froher als er! – Nachher hatte Schiff, dessen Entlassung ihm als ganz sicher hingestellt worden war und der nun vor dem gänzlichen Zusammenbruch aller seiner Hoffnungen steht, eine Unterredung darüber mit Herrn Hoffmann, der ihm ironisch erzählte, ein Herr habe ja schon die Meinung geäußert, in drei Wochen existiere garkeine Festung mehr. Aus den 3 Monaten waren also innerhalb 3 Stunden schon 3 Wochen geworden. Aber Herr Hoffmann ließ noch mehr durchblicken: es könne so oder so gehn, – auch ganz anders als die Herren oben glauben. Was darunter zu verstehn ist, ist nicht zweifelhaft: Sieg Ludendorff-Hitlers, – Diktatur von rechts – und Schweyers Klage, daß man die Machtmittel entbehre, um die Novemberverbrecher zu belangen, wäre gegenstandslos. Was mich dabei erwartet, weiß ich. Dennoch habe ich keinen innigeren Wunsch als – Entscheidung: „so oder so“!
Niederschönenfeld, Freitag, d. 10. August 1923.
Heiß ist’s, daß man kaum mehr Luft bekommt. Das Wetter ist in diesem Jahr so kurios wie das öffentliche Leben. Erst ließ zuviel Regen alles verfaulen und auswachsen und jetzt läßt zuviel Sonne, das was noch gedieh, verbrennen. Wenn also schon im Himmel die größte Konfusion herrscht, was soll man von Europas Staaten erwarten? Die Franzosen spielen die Rolle des Gerichtsvollziehers in eigne Tasche immer ungenierter. Sie gehn jetzt daran, wie die Eisenbahnen auch die Gruben und Werke des Ruhrgebiets in eigne Regie zu überführen, um möglichst gleich die Kosten der Besetzung und den Zweck der Besetzung – Lieferungen zu kriegen, herauszuwirtschaften. Man kann gespannt sein, ob die „Aktiven“ nun von den Eisenbahnattentaten zu Grubensabot übergehn werden. Bis jetzt merkt man nicht, daß sie ihre Taktik geändert oder aufgegeben hätten. So haben sie in Düsseldorf in eine französische Militärparade Bomben geschmissen, natürlich mit der Wirkung, daß die Düsseldorfer Bevölkerung allerlei Repressalien zu fühlen bekommt, und daß die eben aufgehobene allgemeine Verkehrssperre zwischen besetztem und unbesetztem Gebiet wieder verhängt worden ist. Aber, unsre deutschen Parlaments- und Regierungspolitiker raffen sich jetzt zu Entschlüssen auf. Der Dollar notiert offiziell 4,8 Millionen und wird im Freiverkehr schon mit 6½ Millionen Mark gehandelt. Die erschrockenen Bemerkungen einiger Parteischmöcke hat[haben] nun dazu geführt, daß man sich im Reichstag wieder zusammengefunden hat, um das Volk zu retten. Da hat nun zuerst Herr Cuno eine wunderschöne programmatische Rede gehalten. Darin hat er vor allem jegliche Revolution verboten, denn der Feind steht draußen, und gegen den müssen wir halt einig sein – natürlich ohne Herrn Stinnes das Geschäft zu stören, der zurzeit in der Alpinen Montangesellschaft, deren Aktien zumeist in seinen Händen sind, auf Teufel komm raus für den französischen Staat Kanonen-Unterteile fabrizieren läßt. Herr Cuno ist traurig und überrascht, weil die Engländer anscheinend garnicht so dick mit uns befreundet sind, wie die Schmöcke bis jetzt behaupten mußten. Aber der Verfall der Währung ist nun auch der Regierung aufgefallen, und die hat nun mit Hilfe der Hilferdinge ein Rezept gegen die Reichspleite ausgearbeitet, das durch Steuererhöhung, zu der sogar „die Wirtschaft“ herangezogen werden soll – sie werden jetzt einen unerhörten vaterländischen Opfersinn betätigen – durch Aufnahme einer Goldanleihe bei Handel und Industrie, die dabei ein neues Glanzgeschäft machen werden und durch ähnliche Palliative wirken soll. Cuno war schlau genug von den tapferen Parteieunuchen ein Vertrauensvotum zu begehren. Kriegt er’s, dann kann er fragen: was wollt ihr denn eigentlich? Ihr habt mir ja ausdrücklich bestätigt, daß ich es ganz richtig mache. Kriegt er’s nicht, dann kann er als rückgratfester Mann abtreten und den Dolchstoß in den Rücken des deutschen Volks plausibel machen. So wie bekanntlich der Krieg infolge der Revolution verloren ging – das hat man dem deutschen Volk tatsächlich beigebracht, und die Logik des Kalenders, daß der 7. November nach dem 5. Oktober kommt ist eben nicht schlüssig – so würde Cuno leichte Arbeit haben, wenn er behauptete, der Valutaverfall wäre nie eingetreten, wenn man nur ihn hätte weiter passiven Widerstand üben lassen. Den wollen die Herren also fortsetzen, und nachdem Herr Hilferding sich als jusqu’au bout-Mann bekannt hat und dem französischen Zeilenschinder den Gedanken ausgeharkt hat, als ob’s dem Proletariat mal zu dumm werden könnte, ist alles wieder völlig ein Herz und eine Seele, die Sozi werden dem Vertrauensvotum entweder selbst zustimmen oder sich bei der Abstimmung drücken, kurzum, es ist nur noch eine Frage von Tagen, daß Herr Cuno sie als Mitglieder seiner Koalition „von Hergt bis Müller“ begrüßen darf – wenn’s nicht noch ganz anders kommt. Denn einmal muß den Arbeitern doch wohl die Gaunerei zu dumm werden. – In Bayern ist allerdings neben der Rührigkeit der Nationalsozialisten bis jetzt wenig proletarische Beweglichkeit zu merken. Wir hatten heute Nacht wieder eine Ovation. Gegen ¾ 12 Uhr gab’s Geschrei: Lumpen! Geiselmörder! An die Wand stellen! – wie wir’s schon gewöhnt sind. Heut mittag aber sahen wir von den Fenstern aus 5 junge Leute mit einem Marinewimpel – weiß, in der Ecke ein unerkennbares Zeichen, – vermutlich ein Hakenkreuz, also Bismarck-Bündler, „Jungdo“-Burschen oder dergleichen auf dem Territorium der Festung selbst, nämlich auf dem Weg von der Chaussee zur Anstalt. Entweder war unsre Burg ihr Ziel oder sie haben sich den Weg zum Ort auf diese Weise abgekürzt. Behindert wurden sie von niemandem. Hätten sie statt des Ehrhard-Wimpels eine Rote Fahne getragen, wie wär’s ihnen gegangen? Herr Hoffmann hat neulich Schiff gegenüber erklärt, daß die Gewährung von Bewährungsfristen jetzt stets von der Verpflichtung abhängig gemacht werde, daß der Betreffende sich politisch nicht mehr betätigen dürfe. Auch die verschiedenen Herren, die inzwischen bei der Berliner Handelsdelegation der Sowjet-Republik Stellung angenommen haben, könnten daraufhin jederzeit wieder in die Festung zurückgeholt werden. Von den früheren Festungsgefangenen, die auf Bewährung draußen sind und nun der nationalsozialistischen Pogromwirtschaft ihre schätzbaren Kräfte leihen, ohne von der bayerischen Justiz dabei gestört zu werden, war nicht die Rede. So hat bei dem Krach in Rosenheim, bei dem das Gewerkschaftshaus gestürmt und der Arbeiter Ott ermordet wurde, jener Ankirchner eine große Rolle gespielt, mit dem ich in Ebrach zusammen war und der nach seiner Entlassung in den Zeitungen erklärte, jetzt habe er die Juden à la Mühsam erst kennen gelernt. Mir aber war er, solange wir beisammen waren, tiefer als jeder Andre hinten reingekrochen, und ich mochte ihn, obwohl ich garnichts von ihm wußte und er keinen Anlaß gab, ihn nicht für einen Kameraden zu halten, nur deswegen nicht leiden, weil seine Anschmeißerei lästig auf die Nerven fiel. Auch gegen die ebenso wuchtige politische Tätigkeit des „Genossen“ Salzmann in Starnberg hat Bayern von dem Gesichtspunkt aus, von dem Männleins und Michel Fischers Existenzarbeit angesehn wird, nichts einzuwenden. Die Politisierung der Justiz muß halt bekämpft werden. Grade vorhin habe ich wieder ein leeres Briefkuvert mit Zenzls Adresse zurückgekriegt. Sein Inhalt war wegen „politisch-agitatorischen“ Charakters zu den Akten gegangen. Nun, Zenzl will Montag wieder herkommen. Viel Politik wird dabei ohnehin nicht geredet, es wird aber doch dabei nicht jedes hingeworfene Wort gleich konfisziert. Ich vermute, der zensurunfähige Satz war der, in dem ich meinte, unsre Einsperrung werde kaum dann noch fortgesetzt werden, wenn die Franzosen Herrn Krupp und Genossen begnadigt haben werden. Herr Hoffmann findet das also nicht, sondern hält es in der Ordnung, deutsche Politiker in Deutschland auch im fünften Jahr festzuhalten, mag der „Erbfeind“ soviel Menschlichkeit zeigen wie er mag. Man lernt nicht aus.
Niederschönenfeld, Dienstag, d. 14. August 1923.
Zenzl war hier. Da gäbe es viel zu notieren, was Herz und Gefühl angeht. Es gibt aber zuvieles, was den Revolutionär in mir bewegt, als daß ich mich heute damit beschäftigen könnte. Ihr letztes Wort, schon beim Abschied, war: „Übrigens – in Berlin ist Generalstreik.“ Mich riß es in den Nerven, und auf meine Frage: „Und München?“ kniff sie nur zweifelnd das Auge zusammen. Dann ging ich an die Lektüre der nur spärlich hereingelassenen Zeitungen. Die „Frankfurter“, die mir ein anarchistischer Student aus Darmstadt (er scheint ein Bulgare) jetzt abonniert hat, brachte unklare Berichte, die folgern ließen, daß die inzwischen rasend vervielfältigte Not, besonders das Versagen der Notenpresse, die mit den täglichen Billionen-Anforderungen von durch Geldbezeichnung wertlos gewordenem Papier – verständiger als die Menschen, die sich damit abspeisen lassen – nicht mehr mitkonnte, den Rand des Gefäßes erreichen ließ und vielleicht schon zum Überlaufen gebracht hat.* Es sei also – natürlich gegen den Willen und die Sabotage der Gewerkschaften und Sozialdemokraten – der Generalstreik vom 15er-Ausschuß der Betriebsräte tatsächlich beschlossen worden, wenn auch nur bis Dienstag nachmittag. Wie weit der Parole gehorcht wird, ist noch nicht erkennbar. Dienstag soll nun weiterberaten werden, ob die Arbeit weiterhin zu verweigern oder wieder auf ungewisse Aussichten hin aufzunehmen ist. Heute erhielten wir nun fast garkeine Zeitungen. Mir allein wurde beschlagnahmt: je eine Nummer der Frankfurter Zeitung, der Münchner Neuesten Nachrichten, des Freien Arbeiters, der Berliner Volkszeitung, der Wiener Roten Fahne, des Roten Soldat und 3 Nummern des „Abend“. Auch Fränkischer und Bayerischer Kurier, sowie alle sozialdemokratischen und natürlich die kommunistischen Blätter verfielen dem Zensor. Eine Nummer der Frankfurter Zeitung von gestern früh bekamen wir jedoch, und mit ihr Kenntnis der Tatsache, daß das Cuno-Kabinett gegangen ist, wie das schon seit vorgestern zu erwarten war, und daß als Nachfolge die „Große Koalition“ unter Stresemanns Kanzlerschaft beschlossen sei. Und zwar will man scheinbar unter diesem Herrn – einem Nationalliberalen wabbligster Observanz – einen Teil der Cunöden mit einem Teil der ehemaligen Wirth-schaft zusammenspannen (cf: System Necker zu Beginn der französischen Revolution, cf. System Prinz Max zu Beginn des Novemberrevolutiönchens). Die Frankfurterin präsentiert bereits für die Finanzen Hilferding, fürs Innere Köster, für die Justiz Radbruch, dessen außerordentliche Intelligenz ihn also wieder nicht zu hindern scheint, sich als dummen Kerl der monarchistischen Staatsanwälte und Richter gebrauchen zu lassen. Wir können aber garnicht wissen, ob Stresemanns Kabinett überhaupt zustande kommt, bezw. ob es noch existiert. Die Atmosphäre ist weit schärfer geladen als etwa vor einem Jahr, als die Leiche Rathenaus sie vergaste. Wenn meine Zuversicht, daß die Revolution in Nord- und Westdeutschland schon ausgebrochen sein könnte, noch sehr schwankt, so bedeutet das nicht, daß ich sie nicht für reif hielte. Sie ist überreif und fällig wie ein Apfel auf einem gänzlich entblätterten Baum. Aber die Arbeiter in Deutschland lassen sich bis jetzt noch von Strebern führen, die, wie Landauer einmal sagte, die Zukunft nach historisch-materialistischen Methoden aus dem Kaffeesatz lesen. Ihre Unfähigkeit, ihre Forderungen unter revolutionären Gesichtspunkten aufzustellen, erhellt beispielsweise daraus, daß zunächst beschlossen wurde, den Buchdruckerstreik – der wegen Lohnangelegenheiten dem Generalstreikversuch vorausging, nicht auf die Notendruckerei der Reichsdruckerei zu beziehn, da die Notenpresse als allerlebenswichtigster Betrieb angesehn werden müsse. Also die maßlose Inflation, von der alles Elend kommt, darf nicht unterbrochen werden! Man fürchtet die Konsequenzen, man fürchtet den Mangel an Zahlungsmitteln, während jeder ärmste Arbeiter draußen schon bündelweise Banknoten bei sich trägt, aber damit, wie mir Zenzl erzählte, in den Lebensmittelgeschäften herumsteht und auf den Bescheid über einen Preis für allernotwendigsten Lebensbedarf in Tränen ausbricht – das sei jetzt ein täglicher Vorgang. (Das ist in München: der Charakterunterschied mit den Berlinern geht aus dieser Niedlichkeit hervor: Zenzl war bei Freunden in Berlin. Im Hof gab es Musik, Drehorgel, Handharmonika etc. Dann eine Ansprache des Orchesterdirigenten: er bitte die Bewohner des Hauses um einen Obolus, daß ihnen die Existenz ermöglicht werde, andernfalls müßten sie einbrechen und sich das ihrige selber holen). Nun heißt es heute doch, daß es den Kommunisten gelungen sei, die Reichsdruckerei inclusive Notenpresse in den Streik einzubeziehn. Ebenso werden Streike und besonders Aktionen der passiven Resistenz – für Drecklöhne Dreckarbeit! heißt das Schlagwort – aus allen Teilen des Reichs gemeldet, besonders aus dem Ruhrgebiet, wo wieder mal deutsche Polizei französisches und belgisches Militär anwinselt, die deutschen Arbeiter niederknallen zu helfen, – erfreulicherweise nicht überall erfolgreich. Vorläufig kennen wir die eigentlichen Arbeiterforderungen noch nicht: Sturz der Regierung Cuno, die erste Parole, war denn doch zu dürftig, um Massen entfesseln zu können. Nachdem jetzt ja diese Forderung auch erfüllt ist, und nachdem die Stresemänner und Hilferdinge zunächst einmal erklärt haben, daß sie den passiven Widerstand fortsetzen wollen, daß also außenpolitisch garnichts geändert werden soll, wird man wohl etwas Präziseres aufstellen müssen. Was nun die vereinigten sozialdemokratischen und kommunistischen Funktionäre mit denen der Gewerkschaften als Sanierungsmittel postuliert haben, um die Lohn- und Gehälterwirtschaft etc. ins Ganze einzurenken, ist kläglicher als kläglich. U. a. will man Goldmittel durch Schatzwechsel garantieren. Daß das wiederum ein Geschenk für Börse und Großindustrie wäre – denn wer zieht die Wechsel und wer diskontiert sie? – scheinen die strammen Marxisten aller Richtungen garnicht zu begreifen. Man kann nur auf die Radikalisierung des Proletariats unter dem gefühlten Druck der Tatsachen hoffen, die es von instinktwegen gescheiter machen, als alle seine studierten „Führer“ von broschürenwegen sind. Ich las unter den Zitaten aus französischen Blättern diese Kalkulation: die Lage in Deutschland treibe in Sachsen, Thüringen, Berlin auf Revolution hin, wogegen die nationale Gegenrevolution von München und Stuttgart aus in Bewegung kommen werde. Das ist sehr leicht möglich. Jedenfalls hätten die Hakenkreuzler in Süddeutschland von den Arbeitern kaum viel zu fürchten. Mit den Kommunisten haben sie sich ja schon halb und halb auf Radek-Reventlowschen Nationalbolschewismus geeinigt, und was die Auerochsen für Helden sind, das beweisen einige Münchner Vorgänge der letzten Tage. Die Verfassungsfeier wurde, nachdem die Polizei auch dazu die üblichen „Auflagen“ gemacht hatte, „unter Protest“ abgesagt! Dann wurde aber die Münchner Post auch noch für 8 Tage verboten wegen einer Meldung über Geländeübungen des Bundes „Bayern und Reich“ bei Kempten. Schon wollten die Münchner Zeitungsdrucker und -setzer in den Solidaritätsstreik treten, um auch die bürgerliche Presse nicht erscheinen zu lassen, da rettete Auer-Vater die Situation. Er entschuldigte sich bei Herrn Mantel: die Notiz sei nur durch ein „Versehn“ ins Blatt gekommen, womit man denn auch erreichte, daß das Verbot auf 2 Tage beschränkt wurde. Auer-Vater hat sein politisches Licht außerdem über einen Ausfrager des „Wiener Abend" leuchten lassen und erklärt, es sei alles ganz beruhigend. Herr Hitler sei grade erst für 10 Tage auf Reisen gegangen, und er selbst werde gleichfalls aufs Land gehn, womit ja jedem Menschen erwiesen sein müsse, daß kein Anlaß ist, außerordentliche Ereignisse zu erwarten. Was die Ruhrangelegenheit betreffe, so sei das eine Lotterie, und im übrigen müsse man halt weiter sehn was wird und durchhalten. Der Reporter besuchte auch den bayerischen Ministerpräsidenten, der Poincaré[,] und den Völkischen Beobachter, dessen Redakteur die Marxisten und die Zinsknechtschaft für alles Böse verantwortlich machte. Liest man die 3 Auskünfte der 3 prominenten Volksgeschicklenker nebeneinander, dann begreift man den ganzen deutschen Zusammenbruch, und unbegreiflich bleibt nur, wie Leute es für möglich halten wollen, den Grad der Borniertheit zwischen diesen Kapazitäten abzustufen. Sie sind alle einander wert. Wir aber sitzen hier drinnen, aufgeregt diskurierend, was draußen und was also aus uns werden kann. Sicherlich wäre es jedenfalls verwegen, angesichts der Möglichkeit eines nahe bevorstehenden bayerisch-monarchistischen Kladderadatsches unser Leben sehr hoch zu bewerten. Vorgestern abend gab es schon wieder eine antisemitische Demonstration vor der Festung, die selbstredend wieder keinerlei Störung durch die bewaffneten Kräfte der Verwaltung erfuhr. Die Heldenhaftigkeit dieser Teutonen, Gefangene, die im fünften Jahr wegen ihrer Überzeugung wider alles Gesetz gemartert werden, um ihrer Gesinnung willen zu provozieren, wohl wissend, daß sie sich nicht wehren können, ist uns doch schon verboten, auch nur unsre Lieder zu singen, wenn draußen die Abgeschmacktheiten der hakenkreuzlerischen Bardensänge ertönen, diese teutsche Tapferkeit wird hier im Hause respektiert, während man es unsern Frauen und Kindern verbietet, nach dem Besuch hereinzuwinken, ist es ja den Sauberschen Kindern passiert, daß sie, weil sie ihrem gefangenen Vater zugewinkt hatten, bloß 1 Stunde bleiben durften. Bleibt eine unsrer Frauen dort auf der Straße stehn, wo die Rassenretter ungestört schimpfen, drohen, höhnen und singen dürfen, dann tritt sogleich der Grüne in Aktion und verjagt sie. Die Lieder der Demonstranten aber – vorgestern beschränkten sie ihre „Aktion“ auf Singen, werden andächtig bis zu Ende angehört. Immerhin lernen dadurch auch wir die poëtische Tiefe dessen kennen, was diese Art Deutschtum in Begeisterung versetzt. Im letzten Ständchen erscholl es schmetternd: „Schmeißt sie raus, die Judenbande aus dem deutschen Vaterlande, und wir wollen und wir brauchen keine Judenrepublik –“
* Beim Nachlesen: Der Stil dieses Satzes entspricht dem Chaos der deutschen Politik.
Niederschönenfeld, Mittwoch, d. 15. August 1923.
Mariae Himmelfahrt, und die Verwaltung kann uns einen weiteren Tag in der Nervosität halten, die die Nichtausgabe von Post und Zeitungen in so schicksalvollen Zeiten bewirkt. Wir wissen seit gestern mittag nicht viel neues weiter. Zwar gab es abends noch je eine Nummer des Fränk. Kuriers und der Münchn. Neuesten Nachr., aber es stand nichts weiter drin als wir schon aus der Frankfurter erfahren hatten. Nur die Rede, die Erhard Auer am Verfassungstage im Republikanischen Reichsbund gehalten hat, war skizziert und zeigt im Anschluß an die Jämmerlichkeit des Verhaltens beim Verbot der M. P., wie diese Gesellschaft ihre Tatfeindschaft durch Wortschneid noch ekelhafter zu machen weiß. Er zog scharf gegen die bayerische Regierung auf und versicherte, es könne der Moment kommen, wo sogar auch ihm ebenso wie der Arbeiterschaft die Geduld rissen. Dann aber können die 300 Mann seiner Sicherheitswehr (die sich das Uniformtragen von der Polizei verbieten läßt) in 8000facher Stärke vorgeführt werden! – Wichtigtuerei mit vollgemachten Hosen. – Ein Aufseher wurde beobachtet, wie er vor dem Gitter eine Zeitung entfaltete, die die Fettüberschrift zeigte: „Das Kabinett Stresemann gebildet.“ Das ließe also darauf schließen, daß diese Regierung des Kriegstreibers Stresemann ihre Unfähigkeit wirklich erst beweisen soll, ehe das Proletariat sie als selbstverständlich annimmt. Die Beruhigung, die man sich von diesem „gebildeten“ Kabinett erwartet, wird nur Befürchtungen von uns Intransigenten beruhigen können. Es wird kein schönes Leben haben. Bloß von den zwei Herren zu reden, an deren „Berufung“ kein Zweifel sein wird, Stresemann und Hilferding, so macht der erste den Franzosen die Agitation so leicht wie möglich. Sie brauchen sich nur seine Kriegsbekenntnisse vorzunehmen und seine alldeutschen Tiraden zu zitieren, dann haben sie jeden moralischen Halt für ihre Brutalitäten an der Ruhr. Und Hilferding? Die Völkischen werden jubeln. Jude, Oesterreicher und Verfasser des „Finanzkapitals“, worin er die Diktatur des Proletariats als Mittel gegen jede Not preist (es war einmal). Die Zeitungsbeschlagnahmungen hier scheinen also keinen revolutionären Ausbruch verheimlichen zu wollen. Vermutlich steht unsre Freilassung zur Beratung. Wir sind jetzt der Anciennetät nach die ältesten politischen Gefangenen der Welt, und sehr wahrscheinlich ist doch, daß unter den Forderungen, die der neuen Regierung vorgelegt worden sind, die der Amnestie nicht fehlt. Sollte wirklich Radbruch Justizminister redivivus werden, kann er sich übrigens freuen. Ich werde ihn mit Eingaben bombardieren, daß ihm der Name Niederschönenfeld zum Halse heraushängen soll. Für Gründe ist reichlich gesorgt. Nur ein Beispiel für die unaufhörliche Verschärfung der Haft. Am 1. August wurde das Porto für Briefe von 300 auf 1000, für Postkarten von 120 auf 400 Mark erhöht. Eine Woche später erhöhte man unser Taschengeld von 6000 auf 12000 Mark. Für diese 12000 Mark kann man sich so gut wie nichts mehr kaufen. Ich wollte ein Glas Senf bestellen: Kostenpunkt: 20.000 Mark. Sammle ich aber Taschengeld an, um mir irgendetwas als Essenszulage zu kaufen, was mein Recht nach der Hausordnung ist, dann riskiere ich wegen „Umgehung“, „Täuschung“ und was weiß ich, unbegrenzte Umwandlung in Gefängnisstrafe. Auch die Hoffnung, daß endlich mal durch das Freiwerden von Genossen eine so kleine Restzahl erreicht wird, daß unsre Verlegung in nahe Aussicht käme, verbunden vielleicht doch mit gewissen Erleichterungen, wird immer geringer. Gestern abend nahm Hans Hager Abschied (ein netter junger Mensch, der sich recht beliebt gemacht hat in der kurzen Zeit seines Hierseins) und fuhr heute früh heim zu seinen Augsburger Genossen. Heute ist schon wieder Ersatz da, – und zwar ein alter, guter Genosse von den erlebnisvollsten Revolutionstagen her: Julius Fuchs von Mannheim. Ihm war es nach der Münchner Katastrophe gelungen, 3½ Jahre unsichtbar zu bleiben. Dann wurde er in Mannheim geschnappt und wegen der als „Landfriedensbruch“ deklarierten Mannheimer Vorgänge vom 21/22 Februar 1919 (ich hatte am Vorabend dort gesprochen) zu 10 Monaten Gefängnis, in der Zeit der Abbüßung aber – im Januar dieses Jahres! – vom Münchner „Volksgericht“ zu 1½ Jahren Festung wegen der Teilnahme an der Räterepublik verurteilt. Man ist in München also noch nicht damit zufrieden, als einziges Land der Erde in Bayern seit über 4 Jahren keinerlei politische Amnestie erlassen zu haben, man verurteilt im Gegenteil auch jetzt noch wegen „Beihilfe zum Hochverrat“, wen man aus jenen Tagen erwischen kann. Fuchs war viel in meiner Gesellschaft, begleitete mich u. a. auch nach Burglengenfeld und ich habe ihn draußen als vortrefflichen revolutionären Genossen geschätzt. Hier drinnen hat man allerdings gelernt, daß man draußen keinen Menschen kennen gelernt hat. Aber ich hoffe, daß ich das Urteil, das ich von ihm bis jetzt habe, nicht nur nicht zu revidieren brauche, sondern daß uns gegenseitig auch nicht mehr soviel Zeit bleibt, in Niederschönenfeld noch eingehende psychologische Studien aneinander zu machen.
Niederschönenfeld, Sonnabend, d. 18. August 1923.
Die Regierung Stresemann ist also da und hält bis jetzt noch. Dieses unglückselige Volk hat aus der Aera Cuno, des Kabinetts mit den „diskontfähigen Unterschriften“, nichts weiter profitiert als das Gefühl, daß es so nicht ging, aber noch immer nicht das, daß es garnicht an den Personen, garnicht an den von ihnen repräsentierten Parteien liegt, sondern daß es mit der Nachkriegswirtschaft im kapitalistischen System überhaupt nicht geht. Nun ist also die „große Koalition“ da. Stresemann hat sich als Reichskanzleichef seinen Parteigenossen Herrn von Rheinbaben engagiert, der immerhin vermutlich etwas weniger Analphabet sein wird als sein bayerischer Vorgänger, der „Demokrat“ Hamm. Dafür bleibt der treffliche „Demokrat“ Geßler uns gnädig erhalten: er hat grade eben den Offizieren der sächsischen Reichswehr verboten sich an der sächsischen Verfassungsfeier, bei der der sächsische Ministerpräsident Zeigner reden sollte, zu beteiligen und jeden Verkehr der Reichswehr mit der sächsischen Regierung überhaupt untersagt. Dieser Chef der republikanischen Waffenmacht läßt aber zugleich in Berlin unruhig gewordene Hungernde mit Reichswehrhilfe zusammenschlagen und setzt zu diesem Behufe extra hinaufbeorderte bayerische Formationen ein. Außer diesem Musterexemplar eines deutschen republikanischen Ministers zieren das Stresemann-Kabinett die von Cuno ererbten Herren Brauns (Wirtschaft) und Luther (Ernährung). Zu ihnen gesellen sich nun 4 Sozialdemokraten, von denen 2 schon als Wirthsbrüder brilliert haben: Robert Schmid (Wiederaufbau(?)) und Radbruch: staunend frage ich mich nur immer wieder, – wie kann ein so kluger Mensch ein so dummer Kerl sein?! Außerdem als neue Exponenten marxistischer Weisheit Hilferding für die Finanzen (armer Yorick!) und Herr Sollmann fürs Innerliche. Um das Postressort wird noch geschachert, was jedoch nicht hindert, daß am 24. August das Briefporto von 1000 auf 20.000 Mark erhöht wird (unser Taschengeld zugleich von 12.000 auf 150.000 Mk: als der Brief 30 Pfennige kostete, hatten wir 20 Mk Wochengeld: konnten also über 60 Briefe schreiben, als der Brief auf 60 Pfennigen stand, bekamen wir 35 Mk, mußten uns also auf 58 Briefe beschränken. Auf dem Limit blieben wir viele Portosteigerungen hindurch, bis man uns allmählich ein wenig Taschengeld mehr bewilligte. Beim Briefporto 100 Mark kriegten wir wöchentlich 2400 Mk, gleich 24 Briefe, bei der Erhöhung auf 300 Mk Porto 6000 Mk gleich 20 Briefe, bei dem Portosatz 1000 – 12000 Mk gleich 12 Briefe und nun sind wir glücklich 20.000 zu 150.000 Mk bei 7 Briefen wöchentlich angelangt, wobei für irgendwelche andern Käufe so gut wie nichts übrig bleibt, während wir für das Geld, das uns blieb, als wir 60 Briefe loslassen durften, genügend blieb um alle Schreibmaterialien und dazu noch etliches zum Brotzeitmachen und Rauchen zu besorgen). – Die Sozialdemokratische Partei hat nun einige Opposition in den eignen Reihen auszustehn. 43 Reichstagsabgeordnete haben in einer Separaterklärung ihre Verurteilung der Parteipolitik der großen Koalition ausgesprochen, darunter nicht nur frühere Unabhängige wie Levi, Crispien, Adolf Hoffmann u. s. w., sondern auch früher sehr ministerielle Herren, sogar Johannes Hoffmann-Kaiserslautern darunter, unser bayerischer Ministerfreund (von dem ich gestern einen Brief erhielt, da ich ihn auf unsre letzte Eingabe, die ihn speziell anging, aufmerksam machte. Er redet mich – um weder Herr noch Genosse sagen zu müssen per „Sehr geehrter Mühsam“ an und würde sich „freuen, zu Ihrer baldigen Freilassung beitragen zu können.“ Was er vor 4½ Jahren tat, wird er mit aller Toleranz post festum nicht wieder auslöschen können). Stresemanns Einleitungsrede im Reichstag war eine Fanfare gegen die Kommunisten und ein sanftes Abwinken gegen die Völkischen. Die erste Tat des Soll- und Habenmanns ist die Auflösung und das Verbot des Reichsausschußes der deutschen Betriebsräte und seiner Unterabteilungen, also auch des 15er-Ausschußes von Groß-Berlin. Es mußte erst ein Sozialdemokrat kommen, um derartig provozierend reaktionär aufzutreten. (Über seinen Parteigenossen Richter, den Polizeipräsidenten von Berlin, beschweren sich sogar Zeitungen wie das Börsenorgan Berlins, das „Tageblatt“, er sei unerträglich reaktionär. Die „Arbeiterpartei“ stützt ihn aber) Man könnte meinen, das neue Ministerium werde sich durch diese entscheidende Frontstellung zunächst alles was reaktionär ist, mit Begeisterung für sich sichern. Weit gefehlt. Schon bei dem Vertrauensvotum im Reichstag stimmten neben Völkischen und Kommunisten und Ledebours dagegen auch die Deutschnationalen, und die Bayerische Volkspartei enthielt sich unter ironischer Begründung der Stimme. Man muß nun aber die bayerische Bourgeois-Presse lesen, vornedran natürlich die Kapitalsheloten der Münchner Neusten Nachrichten und des Fränkischen Kuriers. Der Sturz Cunos war Verrat am deutschen Volk, zugleich Verdächtigungen Stresemanns und der Seinen, sie mächelten schon im Geheimen, um den Ruhrkonflikt zu Ende zu bringen etc. Der Dolchstoß ist in schönster Blüte wieder da. Man kann es deutschen Zeitungslesern bieten. Sie erkennen auch daran noch nicht, daß diese Dreckschleudern kein andres Interesse vertreten als das der Bereicherung der Schwerindustriellen durch vollkommene Ausplünderung der Arbeitenden. Die neuen Steuergesetze – so jammervoll sie aussehn – werden dies in aller Geschichte noch nicht erlebte Übermaß der Ausbeutung immerhin ein klein wenig bremsen; und daher ist sogar Stresemann schon Landesverräter, und Pastor Maurenbrecher läßt ihn sogar in seiner „Deutschen Zeitung“ ziemlich unverblümt als nächstes Kugelziel ausloben. Weil die englische Regierung eben durch ihre – in der Tat ziemlich überraschende – Note an Frankreich und Belgien, worin sie die Rechtmäßigkeit der Ruhrbesetzung prinzipiell bezweifelt, den deutschen Durchhaltern eine Art Wunder geliefert hat, auf das gestützt man weiter den dicken Willem markieren kann, wird der groteske Stümper Cuno, der am allerwenigsten für diese Note kann, als wahrer Staatsmann gepriesen, und die Sozi haben durch seinen Sturz in diesem Augenblick Poincarés gänzlich verlorene Sache neu gerettet. Selbstredend denkt Herr Baldwin sowenig wie sonst jemand in ganz England an Freundschaft mit Deutschland, durch Feindschaft mit Frankreich erkauft. Man will nur bald zu einer Regelung der Reparationsdinge kommen, und Deutschland die Finanzkontrolle ägyptischer Kopie hinsetzen. Auch dieses „Wunder“ wird versagen. Inzwischen schlägt man so tapfer wie immer streikende, demonstrierende, hungernde und rebellische Arbeiter in Klump. Von Hamburg, Lübeck, Leipzig, Ratibor, zuletzt von Aachen und von x andern Orten liegen zum Teil sehr beachtliche Meldungen vor. Für den Augenblick jedoch scheint die unmittelbare Revolutionsstimmung wieder einmal niedergedrückt zu sein. Doch brennt es unter dem Rauch weiter und kann beim kleinsten Windstoß hochflammen. Man scheint sich draußen auch mit uns wieder zu beschäftigen. Die vielen Zeitungszurückhaltungen lassen drauf schließen (heute unter andern Frankfurter Ztg und Fränkischer Kurier), und auch der letzte Vorfall inter clericos kann wohl zur Neubeschaffung verwertbaren Materials gegen uns arrangiert worden sein. Daudistel, ein bis zum Verfolgungswahn verbitterter, unerträglicher Querulant und Denunziant ist zur Offensive geschritten und hat gestern Olschewski und Schlaffer gegenüber erklärt, er werde uns, speziell Toller und mich, mit allen Mitteln unmöglich machen (was ich dem Mann je getan habe, ist mir ganz rätselhaft. Seine Wut aber speziell gegen uns beide ist möglicherweise von andrer Seite mit antisemitistischer Absicht angeheizt worden). Er hatte dann abends noch einen Zusammenstoß mit dem Zäuner-Sepp, und zwar keinen tätlichen, sondern nur in Worten. Jetzt sitzt sowohl der arme Querulant als auch der temperamentvolle Ruhestifter in Einzelhaft, – ein Zeichen, daß der äußerst unwichtigen Angelegenheit Bedeutung gegeben werden soll, um uns zu schaden. – Ich aber plage mich mit abscheulichen Zahnschmerzen. Den Zahntechniker, der heute im Hause war, konnte ich auch auf eigene Kosten nicht bemühen, ohne vorher den Arzt zu konsultieren. Jetzt, wo jedenfalls weder Arzt noch Zahntechniker mehr da sind, habe ich zum Sanitäter geschickt, den ich hoffe, veranlassen zu können, den Zahn zu reißen. Dieser Backenzahn wird buchstäblich den Manen August Hagemeisters geopfert werden. Bei geeigneter Behandlung wäre er wahrscheinlich zu retten. – Übermorgen aber ist der Besuch meiner Schwägerin Resl angekündigt. Auf die freue ich mich riesig, aber mit Zahnschmerzen will ich ihr nicht entgegentreten.
Niederschönenfeld, Sonntag, d. 19. August 1923
Meinen Backenzahn bin ich los. Nachmittags kam Herr Bastian und besah sich den Sünder. Seit wann der Schmerz da sei? Seit vorgestern, aber erst seit heut vormittag so heftig. – Allerdings, der Zahn müsse wohl heraus, aber er müsse den Dienstweg einhalten und sich mit dem Bezirksarzt in Verbindung setzen, ob er ihn ziehn dürfe. Schön, da der Doktor ja nicht im Hause war, konnte ich das zulassen. Eine halbe Stunde später. Der Bezirksarzt meine, ich hätte mich ja in der Frühe bei ihm melden können. Ob ich bereit sei, den Zahntechniker auf eigne Kosten noch einmal von Rain kommen zu lassen? Wenn anders nicht geholfen werden könne, ja. – Dann: ob ich mich auch zum Arzt gemeldet hätte, wenn die Schmerzen schon in der Frühe so stark geworden wären. Ja, zum Dentisten. – Auch zum Herrn Bezirksarzt? – Ich: „Herr Bastian, ich bat Sie, sich um meinem kranken Zahn anzunehmen. Dazu brauche ich doch keine Gewissensfragen zu beantworten.“ – Er müsse nun erst den Vorstand fragen, ob er den Dentisten von Rain herübertelefonieren dürfe, falls ich alles bezahle. Schön. – Nach weiteren 10 Minuten teilte mir Herr Bastian mit, Herr Ring (der Dentist) sei verständigt, es sei alles bewilligt worden. – Der Zahntechniker konstatierte, daß ich schon zulange gezögert hatte, daß schon Vereiterung da sei und riß das Ding meinem Wunsch entsprechend heraus. Dann mußte ich schriftlich bestätigen, daß ich die Kosten verbürge. Ich habe große Angst vor der Rechnung und sehe mindestens voraus, daß ich die Schuhreparaturen, derentwegen ich schon vorgeschrieben habe, vorerst nicht werde machen lassen können. Leider blieb mir aber nichts andres übrig, wollte ich mir treu und dem Arzt untreu bleiben. Ohne die Andeutung Herrn Bastian gegenüber, daß ich im Falle der Nichtbewilligung des Reißenlassens mit einem Bindfaden selber eine Radikalkur vornehmen würde, habe ich Zweifel, ob Herr Ring geholt worden wäre. – Zeitungen kamen gestern nicht mehr. Aber ich habe noch ein paar Einzelheiten nachzutragen. Zunächst was die Begrüßung des Kabinetts Stresemann in der bayerischen Presse anlangt. Die „demokratischen“, nationalistischen und klerikalen Blätter in schöner Einigkeit weinen, daß jetzt neue Konflikte zwischen Bayern und dem Reich in Fülle wieder in Aussicht ständen, nachdem man doch unter Cuno so schön miteinander ausgekommen sei. Wir werden also über kurz oder lang auch wieder drankommen und wieder geopfert werden – angeblich, um Konflikte zu vermeiden, in Wahrheit, um bei Konflikten der Gewohnheit nicht untreu zu werden, das Reich vor Bayern kuschen zu lassen. – Wie der Abbruch des Generalstreiks zustande gekommen ist, den die Kommunisten erst mit lauten Posaunen proklamiert hatten, ist noch nicht mit voller Sicherheit zu übersehn. Doch scheint mir, als verdeckten die Severingschen, Sollmannschen und Richterschen Brutalitäten gegen die Rote Fahne ein wenig den Blick über eine genauso klägliche Kneiferei, wie sie die KP schon immer während der Kämpfe bevorzugt hat, zu denen sie erst scharf machte. Beim Kappputsch war es so, beim mitteldeutschen Aufstand und allem Anschein nach jetzt wieder. Jedenfalls bezichtigen die Unionisten und Syndikalisten, die mit den Kommunisten den Generalstreik erklärten, diese jetzt des Verrats, da sie die Ersetzung Cunos durch Stresemann schon sozusagen als Teilzahlung für sich aufzufassen scheinen. Denn der Generalstreik war – von der KP wenigstens – unter der Parole „Sturz der Regierung Cuno“ propagiert worden. Und wenn man von Parteikommunisten unter den Festungsgefangenen hört, der Regierungswechsel sei ein „Erfolg“ der Kommunisten, ohne deren Mißtrauensvotum die Sozialdemokraten nicht zur Stellungnahme gezwungen gewesen wären, dann muß man in der Tat bei diesen Marxisten viel für möglich halten.
Niederschönenfeld, Dienstag, d. 21. August 1923.
Gestern hatte ich, zum ersten Mal in meiner Gefangenschaft, den Besuch der Schwägerin Resl. Eine Stunde war ihr nur bewilligt worden, und darum hatte sie noch betteln müssen, da sie bloß eine halbe Stunde kriegen sollte. Immerhin: diese Stunde war ein Labsal. So ein hübsches, lustiges, gesundes Mädel, mit dem ich garnichts Wichtiges zu sprechen weiß, und mit dem eben drum das Gespräch nicht eine Sekunde stockte. Ganz prächtig wars, und das viele Lachen und Dummes-Zeug-Reden hat mir unsagbar gut getan. – Aber eine Kleinigkeit. Sie hatte mir einige Broschüren von Zenzl mitbringen sollen, die Schlageter-Schrift der KP, die über den Fuchs-Prozeß etc und hatte den Vorstand gebeten, sie sich gleich beim Empfang anzusehn, ob ich sie auch bekommen würde. Antwort: wenn sie ihnen die Broschüren in die Hand gäbe, seien sie dadurch schon der Verwaltung übergeben und müßten, falls sie „schwer-politisch“ sein, ohne weiteres zum Akt genommen werden. Er rate ihr, die Broschüren gleich wieder mitzunehmen. Das ist also wieder mal etwas ganz Neues, und ich begnüge mich damit, es festzuhalten. – Gestern bekam Klingelhöfer die telegrafische Nachricht, daß seine Mutter in Saarbrücken gestorben sei. Bis jetzt weiß er noch nicht, ob er die erbetene Strafunterbrechung zur Teilnahme am Begräbnis vom Justizministerium bekommt. Ich behalte mir vor, nach der Entscheidung über den Fall noch hier einiges niederzulegen. – Heute wieder eine Fülle von Zeitungsbeschlagnahmungen. Für mich persönlich kommen in Anwendung: 1 Berliner Volkszeitung, 2 Frankfurter, 4 Abend, 2 Wiener Rote Fahnen. Wahrscheinlich handelt es sich schon um Auseinandersetzungen und Glossen über das Thema: Bayern und Reich. Die bayerische Regierung hat nun auch von sich aus mit schöner Deutlichkeit in die Kriegsfanfare gegen die Regierung Stresemann gestoßen. Bei der Zusammensetzung des Reichskabinetts sei zu besorgen, daß wieder wie früher Eingriffe in die bayerischen Hoheitsrechte versucht werden würden. Die Regierung erkläre schon jetzt, daß sie solchen Eingriffen, besonders in die Polizei- und Justizhoheit (Niederschönenfeld!) „unbeugsamen“ Widerstand entgegen setzen würde. Bei der Beugsamkeit ihrer Gegner können sie sich’s leisten. – Persönliches: ich erhalte einen Brief aus Lübeck vom Direktor des Deutsch-Nordischen Instituts C. Viktor E. Björkman mit der überraschenden Aufforderung, Beiträge (1 Skizze und 2 – 3 Gedichte) für ein Schullesebuch zu liefern, und zwar handelt es sich um deutschsprachige Prosa und Lyrik für die Oberklassen – nicht etwa deutscher, sondern schwedischer Gymnasien und Lyceen. Ich freue mich sehr darüber. – Und dann will ich von dem andern Brief, der zugleich kam und mich ganz tief beglückt hat, hier auch Erwähnung tun. Er ist von Zenzl, und sie schreibt darin von sich, von mir, von uns, von den Menschen und der Welt. Unter all den schönen Briefen, die ich von ihr habe, ist es vielleicht der schönste und tiefste. Welchen Reichtum hat mir diese herrliche Frau schon beschert! Wie tief bin ich ihr verschuldet!
Niederschönenfeld, Donnerstag, d. 23. August 1923.
Viel Korrespondenz war zu erledigen, da die Verzwanzigfachung des Portos morgen einsetzt. Und diese 20.000 Mk für einen Brief (8000 für eine Postkarte) werden nicht lange bestehn. Denn die Regierung Stresemann hat bis jetzt weder die Reichsbankdirektion Havenstein-Glasenapp zur Demission bewegen noch den weiteren Verfall der Währung aufhalten können. Auf die ersten Versprechungen hin hatte man die Valuta zwar bis etwa auf die Hälfte des vorigen Höchststandes von 6000000 herunterdrücken können, gestern ging die Mark dann wieder von unter 3 000.000 auf 7,6 Millionen in die Höhe. Die Erklärungen der jeweiligen Stürze aus aktuellpolitischen Ereignissen halte ich für blanken Schwindel. Die unentwegte Notendruckerei, die nach den letzten offiziellen Ankündigungen demnächst täglich auf 50 Billionen gesteigert sein wird (dann beginnt die Trillionenrechnung, über die hinaus es auch der Sowjetrubel nicht gebracht hat) führt ja automatisch und progressiv die Vernichtung der Kaufkraft in immer tolleren Sprüngen mit sich. (Eben erzählte mir der Hausschuster, ein Pfund Leder koste jetzt 2½ Millionen Mark, was ja aber nur 1 Mark 50 Friedenswert ausmacht). Zu beobachten ist regelmäßig, daß der Kurs bis zu einem neuen Rekord steigt, dann plötzlich stehn bleibt und auch wieder sinkt und zwar solange, bis die Preise sich allgemein dem Höchststand des Kurses angepaßt haben. Dann setzt eine neue Dollarhausse ein, die Waren verschwinden vom Markt, bis sie einen riesigen Stand hat und abflaut und kehren dann, nach diesem neuen Höchstkurs umgerechnet wieder. Wie diese Übung organisiert ist, weiß ich nicht. Daß sie zielsicher organisiert ist, scheint mir gewiß. Die Not der Massen wächst natürlich entsprechend und wenn jetzt wirklich wieder dank der Bremserei der verschiedenen Parteibonzen sozialistischer und kommunistischer Couleur erreicht wurde, daß die Taten Stresemanns und seiner Mannen in die Erscheinung treten, so können diese Taten auf keinen Fall mit den Zusagen übereinstimmen, die dem Volk in bezug auf ihre Wirkung gemacht werden. Man wird allenfalls die Valuta wieder um ein paar Millionen herunterzwingen können, ohne dabei die Marktpreise niedriger zu kriegen, und man wird im Reichsetat das Defizit nicht etwa eliminieren, sondern nur in seinem progressiven Anwachsen etwas verlangsamen, und die Folge wird eine neue Enttäuschung, neues Aufbrausen und neues Niederwerfen der Hungernden in Noskescher Methode und unter sozialdemokratischer Anführung sein, – falls nicht die Arbeiterschaft doch einmal der eignen Initiative mehr traut als den Paroleweisheiten unterschiedlicher Parteihirten. Nachdem es vor 14 Tagen in allen Blättern und Blättchen rauschte: es sei „5 Minuten vor 12 Uhr“ (ich hatte mir schon angewöhnt auf jede Frage nach der Tageszeit zu jeder Zeit zu antworten: 5 Minuten vor 12!), rückten die Schmockuhren dank Stresemann, Robert Schmidt und Konsorten wieder zurück. Aber jetzt, da der Dollar neuerdings steigt, plärrt der „Vorwärts“ schon wieder: „das Barometer steht auf Sturm“. Vielleicht verwechselt man den Sturm auch nur mit der Morgenluft, die Bayern wittert. Vor etlichen Monaten schon erklärte Herr Held, falls das Reich einer Regierung Breitscheid-Hilferding ausgeliefert wird, sei das die Stunde, wo Bayern die Geschicke Ganz-Deutschlands in die Hand nehmen müsse, und schon mahnen die Knall-Bajuwaren an die Notwendigkeit, daß das jetzt soweit sei. Dazu wird Sturm gelaufen gegen Herrn Minister Schweyer: dieser Recke, der in der ganzen Welt berüchtigt ist wegen seiner reaktionären Pronunziamenti (das angestammte Herrscherhaus, das Bedauern, weil noch immer die Rechtsmittel nicht da sind, die Novemberverbrecher abzukehlen etc), ist den Vaterländischen in Bayern noch zu „links“. Es ist garnicht unmöglich, daß das Pferdehaar, an dem das Damoklesschwert des bewaffneten Bürgerkriegs hängt, von der Ordnungszelle in München – und zwar von der Leitung selbst – den operativen Schnitt bekommt. Das Messer, auf dessen Schneide jetzt alle Dinge stehn, ist jedenfalls angesetzt. – Soweit Niederschönenfeld als politische Retorte betrachtet werden kann, ist zu erkennen, daß keinerlei Besorgnis in München besteht, daß die Sache für das, was man hier Vaterland nennt, fehlschlagen könnte. Man scheut keine Brutalität, nichts, was die Kritik laut werden lassen muß. Im Fall Klingelhoefer ist die Entscheidung negativ ausgefallen. Der Vorstand hatte ihm mündlich von der Verkehrssperre ins besetzte Gebiet gesprochen, die ihm die Teilnahme an der Beerdigung von selbst verbieten würde. Darauf hatte Kl. darauf hingewiesen, daß die Reparationskommission ausdrücklich Ausnahmen im Falle dringender Familienereignisse, zumal Sterbefälle vorgesehn habe, ferner – worauf ich ihn aufmerksam machte – darauf, daß das Saargebiet garnicht betroffen sei, da es laut Versailler Vertrag nicht zum besetzten Gebiet, sondern wie Danzig etc zu den unter Völkerbund-Verwaltung gestellten Territorien gehöre. Bescheid: Strafunterbrechung zur Teilnahme an der Beerdigung der Mutter kann nicht bewilligt werden. Ohne Begründung. Wir lasen dieser Tage, daß Herr Krupp v. Bohlen zu seinem Geburtstag durch Standmusik vor dem Gefängnis gefeiert wurde. Auch wurden ihm und seinen Gefährten schon im Gefängnis selbst Kammermusik-Vorträge arrangiert. Die Franzosen, die, wie Stresemann dieser Tage klagte, nicht einmal den Familienbanden gegenüber Menschlichkeit zeigen, hatten nichts dagegen. Man kann also nicht sagen: wenn zwei dasselbe tun, sondern nur – es ist nicht dasselbe.
Niederschönenfeld, Sonnabend, d. 25. August 1923.
Ich arbeite schon wieder an einer Eingabe an das Reichsjustizministerium. Diesmal betrifft sie die zwischen den Landesregierungen unter Heinzescher Vermittlung vereinbarten „Grundsätze für den Vollzug von Freiheitsstrafen“, die ich als mit § 17 R. St. G. B. im Widerspruch insgesamt als rechtsungiltig zu erklären beantragen will. Darüber hinaus soll Radbruch auf die Demonstrationen der Völkischen vor der Anstalt und somit auf die Unsicherheit aufmerksam gemacht werden, in der wir unser Leben hier fühlen. Die Ungesetzlichkeit der Verordnung soll mit der Bestimmung begründet werden, daß Festungshaft jetzt in Abteilungen andrer Strafanstalten verbüßt werden dürfe, während das Strafgesetzbuch eigens zu dem Zweck der Festungsstrafe bestimmte Räume verlangt. Für die Richtigkeit meines prinzipiellen Standpunkts werde ich mich beim Justizminister Radbruch auf den Kieler Professor Radbruch berufen, der mir 1919 meine Auffassung brieflich als richtig bestätigt hat. Nun kommt grade in diesem Augenblick eine neue Tatsache hinzu, die ungeheuer wirksam die Folgen illustriert, die die Verletzung der reichsgesetzlichen Vorschrift nach sich zieht. Vorgestern abend wurde in Schlaffers Zelle lebhaft diskutiert. Da erschien der Oberwachtmeister Rainer und verlangte „zum ersten und letzten Mal“, daß politische Gespräch in den Zellen nicht mehr laut geführt werden dürfen, da die in den Zellen des Seitengangs untergebrachten Gefängnishäftlinge sonst hören könnten, was geredet wird.* Diese Einschränkung sogar des freien Verkehrs unter einander übersteigt alles bisher Erlebte. Die nächste Folge kann die sein, daß man die Gemeinschaftshaft einfach in Einzelhaft umwandelt, und Herr Hoffmann hat ja schon Toller gegenüber ausgesprochen, daß er die neue Verordnung dahin auslegt, daß bei Fluchtverdacht – und der liegt natürlich ohne weiteres bei uns allen vor, denn sonst hätten ja die zwanzigfachen Schlösser im Hause, die spanischen Reiter und Drahtverhaue vor den Mauern und alles übrige garkeinen Sinn, – daß dann ohne weiteres die Verriegelung der Zellentüren vorgenommen werden könne. Mag Radbruch sehn, wie er mit seinen Bayern fertig wird. Er hat in seiner vorigen Ministerlaufbahn gezeigt, daß er uns jedesmal leichten Herzens opfert, wenn er glaubt, damit die bayerische Eigenart stille kriegen zu können. Ich habe keinen Anlaß, solange ich für ihn Schacherware bin, ihm sein Amtsleben zu erleichtern. Vielleicht hilft ihm die Unbequemlichkeit, andauernd von Niederschönenfeld aus an sein reaktionäres Walten unter Wirth erinnert zu werden, unter Stresemann zu etwas mehr Charakter. Auch die bayerische Regierung wird ihm ja das Leben nicht leicht machen und ihn zu neuen Schandtaten gegen revolutionäre Politiker zu drücken suchen. Da soll für Gegendruck rechtzeitig gesorgt werden. Die Knillingschen sind schon wieder eifrig am Werk, um den Stresemännern und Hilferdingen den Schweiß herauszutreiben. Eine offizielle Kundgebung – angeblich gegen Teuerung und Not, in Wahrheit gegen „Kommunismus und Bolschewismus“ – und eigentlich gegen das deutsche Reich sagt genug. Dazu kommen sich häufende Gerüchte von der bevorstehenden Proklamation einer „nationalen Diktatur“ in Bayern, der maßgebende Regierungspolitiker und Parlamentarier der Bayerischen Volkspartei nahe stehn sollen und die natürlich den Bürgerkrieg in ganz Deutschland entfesseln würde. Schon haben die Hitlerschen und die Nationalen Verbände, Sturm- und Freikorps, Fahnen, Landsmannschaften und Bünde eine Art Bundesbrüderschaft oder Eidgenossenschaft gegründet, um einander zu garantieren, daß sie die gegenseitigen Hühneraugen nicht zertreten werden, und schon sorgt auch wieder ein Münchner Prozeß dafür, den Herren die Beschleunigung ihrer Aktion nahezulegen, damit sie nicht zuvor im Pestgestank ihrer Korruption und tierischen Bestialität ersticken. Der Mord an dem Studenten Baur, der selbst eine viel infamere Kanaille gewesen zu sein scheint als der arme Teufel Zwengauer, der sich von Banditen à la Ruge dazu verführen ließ, den „Kameraden“ zu erschießen und zu ersäufen, findet eben vor dem Gericht in München seine „Sühne“; d. h., da es sich um lauter „Vaterländische“ handelt, werden jedenfalls nicht die Schuldfragen sondern die Entschuldigungen gesucht werden, die eine recht sanfte Behandlung des Mörders, des Mordanstifters und der Mordhelfer rechtfertigen könnten. (Es ist natürlich ein „Volksgericht“, das da „Recht zu sprechen“ hat). Unterdessen nehmen die wirtschaftlichen Nöte täglich grimassenhaftere Formen an. In Berlin kostet eine Straßenbahnfahrt 100.000 Mark (statt 10 Pfennigen), wobei die Straßenbahngesellschaft nicht einmal in den Stand kommt, den Betrieb aufrecht zu erhalten. Er ist so gut wie bankrott. Die Münchner Zeitungsverleger erklären, ihre Unternehmungen wegen der Löhne(!) stillegen zu müssen. Doch fürchte ich, daß das eine leere Versprechung bleibt. Denn der Tod der deutschen Presse wäre der erste Schritt zur Genesung des deutschen Volks. Die Privatbetriebe entlöhnen ihre Arbeiter und Angestellten großenteils mit papiernen Lohnanweisungen: jeder Deutsche sein eigner Münzpräger! Herr Hilferding redet seit den paar Tagen, die man ihn als Finanzmann wirken läßt mit unaufhörlicher Geschwätzigkeit, und meint vielleicht, wenn Hermes mit seinem laisser faire les capitalistes, laisser aller les hommes au diable kein Geld machen konnte, wird er den Stein der Weisen – ein Hermes trismegistos – herbeischwätzen können. Die englischen und französischen Ministerpräsidenten korrespondieren inzwischen mit interessanten Noten hochjuristischer Kommentierungen von Rechten und Pflichten des Versailler Vertrages, und die deutschen Presse- und Reichstagsesel hören darauf hin, als ob das Schicksal des deutschen Volks wirklich damit was zu schaffen hätte. In Wirklichkeit theoretisieren die Chirurgen nur am Operationstisch, wie nach dem tötlichen Ausgang der Prozedur der Leichnam am besten zu sezieren sei. Den Arbeitern aber wird von allen Seiten weisgemacht, daß es keine wichtigere Forderung für sie gebe als „Durchhalten“. Die Kommunisten, die ja nie merken was not tut, und statt der einfachen Parole: was geht euch der Ruhrkonflikt an! was geht’s euch an, ob euch in Mark- oder in Frankenwährung das Fell über die Ohren gezogen wird, ob euch Kruppsche oder Creuzotsche Patronen zu Brei schießen – die nationale Parole des passiven Widerstands am lautesten blöken und – grade für Marxisten eine Glanzleistung – als Mittelstandsretter den völkischen Offizieren in die Arme sinken – Klassenkampf, Internationalität, proletarische Revolution ist überwundener Standpunkt! –, sie sind jetzt schon soweit, daß sie gegen Proletarier, die aktiv zu werden drohen, „Landesverräter!“ schreien. In der Pfalz werden die ersten Autonomiebestrebungen unter dem revolutionären Proletariat bemerkbar. Syndikalisten und Unionisten gehn in Ludwigshafen zur Offensive über – offenbar mit der Absicht, in einer autonomen, von Arbeitern geleiteten Republik wirksame Maßnahmen gegen das Chaos und die infame Bereicherung des Wuchers und der Ausplünderung der Arbeitenden zu treffen. Schon stehn verbündet gegen sie: das ganze deutsche Vaterland, mit Schupo und Parteien, mit VSP und KPD, – und alle Verleumdung und Beschimpfung, französisches Geld, Spitzel, Verräter, Lumpenproletarier, unreife Elemente und wie die Schlagworte alle heißen, ist schon wieder zu lesen, – für uns bis jetzt nur in bürgerlichen Blättern, die sich aber auf kommunistische berufen, – und die werden halt zu den Akten genommen. Ich stehe mit meiner Auffassung dieser Dinge so allein wie immer, wenn eine KP-Parole neu ist (und wenn sie überholt und durch noch neuere Weisheiten ersetzt ist, liest man dieselbe Kritik plötzlich in den eigenen Organen und hat das natürlich immer gesagt). Aber ich bin nicht glücklich darüber, sondern sehr traurig. Das ist die Wirkung der Verbrüderungspose Radek-Reventlow: Arbeiter mit Klassenbewußtsein und revolutionärem Gewissen treten isoliert zum Kampf an und die von den „Taktikern“ wirr gemachten, sonst revolutionär durchaus zuverlässigen Massen gehn statt gegen das Kapital gegen die als Verräter verlästerten besten Genossen hoch und schlagen sie mit Noskiden und Severingern zu Boden. Deutsche Marxisten!
* Es waren nur Schlaffer und Sauber anwesend. Die Begründung hieß: die Strafgefangenen könnten „aufgeklärt“ werden (wörtlich)
Niederschönenfeld, Montag, d. 27. August 1923.
Ich habe kaum eine Viertelstunde und will nur die letzten Tatsachen kurz vermerken. Vorgestern kam Zäuner aus der Einzelhaft wieder herauf. Daudistel ist noch unten. Ob er unten bleiben wird – im eignen Einverständnis –, wie manche Genossen glauben, muß abgewartet werden. Es wäre für die „Befriedung“ (terminus schmockicus in der Politik der letzten Zeit) der Atmosphäre hier oben von wahrem Segen. Gestern abend – nach dem Essen (bei dem der sonntägliche Leberkäs nicht ganz frisch war) – wurden plötzlich Schlaffer und Sandtner heruntergerufen und kamen nicht wieder. Statt dessen schickten sie nach den wichtigsten Reiseeffekten. Sie wurden heute früh, ohne vorher ein Wort davon erfahren zu haben, als Zeugen nach München transportiert. Es handelt sich um einen Fall, der mit der Mitteldeutschen Sache zusammenhängt, also um ein seit über einem Jahr von Reichswegen amnestiertes Delikt. Wir vermuten, daß die beiden heut abend oder morgen mittag wieder hier sein werden. Heute früh machten sich bei mir und bei noch vielen die Folgen des Leberkäses bemerkbar. Ich fühlte mich sehr krank und sah auch sehr krank aus. Die verdammten Rückwirkungen solcher Verstimmung auf mein Herz wurden wieder offenbar. Doch brachte ich, da ich glücklicherweise Schnaps hatte, mit dem, Herztropfen, Hungern und Stopfpulver die Sache wieder soweit, daß ich Siegfrieds Besuch ohne viel Anstrengung empfangen konnte. Er hatte nur 1 Stunde, weil ich erst vor 8 und vor 14 Tagen Gäste bei mir gesehn habe. Dabei war’s ein Abschied voraussichtlich für lange Jahre oder auch – je öfter sich solche Anfälle einstellen wie heute, um so klarer tritt der Gedanke auf – fürs Leben. Und wir sind Stiefsohn und Stiefvater, Mündel und Vormund. Der Besuch war insofern recht gut für mich, als ich die temperamentsteigernde Wirkung von 4 Schnäpsen in einer väterlichen Ermahnungspredigt gut brauchen konnte, bei der ich dem Buben etwas Feuer unter den Hintern machte, endlich auch mal die Beine zu bewegen und ohne Rücksicht auf Bruch und Not in die Welt hinauszugehn. Na, er will jetzt nach Spanien. Mag er den deutschen Geschäftsmann, der verflucht in seinem Charakter steckt, losbringen und dem Leben auch die romantischeren Freuden abgewinnen.
Niederschönenfeld, Donnerstag, d. 30. August 1923.
Ich kann die Montag unterbrochene Eintragung nicht mehr ergänzen, zumal ich die Zeit, die mir heute und morgen übrigbleibt, um Briefe noch mit 20.000 Mark fortzukriegen nicht bedeutend abkürzen möchte: von Sonnabend ab kostet das Porto für einen Brief innerhalb Deutschlands 75000 (für eine Karte 30.000) Mark, und schon wird für Mitte September noch eine weitere Multiplizierung angekündigt, bei der es natürlich auch nicht bleiben wird. – In diesen Tagen war ich hauptsächlich in Anspruch genommen durch die neue Eingabe an Radbruch und den Rechtsausschuß des Reichstags. Darin wird zum ersten Mal auch der gegenwärtige Vorstand persönlich angegriffen und im Anschluß an die Bestreitung der Rechtswidrigkeit der Ländervereinbarung über die Vereinheitlichung des Strafvollzugs unsre Verlegung von Niederschönenfeld gefordert. Die Eingabe „betr. Grundsätze über den Vollzug von Freiheitsstrafen“ geht unter der Firma „Egensperger und 14 Genossen“ hinaus, da mit Ausnahme von Daudistel, Hornung, Klingelhoefer und dem alten Schmid (von denen Klingelhoefer, ohne den Inhalt zu kennen, da er schon bei meiner ersten Verlesung, zu der er eingeladen war, nicht kam, ablehnte, die drei andern überhaupt nicht eingeweiht wurden) alle unterschrieben. Den alten Vater Schmid hätten wir getrost zur Unterschrift einladen können, was wir mit Rücksicht auf sein laufendes Bewährungsfristgesuch unterließen. Er erhielt nämlich gestern die Antwort des Volksgerichts, die mit der Begründung ablehnend lautete, er sei einer neuen Bewährungsfrist „nicht würdig“. Der 58jährige, völlig harmlose Mann wurde wenige Tage vor Ablauf seiner ersten Bewährungsfrist wegen eines aus Not begangenen kleinen Diebstahls zu den 3 Monaten Gefängnis verurteilt, die grade nötig sind, um eine Bewährungsfrist zu annullieren. Nicht würdig! Der Fall gehört zu dem demnächst vorzunehmenden Kapitel über die bewährte Methode der bedingten Begnadigungen, mit der Bayern seine Weigerung, irgendeine Amnestie zu erlassen, stets begründet. Eine ganze Serie weiterer Punkte (Zensur, Benützung der wachsenden Teuerung zu immer neuen Verschärfungen in der Wochengeldbeschränkung, das in der gegenwärtigen nur gestreifte spezialisierte Gebiet der Haushygiene etc) wird der Reichstag noch in seine Akten bekommen. In die neue Eingabe habe ich auch die Straßendemonstrationen vor unserm Kerker hineingearbeitet. Ferner habe ich wieder einen Brief an Johannes Hoffmann geschrieben, nachdem ich gestern grade auch die Bestätigung vom Reichstagspräsidium erhielt, daß die beiden früheren Eingaben richtig angelangt sind, habe ihn auf die neue hingewiesen und zugleich erklärt, daß ich grade ihn zu interessieren suche, weil er, sobald er sich überzeugt habe, daß hier Unrecht gutzumachen ist, jedenfalls besonders eifrig in dieser Richtung arbeiten werde, da dies Unrecht von einer ihm als Chef unterstellten Regierung vorbereitet und eingeleitet worden sei. – Mit den politischen Ereignissen kann ich mich wegen Zeitmangels nicht näher beschäftigen. Die KPD treibt ihre Anbiederung an den übelsten Nationalismus immer ekelhafter und ist schon bei den bekannten patriotischen Klischees der Offiziere von 1914 angelangt: „Kein Fußbreit deutschen Bodens –“ etc. Hier drinnen haben die K. P.-Genossen leider fast alle das Opfer des Intellekts gebracht und verteidigen die Parole. Ich hatte heute mit meinen besten Freunden eine lärmende Auseinandersetzung deswegen (worunter unsre Freundschaft zum Glück nicht leidet). Nur der selbständige Kopf Kains – und mit Vorbehalten der Karpfs, Schwabs und Schiffs – ist kritisch geblieben. – Was aus der innerdeutschen Wirrnis wird, weiß niemand. Der 2. September soll schon wieder Stichtag für bayerische Entscheidungen sein. Im internationalen Geschehn interessiert mich am meisten die plötzlich sehr akut gewordene Autonomiebewegung der Kroaten gegen Yugoslawien. Im Zusammenhang mit ähnlichen Regungen anderswo – wobei nicht nur an das linksrheinische Ufer innerhalb Deutschlands, sondern auch an scheinbar ziemlich lebhafte neue Bemühungen in Bayern zu denken ist, die südlich der Donau liegenden Teile mit Tirol und Oesterreich zu einem neuen „Südstaat“ außerhalb des Reichs zu verbinden, welcher Versuch den Kampf aller gegen alle – und dank der blödsinnigen „Taktik“ unsrer Kommunisten – leider nicht den reinen Klassenkrieg bedeuten würde, – in diesem Zusammenhang gesehn, kann die Raditsch-Erhebung in Kroatien der Anfang einer ganz neuen politischen Gestaltung der europäischen Grenzen abgeben. In München wurde der Mörder des nationalistischen Studenten Bauer, sein Blücherbundgefährte Zwengauer zum Tode, der Radauantisemit Privatdozent Ruge wegen öffentlicher Mordpropaganda zu einem Jahr Gefängnis und der Begünstiger des Mordes Johann Berger zu 6 Monaten verurteilt. Arco wird nun also vermutlich Gesellschaft kriegen, und vielleicht wird unsrer Eingaben-Tätigkeit ein neues Feld erwachsen, indem wir nicht mehr uns allein mit dem Mörder Eisners sondern zugleich mit der Mörderkolonie begnadigter Meuchler vergleichen dürfen. Jedenfalls werde ich die Möglichkeit, die Zustände hier auf legalem Wege draußen zu dokumentieren, solange ich noch unter diesen Zuständen zu leben habe, weiterhin ausnützen. Sollte sich die Aussicht meiner Auswechslung nach Rußland verwirklichen – und Siegfried berichtete, daß in dieser Sache etwas Entscheidendes bevorstehe –, so wäre es meine Aufgabe, von dort aus noch intensiver für die zurückbleibenden Genossen zu wirken. Aber wie die Verhältnisse jetzt stehn, ist wohl anzunehmen, daß überhaupt nicht mehr lange von einer Aera Niederschönenfeld gesprochen zu werden braucht. Schon haben sogar die sozialdemokratischen Funktionäre in München die Freilassung der politischen Gefangenen unter ihre Forderungen aufgenommen. Darin sehe ich schon die erste Wirkung unsrer Eingabentaktik nach Berlin hinauf. Die Auerochsen werden endlich von oben herunter Befehl gekriegt haben, mit ihrer reaktionären Gehässigkeit nicht die gesamte Parteipolitik zu durchkreuzen. Außerdem rechnen sie ja noch mit Neuwahlen fürs nächste Jahr, und da müssen sie sich rechtzeitig wieder an die Arbeiter anbiedern. In dem Punkt bin ich freilich mit Herrn Hitler einer Auffassung, daß ich die Durchführung neuer Parlamentswahlen vorläufig für recht zweifelhaft halte. Oder überschätze ich die Deutschen auch jetzt wieder?
Niederschönenfeld, Sonnabend, d. 1. September 1923.
Der Dollar kostet über 11 Millionen Mark. Der Zusammenbruch der gesamten Wirtschaft treibt in rapidestem Tempo dem Ausbruch der politischen Katastrophe zu. Ob grade morgen die Auslösung fällig wird, ist Nebensache. Solche Ereignisse lassen sich trotz Emil Barth nicht programmgerecht „machen“. Schon das schlechte Wetter läßt mich stark zweifeln. Es steht auch noch keineswegs fest, ob die Kanone von rechts oder von links, im Reich oder in Bayern (diese Gegenüberstellung ist schon vollständig gerechtfertigt) losgehn wird. Herrn Stresemanns Besuch bei Knilling in Mittenwald hat die Absicht, die brüchige Harmonie zwischen Nord- und Süddeutschland zu leimen, kaum gefördert, aber handgreiflich ad oculos geführt, daß man in Berlin München allein und sonst nichts in der Welt fürchtet. Eine ganze Fülle von Symptomen bestätigt diese Tatsache auch sonst und zugleich die, daß in Bayern nicht die geringste Neigung besteht, den jämmerlichen Anbiederungen der Strese- und Sollmänner Konzessionen zu machen. Die letzte „Tat“ unter Cuno bestand in der Angstannahme der neuen, das Kapital nur sehr schonend in Anspruch nehmenden Steuergesetze, denen auch die Bayerische Volkspartei und die Deutschnationalen zustimmten. Jetzt, wo die ersten Zahlungen zu leisten sind, setzt die Sabotage schon mit den rabiatesten Methoden ein, wobei Bayern wieder vornedran marschiert. Die bayerischen Industriellen erklären die ihnen auferlegten Lasten für untragbar und die Landwirte haben eine von Heim eingebrachte Entschließung angenommen, die unverblümt zum Entscheidungskampf und zur Steuerverweigerung auffordert. Von dem diktatorischen Durchgreifen Hilferdings ist es ganz still geworden. Der Mann hat bis jetzt noch nicht einmal die Beseitigung Havensteins und des Reichsbankdirektoriums erreichen können und steht jetzt der unmittelbaren Aussicht gegenüber, daß das gesamte Druckerpersonal der Reichsnotenbank wegen des Falls Großmann – des von Havenstein auf die Straße gesetzten Betriebsrats der Reichsdruckerei – in den Streik tritt, der vielleicht inzwischen schon ausgebrochen ist. Dann ist die ultima ratio aller deutschen Finanzkünstler, das Geldfabrizieren aus dem Nichts, auch am Ende, und Arbeiter, Angestellte, Beamte und Renten- oder Pensionsbezieher können den langsamen Hungertod der letzten Monate mit einigen Tagesfasten rasch zum Abschluß bringen. Das früher sprichwörtliche österreichische Verkommen ist längst in 100facher Vervielfältigung da, und die Politik dieser deutschen Republik beschränkt sich auf die Versicherung, daß alle Gerüchte, als ob eine Preisgabe des passiven Widerstands an der Ruhr – also der Hauptursache der Verelendung während der letzten 6 Monate – geplant wäre, gänzlich erlogen seien. Die Stimmung im Lande scheint ganz beherrscht zu sein von hilfloser Angst vor dem nächsten Tage. Niemand weiß, wovon er seine Familie speisen und kleiden soll, und dazwischen gellt das Gegröhl besoffener Fettbürger, das Rattern der Luxusautos, das Knallen der Sektpfropfen und das lustvolle Gelächter satter, juwelenbehängter, beinespreizender Weiber. Wissenschaftliche Bücher werden nicht mehr gedruckt – auch nicht geschrieben, da sich die Denker und Forscher des Landes kein Papier und keine Tinte mehr kaufen können (wir selbst hatten in der vorigen Woche den Fall, daß in Rain eine Flasche Tinte, die tags zuvor 5000 Mark gekostet hatte, mit 100.000 Mark berechnet wurde; so ist’s mit allem). Dafür aber pumpen sich die von Schiebern und Volksbetrügern ausgehaltenen Schmöcke auf, verhetzen die armen Teufel, die doch selbst erbarmungswürdige Opfer des Zeitungsgesindels sind, mit nationalen Redensarten und giftigen Lügen gegen die zerquälten Arbeiter, weisen mit ihren bezahlten Schmierfingern, um die Fährte von ihren Verbrechen wegzuleiten, auf Kommunisten, Juden, Republikaner, kurzum auf alles, was der Urteilslosigkeit hassenswert gemacht werden kann und bereiten wie bis und seit 1914 neue wahnwitzige Blutorgien vor, für die sie dann diejenigen verantwortlich machen und womöglich an den Galgen bringen, die rechtzeitig erkannt haben, was nötig war und ihnen dadurch ihr ekles Geschäft erschwert haben. Die Revolution, die kommt, muß als erste Tat die Zeitungsseuche erledigen, oder sie wird an ihr sterben. – Morgen also wird man die Siege von Sedan und Tannenberg – und damit die tiefsten Ursachen des Unterganges aller Kultur begeistert feiern. Die neue Reichsregierung hat ihre Vorbereitungen dazu getroffen und die Berliner Bezirksleiter der Kommunistischen Partei, den Berliner Betriebsräteausschuß und alles, was sonst revolutionärer Neigungen verdächtig scheint, verhaften lassen, wofür dem Reich der Sozialdemokrat Sollmann, den Preußen sein Parteigenosse Severing, den Berlinern beider Parteifreund Richter den Gendarmen macht. So bekommt Geßler freie Bahn, den Sedantag seiner Reichswehr zur Bekundung vaterländischen Geistes auszuliefern. Man muß abwarten, ob das Proletariat weiterhin die Rolle des schweigenden Dulders spielen wird. Überläßt es den Faszisten den Angriff, so ist natürlich deren Chance ungemein gestärkt, und wir haben mit einer kurzen Periode zu rechnen, in der sich Mussolinis Diktatur in schlechter Kopie austoben wird. Sie wird schon deswegen kurz sein, weil sie von den talentlosesten Gernegrößen der Welt gegängelt werden wird, von den bayerischen Altpreußen im zweiten Aufguß. Jetzt schon macht sich in der ganzen nationalen Politik das Gegeneinanderarbeiten von zwei unversöhnlichen Tendenzen bemerkbar, der großdeutschen (Ludendorff-Hitler) und der separatistischen Strömung (gesamte bayerische Volkspartei nebst Bauerntum). Politische Köpfe sind – außer Heim, der aber persönlich zuviel Feinde hat, um populär werden zu können – nicht dabei, wenigstens öffentlich noch nirgends hervorgetreten. Man kann bestimmt damit rechnen, daß die Gegensätze zwischen den beiden Richtungen in derselben Stunde schon ausbrechen werden, wo sie den gemeinsamen Sieg zu fruktifizieren haben werden. – Wir scheinen nun soweit zu sein, daß man sagen kann: das Stadium des latenten Bürgerkriegs ist durchlaufen, wir stehn an der Pforte zum offenen. Und während in Deutschland der Vorhang vor dem Hauptakt der Nachkriegstragödie hochgehn soll, dringt zugleich der Schwefelgeruch einer drohend nahen neuen Kriegserklärung vom übrigen Europa her. Der Ermordung der italienischen Delegation der albanischen Grenzabsteckungskommission ist ein Mussolinisches Ultimatum an Griechenland gefolgt, das dem Berchtoldschen Schanddokument an die Serben verteufelt ähnlich sieht und ganz gewiß viel weniger von moralischer Entrüstung über den Mord, den ja die Regierung des Herrn Gontama so wenig veranlaßt hat wie die Pasitschsche den an Franz Ferdinand, als vom Appetit auf Korfu oder anderm hellenischen Besitz diktiert wurde. Erreicht Italien seine Absicht – nicht die Annahme des Ultimatums, sondern den Krieg, dann ist seine Ausdehnung nicht abzusehn. Denn zu „lokalisieren“ wird er so wenig sein wie der von 1914. Aber das Ende eines neuen Kriegs ist sicher abzuschätzen: es wäre zugleich das Ende der europäischen Welthegemonie, das Ende des kapitalistischen Europas überhaupt und damit vielleicht der Anfang dessen, was ich in meinem Kriegsbuch-Fragment als politisches Ziel der sozialen Revolution postulierte: der entstaateten Vereinigung der Welt.
Niederschönenfeld, Sonntag, d. 2. September 1923.
Wieder so ein Tag, dessen mögliche Schicksalhaftigkeit einen herumtreibt und nirgends Ruhe finden läßt. Das Wetter ist, wie ich mich schon in aller Frühe durch einen Sprung vom Bett auf den Schreibtisch und ans Fenster überzeugte, wieder wunderschön: kühl und sonnig und also kein Hindernis für große Ereignisse. Ein in der Festung sehr beachtetes Zeichen besonderer Dinge wird von vielen darin erblickt, daß eine ungewöhnlich große Zahl von Aufsehern gestern, am Samstag schon, den Sonntagsurlaub antrat. Es wird angenommen, daß sie zur großen Sedan-Tannenberg-Feier nach Nürnberg durften, wo Hitler in Person die große Parade abnehmen und, wie es heißt, losschlagen will. Da das Nürnberger Proletariat nicht so unterwürfig wie das Münchner jede Provokation hinzunehmen pflegt, liegt also die Möglichkeit mindestens umfangreicher Zusammenstöße sehr nahe, und die Ernennung des bisherigen Nürnberger Regierungskommissars Gareis zum Polizeipräsidenten der Stadt – Knillings Tort gegen Luppe – kann recht wohl als vorbereitende Aktion der Hitlerschen Unternehmung gedeutet werden. Mit einer energischen Geste der Eisenbahner, die den Massenaufmarsch der Reaktion in Nürnberg leicht verhindern könnte, wird dank des Einflusses der Sozialdemokratie auf die Menschen schwerlich zu rechnen sein, und so bleiben, da die Nationalsozialisten nach dem Versagen ihrer Pläne an allen früheren Stichtagen, besonders nach der blamabeln Schlappe am 1. Mai tausend Gründe haben, ihre Leute durch eine entschlossene Aktion bei der Stange zu halten, viele Wahrscheinlichkeiten, daß dieser Sedantag kritisch verläuft. Eine Abschätzung der Aussichten, wenn wirklich der Entscheidungskampf jetzt einsetzt, wage ich nicht. Dazu gehört mehr Einblick in die psychischen Vorbereitungen in beiden Lagern als ich habe. Einmal angenommen, Hitler überschätze den Kampfgeist seiner Parteigänger nicht, aber wir überschätzen den Verzweiflungswillen der ausgebeuteten Massen, und es entsteht die Situation, die den Vaterländischen unmittelbare Beschlüsse aufnötigt, dann wird sich erst zeigen, ob für sie überhaupt die Möglichkeit besteht, auch nur bis zum Eingreifen der Entente – im Falle des großdeutschen Sieges, der den Widerstand gegen Frankreich natürlich sofort noch erhitzen müßte – oder bis zum Krach in den eignen Reihen – im Falle des separatistischen Sieges, der Bayern zur französischen Satrapie machen müßte, was die Ludendorffe natürlich nicht mitmachen könnten – das Nötige zu organisieren. Wenn es auch heißt, daß große Getreideaufspeicherungen und andre Lebensmittelhäufungen vorgesorgt seien, um sofort mit billigen Bestechungsmitteln im großen Maßstabe auf den Markt zu kommen, so genügt das kaum, um ein Gefühl wirklicher gewährleisteter Ordnung zu schaffen. Dazu müßte ein sehr fester, ganz einheitlicher Wille in allen Ressorts des öffentlichen Lebens spürbar sein, der robust und brutal sein kann, aber keinen Mangel an Konsequenz erkennen läßt. Aber wir leben unter Deutschen. Die machen alles nach Lehrbüchern und folglich klappt nichts. Die Geschichte kennt das Beispiel der „nationalen Diktatur“ xmal. Sie entstand immer dann, wenn in eine Wirrnis der kraftvolle Griff eines einzelnen Mannes hineinfuhr, sich alles unterordnete, was ihm im Wege stand oder was er brauchen konnte und dann eben als Diktator wirkte. Jede Diktatur wurde errichtet, wenn ein Diktator aufstand und da war. So machte es Caesar, so Napoleon, so auch Mussolini (ein Miniaturheld im Vergleich mit den andern, aber an den Maßen der Zeitgenossen gemessen, immerhin ein Kerl von Format). Bei uns hat ein Professor ausgerechnet, daß halt ein Diktator da sein müßte und so beschließt ein Verein, ein Diktator muß kommen. Die Diktatur kann also heute am Ende perfekt sein, bloß daß man einen Diktator für sie findet, glaube ich nicht. Hitler? Ein Schönredner, der die massiven Töne übt. Ludendorff? Ein Militär ohne einen einzigen eignen Gedanken, der außerhalb seines Fachs läge. Kahr? Ein Bürokrat, der seine Rückständigkeit bis zur fixen Idee gesteigert hat und der nur als Sprechmaschine für fremde Energien zu brauchen ist. Vielleicht Ehrhardt! Der Kerl hat wenigstens wirklich Elan. Aber ist er zur Stelle und ist ein Haudegen allein imstande, alles zu meistern? – Vielleicht wissen wir in 24 Stunden mehr. Unser eignes Los hängt wieder an dünnen Fäden, und wir armen Marionetten wissen nicht, welcher Faden gezogen wird und wieviel Fäden reißen werden. – Wie wenig die regierenden und justizübenden Mächte des Landes noch mit einer Änderung in Bayern rechnen, zeigt sich in einer neuen Entscheidung des Volksgerichts Würzburg über ein Bewährungsfristgesuch von Hornung. Abgelehnt: die Schwere des Vergehns, das mit 10 Jahren Festung bedacht wurde, läßt die Weiterverbüßung der Strafe notwendig scheinen. Die gute Führung am Strafort ist kein Beweis dafür, daß Hornung in der verhältnismäßig kurzen Zeit der verbüßten Strafe (seit 1919!) sich „so gebessert“ habe, daß nicht bei der gegenwärtigen bewegten politischen und wirtschaftlichen Lage ein „Rückfall“ zu befürchten wäre. – Ein köstliches Eingeständnis von Schwäche und Angst bei gänzlicher Unfähigkeit, die eignen Empfindungen als Schwäche und Angst zu erkennen. Unser bester Trumpf ist immer noch die bodenlose Borniertheit aller derer, die in Bayern Macht ausüben.
Niederschönenfeld, Montag, d. 3. September 1923
Wir sind so klug als wie zuvor. Die Zeitungen konnten ja auch heute noch nichts über die gestrigen Ereignisse bringen. Aber daß überhaupt Post gekommen ist, beweist zunächst, daß vorerst nichts Entscheidendes geschehn ist. Immerhin sind wieder sehr viele Zeitungen zu den Akten gegangen (mir wurde außer etlichen Tagesblättern eine Sendung des Syndikalist wegen „Fremdsprachigkeit“ zurückgehalten, die ich „binnen zwei Tagen“ – eine peinliche Neuerung, da man früher solche Sachen liegen lassen durfte, bis ein Besuch sie mitnahm, ohne hohe Portokosten zu verursachen – fortschicken darf). Die wichtigste Tatsache ist die unmittelbar akute Kriegsgefahr Italien-Griechenland, da die Italiener gleich in medias res gegangen sind und, da ihnen die griechische Antwort auf das Ultimatum, die einige Vorbehalte wegen Eingriff in die Souveränität macht, unzulänglich erscheint, Korfu bombardiert und besetzt haben. Die deutschen Presseschurken, die vor 9 Jahren die Serben als Hammeldiebe und verlauste Mordbuben beschimpften, weil ihre fast völlige Annahme der österreichischen Demütigungen den Wien-Budapester Verbrechern die Giftbombe nicht aus der Hand geworfen hatten, entrüsten sich jetzt über Mussolini und finden, daß man die armen Griechen doch nicht gänzlich entwürdigen könne. Die Engländer, denen Korfu als Flottenstation auf dem Wege nach Indien für den eignen Bedarf begehrenswert scheint, und die überdies verhindern möchten, daß Italien sich die Adriapforte auch noch mit der Portiere Kreta verschönern könnte, mimen ebenfalls die Entrüsteten, während die Franzosen die Moral diesmal in den Winkel zu stellen scheinen, da sie sich für die Ruhraktion Mussolinis Sympathie befestigen möchten. – In dieser Angelegenheit scheint nun auch bald neues Leben zu werden. Herr Poincaré, gestützt auf die unbedingte Gefolgschaft der Belgier, denkt an kein Nachgeben, während sich in Deutschland Zeichen bemerkbar machen, als ob die Stresedinge und Hilfermänner ganz gern kapitulieren möchten, wenn sie nur wüßten, wie man das machen kann, ohne daß das liebe Publikum es merkt. Korrespondenz-Enten, daß die Benützung der Regiezüge für wichtigen Lebensbedarf freigegeben werden solle, wurden natürlich entrüstet dementiert. Denn die nationalistischen Schmöcke schreien Zeter und Mordio, und die Deutschnationale „Volkspartei“ läßt ihr Programm los, dessen lieblichste Blüten sind: Einstellung aller aus dem Versailler Vertrag geschuldeten Lieferungen, Verschärfung des „passiven“ Widerstands, Volksbewegung zur Revision der „Schuldlüge“ (Serbien, Rußland und Frankreich haben bekanntlich angefangen und Belgien hat die Neutralität gebrochen!), Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht, Diktatur (gesucht wird noch ein Diktator und das zu diktierende Programm). Diesen Kraftmeiern gegenüber zoppt natürlich die ganze Regierung der „Tat“ zurück. Sehr erregt sie den Unwillen selbst der bürgerlichen Demokraten wegen gewisser Besetzungen wichtiger Ämter mit reaktionärsten Leuten (als Reichspressechef wird ein Major berufen). Auf der andern Seite ist Stresemann sicher nicht Esel genug, um nicht die gänzliche Hoffnungslosigkeit des Ruhrabenteuers zu begreifen. Der englische Sozialist Tom Shaw, der das Gebiet bereist hat, berichtet, daß die gesamte Arbeiterschaft dort gegen gewisse Bedingungen (Amnestie, Rückkehr der Vertriebenen und dergl) jederzeit zur Aufgabe des passiven Widerstands bereit sei, und die sozialdemokratische Diplomatie ließ dazu in der parlamentarischen Korrespondenz einen halb befürwortenden Kommentar schreiben. Erst die nationale Komödie ungeheurer Empörung über den brodelnden Verrat hat sie wieder stille gekriegt, und so müssen die Arbeiter an der Ruhr, deren Meinung Shaw zweifellos richtig zusammengefaßt hat, bei Abstimmungen weiterhin die Führer walten lassen, die ihnen die fertige Entrüstung in wohlredigierten Resolutionen vorlegen, – und wess Marken ich klebe, dess Stimmvieh bin ich. Diese kirchenfromme Verzichtleistung auf alle eigne Initiative und Verantwortung zugunsten beamteter „Führer“ ist ebenso das Schicksal der deutschen Arbeiter wie der deutschen Nationalisten. Sie haben die gleiche Schule absolviert: die bismarxistische. So kommen sie zu keinem Entschluß, weil sie immer auf das Signal der Führer warten, und die geben es nicht, weil die der Arbeiter nicht die Kurage haben, eventuell ihre Beamtenstellung aufs Spiel zu setzen und die nationalen Führer dank der Aussichtslosigkeit ihres Wollens, die soviel Richtungen schafft wie Propagandisten da sind, teils aus Unklarheit teils aus Rivalität gegen einander nicht zum Handeln kommen können. Vielleicht sieht Hitler ein, daß das immer wiederholte Vorüberlassen der großmäulig angesagten Stichtermine allmählich zur Lächerlichkeit und zum Abspringen der aktivsten Gefolgschaft führen müssen. Für diesmal ist die Entscheidung bis zum 10. September angesagt worden. Allerlei Symptome lassen auf umfangreiche Vorkehrungen schließen (dazu gehören die Getreideaufkäufe, die Entschließungen der Industriellen und der Landwirte gegen die Steuergesetze und last not least ein Rendezvous in Prinz-Ludwigshöhe bei Ludendorff, der zugleich als Gäste bei sich sah den „zufällig“ grade in Bayern kurmachenden Hindenburg, Kahr, Helfferich und – Stinnes mit Gattin). Die militärische, politische und finanzielle Drahtziehkompanie scheint also einig und bereit zu sein, wenigstens von der großdeutschen Richtung. Zugleich hört man, daß die separatistischen Bayerischen Klerikalen bereits Knilling absägen und Schweyer an seine Stelle setzen wollen. Das hieße Frankreich, den „Erbfeind“ einladen, die Konflikte mit denen auszugleichen, die – auch eine der deutschnationalen Forderungen – damit anfangen wollen zu regieren, daß sie die Ententemissionen zum Lande hinausschmeißen. Das Obst wird langsam mulmig an den Aesten. Der Dollar wird mit 12 – 14 Millionen gemeldet. Die Wirtschaft verfault. In Deutschland aber verreckt ein Volk hungernd im Rinnstein, und wartet auf die bezahlten „Führer“, die es – zur Monarchie oder zur Räterepublik, jedenfalls aber zu irgendeiner „Wertbeständigkeit“ emporziehn sollen. – Zenzl schreibt, sie fühle, daß ich bald bei ihr sein werde. Trotz allem: ich auch.
Niederschönenfeld, Dienstag, d. 4. September 1923
Herr Oberregierungsrat Hoffmann hat mir schon wieder Anlaß gegeben, dem Rechtausschuß des Reichstags mit einer Eingabe lästig zu fallen. Die wird mich sicher wieder 2 – 3 Tage aufhalten, und das Tagebuch wird dahinter zurückstehn müssen. Ich hatte vorgestern nach Besprechung mit Luttner einen Brief an Lehmann-Rußbüldt geschrieben, in dem ich ihm als Sekretär der Liga für Menschenrechte die Notlage darstellte, in der wir uns infolge der ungeheuren Teuerung befinden und ihn bat, eine Aktion in die Wege zu leiten und eventuell mit Hilfe der Roten Hilfe und der Quäker bei Freunden und Genossen in England, Holland und Skandinavien eine Sammlung in allerlei Naturalien für uns zu veranstalten. Gebeten wurde hauptsächlich um Tabak, Zigaretten, Schnupftabak, Schreibmaterialien, Nähzeug, Konserven, Mehl, Kondensmilch u. s. w., und begründet war die Bitte hauptsächlich damit, daß die früher gewohnten Paketsendungen fast ganz aufgehört haben und wir uns erst recht nichts mehr kaufen könnten. Eröffnung: der Brief wird zu den Akten genommen 1) weil er geeignet ist, dem Strafvollzug Nachteile zu bereiten, 2) weil der Festungsgefangene Mühsam sich zum Sachwalter anderer aufwirft. – Früher wurden Briefkonfiskationen damit begründet, daß mehrere Unterschriften drunter standen, jetzt, weil ich allein zeichne. Die Eingabe wird an dieses Verbot, das wir alle als Repressalie wegen der von voriger Woche betrachten, anknüpfen und den ganzen Komplex, der hier berührt ist, und zwar die Zensurmethoden und die Benutzung der wirtschaftlichen Not zur dauernden Verschärfung speziell der Kuratelmaßnahmen gegen uns behandeln. Man verbietet uns also jetzt noch die Inanspruchnahme der Hilfsbereitschaft von Freunden, während man unser Wochengeld zur Zeit in Höhe von 2 Briefmarken hält und während jeder Kauf einen Multiplikationspreis von etwa 2 Millionen zur Mark bedingt. Zugleich sinkt Qualität und Quantität der Hausverpflegung und niemand kann mehr die Seinen um etwas bitten. Bald ist’s genug!
Niederschönenfeld, Donnerstag, d. 6 September 1923
Bei allen Menschen – das geht aus Briefen und den wenigen Zeitungen hervor, die man uns freigibt, und das hat jeder von uns selbst in den Nerven – herrscht das Gefühl naher großer und wilder Ereignisse. Es ist, als ob die grauenhafte Erdbeben- und Vulkankatastrophe in Japan, die die Zerstörungen von Lissabon und Messina an Umfang und Schwere weit zu übertreffen scheint, ein Zeichen des Himmels sei, daß die Welt untergangsreif ist und die Menschen nur vollenden sollen, was sie seit 1914 so talentvoll begonnen haben. Die Italiener haben das Signal ja gegeben, und die Frage, ob nun der Krieg mit Griechenland gleich den Anfang alles Endes einleiten soll oder ob das diplomatische Gemächel der Geschäftshalunken Europas diesen Hebel wieder zurückstellen und eine besser geeignete Kurbel andrehn wird, ist ziemlich belanglos, da überall Brandherde glimmen und mit dem schwächsten Blasebalg in helles Lodern gebracht werden können. Griechenland hat den „Völkerbund“ angerufen, England will mit diesem Jammerinstrument eingreifen, um die Errichtung italienischer U-Boot-Stützpunkte im Mittelmeer zu verhindern und beruft sich auf die 1863 garantierte „ewige“ Neutralität Korfus, worauf Mussolini mit Recht auf die Benützung der Insel durch England während der Dauer des Kriegs zu maritimen Zwecken verweist, Yugoslawien, Rumänien, Bulgarien und Gott weiß wer noch alles rüstet, und die Schmöcke aller Zonen blasen teils ins Feuer, teils orakeln sie darüber, ob der Völkerbund nun wohl stärker sein wird als die Interessen der verschiedenen internationalen Kapitalistengruppen. In Deutschland wird auch noch orakelt, obschon keine Pythia mehr tolleres weissagen könnte als schon ist und von diesem Volk mit resignierter Hinnahme mitangesehn wird. Der Dollar steht bei 14 Millionen und wird trotz aller Devisenverordnungen und Hilferdingschen Sanierungsakrobatik unter der Hand schon mit 18 Millionen und noch teurer gehandelt. Stresemann redet sich allmählich schußreif und kündigt vorerst noch durch die Blume (Stuttgart) die Kapitulation in der Ruhrgeschichte an. Die Deutschnationalen verbünden sich mit den Völkischen zum Kampf unter Anführung der bayerischen Regierung gegen die Steuergesetze des Reichs. Während Vater Stinnes bei Ludendorff die finanziellen Anforderungen des militärischen Krachs gegen die deutsche Republik berechnet – weil sie mit dem „Erbfeind“ schäkert – macht Stinnes junior den Franzosen das Angebot zu erfüllen was sie verlangen, wenn der Stinnesdynastie die deutschen Eisenbahnen überlassen werden. Die schwebende Reichsschuld hat 1000 Billionen Mark überschritten, das Reich deckt durch Einnahmen kaum 1½ Prozent seiner Ausgaben, wovon wieder noch kaum die Hälfte durch Steuern aufgebracht wird. Die „Nationalen“ aller Schattierungen rufen zur Steuerverweigerung auf, und die sozialdemokratischen Schnallentreiber des Kapitals beweisen ihre Brauchbarkeit durch Kommunistenverfolgungen größten Stils. Der arme Zeigner versucht noch, ein bißchen Charakter zu wahren und droht mit neuen Enthüllungen gegen Geßler, nachdem schon verraten ist, daß Herr Cuno die Absicht hatte, den sächsischen Ministerpräsidenten zu verhaften. Die Kommunisten selber haben sich mit ihren patriotischen Parolen um jeden revolutionären Kredit gebracht und niemand weiß, was nun eigentlich geschehn soll. Herr Hilferding soll – nach 14 Tagen! – schon amtsmüde sein. Paul Levi, der Führer der linken Opposition bei den Sozi verlangt Austritt aus der Großen Koalition, und wir dürfen unsern Geist bemühen, das weitere zu erraten, da Herr Hoffmann fast garkeine Zeitungen mehr hereinläßt. Das ist natürlich bei manchen Genossen Anlaß, ihre Nervosität in Aktionspläne zu ergießen, die schon deshalb töricht sind, weil wir draußen garkeine Stütze für besondere Kundgebungen hätten. Die kommunistische Presse in Bayern ist unterdrückt, die Versammlungen revolutionärer Arbeiter sind unmöglich, und die bayerischen Sozialdemokraten markieren zwar im Augenblick Opposition – nachdem sie sich noch vor 14 Tagen der Regierung Knilling als Bundesgenossen angetragen haben, aber mit Hohn abgewiesen wurden –, werden uns aber in jeder ernsten Situation genau so verraten wie sie es immer getan haben. Meine Eingabe an den Rechtsausschuß des Reichstags, die leider noch nicht recht weit gediehen ist, wird wenigstens wieder Material für diejenigen Genossen draußen liefern, die gewillt sind es zu benutzen. Vielleicht wird die überstraff gespannte Sehne des Weltgeschehns ohnehin reißen, bevor die sehr zweifelhafte Bemühung solcher Freunde einzusetzen braucht. Als erheiterndes Intermezzo sei die Tatsache notiert, daß man – ausgerechnet in München – meinen „Morgen“-Redakteur (Berlin 1908) Karl Schnitzler verhaftet hat, den „Rembranddeutschen von Schmargendorf“, wie Harden ihn nannte. Er sieht nun seinem Freispruch wegen der Teilnahme am Kappputsch vor dem Reichsgericht entgegen. Natürlich hat man ihn nicht wegen Hochverrats in München hochgehn lassen, und wahrscheinlich wäre ihm dort überhaupt nichts passiert, wenn er unter seinem richtigen Namen gereist wäre. So aber führte er einen falschen Ausweis bei sich und wurde unter dem nom de guerre als Zechpreller festgesetzt. Semper idem!
Niederschönenfeld, Sonnabend, d. 8. September 1923.
Im Hause ist Großreinemachen, für mich die schrecklichsten Tage. Gestern war meine Zelle an der Reihe, heute habe ich meine Bücher wieder einsortiert und kann nun anfangen, die Versäumnisse an Briefen und an der neuen Eingabe nachzuholen. Aber das Tagebuch kann in diesen Tagen, die allem Anschein nach schon den bevorstehenden Ereignissen zugerechnet werden müssen, nicht vernachlässigt werden. Auch die kleinen häuslichen Sensatiönchen sollen der Vollständigkeit halber vermerkt werden. Da hätte ich schon das vorige Mal eintragen sollen, daß wir wieder einen „Zugang“ haben. Am 5ten kam aus dem Gefängnis zur Nachverbüßung von 1 Jahr der Rotgardist Josef Fischer. Wir sind also wieder 20 Mann, wenn Amereller, der von Erlangen kaum hierher zurückkommen wird, abgerechnet und Daudistel mitgezählt wird. Was eigentlich mit Daudistel los ist, wissen wir nicht sicher. Er hatte, wie wir beobachten konnten, unten in der Einzelhaft Gelegenheit zum Teekochen, scheint also mit eignem Einverständnis in Dauerabsonderung genommen zu sein. Seit einigen Tagen sieht man ihn aber nicht mehr im Hof seinen Mittagsspazierweg gehn. Wir haben daher die Vermutung, daß er eine Gefängnisstrafe, die er noch zu absolvieren hatte, jetzt abmacht. Der arme Kerl! Bei seiner krankhaften Unverträglichkeit ist ja seine Abwesenheit von hier eine wahre Erholung, aber grade die Abwesenheit des Menschen erinnert einen doch auch an das Versöhnliche, daran, daß der Mann so gut wie wir Opfer der schändlichen Justizmethoden ist und ganz gewiß bei seinem Nervenzustand nicht eingesperrt gehört. Solange seine Effekten noch hier oben verwahrt werden, werde ich Daudistel in meinen Präsenzlisten nicht streichen. – Die Zensur tobt sich wieder in der empfindlichsten Weise aus. Zeitungen und einlaufende Briefe werden massenhaft zurückgehalten. Dabei habe ich das Pech, daß alle drei Zeitungen, die mir zugesichert wurden, nicht eintreffen. Zenzl schrieb, die Münchner Neuesten Nachrichten seien für September weiter abonniert. Außer einer Nummer ist keine gekommen. Die Berliner Volkszeitung hatte ein Gratisabonnement für die Dauer bewilligt. Seit 1. September ist die Zeitung ausgeblieben, und die Frankfurter Zeitung, die ein Balkangenosse, der in Darmstadt studiert, für mich bestellt hatte, scheint ebenfalls in diesem Monat nicht rechtzeitig eingewiesen worden zu sein. Dazu kommt, daß auch der Miesbacher Anzeiger, der Ende des vorigen Monats plötzlich wieder ein paar Nummern sandte, seit dem Ersten ebenfalls fehlt, sodaß ich und mein Kreis zur Zeit ohne eigne Zeitung sind, mit Ausnahme der Wiener Roten Fahne, die aber regelmäßig zu den Akten genommen wird. So kriegen wir die Blätter der übrigen Genossen immer erst mit Verspätung und mit der Verpflichtung, sie schnell weiterzugeben, sodaß grade im Moment recht unangenehme Lücken in der Übersicht über die Vorgänge entstehn. Wir[Was] wir aber wissen, ist immerhin geeignet, uns lebhaft genug zu bewegen. Der Dollar ist bereits bei 44 Millionen angelangt, sodaß die Geschäfte, die, wie vorige Woche in der Frankfurter Ztg stand, zum 15. Oktober Abschlüsse zum Dollarkurs 75 Millionen abgeschlossen haben, jedenfalls ein Glanzgeschäft machen werden, da dieser Stand, wenn nicht große Überraschungen kommen, wohl schon am 15. September erreicht sein wird. Die Zehn-Millionensprünge in Abständen von Tagen und selbst Stunden jetzt, werden wohl binnen kurzem schon von 100-Millionendifferenzen abgelöst werden, da ja die Umrechnung aus dem Stande der Mark in Amerika vorgenommen wird, und dort folgen in dem winzigen Dezimalbruch dem Komma schon jetzt eine lange Serie von Nullen und jede kleinste Verringerung der Ziffer dahinter bewirkt dann in der Übertragung auf die Mark schon eine Zifferndifferenz von soviel Stellen wie der Dezimalbruch lang ist. Zur Zeit entspricht einem Friedenswert von 10 Pfennigen ein Gegenwartswert von 1 Million Mark. Es besteht garkein Grund daran zu zweifeln, daß aus dieser Million auch noch eine Milliarde werden kann, solange das gequälte Volk dieser Entwicklung wie bisher zusieht. Gewiß deutet vieles darauf hin, daß der Karren kurz vor dem Umwerfen steht. Aber bisher ist nicht zu erkennen, ob er nach rechts oder nach links kippen wird und was dann entsteht. Schon hat Stresemann und nach ihm der Wirtschaftsminister Raumer erklärt, daß das derzeitige Reichskabinett, falls es ihm mißlänge, die deutsche Wirtschaft wieder in Stand zu setzen, das letzte verfassungsmäßige sei. Aber niemand hat eine klare Vorstellung, was denn eigentlich an seine Stelle treten wird, wenn, was doch alle Wahrscheinlichkeit für sich hat, aus dem von Cuno, Hermes und Becker zurückgelassenen Dreckhaufen ein legaler Ausweg überhaupt unmöglich ist. Vorschläge sind ja massenhaft da. Goldstein und Kuczinski wollen den Staat durch Erste Hypotheken und Aktien auf sämtliche Immobilien zum Hauptnutznießer des Privatkapitals machen. Sie rechnen nicht mit der realen Macht der Kapitalisten, die schon minder durchgreifende Forderungen einfach nicht anerkennen. Hilferdings eignes, gesetzlich schon bestätigtes Expropriationsprogramm im Duodezformat stößt ja in dem Augenblick, wo es sich zuerst in der Praxis durchsetzen will, auf schlankweg unüberwindliche Hindernisse, da Industrie und Landwirtschaft die Sabotage schon eher durchorganisiert haben als ihnen ein Pfennig herausgeholt werden konnte. Jetzt jagt eine Notverordnung die andre und keine wird ein längeres Leben haben als ihre Vorgängerin. Man will alle Devisen nach Möglichkeit in den Besitz des Reichs bringen (will heißen der Reichsbank, deren Präsidium trotz aller sozialdemokratischen Tänze immer noch in den Händen der Herren Havenstein und Glasenapp liegt). Die letzte Verordnung verlangt nun also energisch die Ablieferung und verspricht, um Hemmungen zu überwinden, Straffreiheit für den nach früheren Verordnungen unerlaubten Erwerb der abzuliefernden Devisen. Das Resultat ist, daß die geschäftstüchtigen Kapitalisten auf solch verbotenen Wegen jetzt erst Devisen kaufen und sie mit Gewinn ans Reich weitergeben, das ihnen ja wegen der Erwerbsmethode nichts mehr antun darf. Die Devisen aber, auf die es Herrn Hilferding ankam, behalten sie für noch ergiebigere Spekulationen. Und wie beruhigt man das leidtragende Publikum? Man kündigt für heute oder morgen eine neue Notverordnung an, die entweder sofort wieder spekulativ fruktifiziert wird, oder, falls es wirklich gelänge, sie so zu fassen, daß dazu keine Handhabe bleibt, wird man von den enttäuschten Spekulanten unter Zwinkern mit den Waffen der eignen Wehrmacht dieses burlesken Staates zur schleunigen Zurücknahme der Verordnung gezwungen. – Nun rücken unter Helfferichs Beistand die Industriellen und auf der andern Seite die Agrarier* mit eignen Lösungsvorschlägen des Währungsproblems heraus, die beide darauf beruhen, daß die gesamte Wirtschaft des Reichs dem Privatkapital überantwortet werden soll, wogegen die Kapitalisten, bzw. der Grundbesitz eine auf der Einheit des Roggenwerts aufgebaute Feingold-Währung garantieren würde. Der Staat hätte dann die Rolle der Exekutive der Besitzenden ausgespielt und würde einfach die eines technischen Büros des privaten Industrie- oder Landwirtschaftskapitals übernehmen. Die Sozialdemokraten werden trotz des gescheiten Kopfes, den sie als Finanzminister gestellt haben und der die Konsequenzen sofort übersieht, der peinlichen Alternative gegenüberstehen, auch zu dieser Kastration das Messer zu führen oder durch Annahme proletarischer Forderungen ihre gesamte Politik seit 1914 zu verleugnen. Für mich ist kein Zweifel, daß sie das Erstere wählen werden, das sie für das „kleinere Übel“ halten werden, wenn auch die Opposition in ihren Reihen zu wachsen scheint. Meinungsdifferenzen gibt es allerdings auch bei den Kapitalisten selbst. Daß die von Stresemann eingeleitete Politik der der Stinnes, Klöckner, Wolff und ihrer Konzerne strikt entgegengesetzt ist, merkt jeder, der nicht – wie es die Marxisten tun – alle komplizierten Dinge unter eine festgelegte Formel bringen und damit versimpeln. Sie sagen: Stresemann ist auch heute noch der Syndikus des Industriellen-Verbandes, wenn er auch als Reichskanzler formell dieses Amt nicht ausüben kann. Also ist er der Kommis von Stinnes. Das ist Unsinn. In Stresemann und Stinnes verkörpern sich zwei verschiedene industrielle Ausbeutungstendenzen. Stinnes protegiert die von Cuno inaugurierte Ruhrpolitik, die für ihn das einträglichste Inflationsgeschäft ermöglicht. Er schafft sich durch die Ausplünderung des Volks mit dem Papierwischverfahren ungeheure Reichtümer in die eigne Tasche, die er großenteils im Ausland rationell arbeiten läßt. Er profitiert also unmittelbar aus dem Chaos der Wirtschaft. Stresemann dagegen interessiert sich nicht für den unmittelbaren Gewinn des einzelnen Großspekulanten. Ihm liegt an der Wiederaufrichtung des deutschen Kapitals als konkurrenzbildender Faktor auf dem Weltmarkt. Er will das Währungschaos aus der Welt haben, um vor allen Dingen das Bestreben, das er schon als Kriegsziel propagiert hat, zu fördern, die Zusammenfassung der Koksausbeutung im Ruhrgebiet und der Erzausbeutung im Minettegebiet. Damals wollte er das durch Annexion von Longwy und Briey also durch Sieg, jetzt durch Kapitalskontrakte erreichen. Daher sein Bestreben, mit Frankreich zu Verhandlungen zu kommen, bei deren Abbruch – wegen der Frage 40 + 60 oder 50 + 50 Prozent – ja eben die Besetzung auf der einen, der passive Widerstand auf der andern Seite folgte. Vielleicht gelingt es ihm auf der Grundlage 55 % für Frankreich, 45 % für Deutschlands Industrielle ein Kompromiß zustande zu bringen. Daß er und seine Regierung die Arbeiter genau so übervorteilen wird wie seine Vorgänger, liegt auf der Hand. Er wie auch Raumer haben ja schon deutlich genug gesagt, daß zu ihrem Programm die Abschaffung des 8Stundentags und womöglich die generelle Wiedereinführung der Akkordarbeit gehört. Vorerst weiß kein Mensch, wie weit die Herren überhaupt kommen. Im Innern gärt es allerorten. Der „Deutsche Tag“ in Nürnberg mit dem Arbeiteropfer und dem tags drauf erfolgten Totschlag eines völkischen Ingenieurs haben grade dort die Leidenschaften außerordentlich in Wallung gebracht, und die provokatorischen Maßnahmen des dort auf Befehl der nationalen Verbände zum Polizeipräsidenten ernannten Herrn Gareis können grade in Nürnberg jetzt den Kessel zum Platzen bringen. Hinzu kommt der sich verschärfende Konflikt Geßler-Zeigner. Der sächsische Ministerpräsident zeigt sich, offenbar sehr zum Verdruß seiner im Stresemann-Kabinett wirkenden Genossen, charakterfester als man hätte voraussehn können. Es scheint nun wirklich um die Frage zu gehen: Geht Geßler? Geht die Dresdner Ministerfronde oder geht die „Große Koalition“ in die Brüche? Das Ganze ist wohl nicht übertrieben wichtig, gehört aber zum Bild. Dazu kommt die fürchterlich wachsende Arbeitslosigkeit. In Sachsen allein drohen über 2000 Betriebe mit Stilllegung – und die Teuerung geht ins Ungeheuerliche (1 Semmel = 75000 Mark, ein Liter Milch beinah eine halbe Million**). Und überdies die unmittelbar drohende Kriegsgefahr im Süden Europas. Die kleine Entente nimmt gegen Italien Partei und droht, falls der „Völkerbund“ die Geschichte nicht reguliert, Austritt daraus. Brasilien und Uruguay umgekehrt drohen Austritt, falls der Völkerbund eingreift. Mussolini treibt indessen weiter die Politik, die er den Alldeutschen abgelernt hat. Da er die Freundschaft Yugoslawiens mit Griechenland kennt, provoziert er auch die Serben und läßt in der Fiumefrage ein Ultimatum nach Belgrad gehn. Ob der Krieg, dessen Ausdehnung noch nicht abzuschätzen ist, noch vermieden werden kann, hängt vom Willen Englands und Frankreichs, beziehungsweise von der Möglichkeit ab, diesen Willen auf einen Faden zu ziehn. Das tolle Chaos aber in aller Welt wird noch vergrößert durch das Eingreifen des göttlichen Donnerkeils. Die Verwüstungen und Todesopfer in Japan sind entsetzlicher als alles was je Naturkatastrophen gezeitigt haben. In den Zeitungen aber liest man: an der Londoner Börse fallen alle japanischen Wertpapiere. Ja, die Zeitungen. Die haben gute Tage jetzt. Ihr größtes Erlebnis aber ist die Bereicherung der Schmocksprache mit einem neuen Wort. Mit der Plötzlichkeit, mit der den deutschen Schmierern eine ganz unbekannte Vokabel wie ein mit der Muttermilch eingesogener Begriff geläufig ist, erscheint seit gestern in den Druckorganen aller Richtungen das Wort die „Repudation“ der Mark. Ob es von pudore, die Scham, abgeleitet ist? Schwerlich. Diese Empfindung liegt doch unsern Journalisten garzu fern, als daß sie sie auch nur für die von ihnen geförderte Volksanspornung bewegen könnte. Kommt es von Puder und soll etwa die „Zerstäubung“ der Mark bedeuten? Vielleicht. Vielleicht hat ein Schmock auch mal was von Repudiation gehört, und die „Verschmähung“ des Markfetzens von aller Welt soll bezeichnet werden. Wer weiß es? Die Journalisten, die dem Bürger damit eine neue Gelegenheit schaffen, Bildung zu markieren, kennen die Bedeutung des Wort[s] gewiß nicht: weder mit i noch ohne. Es ist auch einerlei, und sie werden noch solange den deutschen Bildungsmarkt mit verwegenen neuen Worten bereichern, bis endlich mal die „Repudation“ ihrer Reputation Tatsache sein wird.
* umgekehrt!
** schon weit überholt!
Niederschönenfeld, Montag, d. 10. September 1923
Ich murkse immer noch an der neuen Eingabe herum. Das kommt hauptsächlich daher, daß meine Zeit zum größten Teil von der Suche nach Zeitungsblättern beansprucht wird, deren Lektüre dann auch wieder auf alle möglichen Tagesstunden verteilt werden muß. Das Ergebnis der Zeitungslektüre ist dann wieder der bewußte Kitzel in den Nerven, den die aufs äußerste komplizierte und schicksalsträchtige Situation bewirkt. Der Dollar ist über die 50 Millionen hinüber und wenn auch im Sonntagsblatt eine leichte Senkung notiert wird, so weiß niemand, wielange sie vorhält, und ob nicht morgen schon die 100 Millionen erreicht sind. Herrn Hilferding ist ein Devisenkommissar beigegeben worden, ein Geheimrat Fellinger, der mit besonderen Vollmachten ausgerüstet ist und der neuen Notverordnung Geltung verschaffen soll. Der Währungsausschuß des Reichstags hat das Helfferichsche und das industrielle Programm geprüft und verworfen. Ich habe mir diese beiden Vorschläge noch einmal gründlich durchgesehn. Es ist die tollste Zumutung an die arbeitende Bevölkerung, die sich au[s]denken läßt. Beide zielen zunächst darauf ab, das bis jetzt doch noch nicht angetastete Noten- und Münz-Reichsmonopol in die Hände des Besitzes zu überführen. Helfferichs „Neumark“ und Minoux’ „Goldtaler“ haben überdies die Eigenschaft, eine Doppelwährung einzuführen, durch die das Reich und das Volk mit Papiergeldfetzen, Handel, Industrie und Großgrundbesitz hingegen mit „wertbeständigen“ Zahlmitteln arbeiten würden. Beide Pläne knüpfen übrigens wieder an die grade populäre Phrase an: ein wertbeständiges Zahlmittel muß her! Als ob’s am Zahlmittel und nicht am Wirtschaftsverfahren läge. Nun aber schreit alles: so geht’s nicht weiter, und nur eine Diktatur kann noch retten. Die Völkischen verstehn darunter: Ludendorff muß Frankreich verhauen, die Kommunisten meinen beinah dasselbe, nur möchten sie gern die Firma Diktatur des Proletariats irgendwie sichern. Aber das Lustigste ist, die Sozialdemokraten, die bisher mit der Redensart: keinerlei Diktatur! ihr Geschäft zu machen versuchten, brüllen jetzt: der Finanzdiktator muß es machen und scheinen eine Art wirtschaftliches Direktorium unter Hilferdings Präsidium im Auge zu haben. Die nationalistischen Blätter (so der „demokratische“ Fränkische Kurier) zetern fürchterlich und wissen sogar schon von dem 4Männer-Kollegium zu berichten, das anstelle „des deutschen Volks“ (will sagen der Reichstagsbanausen) alles nach freiem Ermessen bestimmen soll. Genannt wurden: Stresemann, Hilferding, Wirth und Hirsch. Also Stresemann wird da in Gesellschaft von zwei Juden und dem Erfüllungs-Josef, dem Wau-Wau für jeden nationalen Spießer vorgeführt. Das zeigt Herkunft und Ziel dieser Meldung. Antisemitische Mache. Die Russen lassen durch Radek die Parole an die Westmächte los: Hände weg von Deutschland! (weil es Aufmarschgebiet gegen Rußland sei und man sichere Beweise habe, daß im Falle eines Umsturzes von rechts oder links Einmarschpläne parat lägen). Hier erklärt sich die verrückte Anbiederung der KPD an die Völkischen. Soviel steht jedenfalls fest, daß man in Rußland den Ausbruch des Bürgerkriegs bei uns für täglich bevorstehend hält. Schon hat auch die Moskauer Internationale die Londoner eingeladen, mit ihnen am 10. September (heute) in einer Konferenz über Mittel zu beraten, wie die Franzosen von bewaffneten Eingriffen im Falle einer deutschen Revolution zurückzuhalten seien, und das soll offenbar heißen, daß Rußland diese Eingriffe ebensosehr im Falle einer proletarischen wie einer faszistischen Revolution fürchtet. Das Mittel, mit dem da die russische Diplomatie die deutsche revolutionäre Arbeiterschaft einspannt, ist sehr frivol. Ärger als arg aber ist die Haltung der kommunistischen Heloten, die sich da einspannen lassen und nicht energisch erklären: eure Revolution in Ehren, auch, wenns nicht anders sein kann alles das in Ehren, was draus geworden ist. Aber unsre Revolution und damit unser Ziel für Euch zu opfern, indem wir dem revolutionärsten Teil des Proletariats nationalistische Phrasen einimpfen, könnt ihr nicht von uns verlangen. Eure Politik ist zu sehr beeinflußt von euerm Mißtrauen, wir würden die Revolution verlieren, darum sollen wir uns mit unsern Todfeinden „auf einer Linie finden“. Was erreicht wird, ist die Schwächung der moralischen Kraft der deutschen Kommunisten und das Erwachen traditioneller, von Schule und Kirche gelehrter Empfindungen. Wer nicht ganz sattelfest ist, wird ebenso wie er 1914 einen Druck fallen fühlte, weil er wieder ungeniert „Deutschland, Deutschland über alles“ singen durfte, sich heute von seinen Autoritäten in revolutionären Dingen gedeckt wissen, wenn er mit befreitem Seufzer aufatmet: Gott sei Dank, jetzt darf ich wieder Patriot sein. – Das wird ein großes Unglück sein in dem Augenblick, wo tatsächlich der Kampf losgeht. Und er geht los, sobald das Ruhrabenteuer so oder so liquidiert wird. Diese Liquidation aber kann nicht lange mehr verzögert werden. Die vollständige Markauflösung, die als unmittelbares Symptom der Not am aufdringlichsten wirkt, ist nur zu stoppen durch schleunige Einstellung der ungeheuren Zahlungen, die die Aufrechterhaltung des verlorenen Kampfes erfordert. An der Ruhr der Krach wird der Krach des Ganzen sein.
Niederschönenfeld, Mittwoch, d. 12. September 1923
Mittag ½ 2 Uhr. Ich warte auf Zenzl. Gestern abend kam ein Brief von ihr, der sie für heute anmeldet. Ich laufe daher seit morgens in Gala herum. Um 11 Uhr stand ich im Speisesaal am Fenster und belauerte die Menschen, die nach der Zugankunft von Rain herüberkamen. Eine Frau war dabei, die lebhaft winkte, und ich mit meinen defekten Augen schloß gleich auf Zenzl. Nun ging das Warten an. Eine volle Stunde und mehr. Inzwischen wurde Sauber gerufen, dessen Frau gekommen war (und die sollte ich für meine Zenzl gehalten haben? Scheinbar ist mir das wirklich passiert). Um ½ 1 – ich platzte schon beinah vor Nervosität – fragte ich an, d. h. ich ersuchte einen der wachhabenden Aufseher, bei der Verwaltung anzufragen. Zuerst weigerte er sich und ging erst hinunter, als ich verlangte, selbst zum Werkführer gehn zu können. Mir war aufgefallen, daß der andre Gitter-Aufseher auf meine Frage antwortete, die Frau wird halt den Zug verpaßt haben, und mir schien, er wisse etwas mehr. Heruntergerufen erklärte mir Herr Rieblinger, der anstelle von Fetsch wieder bei uns Dienst tut, es sei telefoniert worden, meine Frau habe den Zug verpaßt und komme erst um ½ 3 Uhr. Diese Mitteilung erhielt ich also nur, weil ich ausdrücklich angefragt hatte. Bei der neuen Preiserhöhung der Eisenbahn, die gestern in Kraft trat, gilt die Bestimmung, daß 3 Tage zuvor gelöste Fahrkarten ihre Giltigkeit über den Lösungstag behalten, und ich las schon kürzlich, daß an den Schlußtagen für die Benutzung solcher Karten an den Bahnen ein Andrang herrsche, der die Zurückweisung von Hunderten von jedem Zuge veranlasse. So muß es der armen Zenzl heute früh gegangen sein, aber treu wie immer gibt sie eine unsinnige Summe für das Ferngespräch aus, – wie die Verwaltung hier annimmt, damit sie von ihrem Pech Kenntnis erhalte, nicht etwa um mich zu beruhigen. Legt’s zum Übrigen. – Das Neueste aus der Welt ist der plötzliche rapide Fall des Dollars von 55 direkt auf 11 Millionen herunter.* Ursache: die bevorstehende Preisgabe des Ruhrkampfs. Das wird für die kleinen Devisenhamsterer eine schöne Bescherung sein, die in der Erwartung, jetzt werde der Dollar sofort bis in die Hunderte von Millionen steigen, fremde Papiere gekauft haben. Man wird ja sehn, ob die Senkung vorhält oder ob die letzte Rede Poincarés, der kurz und bündig Kapitulation verlangte, Stresemanns Politik wieder zur „nationalen Verteidigung“ umschmeißt. Wie es auch wird: der Anfang vom Ende ist da. Der Kampf zwischen Kapital und Arbeit, zwischen Monarchie und Republik, zwischen Bayern und Reich, zwischen Demokratie und Diktatur, zwischen Völkischen und „Landfremden“, zwischen den zahllosen verschiedenen nationalistischen Strömungen untereinander und zwischen den zahllosen verschiedenen halb- und ganz proletarischen Verbänden untereinander, der Kampf von allen gegen alle ist im Ausbrechen. Das Ergebnis und die Dauer, die Formen und den Umfang, die Schauplätze und die Intensität des Kampfes kann niemand voraussagen. Aber wir politischen Gefangenen werden – daran zweifle ich nicht – diesen Kampf hier drinnen nicht überleben, und je nachdem, tot oder sieghaft im Verlaufe des Gefechts Niederschönenfeld räumen. – Jetzt aber will ich zum Empfange Zenzls rüsten. Sie kommt zur „Feier“ unsres 8jährigen Hochzeittages (15. September), den ich wohl sicher zum letzten Male in dieser Lage überstehn muß. Seit 1917 durfte ich ihn nicht mehr daheim zubringen.
* Dieser ganze Dollarsturz war eine Hauslatrine.
Niederschönenfeld, Donnerstag, d. 13. September 1923
Gegen ¾ 3 kam Zenzl wirklich. Sie hatte im Zuge gelesen und die Station übersehn, mußte bis Treuchtlingen fahren und die paar Stationen hin und zurück kosteten die Kleinigkeit von 3½ Millionen Papiermark. So war’s also wieder ein recht kurzer Besuch, aber doch – trotz aller Scheußlichkeit, die in dieser Art Wiedersehn liegt – ein Trost. An Neuigkeiten brachte sie nicht viel, außer Persönlichem. Darunter aber diese: sie ist aufgefordert, eine Anstellung bei der Roten Hilfe in Berlin zu übernehmen mit gutem Gehalt und freiem Umzug. Eine entsprechende Wohnung wird man ihr im Tausch verschaffen. Ich habe meine Zustimmung gegeben, weil ich Zenzl diese Tätigkeit, zu der sie besondere Eignung schon für die Russenhilfe bewiesen hat, gönne. Ich kenne ihre Liebe zu derlei Hilfsarbeit und weiß, sie wird viel Segen stiften. Meine Sehnsucht nach München ist schon lange nicht mehr groß, und da sie selbst ihren Widerwillen gegen Berlin überwunden hat, ist mir der Wohnsitz dort auch recht. – Meine verschiedenen literarischen Sachen erledigt sie musterhaft. Eine Broschüre ist im Erscheinen (ich bin neugierig, wie die Verwaltung drauf reagiert. Da das Manuskript legal hinausging und offenbar vom Zensor nicht bemerkt wurde, glaube ich kaum, daß mir etwas geschehn kann; andernfalls muß es ertragen werden). Mein Judas soll in Moskau aufgeführt werden. Doch gefiel Lunatscharski die Übersetzung zuerst nicht, und so verzögerte sich das Ganze. (Das Attentatsgerücht vor einigen Wochen war also Unsinn. Lunatscharski lebt, und so wohl auch Trotzki, der augenblicklich einer Revolte zum Opfer gefallen sein soll). Meine Austauschangelegenheit ist soweit gediehen, daß die Liga und die Quäker nun in direkten Verhandlungen mit dem Vatikan stehn. Wie der sich entschließt, bzw. wann ein Entschluß gefaßt sein kann, läßt sich nicht beurteilen. Die Genossen von Wiatka wollen nun durchaus etwas Schriftliches von mir in die Hand bekommen. Wie ich diesen Wunsch erfüllen werde, weiß ich noch nicht genau. Säße ich wie Max Hölz im Zuchthaus außerhalb Bayerns, wär’s leicht genug. Da ich aber bayerischer Ehrenhäftling bin, ist’s eine verdammt schwere Aufgabe. Ich werde den Versuch machen, mich in Form einer kleinen Prosadichtung symbolisch auszulassen. Vielleicht wird das gehn. Was unsre Aussichten allgemein betrifft, weiß Zenzl sowenig wie wir. Jeder draußen hat die Empfindung, daß unmittelbar etwas bevorsteht, aber auch diese Empfindung ist ja schon Wochen alt, – und keiner fängt an. Die Leute wimmern vor Hunger und sinken auf der Straße um. Aber sie sind halt diszipliniert und ordnungsliebend, und so sinken sie nie nach den großen Spiegelscheiben hin um, hinter denen Delikatessen, Würste, Brot und Früchte in Fülle ausgestellt sind. Immerhin: Zenzl erzählt, wie sie am Hause des Kommerzienrats Fränkel zusah, als die Vorübergehenden sich um zwei Brückenwagen sammelten und verhinderten, daß die dicken Mehlsäcke von da in die Speisekammern des reichen Herren abgeladen wurden. Gewiß ist wahrscheinlich, daß dieser Selbsthilfeakt von Antisemiten organisiert war, um grade dem Juden die schöne Hamsterware zu verbieten, aber das schadet garnichts. Der einfache Mensch schimpft da im Augenblick zwar auf „die Juden“ – es sind, wie in diesem Falle dieselben, die uns Revolutionäre für den Antisemitismus verantwortlich machen; hier sieht man wie richtig es wäre, auf den Balken im eignen Auge zu achten, – aber die Masse lernt doch an solchem Beispiel überhaupt acht geben, wo die Ware bleibt, die ihr am täglichen Leben abgeht. Eines Tages passiert dann so was doch auch mal andern reichen Leuten, und wenn es mal in Partenkirchen und Berchtesgaden bei den Hotels losgeht, wo alles neubayerische Altpreußentum zecht und praßt, können manche Augen über manche Schweinereien förderlich aufgehn. Ich habe eine Rektifizierung der letzten Eintragung vorzunehmen. Der Dollarsturz auf 11 Millionen war eine „Latrine“, ein von einem Genossen ausgesprengter „Witz“, der so glaubhaft vorgebracht wurde, daß auch ich drauf hineinfiel, allerlei Rückschlüsse auf die schon perfekte Kapitulation an der Ruhr zog und sogar Zenzl erschreckte (da sie von ein paar aus Amerika von Genossen geschickten Dollars lebt, die sie nach und nach wechselt, und die sie bei einem plötzlichen Kurssturz natürlich in Verlegenheit brächten, da die deutschen Spießer gewöhnt sind, die Warenpreise stets dem Höchststand des Dollars anzupassen, bei dem sie auch wie das Quecksilber im Maximalthermometer stehn bleiben). Zenzl war übrigens sehr tapfer dieser Nachricht gegenüber. Sie findet sich mit jeder Situation ab, da sie die Not früher kennen gelernt hat. Aber die Angst der Mitmenschen gibt ihr Hoffnungen, und es ist garkein Zweifel, daß ein plötzlicher Valutaumschwung, bei dem die Löhne mit dem Dollar fielen, die Preise nicht, und jeder, der in Amerika einen Onkel wohnen hat, in Verzweiflung käme (in Deutschland hat aber fast jeder eine amerikanische Sippschaft), daß ein solcher Umschwung zum unmittelbaren Losgehn der tollsten Katastrophe führen würde. Tatsächlich steht aber der Dollar nach den letzten Meldungen auf 65 Millionen (Hilferding übernahm ihn mit 3 Millionen. Ein hübscher Erfolg in kaum 4 Wochen). – Ich übersehe nicht die Schwierigkeiten, die die Herren Cuno, Hermes und Becker den Nachfolgern überlassen haben. Denn es ist kein Zweifel, daß die Regierung Cuno grade mit der Aufgabe ans Werk ging, der Inflationsspekulation eine so glänzende Sättigung zu verschaffen, wie der passive Widerstand sie bietet. (Wer das öffentlich sagt oder schreibt, kommt sicher wegen Landesverrat vor ein „Volksgericht“, obwohl jeder Kenner weiß, daß es wahr ist. Aber da ist wirklich ein Geheimnis des Landes, das man nicht verraten darf). – Die Frankfurter Zeitung bringt eine Todesnachricht im Feuilletonteil, von der ich Notiz nehme. Der Genieentdecker Maximilian Bern ist 74 Jahre alt in Berlin – gestorben? – nein: verhungert. An der Leiche des armen Greises wurde festgestellt, daß Bern seit Tagen keinerlei Nahrung mehr zu sich genommen hatte. Und Hilfe gab’s scheinbar nirgends für den Kompilator der lyrischen Anthologie „Die Zehnte Muse“, dem so viele unsrer heutigen Dichter ihre erste Würdigung verdanken. Ich persönlich stehe, soviel ich weiß, nicht in dem Buch, gehöre also nicht zu den zahlreichen von Maximilian Bern „Entdeckten“, auf die er so stolz war. Aber ich kannte ihn durch häufiges Beisammensein im Café als unterhaltenden, und in seiner Eitelkeit etwas komisch wirkenden, wie ich glaube – und wie sein Tod beweist – grundanständigen Menschen. Von diesem Einen erfährt man’s, weil er die Zehnte Muse herausgab und nun durch seine scheußliche Todesart in den literarischen Biographien einen neuen, unerwarteten Bädekerstern bekommt. Wieviel Zehntausende mögen täglich sein Los teilen, wieviel Hunderte mögen darunter sein, deren geistige Gaben groß waren und denen nur die fehlte, die ökonomische Volksnot wucherisch auszubeuten? Wie schändlich ist diese Welt und wie dumm sind die Menschen, die jeden Kampf wagen, um nur ihre Veränderung zu verhüten!
Niederschönenfeld, Freitag, d. 14. September 1923.
Kreuzerhöhung, wieder so ein Niederschönenfelder Ortskirchenfeiertag, den wir durch Zeitungs- und Briefentzug zu spüren kriegen. Von der Weltpolitik ist einiges nachzutragen. Der Streit um Korfu scheint endgiltig zu Mussolinis Gunsten entschieden zu sein. Er erreichte zuerst die Wegnahme der Behandlung vom Völkerbund und ihre Übertragung an den interalliierten Botschafterrat in Paris. Der legte den Griechen, die ja von vornherein ihre Unterwerfung unter jede Großmächte-Entscheidung zugesichert hatten – sie wollen den Krieg wahrhaftig nicht gern – fast wörtlich die gleichen Demütigungen auf, die Mussolini beanspruchte und nahmen befriedigt Notiz von dessen Zusage, Korfu wieder räumen zu wollen. Nachdem er nun Recht bekommen hat, erklärt er, Korfu natürlich solange nicht räumen zu wollen, wie die Griechen nicht alles erfüllt haben, was von ihnen verlangt wird. Da dazu jedoch die Vollstreckung der Todesstrafe an den Tätern von Janina gehört, die man halt nicht hat, wird er kaum wieder hergeben, was er einmal genommen hat. So ähnlich werden sich wohl die italienischen Aspirationen in der Fiume-Sache auch entwickeln. Der Völkerbund hat sich dermaßen kläglich bloßgestellt, daß Mussolini von der Seite auch da sehr wenig zu befürchten haben wird. England ist kompromittiert und versucht Stimmung dafür zu machen, daß Rußland und Deutschland in den Völkerbund aufgenommen werden. Schon hat in Genf Herr Churchill diese Forderung aufgestellt. Da aber einerseits die Franzosen dagegen protestieren und andrerseits die Deutschen zu dumm sind zu begreifen, daß ihre Aufnahme in den Völkerbund die einzige Hoffnung für sie ist, das kapitalistische Regime zu retten – meine ganze Zukunftshoffnung ist, daß die Nationalisten ihren Willen zur Verneinung des Beitrittes erzwingen und nicht plötzlich in einem lichten Moment erkennen, daß sie damit unsre revolutionären Geschäfte besorgen – wird es wohl Essig sein mit dieser Forderung. England ist durch die von Frankreich durch geschickte Förderung der Korfupolitik Italiens veranlaßte Verbrüderung der kontinentalen Großmächte nun auch in der Ruhrsache isoliert (was natürlich für unsre Überpatrioten Anlaß ist, sich als feurige Anglophilen aufzupumpen: es sind dieselben, die noch vor 5 Jahren durch den Verein „zur raschen Niederkämpfung Englands“ mit der Losung: „Gott strafe es!“ Deutschland zum Gelächter der Welt machten). Was die nächsten Tage im deutschen Westen bringen werden, bleibt abzuwarten. Sicher ist, daß die Verhandlungen zwischen der Stresemann-Regierung und dem französischen Botschafter in Berlin im Gange sind, die unter allen Umständen mit der Liquidation der ganzen Gaudi enden werden: obwohl von Paris aus kein Zweifel darüber gelassen wird, daß allen offiziellen Verhandlungen die Aufgabe des passiven Widerstandes vorangehn muß, und obwohl Hilferding sich wenige Tage vor seiner Erhebung zum deutschen Finanzretter – um das werden zu dürfen – als jusqu’au bout-Kämpfer bekannt hat. Wenn einem jetzt die Rechnungen aufgemacht werden, aus denen sich ergibt, daß sämtliche Erträge aller Staatsbetriebe, einschließlich Steuern, Post, Eisenbahn etc. in einem Monat kaum dazu ausreichen, um den Ruhrwiderstand einen einzigen Tag durch zu finanzieren, dann begreift man, daß die Berliner Herren es eilig haben. Das lammfromme deutsche Volk schaut immer noch zu und läßt sich von einem Tag auf den andern vertrösten: jetzt kommt die Erlösung aus aller Pein! Die Arbeiter haben ja ihre Vertreter in den Regierungen selbst, und die Herren Sollmann und Severing beweisen, daß sie was können: sie unterdrücken die kommunistischen und revolutionären Bewegungen, daß ihnen Bayern neidisch sein könnte. Bis jetzt aber konnte sich die Opposition in der Partei noch nicht durchsetzen. Für die Katzbalgereien innerhalb der zahlreichen Parteien links und rechts, für den Rücktritt der thüringischen Regierung, für die bevorstehenden Wahlen in Österreich, für die Reden des Rupprecht für Weißblau und gegen politisierende Generale (will sagen: gegen Ludendorff und Schwarzweißrot), für alles, was für Volk und Leben gleichgültig ist, hat dies Volk Interesse. Daß es aber – mehr noch als im Oktober 1918 jetzt unmittelbar vor ungeheuren Kämpfen steht –, das merkt es garnicht. Wir kriegen ja eine Notenbank, und der Devisendiktator ist schon da. Nun muß sich alles alles zum Besten wenden. Freilich: sie werden, wenn das Volk nicht bald aufsteht und die Werte da holt, wo sie sind, nicht bloß weiter hungern, sondern außerdem noch einen Finanzdiktator kriegen, wie sie sich ihn kaum vorstellen. Den werden die Alliierten ihnen auf den Pelz schicken (da werden Engländer und Franzosen und sogar Amerikaner plötzlich ein Herz und eine Seele sein) und gegen den wird Herr Zimmermann in Wien, der sich um jedes Eisenbahnfreibillet kümmert, ein weitherziger Freund des Landes sein. Und dann werden unsre Spießer in die Zeitungen gucken und nachschlagen, wen man im Augenblick grade am meisten verfluchen muß: Baldwin oder Coolidge, Poincaré oder Stresemann, Bolschewisten oder Juden, Völkische oder Pfaffen. Die Pressesergeanten kriegen ihre Weisungen vom Major des Generals Stinnes und der deutsche Geist steht vor seinem Kommando stramm wie ein Rekrut. Das ganze nennt man Pressefreiheit.
Niederschönenfeld, Montag, d. 17. September 1923.
Grade wollte ich anfangen, einzuschreiben, da brach etwas in meinem Füllfederhalter. Lange Zeitversäumnis. Jetzt hat Schiff das Ding in Behandlung und hat mir seine Füllfeder gepumpt. Ich will mich ganz kurz fassen, da ich viel zu erledigen habe. Die letzte Zeit hatte ich mit der Eingabe, die morgen früh weg soll, enorm zu tun. Gestern den ganzen Tag diktiert. Erst die Verlesungen, die Festsetzung der Art etc, Korrekturen. Ich habe die alleräußerste Schroffheit der Form bevorzugt, um meine Schlußerklärung, daß ich die Erhebung der Anklage wünsche, aussichtsvoller zu machen. Die andern unterschreiben nur mit der Sich zur Verfügung Stellung als Zeugen. Jetzt muß ich noch eine Fußnote machen, da eben ein neuer Fall zum Thema (Zensur) eintritt. Die Genossen in Wjatka hatten mich bitten lassen, ich möchte ihnen in irgendeiner Form etwas Schriftliches zukommen lassen, da mir ja ein Dankschreiben, wie Hölz es vom Zuchthaus loslassen konnte, nicht möglich ist. Ich schrieb nach langer Überlegung eine kleine symbolische Prosadichtung „Der unsichtbare Kreis“, der das Gefühl der Zusammenhörigkeit versinnbildlicht. Jetzt erhielt ich die Eröffnung „agitatorisch“, zum Akt. – Im ganzen Hause ist große Erregung, da plötzlich eine Zensur platzgreift, wie wir sie in der schlimmsten Kraus-Zeit nicht erlebt haben. Toller darf sein – übrigens sehr schönes – lyrisches Prosawerk „Das Schwalbenbuch“ nicht drucken. Außer diesen beiden vom Auslauf zurückgehaltenen literarischen Arbeiten sind heute allein 6 eingegangene Briefe beschlagnahmt worden. Und am 20ten erhöht sich das Porto auf ¼ Million Mark für jeden Brief, die neben den verlorenen 75000 Mark jedem Briefschreiber als Extrasteuer zufällt (Gottseidank, den geschickten Genossen Schiff, Enzinger und Luttner ist es in kollektiver Arbeit geglückt, meinen Federhalter wenigstens vorläufig zu reparieren). – Nun schnell Tatsachen. Der Dollar steht auf über 120 Millionen. Stresemann hat in einer Bierabendrede vor Presseidioten die beinah restlose Kapitulation angeboten. Er wird auch das „beinahe“ noch streichen müssen. Bayern droht dem Reich in Erklärungen der Bayer. Volkspartei, „aus eigenem Recht“ zu handeln, wenn hier Reichsrecht nicht gefällt. Die Steuersabotage wird ganz offen betrieben, obwohl man gleichzeitig noch erklärt, Stresemanns Außenpolitik (auf der doch wohl die Steuerpolitik beruht) zu unterstützen. Die Dinge treiben unfehlbar der Katastrophe zu. – Im Ausland geht’s ebenfalls hübsch her. Nach Griechenland und Bulgarien kommt jetzt Spanien mit einer Militärrevolte, um die schäbige Marokkopolitik des Pfaffenlandes noch brutaler zu gestalten als bisher. Erfolg: Einsetzung einer Militärdiktatur. Von Japan, in dem das Erdbeben tatsächlich mehr Tote hinterlassen zu haben scheint als der ganze Weltkrieg gekostet hat, spricht man garnicht mehr. Vermutlich ist man beschämt, daß die Natur momentan den Rekord geschlagen hat und sinnt auf eine verbesserte Kriegsauflage, um den Vorsprung wieder einzuholen. – In den Zeitungen findet man täglich neue Berichte, daß unter den Hunden die Tollwut überall ungeheuer um sich greift. Die Hunde haben noch soviel Anstand, über die Zustände der Welt wenigstens toll zu werden.
Niederschönenfeld, Dienstag, d. 18. September 1923
Abschrift: „An die Festungsverwaltung. Da mir nach einer heute eröffneten Entscheidung ein Brief von Herrn B. Janeff in Darmstadt nicht ausgehändigt wird, ich aber nicht bereit bin, über eine Beilage des Briefs, den ich nicht kennen lerne, zu quittieren, verweigere ich die Annahme der gesamten Postsendung und ersuche die Verwaltung, sie der Post zur Zurückleitung an den Absender wieder zuzustellen. N’feld 18. Sept. 23 Erich Mühsam
Niederschönenfeld, Mittwoch, d. 19. September 1923.
Eben habe ich den Rest meiner Post, die noch für 75000 Mark pro Brief und 30000 pro Karte erledigt werden konnte, aufgegeben. Morgen kostet ein Brief 250.000 eine Karte 100.000 Mark. Die Verwaltung hat nun, nachdem unser Taschengeld 3 Wochen lang grade für die Frankierung von 2 Briefen reichte, eine Erhöhung auf 1 Million zugelassen, also für 4 Briefe. Um den Bedarf nach mehr Porto nicht aufkommen zu lassen, greift man zu dem Mittel einer selbst für unsre Verhältnisse beispiellosen Verschärfung der Zensur. Die harmlosesten Briefe und Karten gehn zu den Akten, besonders aber solche Korrespondenzen, die eine Verbindung mit Gesinnungsgenossen pflegen. Um der Verwaltung eine prinzipielle Stellung aufzunötigen, verweigerte ich gestern die Unterschrift unter die Bescheinigung, daß ich eine Marke von 75 000 Mark, die mir aus einem beschlagnahmten Brief gegeben werden sollten, bekommen hätte und schrieb, nachdem ich dem Oberverwalter Rieblinger meinen Standpunkt mündlich erklärt hatte, den gestern hier abgeschriebenen Brief an die Verwaltung. Noch vor der Kastenausnahme wurde ich ins Rapportzimmer gerufen und vom Vorstand und seinem Adlatus (Regierungsrat Badum, Herr Englert scheint fort zu sein) empfangen. Herr Hoffmann empfing mich mit einer Suada, die mir zu keinerlei Aeußerung Zeit ließ, mich bei jedem Versuch, etwas zu sagen lärmend und bohrend unterbrach und mich über den Rechtsstandpunkt belehrte. Erstens hätte ich die Pflicht gehabt, da ich schon „Weiterungen“ zu machen beliebte, mich schriftlich an den Vorstand zu wenden. (Daß ich das getan habe, konnte ich erst nach den 20 Minuten anbringen, die Herr Hoffman ohne eine Atempause geredet hatte, mir bei dem bloßen Versuch, den Mund zu öffnen, mit kaum verhehlter Wut ins Wort fallend). Er erhalte die Briefe ungeöffnet. Ich könnte natürlich „bitten“ (er bringt dieses Wort regelmäßig mit einer Betonung, die die demütigende Absicht garnicht bemäntelt), daß mir Briefe uneröffnet zugestellt werden, das würde aber wohl abgeschlagen werden. Ich könne auch „bitten“, daß jedes an mich gerichtete Schreiben ohne weiteres als verweigert zurückgehe. Solche Bitte werde er erfüllen. Oder ich kann ihn „bitten“, Briefe von den und den Personen, Herrn Schulz oder Herrn Meyer – „oder Ihre Frau“ – auch der Fall komme ja vor – stets zurückzuschicken, auch das ginge. Ein verschlossener Brief aber komme an ihn und es liege im Wesen der Zensur, – und die wird aus Gründen der Staatssicherheit „die in Ihrer Person liegen“ geübt –, daß er sie öffnet und mir daraus aushändigt oder zurückbehält was er für gut befindet.* Wenn er mir die Briefmarke geben lasse, so sei das eine „Wohltat“, die er mir zuteil werden lasse. Er könne ja aber auch in Zukunft stets jeden konfiszierten Brief mit allen Beilagen zum Akt nehmen. Ich hatte zum Schluß eben noch die Möglichkeit zu sagen: „Ich bin nun über Ihren Standpunkt orientiert“ und die Tatsache festzustellen, daß ich einen Zettel in den Kasten gelegt habe, den ich bäte, nun als gegenstandslos zu betrachten. Der Mann machte mir den Eindruck eines aus persönlicher Gekränktheit nervös Gereizten. Das maßlose Anziehn der Schraube in den letzten Tagen wird ja auch von vielen Genossen auf die vorige Eingabe (vom 29. August) zurückgeführt, die sich zum ersten Mal auch mit der Person des Herrn Hoffmann selbst beschäftigt, da er unsern Haftraum erst zu dem jämmerlichen Käfig gemacht hat, der er jetzt ist. – Inzwischen hat er nun die neue Eingabe, die ihn ganz scharf und in tatsächlich sehr verletzender Form angreift (ich will ja damit eine Anklage erzielen) in Händen. Die erste Wirkung ist vor einigen Minuten erfolgt. Grade war Zäuner heraufgekommen und erzählte uns von einem Brief, den er an Seebauer geschrieben habe – lustig und im bayerischen Dialekt habe er von der Ruhe erzählt, die wir jetzt hätten – und dieser Brief sei als agitatorisch beschlagnahmt worden. Er habe dem Aufseher, der es ihm vorlas, gesagt, er könne ja den Brief mal lesen, ob er vielleicht was drin fände. Dann kam er wieder herauf, und wurde 5 Minuten drauf noch einmal gerufen, kam aber nicht wieder. Man hat jetzt seine Zelle zugeschlossen; er ist also in Einzelhaft. Wir haben keine andere Erklärung dafür, als daß die Kritik, die er sich dem Aufseher gegenüber gestattete, den Anlaß gegeben hat. Mir wurde vorgestern ein Brief von einem Mühldorfer Genossen, der im Auftrag von dortigen Arbeitern ein Paket zur Verteilung hergeschickt hatte, aus dem Paket weg und gestern der Brief des Genossen Janeff (eines Balkan-Anarchisten, der in Darmstadt studiert) und eine Karte von Elsbeth Rupertus – diese wundervolle Frau, die ganz mit dem Herzen lebt und urteilt, soll „agitatorisch“ geschrieben haben – alle drei mit derselben Begründung weggenommen. Seit 3 Tagen sind im ganzen eine Unmenge Briefe zu den Akten der verschiedensten Genossen gekommen. Grade so wild wird es mit Zeitungen und Zeitschriften getrieben. Heute wurde ein Ido-Lehrbuch und ein Esperanto-Lesebuch nicht ausgehändigt wegen „Fremdsprachigkeit“. Die Erregung unter den Genossen ist sehr groß und keiner zweifelt, daß das eben beabsichtigt ist, uns erregt zu machen. – Ich will mir für diesmal, da auch mich der Bazillus der aufgeregten Nervosität plagt – – Hier wurde ich aus überraschendem Grunde unterbrochen. Die Festungsgefangenen sollen sich vorn einfinden, da Herr Fetsch etwas bekanntzugeben habe. Die Bekanntgabe hatte den Inhalt 1) daß eine Ministerialentschließung Arbeitslohn und Wochengeld auf täglich 40 Pfennig multipliziert mit Reichsindex festsetzt, 2) daß die gestrige Auszahlung von 1 Million zunächst bis auf 15 Millionen wöchentlich erhöht werden kann. – Ich habe nun der Loyalität wegen sofort eine Anlage zur Eingabe an den Reichstag geschrieben und diese selbst hinuntergetragen, um sie womöglich noch mit der Eingabe selbst expedieren zu lassen. Falls die Eingabe noch nicht fort ist, habe ich schriftlich für die Verwaltung beigefügt, möchte man die Anlage dazutun, andernfalls mir zurückgeben, damit ich sie im Extraumschlag nachschicken kann. Der Inhalt der Anlage ist die Mitteilung, daß eine Neuregelung heute bekanntgemacht wurde, die unser Verlangen, über Bargeld zu verfügen, erfüllt, daß folglich unsre Beschwerde in diesem einen Punkt abgestellt sei und nur noch als Feststellungen über die hier als zulässig erachteten Methoden dienen soll, daß der ganze übrige Inhalt der Eingabe wie auch mein Wunsch, strafrechtlich verfolgt zu werden, hiervon nicht berührt werde. – Eine neue Überraschung: Daudistel ist wieder eingetroffen und wieder oben in seine Zelle zurückgekehrt. Hoffentlich hält er einigermaßen Frieden.
* zu dem Brief von Janeff wurde wörtlich erklärt: „Ich wünsche diesen Verkehr nicht“!
Niederschönenfeld, Donnerstag, d. 20. September 1923.
Die Aufregung wegen der Zensurtätigkeit hält an. Sämtliche Gewerkschaftsblätter und eine Masse ein- und auslaufender Briefe sind wieder beschlagnahmt. Mir wurde der Begleitbrief zu der Eingabe an Dr. Paul Levi weggenommen. Ich ersuchte ihn darin in absolut sachlicher Form, sich als Mitglied des Rechtsausschusses die Eingabe genau anzusehn und mir mitzuteilen, ob er evtl bereit sei, meine Verteidigung zu übernehmen. Dieser Brief wird zum Akt verurteilt, „weil er über die Verfolgung der privaten Rechtsangelegenheiten hinaus ausgesprochen politisch agitatorische Zwecke verfolgt und dadurch geeignet ist, dem Strafvollzug Nachteile zu bereiten“. Ich habe also – nachdem man mir grade vorher noch die Postquittung über die Eingabe selbst (mit der gestrigen Anlage) übergeben hatte, eine neue Ergänzung geschrieben (Kostenpunkt: 500.000 Mark), den Tatbestand der Konfiskation des Briefs an Levi mitgeteilt, um Maßnahmen ersucht, die den unbehinderten Postverkehr zwischen hier und den Reichstagsabgeordneten sichern und um dem Reichstagsausschuß ein eignes Urteil über die Begründung der Beschlagnahmung und den Dr. Levi meine Wünsche kennen zu lernen zu ermöglichen, den Text in extenso beigefügt. So kommt der Topf, in dem die Konflikte zwischen der Festungsverwaltung und den Festungsgefangenen gekocht werden, dank der Bemühungen der Verwaltung nie aus dem Sieden. Auch Schiff wurde eine Karte an Felix Halle als agitatorisch konfisziert, in der er diesem Leiter der Rechtsschutzstelle der KPD und Rechtsbevollmächtigten vieler Genossen hier über meine und die Tollersche von mir mit der Abschrift des Wjatka-Manuskripts bereicherte Eingabe Bericht geben wollte. Auch das ist in der Nachschrift heute erwähnt. – Aber um endlich wieder mal zur Politik zu kommen, die sich außerhalb Niederschönenfelds abspielt. Der Dollar rast jetzt täglich gleich um die hundert Millionen Punkte höher, wurde gestern mit 220, heute schon mit 350 u. 380 Millionen gemeldet, soll aber nach den letzten Nachrichten wieder bis auf 180 Millionen zurückgegangen sein. Offenbar werden Stabilisierungsversuche an diesem Leichnam nicht mehr gemacht. Ein neues Zahlungsmittel soll her und man liest von einer „Zwischenlösung“ (wenn die Deutschen irgendwo die Möglichkeit sehn, einer Entscheidung durch ein Provisorium enthoben zu sein, sind sie glücklich), die auf einer Parallelwährung beruht, wobei die Reichen mit goldgedeckten Noten nach Helfferichscher Roggengrundlegung, die Armen mit den Papierfetzen wie auch jetzt zufrieden werden sollen. Es fehlt nur noch die Voraussetzung, überhaupt mit irgendetwas Praktischem anfangen zu können, oder besser, es fehlt jede Möglichkeit, irgendetwas zu beschließen, – da die Reichskomödie immer noch auf den Brettern gespielt wird, die den Lenkern dieses Staats vor dem Kopf liegen. Herr Stresemann hatte eben wieder eine wunderbar schöne Rede gehalten, in der Meinung, je mehr Finger man Poincaré hinstrecke, um so rascher werde er sich zu freundschaftlicher Verständigung bereit finden. Aber Herr Poincaré ist nicht sentimental und zeigt das jeden Sonntag von neuem. Denn dies ist der Tag des Herrn, da ihm die Aufgabe erwächst, ein Kriegerdenkmal nach dem andern enthüllen zu helfen und dabei den Heldengeist seiner Nation zu feiern. In Berlin wartet man nun auf den Augenblick, wo er von seinen „Shylock“-Forderungen ablassen werde, und meint, dieser Moment wird dann da sein, wenn er die Unfähigkeit recht deutlich sieht, sich diesen Forderungen noch länger zu widersetzen. Letzten Sonntag hat er diesen Star endgiltig gestochen, und so steht denn jetzt die völlige Kapitulation, wie er sie verlangt, bevor. Der passive Widerstand wird in den nächsten Tagen bedingungslos aufgegeben werden, und es ist sogar zweifelhaft, ob man vorher auch nur die Zusicherung bekommen wird, die Ausgewiesenen und Verurteilten amnestiert zu kriegen. (Eben konnten wir in den Zeitungen lesen, daß es nicht wahr sei, daß Frau Krupp ihren Mann aus dem Gefängnis befreit habe. Das gehe schon deswegen nicht, weil die Dame so oft ins Gefängnis kommt, daß sie dort jeder Beamte kennt (oh, daß unsre Frauen nicht bayerische Ehrenhäftlinge sondern französische Gefängnissträflinge zu Gatten hätten!). Dann aber sei Herrn Krupp mit seinen Gefährten neuerdings die Behandlung eingeräumt worden, die in Frankreich alle politischen Gefangenen haben: jeder hat sein Schlafzimmer in den Direktionsräumen und alle zusammen ein großes Eßzimmer (also keine Gefängniszellen wie wir). Das drucken bayerische Blätter, die zugleich die französische Barbarei gegen die deutschen Gefangenen beschimpfen. Sie sind ohne Scham, ohne Ehre – Preßkanaillen!) Jetzt wird nun mitgeteilt, daß die Reichsregierung ein fertiges Friedensangebot in detaillierter Form nach Frankreich zu schicken beabsichtigt, das eine Entscheidung bringen müsse. Dann haben wir also schon in den nächsten Tagen mit dem ganz großen Krach zu rechnen. Die Nationalisten zücken längst den Dolch, den die Verständigungspolitiker wieder mal in den Rücken des Vaterlands stoßen. Die Kommunisten verlangen ihrerseits bis Ende September ultimativ Preisabbau im gesamten Konsum und drohen andernfalls das Kabinett Stresemann mit einem Generalstreik zu stürzen, der bedeutend besser funktionieren werde als der, der Herrn Cuno am 6. August das Genick brach. (Wir müssen derlei Nachrichten jetzt bürgerlichen Zeitungen entnehmen, da kommunistische schon lange nicht mehr hereingelassen werden). In Bayern rüstet Regierung und Vaterlandläufigkeit zum Kampf gegen Berlin, der bereits von Herrn v. Knilling persönlich vor der großen Tuntenhausener Bauernschau eingeleitet ist. Er habe zwar in Mittenwald von Stresemann die Zusicherung erhalten, daß die bayerische Staatshoheit gewiß respektiert werden solle und daß er sich auch an das Berliner Abkommen vom August 1922 (Verzicht auf jede Amnestie!) gebunden fühle. Daß Herr Stresemann dabei auch von seinen sozialdemokratischen Ministerkollegen gesagt hat, die hätten garnichts zu sagen, womit er sicher recht hatte, erwähnte Knilling nicht, sondern machte aus dem armen Radbruch, der noch garnicht den Mund aufgetan hat und dem lieben Sollmann, der tagtäglich infamer den Fronvogt gegen das Proletariat heraussteckt, bedenkliche „Marxisten“, von denen man sich garnichts gefallen lassen werde. Nun ist zwar innerhalb der nationalistischen Gruppen und Grüppchen eine Katzbalgerei, die allmählich sich vor aller Öffentlichkeit abspielt – besonders die Rede Rupprechts des Gernekönigs vor den Offizieren ließ die Fahnenspitze des weißblauen Speers deutlich genug in das schwarzweißrote Gedärm des Herrn v. Ludendorff schnellen, – aber zunächst sind sie wenigstens in ihrer unversöhnlichen Feindschaft gegen alles was arbeitet einig, und die Nationalsozialisten werden trotz der Feindschaft mit der Bayerischen Volkspartei besonders gern als „Notpolizei“ gegen die Arbeiter benutzt. So hat jetzt in unsrer nächsten Nähe, in Neuburg a. d. Donau, einer der jetzt modern gewordenen „Deutschen Tage“ stattgefunden, wobei die Arbeiter der geistreichen Weisung der Bonzen folgten, sich ruhig in den Häusern zu halten, wodurch es der „Notpolizei“ leicht gemacht war, jeden einzelnen herauszuholen, zu vertobacken, auszuplündern, sein Heim zu demolieren, kurz den bayerischen Ordnungsstaat in seiner ganzen Eigenart zu repräsentieren. Es muß toll zugegangen sein, und für die nächsten 14 Tage kündeten die waschechten Teutonen eine gewaltige Blutorgie an. Die nach Neuburg geflüchteten Pfälzer, die am meisten Keile bekamen, flüchten jetzt aus Neuburg und bitten das Reich, ihnen irgendwo außerhalb Bayerns, also wo sie noch einigermaßen ihres Lebens sicher sind, Unterkunft zu schaffen. Inzwischen treibt heut hier morgen da nagender Hunger zu Exzessen. Über Lörrach an der Schweizer Grenze und andre badische Gebiete ist Belagerungszustand verhängt. Es gab Tote und Verwundete, und sogar die Eisenbahner streiken. Die Arbeiterschaft von Freiburg im Breisgau tritt in den Generalstreik. Aus den oberschlesischen Bezirken kommen ebenfalls allarmierende Nachrichten (Sorau), kurzum, die Zeit scheint reif. – Zugleich brodelt und dampft es am Balken – die Korfugeschichte scheint halbwegs aus zu sein – die Italiener müssen scheinbar unter französischem Druck doch räumen und schimpfen mörderlich –, dafür ist der Fiumekonflikt im besten Gange. Yugoslawien rüstet, Bulgarien rüstet, Albanien rüstet, alles rüstet. Die spanischen Cortes-Esel sind zum Teufel geschickt worden, und es ist nur bedauerlich, daß die äußerst segensvolle Erkenntnis, daß Parlamente der schäbigste Betrug an jedem Volk sind – Instrumente, die durch stets nachträgliche, stets durch niemandem genügende Kompromisse ausgeknobelte Majoritätsbeschlüsse von gesinnungslosen Mittelmäßigkeiten „Volkswillen“ vortäuschen sollen und notwendig nur korrumpierend wirken – daß diese Erkenntnis bis jetzt nur bei den reaktionärsten Volksfeinden durchdringen konnte, die das Übel durch das fast ebenso große einer unmittelbaren persönlichen Zwangsgewalt von blutrünstigen Militärs ersetzen. Der parlamentarische Kretinismus (Marx fand das gute Wort für die schlechte Sache, deren Förderung sein eigenes schwerstes Vergehen gegen seine revolutionären Ziele war) ist leider bei den deutschen Arbeitern so eingefressen und leider von Moskau aus noch tiefer hineingerammt worden und zum Grund der Ausschließung aller revolutionären Antiparlamentarier aus der Kommunistischen Internationale gemacht worden, – daß die Völkischen und Ludendorffischen die wirksamste Parole, überekelte Menschen zur Tat zu gewinnen, für sich allein monopolisieren konnten. Der Bürgerkrieg wird kaum noch lange ausstehn. Seine Formen werden fürchterlich sein und sein Ausgang – wenigstens für den ersten Gang – ist sehr zweifelhaft.
Niederschönenfeld, Freitag, d. 21. September 1923
Herbstanfang mit promptem Reagieren des Himmels: Regen, Sturm und im Hause die qualvollste Kälte. Wenn wieder – was wohl bestimmt angenommen werden kann, mit dem Heizen bis Mitte Oktober gewartet wird, dann stehn uns bei der abscheulichen Zugigkeit hier peinliche Wochen mit Gefahren aller Art für die Gesundheit bevor. Momentan ist zwar der Anstaltsarzt noch auf Urlaub, doch kann er jeden Tag wiederkommen, ehe der Vertreter, ein noch junger, aber sehr zugeknöpfter Herr, namens Preiß, bei dem ich auch schon war, ohne ihn auch nur bewegen zu können, mich auf irgendeines meiner leider recht zahlreichen Leiden zu untersuchen – immerhin verschrieb er mir alle meine Medikamente genau nach meinen Wünschen, sodaß ich für alle Fälle auf Attacken gerüstet bin – – ehe also der Aushilfsmann Gelegenheit erhält, alle Katarrhe, Rheuma- und Hämorrhoiden-Anfälle und alle übrigen Wirkungen des kalten Baus auch nur kennen zu lernen. Dann sitzen wir wieder da ohne ärztlichen Rat und ärztliche Hilfe. – Wie genau vor 5 Jahren fragt man sich auch jetzt täglich und stündlich: muß wirklich auch noch der fünfte Winter überstanden werden? Ich glaub’s nicht, verhehle mir aber nicht, daß der Möglichkeit, vor Weinachten frei zu werden, die andre – keineswegs ganz phantastische – gegenübersteht, als verwesender Rest herausgetragen zu werden. Alle Zeichen deuten auf nahen Ausbruch des Bürgerkriegs. Die verschiedenen Demonstrationen vor unserm Kerker, die „Deutschen Tage“ mit ihren robusten Ausdrucksformen, die von oben herunter auf uns immer wieder entleerten Dreckeimer, die im verhaßten Norddeutschland für uns erhobenen Stimmen – alles das zusammengenommen läßt unsre Lage für den Fall des explosiven Losgehns des bayerischen Patriotismus sicher nicht als lebenssicher erscheinen. Zwar glaube ich, daß wir unter dem gegenwärtigen Regime vor Mord einigermaßen noch geschützt würden, und daß falls eine Diktatur Hitler oder Xylander wirklich alle Schleusen durchbrechen sollte, die verantwortlichen Herren uns rechtzeitig die Möglichkeit zum Türmen schaffen würden, ehe sie die sicher von ihnen erkannte Katastrophe, die ein Massenmord in Niederschönenfeld für Bayern nach sich zöge, zuließen. Ob sie aber überhaupt dazu Zeit haben werden, ist zweifelhaft, und ich finde es jedenfalls ratsam, mich an den Gedanken zu gewöhnen, daß die letzte Stunde rasch und schmerzhaft schlagen kann. Ich glaube, daß das Erkennen solcher Möglichkeit rechtzeitig vorher im entscheidenden Moment den Nerven die Kraft geben kann, als aufrechter Revolutionär hinzunehmen, was Glaube und Überzeugung einem auferlegten. War die Vorbereitung auf den Tod nachher überflüssig – tant mieux. Die Sehnsucht, ein Martyrium zu erdulden, plagt mich garnicht, aber ich will stark genug sein, daß auch Furcht und Schlappheit mich nicht unterkriegt. – Die Liquidierung des Ruhr-Widerstands bedeutet – das ist kaum mehr zweifelhaft – die endgiltige Entladung der revolutionären und konterrevolutionären Spannungen im Reich und besonders in Bayern. Daß die schlimmste Not an und für sich nicht ausreicht, um, wie die Marxisten lehren „naturnotwendig“ zur Revolution zu führen, ist jetzt wohl durch das deutsche Volk selbst erwiesen. Eine Schachtel Streichhölzer kostet heute eine Million, ein einziges Zündholz demnach – in Rain – 20.000 Mark. Der passive Widerstand an der Ruhr kostet nach einer Berechnung der Frau Oheimb, einer Reichstagsabgeordneten der Stinnes-Partei, täglich 40 Millionen Goldmark, das ist die gleiche Summe, die 1914 als Tagesaufwand für den Krieg vorgesehn war. Erst der von Ludendorff unter imperialistischen Gesichtspunkten inaugurierte Expansivkrieg mit asiatischen und afrikanischen Fronten steigerte die täglichen Kosten auf 100 und mehr Goldmillionen. Die Bemühungen Stresemanns, von den Bedingungen Poincarés, deren betonteste die war, keine Unterhandlungen zuzulassen, bevor nicht der passive Widerstand aufgegeben sei, Abstriche zu erreichen, können als gescheitert gelten. Daß die Liquidation trotzdem unmittelbar bevorsteht – also in der Form vollständiger Unterwerfung, ist bestimmt zu erwarten. Schon wagt die Frankfurter Zeitung, das Organ des bestimmenden Finanzkapitals, – noch dazu in einer Polemik gegen den „Sozialdemokratischen Parlamentsdienst“, der zuvor noch weitere Versuche anregte, offen zur Kapitulation aufzufordern. Zugleich vollzieht sich grade in Bayern eine höchst bemerkenswerte Auseinandersetzung innerhalb der Deutschen Volkspartei, die plötzlich gegen ihre eignen bayerischen Mitglieder Lent und General Schoch Stellung nimmt, jeden Partikularismus verwirft und sich zur Politik Stresemanns und des Reichs bekennt. Das zeigt, daß auch die bayerische Industrie keinen Ausweg mehr sieht und eine Desperadogeste der Weißblauen nicht für so wertvoll hält, daß sie darum ihr Geschäft Schaden leiden lassen würde. Welche Wirkungen sich aus dieser Schwenkung eines wichtigen Bestandteils der bayerischen Mittelpartei innerpolitisch ergeben werden, ist noch nicht zu bestimmen. Jedenfalls stehn auch in Bayern interessante Auseinandersetzungen bevor, zumal eben Herr Held, also der maßgebendste Mann der offiziellen bayerischen Politik gegen die preußischen schwarzweißroten Neubayern zum Kampf bläst: Bayern den Bayern und den Wittelsbachern! – Wie nahe wir vor der entscheidenden Wendung stehn, erkennt man auch daraus: Gestern berichteten die Blätter, der Reichstag werde nicht einberufen werden, bevor in der Ruhrfrage keine Lösung da sei. Heute berichten sie schon, Herr Löbe habe ihn zum 26. September zusammenberufen. Und ich glaube da nicht an einen Widerspruch. – Bayern hat gerüstet. Die Ernennung eines eignen bayerischen Ernährungsdiktators ist schon angekündigt, und man scheint als geeigneten Mann Herrn Dr. Heim erkoren zu haben: nomen est omen. Die nationalistischen Organe aber, voran der „demokratische“ Fränkische Kurier treiben zugleich eine Franzosenhetze, die der aus der „großen Zeit“ an ekelhafter Perfidie in nichts nachsteht. Gestern z. B. ließ die Dreckschleuder eine Giftdrüse über 5 französische Schuster ausspritzen, die, von Dresden kommend, wo sie an einem Berufskongreß teilgenommen hatten, sich Nürnberg ansehn wollten. Als ob ein triumphaler Sieg zu feiern wäre, wurde von den Heldentaten des Nationalmobs gepriesen, daß sich die armen Handwerker der „Volkswut“ nur dadurch entziehn konnten, daß jemand – das Blatt klagt, daß die Quelle dieser Denunziation unbekannt sei – die Polizei noch vor vollendeter Lynchung verständigen konnte. Sie wurden also in „Schutzhaft“ genommen und dann aus der gastlichen Stadt hinausgeschmissen. Sogar daß man sie vorher ausgeplündert hat, feiert das Schandblatt wie eine Heldentat und verlangt öffentliche Stäupung des „Deutschen“, dessen Führung sich die Franzosen anvertrauen durften. – Leider hat die sächsische Regierung einen Rückzieher in der Geßler-Affäre gemacht, sodaß Zeigner an moralischem Prestige schwer einbüßt. Immerhin ist das sächsische Proletariat anscheinend gut in Form, und kleinere Plänkeleien in Hof auf bayerischer, in Plauen auf sächsischer Seite deuten an, wo endlich wohl die Entscheidungsschlacht zwischen sozialistischem Proletariat und nationalistischen Offizierskreaturen geschlagen werden wird. Es geht für das deutsche Volk um das psychische, für uns Gefangene von Niederschönenfeld zugleich um das physische Leben.
Niederschönenfeld, Sonnabend, d. 22. September 1923
In der Geldpolitik dieser Anstalt ist die Schwenkung radikal: gestern wurde uns eröffnet, daß das Wochentaschengeld – gemäß dem Reichsindex (14,2 Millionen) auf 40 Millionen Mark erhöht ist. Soviel Geld hat natürlich niemand im Besitz, und so erfreuen wir uns nun der Annehmlichkeit, eintreffende Geld- und Postwertzeichensendungen in die eignen Hände zu bekommen. Daß die 40 Millionen noch immer kein „großes Geld“ sind, beweist ein Blick in die täglichen Preiszettel der Zeitungen. Der Bayerische Kurier berechnet den Wert der Million auf 2 Pfennige, und tatsächlich werden wir uns für unsre Unsummen kaum mehr in der Woche kaufen können, als man früher für 80 Pfennige bekam. Schon wird eine neue Portoerhöhung auf 2 Millionen Mark zum 1. Oktober angekündigt, wie denn jetzt die Million draußen schon zur kleinsten „Münze“ im Kleinleuteverkehr geworden ist. Der Dollar ist zwar in diesen Tagen gesunken und steht etwa auf der Hälfte seines Rekords. Doch werden davon die Preise ja so schnell nicht berührt, sodaß die Unzufriedenheit auch durch solche Rückschläge nur wachsen kann. – Die Festungsverwaltung macht das, was sie hier auf höhere Entschließung reformieren mußte, auf dem Gebiete der Zensur wieder wett. Auch heute verfielen eine Menge Blätter und Broschüren den Akten: ich wurde durch die Beschlagnahme einer Drucksachensendung aus Düsseldorf – dem Titel nach wahrscheinlich religiös-politischen Inhalts davon betroffen. Für andre kam eine größere Broschürensendung einer kommunistischen Organisation in den Orkus, darunter – wegen propagandistischen Inhalts! – sogar das Kommunistische Manifest vom Jahre 1847!*, das in vielen Exemplaren natürlich ohnehin im Hause ist. Man scheint bei der Zensurstelle den Tod nicht zu fürchten, wenigstens den nicht, der durch Lächerlichkeit herbeigeführt werden soll. – Im starken Bayern macht sich plötzlich übrigens einige Angst vor der eignen Kurage bemerkbar. Die Münchner Neuesten Nachrichten, bis gestern die wütendsten Durchhalter, scheinen von ihrem Souteneur, Herrn Stinnes, Order zu haben, umzustuken. Der Leitartikel im heutigen Blatt bremst ganz entschieden, etwa in dem Sinne, wie sich die bayerische Abteilung der Deutschen Volkspartei entschlossen haben soll (und daß sie sich wirklich gegen die Lentpatrioten gewandt hat, beweist ein im Fränkischen Kurier enthaltenes Dementi, das von Professor Lent persönlich auszugehn scheint). Selbst Schweyer hat in Kissingen in einer Rede den Vaterländischen gut zugeredet, sie möchten keinen Staat im Staate machen, man müsse jetzt trotz allem Stresemann in seiner Außenpolitik unterstützen und für Ruhe und Ordnung sorgen. Endlich mußte auch noch der alte Hindenburg bei der Abreise aus Bayern am Münchner Bahnhof eine Beruhigungspille ausspucken: Bayern dürfe sich unter keinen Umständen vom Reich trennen, nicht einmal vorübergehend. Das klingt nach Knillings Tuntenhausener Fanfare sonderbar schissig und stimmt garnicht zu dem gestern noch im Fränkischen Kurier erhobenen Geschrei, das seinen Text aus den jüngsten Entschließungen der Deutschnationalen und der Bayerischen Mittelpartei (rechter Flügel) bezog, Bayern werde eine Kapitulation „nicht mitmachen“ und einfach erklären: Hier ist Deutschland! – Die Industrie, die Börse und der Großgrundbesitz, also die Besteller aller öffentlichen Meinung, denen die Tintenkulis ihre Seelen – wenn sie sowas mal zur Verfügung gehabt haben sollten – für bare Münze – und zwar sehr billig verkauft haben, scheinen also recht plötzlich neue Aufträge in journalistische Arbeit gegeben zu haben, was übrigens leicht zu erklären ist. Man warf bis jetzt Stresemann vor, er habe die Politik Cunos, auf England zu hoffen, aufgegeben, und es gehe sozusagen um die Alternative: England oder Frankreich. Dieser – an und für sich stark kariöse – Zahn läßt sich aber nun nicht länger plombieren. Die letzte „Entrevue“ der Herren Poincaré und Baldwin in Paris hat mit aller Deutlichkeit bewiesen, was jeder, der nicht deutscher Berufspolitiker ist, auch vorher wissen mußte, daß die Engländer garkein Interesse an der deutschen Widerstandspolitik an der Ruhr haben, – oder doch höchstens solange, wie man die Unentschiedenheit des Kampfes mit aller wirtschaftlichen Konfusion in den beteiligten Ländern geschäftlich für die eigne Wirtschaft ausnutzen konnte. Jetzt ist der Ausgang dieses Kampfes, dessen Chancen von vornherein feststanden, da. Nun erklärt sich England wieder interessiert, nämlich an dem, was nach Deutschlands Kapitulation wird. Die Entente ist wieder so kordial wie vorher, alles Zeitungsgerede von Englands Schlappe ist Blödsinn. Deutschland unterwirft sich. Sobald das geschehn ist – nicht einen Tag vorher – wird verhandelt, wieviel, an wen und in welchen Formen die Reparationen zu bezahlen sind. Bayern muß sich nolens volens ins Ganze fügen, da es sich die Isolierung, mit der es droht, einfach wirtschaftlich nicht leisten kann. Vermutlich wird aber Frankreich wegen der Nürnberger Schusterhatz noch eine extra kleine Rechnung herschicken – à la Ingolstadt-Passau; und dann muß halt der Bürgerkrieg doch kommen, die Xylanderleute werden entsetzlich fetzen, und das Ende wird das Ende der bayerischen Ordnungszelle sein. Vielleicht erleben auch wir das noch.
* zugleich Marx’ „Lohn, Preis, Arbeit“ und Lassalles Schrift über die Verfassung!
Niederschönenfeld, Montag, d. 24. September 1923
Vielleicht werden spätere Geschichtsschreiber einmal an dieser Gegenwart dartun, wie rapide sich in historischen Zeiten die Geschehnisse abspulen. Unsereinem[Unsereiner], der mit Leben und Seele mit diesen Ereignissen verbunden ist, findet nur, daß die Zukunft zögernd, jammervoll zögernd hergezogen kommt. Täglich neue Tatsachen, die den unmittelbar bevorstehenden Zusammenbruch eklatant beweisen, täglich die alleruntrüglichsten Zeichen, daß der Zusammenbruch da ist – katastrophaler als je die Phantasie sich vorstellte, – aber das Getöse, der Krach, die Geste des Zusammenbruchs fehlt noch, und auf die muß man länger warten, als die Nerven aushalten wollen. Folgende Tatsachen fand ich heute beim Zeitungslesen als Gewittervögel. In Bayern haben die Vaterländischen Verbände ein Schreiben an Knilling gerichtet, das einem Ultimatum verflucht ähnlich sieht, und zwar lautet die ultimative Forderung: Weg mit Schweyer! Dieser holzstirnige Reaktionär ist unser[n] Vaterländischen zu „links“. Sie zählen Fälle auf, die die „Marxisten“ (damit sind die Auerochsen gemeint – du lieber Gott!) als revolutionäre Gewaltmenschen beweisen sollen (Fälle übrigens, von denen wir hier noch garnichts wissen, sie müssen sich in uns vorenthaltenen Zeitungsblättern abgespielt haben). Die Vaterländischen kündigen da Herrn v. Knilling nicht nur „Selbsthilfe“ an, sondern verkünden mit schöner Offenheit, daß der Tag ja doch nahe bevorstehe, an dem ihre Verbände zusammen mit der Staatspolizei(!) die Marxisten „mit bewaffneter Hand“ niederschlagen würden. Die Regierung habe kein Recht, sich neutral zu stellen oder wie in Sachsen, Thüringen und Berlin mit den Marxisten gemeinsame Sache zu machen, sondern sie habe sich als Partei auf Seite der Völkischen zu bekennen. – Zugleich hält Auer selber im Zirkus Krone Parade ab und beweist, daß ein Bürgerkrieg Deutschland nicht retten könne. Im übrigen aber fürchte er nichts, auch keine Waffengewalt (er wird nämlich – dies sagte er allerdings nicht –, sobald es brenzlich wird, sein Operationsgebiet, wie das früher schon geplant war, außerhalb Münchens verlegen). Die „Münchner Post“ ihrerseits bringt einen Artikel, in dem die Einigkeit des Proletariats gegen den faszistischen Umsturz durch eine sehr scharfe Verwahrung dagegen gefördert wird, daß sie alle Schweinereien aufzählt, mit denen ihre Bonzen sich 1919 als Helfer der Bourgeoisie gegen das Proletariat bewährt haben. Noske wird beschworen, und ein interessantes Eingeständnis findet sich auch (ich glaube, zum ersten Mal öffentlich zugegeben), nämlich daß die Partei während der Räterepublik, die sie ja durch Entsendung von Delegierten in den Zentralrat unterstützte, in München außerdem noch einen eignen Aktionsausschuß unterhielt, der mit Bamberg in dauernder Fühlung war und die „Erhebung“ vom 13. April (bei der ich hochging) – nämlich die Bestechung der Republikanischen Schutztruppe – organisieren half. Es ist ganz gut, daß diese Lumpenbrut ihren schäbigen Verrat nach beiden Seiten so nach und nach selber mitteilt. Es wird eines Tages mal einige Mühe ersparen, wenn die Rechnung präsentiert wird. – Während der große Erhard in München also gegen den Bürgerkrieg, für die Stresemann-Koalition und für die wahre Vaterlandsliebe – nämlich die des Ausbeuters, nicht die des ehrlichen Offiziers – redet, geschieht in Norddeutschland schon andres. In Hamburg haben die Gewerkschaften – tatsächlich die Amsterdamer Schleimscheißer – mit Angestellten- und Beamtenorganisationen sich ebenfalls zu einem Ultimatum aufgerafft, und zwar an die Stresemänner, von denen verlangt wird: lebensmögliche Versorgung der Erwerbslosen, unverzüglicher Schluß mit dem Ruhrabenteuer und Sicherung des 8Stundentags. Bekräftigt werden diese Forderungen – und darin liegt der moralische Druck der Aktion – durch vollständige Stilllegung der Produktion und des Verkehrs im ganzen Gebiet Großhamburg während zweier Mittagsstunden. Die Ladeninhaber werden aufgefordert, in dieser Zeit zu schließen und den Kutschern, Arbeitern jeder Art und sonst Geschäftigen wird erklärt, daß jede Tätigkeit während der Arbeitsruhe als Streikbruch angesehn werde. Das wird – obwohl die 2 Stunden natürlich nur eine Geste sind, hinter der aber doch die Drohung steht, mehr folgen zu lassen – sicher Eindruck machen und vielleicht Nachahmung und Erweiterung finden. Mir scheint der Vorgang jedenfalls weitaus bedeutungsvoller als die Raufereien der Kommunisten und Sozialdemokraten untereinander in Sachsen und Thüringen um parlamentarische und gouvernementale Dinge. Wenigstens in dem Punkt stimme ich mit unsern Völkischen überein – den Kommunisten überlasse ich die Übereinstimmung im nationalen Eifer –, daß sich die Kämpfe zwischen den Klassen nicht in Schwatzbuden entscheiden, sondern auf der Straße und in den Betrieben. Übermorgen tritt der Reichstag zusammen. Was da beschlossen wird, kann wohl für unsereinen von Bedeutung werden, falls etwa eine Amnestie dabei sein sollte, was ja nicht ausgeschlossen ist. Für den Verlauf der nächsten Zukunft ist es völlig gleichgültig. Vielleicht aber wird das neue Sprengattentat auf den Eisenbahnkörper bei Essen außer den schon gegen die Stadt verhängten „Sanktionen“ Folgen haben, zumal die Stresemannsche Verleugnungserklärung ein Meisterstück diplomatischer Tolpatschigkeit ist. Man erklärt da nämlich, daß man solche Attentate „ebenso“ verurteilt, wie es früher auch geschah. Diese Gleichstellung wird in Paris schönen Eindruck machen, wo man die Qualität der Cunoschen, mühsam herausgedrückten Verurteilungen von Attentaten jedenfalls noch zu kontern weiß. – Gestorben ist Ferdinand Avenarius, den ich nicht persönlich kannte, aber dessen Meriten mit Einschränkungen ich zugebe.
Niederschönenfeld, Mittwoch, d. 26. September 1923.
Poincarés letzte Kriegerdenkmalsenthüllungssonntagsreden – diesmal waren es 3 –, besonders die im Priesterwald haben schnell gewirkt. Mit der unzweideutigen Klarheit, die alle Kundgebungen dieses advocati diaboli auszeichnet, erklärte er noch einmal, daß jede Mühe, vor Aufgabe des passiven Widerstands zu irgendwelchen Verhandlungen zu kommen, vergeblich sei und daß es Frankreich auch nicht interessiere, wenn in Deutschland chaotische Zustände kämen. Er bleibe bei dem, was von Anfang an gesagt sei. Daraufhin hüstelte ganz Deutschland – und Stresemann rief alle deutschen Ministerpräsidenten zu sich nach Berlin. Heute kommen nun also die „entscheidenden Ereignisse“, vorbereitet durch offiziöse und offizielle Rückzugsbulletins, die die Größe der Blamage kachieren sollen. Eine Konferenz mit Vertretern des besetzten Gebiets hat zunächst bescheinigen müssen, daß Stresemann recht hat, und daß nach der Erkenntnis, daß Poincaré wirklich nicht eher verhandeln will, ehe nicht die passive Resistenz aufgegeben ist (als ob das jemals anzuzweifeln war!), diese Resistenz keinen Zweck mehr habe. Dann schwor man jene Treue zur deutschen Einheit, die sich seit 5 Jahren in den zahllosesten Formen erboster Unzufriedenheit kundgibt, die Herrn Eberts Musterrepublik bei jedem Deutschen bewirkt, der nicht grade dadurch an die Krippe gekommen ist. Morgen werden wir also lesen, daß sämtliche Verordnungen über den passiven Widerstand rückgängig gemacht, getreue Befolgung aller Vorschriften des Generals Degoutte verlangt und Ordnung, Ruhe und Sicherheit gewährleistet sind. Gemütlich ist den Herren in Berlin bei dieser fatalen Retirade sicher nicht. Vor allem fürchtet man natürlich Bayern, und ein eindringliches Zeichen, wie weit hier die Vorbereitungen perfekt sind, ist die Abschwenkung des fränkischen Teils der Deutschen Volkspartei unter Führung von Lent aus der Partei Stresemanns fort. Man hat seinen eignen Laden aufgemacht, genannt „Nationalliberale Landespartei Bayerns“ mit dem „Fränkischen Kurier“ als Monitor. Das ist natürlich die Antwort an die Münchner Parteifreunde, die auf Stinnes’ Kommando Stresemann Gefolgschaft versprechen mußten. In allen Publikationen der Deutschnationalen, der Völkischen und der Bayern heißt es immer wieder: eine Kapitulation „machen wir nicht mit“ – und nun ist also die Stunde da, die erweisen muß, ob dahinter der Wille zu Taten steht. Dann kann also der Bürgerkrieg, der auch zum Staatenkrieg innerhalb des Reichs auswachsen kann, sofort losgehn. Die Kläglichkeit der derzeitigen Reichsregierung findet aber nicht bloß bei den Rechten aller Sorten Kritik und links nicht nur bei den oppositionellen Parteien von Ledebour links weg. Innerhalb der Sozialdemokratie droht der Krach ebenfalls. Die Berliner Funktionäre haben sich Herrn Zeigner zu einer Besprechung eingeladen und dabei gefordert: Austritt aus der Koalition, Verständigung mit Kommunisten und Unabhängigen, Erfassung der Sachwerte etc. Zeigner selbst griff neuerdings Geßler sehr energisch an und brachte die Berliner Parteigenossen hinter sich, und den armen Bonzen, die liebend gern Zeigner zum Teufel jagten, um Geßler nichts tun zu müssen, hängt jetzt die Zunge zum Maul heraus, und sie wissen nicht, wie sie ihre „Realpolitik“ weiter treiben sollen – die ihnen die Pöstchen verbürgt –, ohne doch den letzten Anhang bei der Arbeiterschaft zu verlieren. Interessant ist, daß Zeigner erzählte, sein Versuch, mit Ebert eine Besprechung zu erzielen, sei gescheitert. Dieser wackere „Genosse“ traut sich nicht, einen Parteigenossen, selbst wenn er Ministerpräsident eines deutschen Landes ist, zu empfangen, wenn er fürchten muß, daß der ihm bei der Unterstützung des Vertrauensministers aller monarchistischen bewaffneten Formationen Schwierigkeiten machen wird. Fritz Ebert hat nun aber seinerseits eine Beratung abgehalten, wobei Strese- und Sollmann, nebst Geßler und Seeckt ihm schwören mußten, daß sie keine Revolution erlauben werden. (Nun braucht Deutschland keine mehr zu fürchten: Revolutionen sind verboten!) Geßler selber hat erklärt, daß seine Befehle fürchterlich sein und alle Offiziere ihm gehorchen würden (nur was er kommandieren wird, hat er nicht gesagt. Herr Geßler überläßt das auch wahrscheinlich den Generalen). In Bayern hat die Knillingsche Regierung offenbar auch schwere Angst vor den Völkischen, die man aber dadurch auf ein besseres Ziel hetzt als Schweyer, daß man sie gegen die „Novemberverbrecher“ aufputscht. Dazu dienen die bewußten 700 Goldmillionen, mit denen Eisner von Stadelheim aus die Revolution finanzieren konnte. Auf eine Anfrage der Sozialdemokraten, was es damit auf sich habe, ist nun die Knillingsche Antwort gekommen. Sie ist grotesk. Man fand im Auswärtigen Ministerium die Tagesordnung einer zum 18. November 18 angesetzten Ministerratssitzung, deren einer Punkt da als „Liquidation“ bezeichnet war, nebst einer Anlage. Es fand sich aber nur die Anlage, und zwar eine Liste, auf der Stückzahl und Höhe von Schecks aufgeführt war, und zwar von Mitte September bis November 18. Kein Wort über Aussteller, Bank, Empfänger etc. Zweifellos handelt es sich also um Ausgaben, die das königlich bayerische Kriegskabinett gemacht hatte, und das[die] das Revolutionsministerium zu liquidieren hatte, vermutlich „diskrete“ Ausgaben, also für Spionage und sonstige Korruptionszwecke. Tut nichts: die gesamte bayerische Presse ist einig, daß nun die Bestechung Eisners mit französischen Goldmillionen „einwandfrei erwiesen“ ist, und kein Mensch wundert sich, wie er das Verratsgeschäft vom Gefängnis aus machen konnte oder warum er denn 11 Tage nach Etablierung der Revolutionsregierung, also als doch das Geld sicher am allerdringlichsten nötig gewesen wäre – hätte Eisner nicht die ewigen Skrupel gehabt, Staatsmittel, wie es jede Regierung sonst tut, zur Erhaltung der Staatsform sofort anzugreifen, wäre er vermutlich noch am Leben und die Republik wäre nicht mehr durch solche Galgenstrickmanöver zu diskreditieren – warum er schon am 18. November die „Liquidation“ dieser Geschäfte wollte. – Hofzeit. Morgen mehr – und vielleicht schon „Entscheidenderes“.
Niederschönenfeld, Donnerstag, d. 27. September 1923.
Die Kapitulation ist nun also offiziell beschlossen, und bloß die Form ihrer feierlichen Proklamierung ist noch unbekannt. Da – inclusive Knilling und Zeigner – sämtliche deutsche Militärpräsidenten mit dem Abbruch des passiven Widerstands einverstanden sein sollen, kann man auf die Formulierung recht neugierig sein. Ich habe hier den Genossen schon vor einer Woche prophezeit, daß für die nächsten Monate der Zank in Deutschland darum gehn wird, ob die Einstellung des Ruhrwiderstands Kapitulation genannt werden dürfe oder nicht. Es scheint nun allerdings, daß sich diejenigen, die das Ding beim rechten Namen nennen, besserer Mittel als Disputationen bedienen werden, um ihre Auffassung zur Geltung zu bringen. Ein Zufall ließ uns in die hier unten konfiszierte Nummer der „Münchner Post“ vom letzten Montag Einblick bekommen. Die das ganze Blatt durchziehende dicke Überschrift des Hauptartikels lautet: „Die Nationalaktiven beginnen den Bürgerkrieg“, und dann folgt ein Bericht über die Vorgänge vom letzten Sonntag in München, der zeigt, daß die Dinge doch schon weiter gediehen sind als wir ahnten. Auf eine Denunziation eben der „Münchner Post“ hin, daß die Kommunisten in Kochel eine proletarische Hundertschaft aufgestellt hätten, eine Denunziation, die, wie das Auerlicht jetzt rechtfertigend bemerkt, doch nur die bayerische Regierung anging und nur Schweyer, Mantel und die übrigen Freunde der Sozialdemokraten zum Eingreifen und zum Verhaften von Arbeitern veranlassen sollte, beschlossen statt dessen die Völkischen eine private Strafexekution und die M. P. veröffentlicht den geheimen Befehl, der die Aktion einleitete. Mit Extrazügen sollten die Helden bewaffnet und unter Führung des Hauptmanns Österreicher und des Oberleutnant Weber nach Kochel und Penzberg fahren und die Arbeiter vom Walchenseewerk angreifen. Aber ihr Plan mißglückte, weil sowohl die Eisenbahner vom Starnberger als auch die vom Talkirchener und die vom Isartalbahnhof sich weigerten, die bewaffneten Haufen wegzubefördern. Infolgedessen begannen die Herrschaften in den Münchener Südteilen eine Aktion von der Art der Neuburger, drangen in Arbeiterhäuser und -höfe ein und knallten um sich, daß die Bevölkerung in Todesängste kam und Polizei zitierte. Die kam auch, orientierte sich und half, – den Nationalsozialisten. Die Arbeiterkneipen wurden geräumt, die Gäste ausgesucht und teilweise verhaftet, mißhandelt und so weiter. Endlich mochten die Mantelträger nicht mehr und zogen wieder ab, die Bevölkerung weiterhin als Zielscheiben den Verbündeten Nationalisten – die ja als „Notpolizei“ anerkannt sind – überlassend. Der Polizeibericht, der dann herauskam, weiß natürlich nur von den verbrecherischen Proletariern zu erzählen, die harmlos ihres Weges wandernde Oberländer angefallen und deshalb hätten verhaftet werden müssen. Die Münchner Post weint bitter über diese Zustände. Daß aber sie, ihre Auftraggeber, die Kommunisten oder sonstwer in einer solchen Situation, die die unmittelbarste Gefahr für Leben und Brot der Arbeiter und zugleich zeigt, daß sogar die Eisenbahner schon soweit sind, daß sie aus eignem Antrieb ihre Arbeitskraft versagen, wenn diese Banditen zu provokatorisch auf Mord ausgehn, – daß jetzt endlich zum Generalstreik aufgerufen würde mit bündigen Forderungen, die jeder Arbeiter in jedem Betrieb billigen würde, davon hört man nichts. Laßt euch nicht provozieren, vertraut euern bewährten Führern, – das ist immer noch das Rezept, mit dem die gärenden Dränge des hungernden Volkes gestopft werden. – Um so besser rüstet die Gegenpartei zur Offensive: Der bayerische Verkehrsbeamtenbund läßt eine Erklärung los, als ob morgen der große Umsturz in Bayern selbstverständlich sei: für diesen Fall – es wird ausdrücklich auf die Möglichkeit eines Kappputsches hingewiesen –, würden die Beamten nicht etwa dem Reich sondern nur den Verordnungen der dann in Bayern eingesetzten Macht zu folgen haben. Ob als Antwort hierauf, oder umgekehrt als Veranlassung der Rebellionsankündigung der in Bayern tätigen Reichsbeamten, ist nicht mit Sicherheit zu erkennen, – jedenfalls bringen die Blätter zugleich einen Angstruf des annoch regierenden Reichspräsidenten, der die Reichsbeamten der Länder belehrt, sie hätten nur seinen Anordnungen zu folgen. Ein einiges Vaterland – soweit das Auge blickt. Vielleicht also ist die Revolution schon mitten dem Gange, vielleicht wartet man auch erst, bis Knilling nach seiner Unterwerfung in Berlin das neue Stichwort ausgegeben hat. Er wird jawohl die Proklamation mit- und umredigiert haben, die es Poincaré vielleicht unmöglich macht, auch jetzt zu verhandeln. Denn den Tönen nach will man sich keinem zweiten Versailles aussetzen und will vor allen Dingen – Amnestie! Ja, das ist jetzt die wichtigste Forderung in Bayern: natürlich nicht Amnestie für die Deutschen, die sie selbst allem Recht und Gesetz zuwider schuhriegeln und peinigen, sondern für die Deutschen, die die Franzosen eingesperrt haben und durchaus gentlemanlike behandeln. Einigkeit und Recht und Freiheit sind des Glückes Unterpfand! – Ich bin neugierig, ob man tatsächlich Krupp und die Seinen als freigelassene Leute in Deutschland feierlich empfangen wird, während wir nach 4½ Jahren immer noch die Robustizität der bayerischen Ordnungsliebe weiter erdulden müssen. Viele glauben es. Ich zweifle aber doch und meine, in dem Falle wird die Arbeiterschaft – mindestens in Norddeutschland mit starken Mitteln auf Reichstag und Regierung drücken, und Radbruch wird bei aller Furcht vor seinen bayerischen Befehlsgebern dem kräftigeren Druck des deutschen Proletariats nachgeben müssen. Ob aber Bayern – einmal angenommen, das Reich ist bis dahin überhaupt noch vorhanden – uns zum Anlaß nehmen würde, in offene Fronde gegen klare, keinen Auslegungskünsten mehr zugängliche Beschlüsse des Reichstags zu treten, ist doch zweifelhaft. Denn Verhandlungen wie beim Lerchenfeldschen Verordnungsmanöver mit dem Republikschutzgesetz oder demagogische Nichtverpflichtungs-Auslegungen wie bei der Rathenau-Amnestie für die Mitteldeutschen wären nicht gut möglich bei einer Amnestie, die – was sicher geschähe, die bayerischen Räterepublikaner zum Mittelpunkt der zu Begnadigenden machen würde. Selbst der alte Professor Kahl hat ja bei der letzten Beratung im Reichstag erklärt, seine Partei – das ist die Stresemannsche – habe gegen eine gleichmäßig nach rechts und links wirkende Amnestie nichts einzuwenden. – Wie wenig unsre bayerischen Rechtshüter vorerst auch nur an einen leichten Abbau ihrer politischen Rachemethoden denken, beweist unser neuester „Zugang“, der gestern den Gang, der jetzt unser ganzer „Festungs“raum ist, wieder bis zur letzten Zelle besetzt machte. Ein Rotgardist, namens Josef Mayr, dessen Bewährungsfrist am 15. Juli abgelaufen gewesen wäre, hätte er nicht an 9. Juli bei Gelegenheit einer politischen Zusammenkunft der eindringenden Polizei einen kleinen Widerstand entgegengesetzt. Nach seinen Angaben haben allerdings die Polizisten ihn malträtiert und dann die Widerstandsklage darauf gegründet. Kurzum: er bekam – im August, also erst nach Ablauf der Bewährungsfrist – 14 Tage Gefängnis, ein Zeichen, wie milde selbst ein Münchner Gericht seinen Widerstand einschätzte und demgemäß be- und verurteilte. Aber die 14 Tage genügten den bayerischen Rechtsgürtnern unter Ignorierung ihrer eignen Bestimmung, daß mindestens 3 Monate Freiheitsstrafe neu verwirkt sein müssen, um eine bedingte Begnadigung rückgängig zu machen, um den armen Teufel die 7 Monate Festung neu aufzupacken, die sie ihm früher „geschenkt“ hatten. Wenn Krupp frei wird und Ledebour von neuem auch unsre Amnestie verlangen wird, wird Herr Leicht erklären, daß Bayerns Güte, Milde und Gnade sich wie bisher auch fürderhin in dem bewährten System der bedingten Begnadigungen erschöpfen werde. Ad majorem Dei gloriam.